Es war Hochsommer. Der erste Ferientag. Der Himmel sollte strahlend blau und wolkenlos sein, und obwohl es noch nicht einmal ganz zehn Uhr war, hätte es bereits warm sein müssen; mit einer deutlichen Tendenz in Richtung heiß.
Das genaue Gegenteil war der Fall. Die seit gut zwei Wochen andauernde Hitze hatte eine Pause eingelegt. Der Himmel hatte sich bewölkt und es war eher eine Spur zu kalt als zu warm. Es regnete nicht, aber etwas lag in der Luft, das einem das Gefühl gab, es könnte gleich regnen, und auch das Licht war irgendwie sonderbar. Es war bisher nicht richtig hell geworden und alle Farben wirkten seltsam blass, als hätte etwas dafür gesorgt, dass alles Leuchtende und Fröhliche aus der Welt verschwand. Selbst die Geräusche wirkten gedämpft, wie manchmal nach einem ausgiebigen Schneefall, und das Wetter passte so gut zu Leonies Stimmung, als hätte es jemand eigens für sie und diesen Moment bestellt.
Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich noch mühsam beherrscht, aber nun war sie an der Reihe, in der langsam vorrückenden Schlange an das offene Grab zu treten und einen letzten Abschiedsgruß in Form einer roten Nelke hinabzuwerfen. Ihr legitimer Platz wäre ganz vorne in dieser Reihe gewesen, aber sie hatte darauf verzichtet und den Moment, wo sie vor dem Grab stehen würde, hinausgezögert, so lange sie nur konnte. Nun aber war hinter ihr niemand mehr. Ihre Hand zitterte, als sie nach der einzelnen - letzten - Nelke griff, die ihr der grauhaarige Pfarrer hinhielt, und sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das offene Grab begann vor ihren Augen zu verschwimmen, und sie hatte Mühe, den schweren Eichensarg zu erkennen, der unter einem Berg von Blumen und Tannengrün beinahe verschwunden war. Sie merkte nicht, dass sie länger als eine Minute vollkommen reglos am Rand des offenen Grabes stand und ins Leere starrte.
»Du hast sie sehr geliebt, nicht wahr?«
Es dauerte einen Moment, bis Leonie begriff, dass die Worte ihr galten. Sie ließ die Nelke in das Grab fallen und fuhr sich mit der frei gewordenen Hand über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, bevor sie sich zu dem Sprecher umwandte.
Es war der Pfarrer - oder hieß es Pastor? Wie auch der Rest ihrer Familie respektierte sie zwar jegliche Religion, war aber selbst kein Mitglied irgendeiner Kirche, sodass ihr der Unterschied zwischen den Geistlichen der großen Konfessionen nicht geläufig war. Zum ersten Mal fragte sie sich bewusst, wie es überhaupt kam, dass ein Geistlicher am Grab ihrer Großmutter gesprochen hatte - ihre Eltern hatten ihn ganz sicher nicht hinzugebeten.
»Ja«, sagte sie einfach. Sie wollte weitergehen, aber der grauhaarige Geistliche hielt sie mit einer angedeuteten Geste zurück.
»Und nun fragst du dich, welchen Sinn dieser plötzliche Tod hat«, fuhr er fort.
»Tue ich das?« Leonie fragte sich, was dieser ungeladene Gast eigentlich von ihr wollte. Sie hob die Schultern. »Nein, ich glaube nicht.«
»Doch«, widersprach der Pfarrer. »Das tust du. Und du haderst mit Gott und machst ihm Vorwürfe, dir diesen schlimmen Schmerz zugefügt zu haben.« Er lächelte sanft. »Das macht nichts. Auch dafür ist Gott da.«
»Um ihm Vorwürfe zu machen?«
»Manchmal ist ein Schmerz leichter zu ertragen, wenn jemand da ist, dem man die Schuld geben kann«, bestätigte der Geistliche. »Der Herr versteht das, er wird es dir nicht übel nehmen. Und eines Tages wirst du vielleicht verstehen, dass alles seinen Sinn gehabt hat.«
Leonie verbiss sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Nichts lag ihr ferner als ein theologisches Streitgespräch; vor allem am Rande eines offenen Grabes, in dem so viel mehr seinen Schlussstrich fand als nur ein Leben, wäre ihr jede Art von Missklang unpassend erschienen. Sie wandte sich endgültig zum Gehen, aber der Pfarrer hielt sie noch einmal zurück; diesmal, indem er sie am Oberarm ergriff und mit der anderen Hand zum gegenüberliegenden Ende des Friedhofsgeländes deutete.
»Wenn du mich brauchen solltest oder einfach nur reden möchtest, dann findest du mich dort drüben«, erwiderte er. »Frag einfach nach Bruder Gutfried.«
Was für ein seltsamer Name, dachte Leonie, ziemlich altmodisch - was bei einem Mann der Kirche an sich nichts Besonderes war -, aber zugleich brachte er auch irgendetwas in ihr zum Klingen; als versuchte er, eine Erinnerung zu wecken, die einfach zu tief vergraben war, als dass sie sie greifen konnte. Sie hatte bereits dazu angesetzt, sich mit Gewalt loszureißen, aber dann besann sie sich eines Besseren und sah stattdessen in die Richtung, in die seine ausgestreckte Hand deutete. Nur ein kleines Stück jenseits der Friedhofsmauer erhob sich eine gedrungene, unübersehbar alte Kirche; vielleicht auch nur eine zu groß geratene Kapelle. Leonie war sie bisher noch nie aufgefallen, was aber nicht viel besagte, denn sie interessierte sich ebenso wenig für Kirchen wie für Religion im Allgemeinen und Geistliche im Besonderen. Dennoch fand sie, dass die Kirche zu Bruder Gutfried passte - oder er zu ihr, je nachdem von welchem Standpunkt aus man es betrachtete.
Der Geistliche musste einer der ältesten Menschen sein, die ihr jemals begegnet waren, wenn nicht der älteste überhaupt - und dieser Eindruck entstand nicht etwa durch den schütteren grauen Kranz, der drei Viertel seines ansonsten kahlen Schädels umspannte. Sein Gesicht war eine einzige Landschaft aus Runzeln und Falten und die längst trüb gewordenen Augen verbargen sich hinter den Gläsern einer dicken, aber randlosen Brille. Als Gutfried den Kopf drehte, um ebenfalls zur Kirche zu blicken, entdeckte sie etwas höchst Bemerkenswertes: Obwohl Gutfried nur noch so wenige Haare hatte, dass er jedem einzelnen davon einen Namen hätte geben können, hatte er sie sich lang wachsen lassen und im Nacken mit einem schwarzen Gummi zusammengebunden. Seltsam: Sie hatte noch nie von einem Geistlichen mit einem Pferdeschwanz gehört!
»Vielleicht«, sagte sie ausweichend.
»Du hast ganz bestimmt nicht vor, das zu tun«, antwortete Gutfried lächelnd. »Aber denk einfach daran: Wenn du mich brauchst, dann bin ich da. Und nun geh zurück zu den anderen. Ich glaube, man wartet bereits auf dich. Und Gäste sollte man nicht warten lassen, nicht einmal an einem so traurigen Tag wie heute.«
Er deutete zum anderen Ende des Friedhofs. Zweifellos hatte er Recht: Die Trauergesellschaft befand sich bereits wieder auf halbem Wege zum Ausgang, aber etliche waren auch stehen geblieben und sahen zu ihr zurück. Obwohl sich Leonie noch vor ein paar Minuten hatte zusammenreißen müssen, um nicht unhöflich zu ihm zu sein, wäre es ihr für einen Moment fast lieber gewesen, hier bei Gutfried zu bleiben und noch ein wenig mit ihm zu reden. Sie kannte den Geistlichen ja fast gar nicht, dennoch weckte er ein Gefühl in ihr, das sie nur mit dem Wort Vertrauen beschreiben konnte. Vielleicht lag es an etwas so Banalem wie seiner Soutane, vielleicht aber auch daran, dass sie einfach wusste, seine Worte waren ehrlich gemeint; auch wenn sie ihr nicht wirklich Trost spenden konnten.
Leonie konnte nicht mehr sagen, wie viele Hände sie an diesem Morgen schon geschüttelt und wie viele Beileidsbekundungen sie entgegengenommen hatte. Die wenigsten davon hatten ihr wirklich etwas bedeutet. Schon weil sie die allermeisten Trauergäste gar nicht kannte.
Sie nickte noch einmal zum Abschied und ging dann ohne ein weiteres Wort davon. Sie spürte, dass Gutfried ihr nachsah, doch als sie sich nach ein paar Schritten noch einmal zu ihm umdrehte, war er verschwunden.
Leonie setzte ihren Weg fort, aber sie kam auch jetzt nur ein paar Schritte weit, bevor ihr Vater auf sie zutrat und sie abermals stehen blieb.
»Was wollte er?«, fragte er.
»Wer?«
»Der Pfarrer.« Ihr Vater machte eine Kopfbewegung in Richtung des Grabes.
»Bruder Gutfried, meinst du.«
Ihr Vater nahm die Sonnenbrille ab, die er trotz des bedeckten Himmels an diesem Morgen aufgesetzt hatte und sah sie einen Moment lang so nachdenklich an, dass Leonie fast ein schlechtes Gewissen bekam, auch wenn sie nicht sagen konnte warum. »Bruder Gutfried«, wiederholte er. »Du kennst also schon seinen Namen?«
»Er hat sich vorgestellt«, antwortete Leonie. »Mehr nicht.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was er wollte. Was sie alle wollen, nehme ich an.«
»Unsere Kirchensteuer.«
Leonie überging die bissige Bemerkung. Sie war so etwas von ihrem Vater gewohnt, aber sie fand es im Moment ziemlich unpassend. »Mir Trost spenden«, sagte sie.
»Und dich ganz nebenbei dazu überreden, in seinen Trachtenverein einzutreten«, vermutete Vater. Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Hat man denn nirgends vor diesen Typen Ruhe?«
»Wenn du so darüber denkst, warum hast du ihn dann überhaupt bestellt?«, fragte Leonie.
»Ich habe ihn nicht bestellt.« Ihr Vater schüttelte ärgerlich den Kopf und machte dann eine Geste, mit der er das Thema offensichtlich für beendet erklärte. »Na ja, auch egal. Komm jetzt. Wir sind spät dran und die anderen warten schon.« Er drehte sich um und schritt kräftig aus, um der Trauergesellschaft zu folgen. Offensichtlich ging er davon aus, dass Leonie ihm folgte. Als sie jedoch nichts dergleichen tat, blieb er nach ein paar Schritten wieder stehen und sah zu Leonie zurück. »Was ist denn noch?«, fragte er unwillig.
Leonie deutete zaghaft auf die Trauergesellschaft. »Ich möchte das nicht.«
»Du möchtest was nicht?«, fragte ihr Vater - obwohl sie sicher war, dass er ganz genau wusste, wovon sie sprach. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten.
Dennoch antwortete sie: »Dieser... Leichenschmaus. Ich finde das widerlich. Ich will da nicht hin.«
Sie konnte sehen, wie sich das Gesicht ihres Vaters weiter verdüsterte, aber der erwartete Zornesausbruch blieb aus. Der Ausdruck, der sich auf seinem Gesicht ausbreitete, war eher Resignation. »Aber Leonie, darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Ich weiß«, sagte Leonie stur. »Aber ich finde das... einfach geschmacklos. Gerade du sagst doch immer, dass man mit diesen überkommenen Traditionen...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe«, fiel ihr Vater ihr ins Wort. In seinen Augen blitzte es auf, aber nur ganz kurz, dann wurden seine Stimme und sein Blick wieder weich. »Mir geht es doch auch nicht anders. Aber deine Mutter...«
»Ich kenne die meisten von diesen Leuten noch nicht einmal!«, protestierte Leonie.
»Genauso wenig wie ich«, sagte ihr Vater. Er schüttelte hastig den Kopf. »Ich wusste gar nicht, wie groß unsere Familie ist. Wenn du mich fragst, dann sind die Hälfte davon Erbschleicher, Cousinen um siebzehn Ecken, die sich nach zwanzig Jahren wieder daran erinnern, dass sie eine Verwandte haben - und dass da möglicherweise etwas zu holen ist.«
»Wenn du wirklich so denkst, verstehe ich immer weniger, warum du auf diesem peinlichen Theater bestehst«, erklärte Leonie.
»Ich habe meine Gründe«, erwiderte ihr Vater mit seiner Du-machst-mich-nur-wütend-wenn-du-nicht-aufhörst-Stimme. »Komm jetzt. Je eher wir dort sind, desto eher ist es auch wieder vorbei.«
Leonie gab auf. Wenn sie weitermachte, würde ihr Gespräch nur in einem Streit enden. Sie hatte ein durchaus gutes Verhältnis zu ihrem Vater, und er war normalerweise auch niemand, der eine Diskussion scheute und einfach autoritär auf seiner Meinung beharrte, aber wenn dieser ganz bestimmte Ton in seiner Stimme war, dann war es im Allgemeinen ratsam, ihn nicht weiter zu reizen. Außerdem tat sie ihrem Vater möglicherweise Unrecht. Die Situation war für ihn bestimmt ebenso schwierig wie für sie. Woher nahm sie eigentlich das Recht, sich einzubilden, dass nur sie allein trauern durfte?
Sie legten den Rest des Weges zum Friedhofstor und dann zum Wagen schweigend zurück. Leonies Mutter wartete bereits auf dem Rücksitz des schweren Volvo auf sie. Auch sie trug eine der Witterung ganz und gar nicht angemessene Sonnenbrille, aber aus anderen Gründen als ihr Vater. In den vergangenen drei Tagen hatte sie fast ununterbrochen geweint, und in den Nächten vermutlich auch. Seit sie an diesem Morgen in den Wagen gestiegen und zum Friedhof gefahren waren, hatte sie sich mit eiserner Willenskraft beherrscht, aber es war Leonie ein Rätsel, woher sie die Energie dazu nahm.
Als Leonie zu ihr in den Wagen stieg, rang sie sich zu einem bitteren Lächeln durch, das aber fast schneller wieder erlosch, als es gekommen war. Sie sagte nichts, doch sie ergriff Leonies Hand und hielt sie fest, bis sie das Lokal erreicht hatten, das nur zehn Minuten vom Friedhof entfernt lag.
Was dann folgte, war der reinste Albtraum. Es war genauso, wie sie ihrem Vater gegenüber gesagt hatte: Sie kannte kaum jemanden von der erstaunlich großen Trauergesellschaft, und selbst die wenigen Gesichter, die sie schon einmal gesehen hatte, trugen für sie keine Namen. Viele dieser größtenteils fremden Menschen waren alt, etliche sicher so alt, wie es ihre Großmutter gewesen war, manche noch sehr viel älter - Langlebigkeit, das hatte Großmutter immer gesagt, lag nun einmal in ihrer Familie -, aber es war auch eine Anzahl erstaunlich junger Leute darunter, was Leonie doch einigermaßen überraschte. Ihre Großmutter war eine sehr weltoffene und jung gebliebene Frau gewesen, wenn man ihr Alter bedachte, und doch fiel es Leonie schwer zu glauben, dass sie mit wildfremden Menschen befreundet gewesen sein sollte, die gut und gerne ihre Enkelkinder hätten sein können.
Leonie wusste später nicht, wie sie die nächsten anderthalb Stunden hinter sich gebracht hatte. Ihre Mutter gab in all der Zeit kein einziges Wort von sich, und auch sie selbst war einsilbig und verschlossen und rang sich nur dann und wann einen halben Satz oder ein angedeutetes dankbares Nicken ab, wenn irgendeiner dieser Fremden an ihren Tisch trat, um etwas zu sagen, was er für freundlich hielt, oder ihnen zum x-ten Mal sein Beileid auszusprechen. War sie schon nur widerwillig mit hierher gekommen, so fand sie die Situation bald unerträglich. Es mochte ein uralter Brauch sein, dass sich alle Verwandten und Freunde des Verstorbenen noch einmal zusammenfanden, um sich möglicherweise ein letztes Mal in dieser Konstellation zu sehen, aber das hier war so ganz und gar nicht das, was sie sich unter einer Trauergesellschaft vorgestellt hatte. Nur die wenigsten Gäste saßen schweigend da oder unterhielten sich mit ernsten Gesichtern und gedämpften Stimmen, wie man es bei einer Gelegenheit wie dieser erwartet hätte. Über dem großen Saal, in den Vater die Trauergäste eingeladen hatte, lag keine vornehme Ruhe, sondern es herrschte hier ganz im Gegenteil eine eher aufgekratzte, beinahe schon fröhliche Stimmung. Es wurde gelacht, Weingläser kreisten. Leonie fühlte sich von den meisten dieser so genannten trauernden Hinterbliebenen regelrecht angewidert. Weniger wegen der Worte ihres Vater auf dem Friedhof als vielmehr aus Rücksicht auf ihre Mutter beherrschte sie sich und schluckte die bitteren Bemerkungen, die ihr gleich zu Dutzenden auf der Zunge lagen, ausnahmslos hinunter, aber sie zählte jede Minute und flehte insgeheim, dass es bald vorbei sein möge.
Obwohl er selbst es gewesen war, der auf dieser unwürdigen Veranstaltung bestanden hatte, schien es ihrem Vater ganz ähnlich zu ergehen wie ihr, denn auch seine Miene verdüsterte sich zusehends. Als sie hereingekommen waren, hatte er die Sonnenbrille aufbehalten, sodass Leonie seine Augen nicht sehen konnte, aber sie spürte dennoch, dass sein Blick immer feindseliger über die Versammlung glitt.
»Verdammte Erbschleicher«, murmelte er.
Leonie warf einen raschen erschrockenen Blick zu ihrer Mutter hin, aber sie schien von dieser kurzen Entgleisung gar nichts mitbekommen zu haben. Von dem Glas Wein, das ihr der Kellner eingeschenkt hatte, hatte sie bisher keinen Tropfen getrunken. Sie hielt das langstielige Glas in der Hand und drehte es langsam hin und her. Lichtreflexe von seiner Oberfläche spiegelten sich auf ihrer Sonnenbrille und huschten über ihr Gesicht, aber das war seit einer Stunde auch alles, was sich darin bewegte.
»Wenn du wirklich so denkst, wieso sind wir dann eigentlich hier?«, fragte sie leise. »Alle haben ihre Käsebrötchen gegessen und ihren Kaffee getrunken. Eigentlich könnten wir jetzt gehen.«
»Noch nicht«, entgegnete ihr Vater. Er sah auf die Uhr, als warte er auf jemanden. Leonie sagte nichts mehr, sondern fasste sich in Geduld. Eine weitere halbe Stunde verging, ohne dass irgendetwas anderes geschah, als dass sich die Stimmung im Saal noch weiter hob. Es waren mittlerweile nicht nur vereinzelte Lacher, die an ihr Ohr drangen, und die Kellner brachten jetzt eindeutig mehr Bier und Wein als Kaffee und Limonade an die Tische. Leonie hätte sich kaum noch gewundert, wenn jemand eine Münze in die Musikbox geworfen hätte, die in der Ecke stand.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und verließ den Saal, angeblich um zur Toilette zu gehen. Sie schloss sich in der Kabine ein und saß gute zehn Minuten auf dem Toilettendeckel, das Gesicht in den Händen vergraben, ehe sie die Tür wieder öffnete und in den Waschraum hinaustrat. Das Gesicht, das ihr aus dem großen Spiegel über dem Waschbecken entgegenblickte, schien einer Fremden zu gehören. Sie war so blass, dass sie beinahe vor sich selbst erschrak, und irgendetwas daran kam ihr... falsch vor. Aber was? Sie kannte dieses Spiegelgesicht seit nunmehr fast sechzehn Jahren (auch wenn es sich zugegebenermaßen in dieser Zeit ziemlich radikal verändert hatte), doch es war ihr noch nie so sonderbar... deplatziert vorgekommen wie jetzt.
Leonie blieb noch einmal stehen und betrachtete ihr eigenes Konterfei im Spiegel kritisch. Natürlich sah sie anders aus als sonst. Statt der ausgesucht modischen Kleidung, die sie normalerweise bevorzugte, hatte sie zu diesem traurigen Anlass einen schlichten schwarzen Hosenanzug angezogen und nur einen Hauch von Make-up aufgelegt. Ihr zu einer modischen Bürstenfrisur hochgekämmtes, weiß-blond gefärbtes Haar wollte nicht wirklich zu ihrer ansonsten seriösen Kleidung passen, und sie kam sich auch ein wenig nackt vor, denn sie hatte auf Wunsch ihrer Eltern auf jeglichen Schmuck verzichtet - abgesehen von der kleinen silberfarbenen Nadel, die sie an einer dünnen Kette um den Hals trug. Leonie wusste nicht, was sie bedeutete, und auch nicht mehr, woher sie sie hatte. Sie besaß sie schon, solange sie denken konnte, und sie wollte sie auch nicht mehr missen.
Nein, es war etwas mit ihrem Gesicht. Vielleicht lag es einfach an ihrem Alter. Leonie war schon immer ein hübsches Kind und später ein gut aussehendes junges Mädchen gewesen, aber seit einiger Zeit begann das Kindliche mehr und mehr aus ihrem Gesicht zu verschwinden und etwas anderem Platz zu machen. Ihre Großmutter war nicht müde geworden, ihr zu prophezeien, dass sie eines Tages eine sehr schöne junge Frau werden würde, und diese Prophezeiung schien sich nun allmählich zu erfüllen. Doch irgendetwas daran war falsch. Es war ein verrücktes Gefühl, aber Leonie schien... gar nicht sich selbst anzusehen, sondern ein Gesicht, das nicht in diesen Spiegel gehörte. Unheimlich.
»Was ist unheimlich?«
Leonie fuhr erschrocken zusammen und bemerkte erst jetzt, dass neben ihrem ein zweites Gesicht im Spiegel aufgetaucht war. Und dann erschrak sie erneut und noch heftiger, denn es war das Gesicht ihrer Großmutter.
Beinahe entsetzt fuhr sie herum und prallte so heftig zurück, dass sie schmerzhaft gegen die Kante des Waschbeckens stieß.
Natürlich war es nicht ihre Großmutter. Es war eine junge Frau, die höchstens zehn Jahre älter war als Leonie selbst, und auf den zweiten Blick sah sie ihrer Großmutter nicht einmal wirklich ähnlich. Leonie blickte rasch über die Schulter in den Spiegel zurück, um sich davon zu überzeugen, dass das Gesicht darin auch tatsächlich zu der jungen Frau gehörte. Es konnte kein Zweifel daran bestehen. Mit dem Spiegel war alles in Ordnung und auch mit dem Gesicht der jungen Frau. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich, das war alles.
»Was ist unheimlich?«, fragte die junge Frau noch einmal. Leonie starrte sie nur verständnislos an. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, das Wort laut ausgesprochen zu haben, aber es musste wohl so gewesen sein.
»Nichts«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.«
Der Blick der jungen Frau wurde weich. »Du bist Leonida, nicht wahr?«
»Leonie«, antwortete Leonie.
»Deine Großmutter hat viel von dir erzählt«, fuhr die junge Frau unbeeindruckt fort. »Ich kenne dich schon fast genauso gut wie sie selbst.«
»So?«, fragte Leonie. »Wann soll das gewesen sein?«
Ihre Großmutter hatte das Haus in den zurückliegenden sechs oder sieben Jahren fast nicht mehr verlassen; spätestens seit dem Moment, in dem ihre fortschreitende Krankheit sie endgültig an den Rollstuhl gefesselt hatte, war ihr das auch gar nicht möglich gewesen.
»Oh, wir kennen uns schon sehr lange«, behauptete die junge Frau. Das war eine sehr dumme Lüge, fand Leonie. Sie musterte ihr dunkelhaariges Gegenüber noch einmal kritisch und korrigierte ihre Schätzung, was das Alter der Frau anging, noch einmal ein gutes Stück nach unten. Sie war kein Jahr älter als zwanzig.
»Mein Name ist Theresa«, fuhr sie fort. »Ich wollte sowieso schon lange mit dir reden. Ich...«
»Gern«, fiel ihr Leonie ins Wort, leise, aber in so bestimmtem Ton, dass Theresa verdattert mitten im Wort abbrach und sie fast erschrocken ansah. »Aber nicht jetzt. Ich glaube, meine Eltern warten schon auf mich. Sie werden sich Sorgen machen, wenn ich zu lange fortbleibe.«
Und damit wandte sie sich ab um zu gehen. Es war sehr unhöflich, die junge Frau einfach so stehen zu lassen, aber das war ihr egal. Sie bedauerte es schon, überhaupt mit ihr gesprochen zu haben, und verließ den Raum so schnell, dass Theresa keine Gelegenheit fand, noch etwas zu sagen. Leonie war erregt, aber auf eine Art, die sie noch nie erlebt hatte und die sie erschreckte. So verrückt der Gedanke auch klang, sie hatte mehr und mehr das Gefühl, nicht hierher zu gehören. Das alles ging sie nichts an. Es war falsch.
Sie war zwei oder drei Schritte den Flur hinuntergegangen, als die Tür hinter ihr wieder aufflog. »Leonie!«, rief Theresa. »Bitte bleib stehen! Ich muss mit dir reden! Es geht um die Buchhandlung und...«
Vom anderen Ende des Flures aus ertönte ein spitzer Schrei, dann das Klirren und Scheppern von zerbrechendem Porzellan und Glas. Die Tür zur Küche am Ende des langen Korridors schwang auf, und etwas Winziges, Graues huschte herein und verschwand so schnell unter der nächsten Fußleiste, dass Leonie nur einen verschwommenen Schatten erkannte. Nur einen Moment später stürmte einer der Kellner aus der Küche. Er wirkte aufgelöst und hielt eine Bratpfanne in der rechten Hand, wie ein Aufseher seine Keule und...
Leonie blinzelte. Wie ein was? Sie versuchte sich darüber klar zu werden, warum sie das gedacht hatte, aber es gelang ihr nicht. Und im nächsten Moment hatte sie diesen Gedanken sogar bereits vergessen. Alles, was zurückblieb, war ein tiefes Gefühl von Leere, als wäre da in ihrem Gedächtnis, wo eine bestimmte Erinnerung sein sollte, nur noch ein schwarzer Abgrund.
Der Kellner hielt mitten im Schritt inne und sah überrascht in Theresas und ihre Richtung. Plötzlich wirkte er mit der halb erhobenen Bratpfanne gar nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch lächerlich. Und er schien es wohl auch selbst zu merken, denn er ließ seine improvisierte Waffe hastig sinken und rettete sich in ein verunglücktes Lächeln, das seine Verlegenheit aber nur noch betonte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er hastig.
»Was war denn los?«, fragte Theresa.
»Nichts«, beteuerte der Kellner. »Kein Grund zur Aufregung. Eines der Mädchen hat ein Tablett fallen lassen, weil es sich vor einer Maus erschreckt hat.«
»Eine Maus?«, wiederholte Theresa stirnrunzelnd. »In einem vornehmen Restaurant?«
»Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert«, versicherte der Kellner in merklich kühlerem Ton. Man sah ihm an, dass er lieber etwas ganz anderes gesagt hätte - etwas, das nicht annähernd so höflich war -, aber er fuhr nach einer winzigen Pause dennoch fort. »Ich werde sofort den Kammerjäger benachrichtigen.«
»Das will ich auch hoffen«, erwiderte Theresa. Sie sank dadurch noch ein gehöriges Stück weiter in Leonies Achtung, aber es fiel ihr sonderbar schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Eine Maus? Irgendetwas daran kam ihr ungemein wichtig vor, aber sie wusste nicht was. Und auch dieser Gedanke entglitt ihr wieder, bevor sie ihn ganz zu Ende denken konnte.
Der Kellner antwortete, und auch Theresa blieb ihm nichts schuldig, aber Leonie hörte nicht mehr hin, sondern nutzte den aufkommenden Streit, um sich endgültig abzusetzen.
Ihr Vater wartete bereits mit sichtlicher Ungeduld auf ihre Rückkehr. Allein während der wenigen Sekunden, die Leonie für die paar Schritte vom Eingang bis zum Tisch brauchte, sah er dreimal demonstrativ auf die Armbanduhr. Er sagte nichts, aber Leonie konnte seinen ärgerlichen Blick selbst durch die getönten Gläser der Sonnenbrille hindurch spüren, als sie neben ihm Platz nahm. Sie begriff ihren Vater immer weniger. Er strahlte eine Aggressivität aus, die man fast mit Händen greifen konnte. War irgendetwas vorgefallen, während sie fort gewesen war?
Leonie rutschte einen Moment lang unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her und nippte schließlich an ihrem Mineralwasser, nur um ihre Hände zu beschäftigen. Ihr Vater sah immer wieder auf die Uhr und sein Blick irrte zur Tür. Vielleicht hatte er ja gar nicht auf ihre Rückkehr gewartet.
Kaum war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da ging die Tür auf und Bruder Gutfried trat ein. Ein Schatten huschte über Vaters Gesicht. »Wer hat den denn eingeladen?«, grollte er und stand auf.
Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm. »Bitte mach keinen Ärger, Klaus«, sagte sie. »Nicht heute.«
»Keine Sorge.« Leonies Vater machte sich mit sanfter Gewalt los. »Ich mache keinen Ärger. Es geht ganz schnell.« Er trat um den Tisch herum, näherte sich Bruder Gutfried, der schon auf halbem Wege zu ihnen war, und brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Stehen. Leonie konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber ihr Vater wirkte ziemlich aufgebracht, während Gutfried immer betroffener aussah. Schließlich drehte sich der Geistliche wieder um und ging - allerdings erst nachdem er Leonie einen langen, sonderbar bedauernden Blick zugeworfen hatte.
»Was wollte er?«, fragte sie, als ihr Vater wieder Platz genommen hatte.
»Sich aufspielen - was weiß ich?«, antwortete ihr Vater ruppig. »Keine Sorge, er wird nicht - ah, endlich!« Er richtete sich gerade in seinem Stuhl auf und wandte sich der Tür zu.
Als Leonie seinem Blick folgte, erkannte sie, dass ein weiterer Gast den Saal betreten hatte. Es war Theresa. Sie befand sich in Begleitung eines jungen Mannes, der nur wenige Jahre älter als sie war und den Leonie bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Als sie Leonies Blick begegnete, warf sie ihr ein flüchtiges, aber trotzdem sehr warmes Lächeln zu, sah sich aber dann suchend um und steuerte zusammen mit ihrem Begleiter einen der wenigen noch frei gebliebenen Sitzplätze an. Ihr Vater, dessen Ungeduld sichtlich immer größer wurde, wartete gerade so lange, bis sie Platz genommen und bei dem unverzüglich herbeigeeilten Kellner eine Bestellung aufgegeben hatten, dann stand er auf, hob sein Weinglas und schlug dreimal leicht mit seinem Kaffeelöffel dagegen. Der hell klingende Ton brachte die Gespräche im Saal augenblicklich zum Verstummen.
»Jetzt, wo wir endlich alle beisammen sind...«, Vater räusperte sich und schoss einen viel sagenden Blick in die Richtung Theresas und ihres Begleiters ab, »... können wir ja anfangen. Zum einen möchte ich euch allen danken, dass ihr gekommen seid. Auch wenn es ein sehr trauriger Anlass ist, der uns zusammenbringt, weiß ich es zu schätzen, die ganze Familie wieder einmal beisammen zu sehen.«
Familie?, dachte Leonie überrascht. Den allergrößten Teil dieser Leute hier kannte sie noch nicht einmal!
»Aber ich weiß natürlich auch, dass es noch einen anderen Grund für diese... Zusammenkunft gibt«, fuhr ihr Vater fort. Man konnte ihm ansehen, wie unbehaglich er sich fühlte. Offensichtlich war das, was er zu sagen hatte, nicht unbedingt angenehmer Natur. »Ihr alle seid natürlich - mit Recht - neugierig zu erfahren, wie es mit der Buchhandlung und Theresas Erbe weitergeht.«
Leonie sah ihren Vater überrascht an. Nach allem, was er vorhin über diese Erbschleicher gesagt hatte, konnte das ja wohl nicht sein Ernst sein?
»Die offizielle Testamentseröffnung«, fuhr ihr Vater mit einem neuen, unbehaglichen Räuspern fort und griff gleichzeitig in die Tasche, um einen schmalen Briefumschlag hervorzuziehen, »ist erst in drei Tagen, aber ich weiß, dass viele von euch eine lange Anreise hinter sich gebracht haben und viele auch nicht so lange bleiben können. Ich habe deshalb hier eine beglaubigte Kopie ihres letzten Willens mitgebracht, die ihr gerne einsehen könnt.«
Er legte eine Pause ein und ein sonderbar erschrockenes Schweigen begann sich im Saal breit zu machen. Etliche Gäste tauschten verwirrte oder auch beunruhigte Blicke miteinander, die meisten aber starrten Leonies Vater einfach nur an. Leonie war sicher, dass sie auf mehr als nur einem Gesicht echte Bestürzung las.
»Aber... wieso letzter Wille?«, fragte Theresa. »Es ist seit mehr als hundert Generationen in unserer Familie üblich...«
»Manchmal muss man auch mit lieb gewordenen alten Traditionen brechen«, fiel ihr Leonies Vater ins Wort. Er wedelte mit seinem Briefumschlag. »Genau aus diesem Grund hat Theresa vor einer Woche dieses Schriftstück verfasst; drei Tage vor ihrem Tod. Wie gesagt, ich lasse es gern herumgehen, damit ihr euch alle von seiner Echtheit überzeugen könnt.« Er reichte dem Gast, der ihm am nächsten war, den Umschlag und gab ihm zu verstehen, dass er ihn öffnen und weitergeben sollte, wenn er seinen Inhalt geprüft hatte.
»Um die Angelegenheit zu vereinfachen«, fuhr er nach einem abermaligen Räuspern fort, »gebe ich euch eine kurze Zusammenfassung seines Inhalts. Es ist alles ein wenig kompliziert, aber es läuft in der Sache auf Folgendes hinaus: Theresa Leonida Kammer hat entschieden, dass ihre Tochter Anna Leonie...«, er deutete auf Leonies Mutter, »... ihr alleiniges Erbe antreten soll.«
Für Leonie, die diesem gesamten Auftritt immer weniger Sinn abgewinnen konnte, war diese Eröffnung nichts Besonderes, schließlich war ihre Mutter Großmutters einziges Kind und somit ganz automatisch auch ihre Erbin.
Allerdings schien sie die Einzige hier zu sein, der es so erging; abgesehen vielleicht von ihrer Mutter.
Vaters Eröffnung hatte buchstäblich eingeschlagen wie eine Bombe. Für eine einzelne Sekunde wurde es so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können, und dann brach ein regelrechter Tumult los. Mit einem Mal sprachen und schrien alle durcheinander, der eine oder andere sprang sogar auf und begann wild zu gestikulieren. Nur Leonies Vater blieb vollkommen ruhig; als hätte er genau diese Reaktion erwartet und sich innerlich darauf vorbereitet. Leonie dagegen war völlig überrascht; sie verstand die ganze Aufregung nicht im Geringsten. Erneut musste sie daran denken, was ihr Vater vorhin auf dem Friedhof gesagt hatte, aber ihr wurde erst jetzt klar, wie bitterernst seine Bemerkung über die Erbschleicher gemeint gewesen war.
Der Tumult dauerte eine volle Minute, bis schließlich Theresa aufstand und mit einer entsprechenden Geste für Ruhe sorgte. Es wurde nicht ganz still, aber immerhin ruhig genug, dass sie sich an Leonies Vater wenden konnte, ohne schreien zu müssen.
»Das kannst du nicht im Ernst meinen«, sagte sie. »Du weißt ganz genau, dass es seit jeher...«
»Es steht überhaupt nicht zur Debatte, was ich meine«, unterbrach sie Leonies Vater ruhig. »Das Einzige, was hier zählt, ist doch wohl der letzte Wille der Verstorbenen, oder? Ich denke, wir alle hier sollten ihn respektieren.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Blatt, das mittlerweile von Hand zu Hand wanderte. Die Reaktion auf den Gesichtern derer, die es lasen, war überall dieselbe: Fassungslosigkeit, Unglaube und hier und da auch etwas, das beinahe an Entsetzen grenzte. »Du kannst es nachprüfen lassen, wenn du willst. Die Unterschrift ist echt.«
»Dieses Blatt Papier interessiert mich nicht!«, rief Theresa erregt. »Ebenso wenig, wie du an dieses angebliche Testament gekommen bist. Ich glaube das einfach nicht.« Sie machte eine entsprechende Geste. »Keiner von uns glaubt es. Es ist vollkommen unmöglich, dass Theresa Leonida das getan haben soll!«
»Was getan?«, murmelte Leonie verständnislos. »Was ist denn hier überhaupt los?«
Ihr Vater gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie schweigen sollte, aber Theresa wandte sich nun direkt an sie und beantwortete ihre Frage: »Ich kann dir schon sagen, was los ist, Leonie! Dieses so genannte Testament kann nicht echt sein. Deine Eltern versuchen dich um dein Erbe zu bringen.«
»Bitte!«, sagte Vater.
»Mein Erbe?« Leonie schüttelte verständnislos den Kopf und deutete auf ihre Mutter. »Sie ist Großmutters nächste Verwandte.«
»Unter normalen Umständen vielleicht«, erwiderte Theresa. »Aber in deiner Familie ist es seit Jahrhunderten Sitte, dass Besitz und Wissen der ältesten Generation immer auf die jüngste Generation übergehen. Wärst du zehn Jahre älter und hättest möglicherweise selbst schon Kinder, dann würde deine Tochter alles erben. Das war schon immer so und es hat einen Grund!«
»Welchen?«, erkundigte sich Leonie.
»Vielleicht hatte es das früher einmal«, erklärte ihr Vater, bevor Theresa antworten konnte. »Und vielleicht war es auch ein guter Grund. Aber die Zeiten ändern sich und die Menschen auch. Meine Schwiegermutter hat nun einmal so entschieden, ob uns das gefällt oder nicht.«
Theresa funkelte ihn an. »Anna, sag doch auch etwas dazu!« Sie wandte sich direkt an Leonies Mutter. »Schließlich gehört dein Mann nicht einmal zur Familie!«
»Es war Mutters letzter Wunsch«, sagte Leonies Mutter leise. Sie starrte weiter ins Leere; auf eine seltsam entrückte Art, die Leonie an die schreckliche Zeit vor vielen, vielen Jahren erinnerte, als ihr kleiner Bruder plötzlich sehr krank geworden und kurz darauf gestorben war. Vielleicht war es die erneute Konfrontation mit dem Tod eines geliebten Menschen, der sie so schrecklich verloren und verletzlich wirken ließ, und ganz so wie damals war es Leonie, die sich deswegen Vorwürfe machte - so als sei sie sowohl schuld am Tod ihres Bruders vor einer halben Ewigkeit als jetzt auch am Tod ihrer Großmutter. »Und«, Mutter raffte sichtlich ihre letzte Kraft zusammen, »ich möchte, dass Klaus für mich spricht.«
»Und du?« Theresa wandte sich fast flehend an Leonie, aber auch sie schüttelte nur den Kopf. Sie verstand die ganze Aufregung nicht im Geringsten.
»Ich glaube das nicht«, beharrte Theresa.
»Damit habe ich gerechnet«, bekannte Leonies Vater gleichmütig. Er griff erneut in die Jackentasche und zog einen zweiten Umschlag hervor. »Ich hatte zwar gehofft, dass es nicht so weit kommt, aber ich hielt es für besser, auf alles vorbereitet zu sein.« Er wedelte mit dem Umschlag. »Das hier ist ein graphologisches Gutachten, das die Richtigkeit der Unterschrift bestätigt.«
»Euer Papier interessiert mich nicht!«, sagte Theresa verächtlich.
Vater lachte. »Das sagt ausgerechnet eine von euch?«, fragte er kopfschüttelnd.
»Es ist vollkommen unmöglich«, beharrte Theresa wieder. »Sie kann das nicht getan haben!«
»Völlig unmöglich!«, pflichtete ihr einer der anderen bei.
Leonies Vater setzte zu einer scharfen Antwort an, aber dann schien er sich im letzten Moment anders zu besinnen. Er beließ es bei einem Seufzen, drehte sich kopfschüttelnd um und gab Leonie und ihrer Mutter mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, dass sie aufstehen sollten.
»Ihr könnt jetzt nicht einfach so gehen!«, keuchte Theresa.
»Wir können und wir werden«, antwortete Vater. Zwar in bedauerndem Ton, doch zugleich auch sehr entschieden. »Ich hatte gehofft, dass es nicht so weit kommt, aber bitte. Die offizielle Testamentseröffnung ist in drei Tagen, wie bereits gesagt. Die Adresse steht auf dem Umschlag. Darunter steht übrigens auch noch die Nummer unseres Rechtsanwalts, falls es noch weitere Fragen gibt.«
»Aber das kann doch alles nicht wahr sein!«, empörte sich Theresa. »Ist... ist euch nicht klar, welches Risiko ihr eingeht? Welchen furchtbaren Schaden ihr anrichten könnt?«
Leonies Vater würdigte sie nicht einmal mehr einer Antwort. Mit einer langsamen Bewegung wandte er sich um und ging zur Tür, dicht gefolgt von Leonie und ihrer Mutter. Ein Chor aufgebrachter Stimmen folgte ihnen, und ein oder zwei beherzte Männer versuchten sogar, sich ihnen in den Weg zu stellen, aber niemand wagte es, sie anzurühren. Leonie wäre in diesem Moment nicht auf die Idee gekommen, ihren Vater auch nur anzusprechen. Er strahlte noch immer diese Mischung aus Feindseligkeit und Entschlossenheit aus, die ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ; schon weil sie sie noch niemals zuvor an ihm erlebt hatte.
Die Einzige, die es wagte, ihnen bis auf den Parkplatz hinaus zu folgen, war Theresa. »So wartet doch!«, rief sie. »Wir müssen miteinander reden! Ihr wisst nicht, was ihr da tut!« Sie wollte Leonies Vater sogar am Arm festhalten, aber er machte sich mit einer wütenden Bewegung los und fuhr herum.
»Ich fürchte, Sie wissen nicht, was Sie da tun«, antwortete er, urplötzlich in eine förmliche, aber dafür umso kältere Anrede wechselnd. »Wenn Sie ein juristisches Problem haben, dann wenden Sie sich bitte an unseren Anwalt. Darüber hinaus wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich und meine Familie nicht länger belästigen würden.«
Der Ausdruck auf Theresas Gesicht war mit nichts anderem mehr als blankem Entsetzen zu beschreiben. Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte Vater noch zwei oder drei Sekunden lang mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verzweiflung an, aber sie sagte nichts mehr, sondern fuhr auf dem Absatz herum und ging mit schnellen Schritten davon. Als sie an Leonie vorbeikam, flüsterte sie ihr zu: »Ich muss mit dir reden. Heute Abend!«
Leonie sah ihr verwirrt nach. Sie hätte sie am liebsten zurückgerufen oder wäre ihr nachgeeilt, aber nach dem, was gerade zwischen ihrem Vater und Theresa vorgefallen war, erschien ihr das wenig ratsam. Noch am Morgen hätte sie ohne zu zögern ihre rechte Hand darauf verwettet, dass ihr Vater niemals seine schlechte Laune an einem Unbeteiligten auslassen würde, aber seit der Beerdigung war Vater irgendwie nicht mehr derselbe. Statt Theresa also nachzueilen und sie zu fragen, was dieser bizarre Auftritt eigentlich sollte, zuckte sie nur schweigend mit den Schultern und ging weiter, um zu ihren Eltern aufzuschließen.
»Denkst du, dass das klug war?«, fragte ihre Mutter gerade. »Ich meine: Vielleicht wäre es besser gewesen, ein wenig... diplomatischer vorzugehen.«
»Diplomatischer?« Ihr Vater stieß das Wort hervor, als wäre es eine Verwünschung. »Und was hätte das geändert?« Er schüttelte zornig den Kopf. »Nichts. Wir hätten sie erst gar nicht einladen sollen!«
»Es war Großmutters Wunsch.« Leonies Mutter seufzte. Sie klang traurig, aber auf eine ganz andere Art als bisher. »Ich konnte nicht ahnen, dass so viele von ihnen kommen.«
»So viele?« Vater nahm die Sonnenbrille ab und grub in der Jackentasche nach seinen Autoschlüsseln. »Wenn du mich fragst, dann waren es alle.«
»Alle was?«, fragte Leonie.
Ihr Vater erstarrte mitten im Schritt und drehte dann mit einem Ruck den Kopf. Er sah überrascht aus, regelrecht betroffen, fast schon wie ertappt, und Leonie wurde klar, dass er geglaubt haben musste, sie wäre noch außer Hörweite.
»Alle was?«, wiederholte er. Er hatte sie verstanden, dessen war Leonie sich völlig sicher. Er stellte die Frage einzig und allein, um Zeit zu gewinnen.
»Du hast gesagt, du glaubst, sie wären alle gekommen«, wiederholte sie dennoch. »Was hast du damit gemeint?«
»Diese Verrückten«, antwortete ihr Vater. »Diese Theresa und der Rest von ihnen. Ich wusste nicht, dass es so viele sind.«
»Aber wer sind sie?«, beharrte Leonie. Sie versuchte ihre Mutter anzusehen, aber diese wich ihrem Blick sofort aus. »All diese Leute... Großmutter hat doch immer erzählt, dass sie außer uns keine lebenden Verwandten mehr hat. Und ihr auch.«
»Das sind auch keine richtigen Verwandten, Schatz«, meinte ihre Mutter.
»Sondern?«
»So einfach lässt sich das nicht erklären«, sagte ihr Vater schnell, bevor Mutter die Frage beantworten konnte. »Bisher habe ich immer gedacht, dass diese Leute einfach nur... komisch sind. Aber vielleicht sollten wir sie doch ein wenig ernster nehmen.« Er schloss die Wagentür auf, machte eine einladende Geste und sprach erst weiter, nachdem sie alle eingestiegen waren und er langsam losgefahren war - nicht ohne vorher einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, wie um sich davon zu überzeugen, dass ihnen auch niemand folgte. »Ich will niemanden beunruhigen, aber es könnte durchaus sein, dass diese Leute auf ihre Weise gefährlich sind. Wir sollten zumindest für eine Weile vorsichtig sein.«
»Du glaubst, sie könnten gefährlich sein?«, vergewisserte sich Leonie.
»Nicht wirklich«, antwortete ihr Vater. Doch sein Tonfall konnte niemanden überzeugen - allerhöchstens davon, dass er das nur sagte, um sie zu beruhigen.
»Ich verstehe überhaupt nicht, was sie von uns wollen«, sagte Leonie verwirrt. »Es ist doch völlig in Ordnung, wenn ihr alles erbt.«
»Das sehen diese Leute offensichtlich anders«, erwiderte Vater. »Immerhin geht es um das Geschäft. Und um eine Menge Geld.«
Natürlich wusste Leonie, dass ihre Großmutter eine vermögende Frau gewesen war; und auch das Geschäft, das sie ihnen hinterlassen hatte, war alles andere als eine unbedeutende, kleine Buchhandlung. Vermutlich ging es sogar um sehr viel mehr, als sie in diesem Moment ahnte. Dennoch ergab es einfach keinen Sinn.
Sie sprach den Gedanken laut aus. »Aber wo ist denn der Unterschied, ob das Geschäft nun euch oder mir gehört?«, fragte sie. »Sie bekommen es doch auf keinen Fall.«
Ihr Vater sah wieder in den Rückspiegel, bevor er antwortete. »Woher soll ich denn wissen, was in den Köpfen dieser Verrückten vorgeht?«, fragte er. »Vielleicht glauben sie, dich leichter beeinflussen zu können als uns.«
»Beeinflussen?«
»Wir erklären dir alles«, sagte ihre Mutter. »Später, wenn wir zu Hause sind.«