Die Schlacht um das Archiv

Noch bevor Leonie und Theresa den Raum erreichten, in den sich ihr Vater und der Großteil der Stadtwache zurückgezogen hatten, begriff sie, was Hendrik gemeint hatte. Hendrik trieb Theresa und sie unbarmherzig vor sich her und hinter ihm zogen sich die letzten Männer der Stadtgarde zurück, rückwärts gehend und ihre Armbrüste und Bogen im Anschlag, und dennoch wären sie um ein Haar in einen Hinterhalt geraten.

Der Weg war nicht besonders weit - vielleicht zwei, drei Dutzend Schritte -, und Leonie war hundertprozentig sicher, dass es in der Wand vor ihnen noch keine Tür gegeben hatte, als sie um die Ecke gebogen waren, doch jetzt war eine Tür da, die mit einem solchen Knall auf- und gegen die Wand flog, dass Steinsplitter und Funken spritzten und Theresa mit einem Schmerzensschrei die Hand an die Wange hob.

Es war die schiere Größe des Angreifers, die ihnen beiden vermutlich das Leben rettete. Die gewaltige Kreatur, die Leonie schon aus dem Zug und später aus dem Leimtopf kannte, brach mit einem ungeheuren Brüllen aus der wie durch Zauberei aus dem Nichts aufgetauchten Tür hervor und griff mit ihren schrecklichen Klauenhänden nach ihnen, und obwohl Hendrik unglaublich kaltblütig reagierte und Theresa blitzschnell zurückriss, hätte das Monster sie wohl erreicht, wäre es mit seiner gewaltigen Schulterbreite nicht einfach in der Tür stecken geblieben.

Hendrik stieß Theresa so unsanft zurück, dass sie gegen die Wand prallte und um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte, sprang dem Ungeheuer entgegen und zog gleichzeitig sein Schwert; kein schlankes Rapier, wie er es bisher bevorzugt hatte, sondern ein wuchtiges Claymore, das Leonie vermutlich nicht einmal mit beiden Händen hätte heben können.

Die zweischneidige Klinge bereitete dem Leben des Ungeheuers ein rasches Ende, aber hinter ihm drängten weitere Angreifer heran. Hendrik beging nicht den Fehler, die erschlagene Kreatur zurückzustoßen, sondern versetzte ihr im Gegenteil einen Tritt, der sie regelrecht in der Tür verkeilte, und zerrte Leonie und Theresa im gleichen Moment mit sich. Irgendwie schafften sie es an der Tür vorbei, doch nur einen Augenblick später wurde die tote Kriegerkreatur zurückgerissen und an ihrer Stelle drängte eine ganze Horde Aufseher und Scriptoren aus dem Gang heraus.

»Lauft!« Hendrik versetzte ihr einen Stoß mit der flachen Hand, der Leonie vorwärts taumeln ließ, fuhr in der gleichen Bewegung herum und schwang seine gewaltige Klinge. Der erste Aufseher, der heranstürmte, bezahlte seinen Mut mit dem Leben, und Hendrik warf in seinem Ungestüm auch noch einen zweiten Krieger zu Boden, aber dann war er mit seinen Kräften endgültig am Ende. Hendrik führte einen ungeschickten Schwerthieb gegen einen dritten Krieger, den dieser aber ohne sonderliche Mühe parierte, und Hendrik wankte unter der Wucht seines eigenen Schwerthiebes zurück und sank stöhnend auf ein Knie herab. Irgendwoher nahm er die Kraft, noch einmal das Claymore hochzureißen und den wuchtigen Keulenhieb des Aufsehers mit der breiten Klinge abzufangen, aber der Schlag riss ihm nicht nur die Waffe aus der Hand, sondern schleuderte ihn auch rücklings zu Boden. Hendrik prallte so hart auf, dass Leonie regelrecht hörte, wie ihm die Luft aus den Lungen getrieben wurde, das Schwert schlitterte klirrend davon und landete unmittelbar vor ihren Füßen, und der Aufseher hob mit einem triumphierenden Brüllen seine Keule, um seinem Gegner endgültig den Garaus zu machen.

Ein ganzer Hagel von Pfeilen flog über Leonie hinweg und ging mit tödlicher Präzision auf den Aufseher nieder. Der Koloss warf die Arme in die Luft und nach hinten, wobei er gleich drei oder vier weitere Angreifer mit sich zu Boden riss. Und dann war der Gang plötzlich voller Männer in weiß-roten Hemden und Pickelhauben, die mit Schwertern, Hellebarden und Dolchen auf die Angreifer eindrangen und sie niederwarfen. Wie aus dem Boden gewachsen stand Leonies Vater vor ihr, aber er hielt jetzt kein Buch mehr in der Hand, sondern ein schlankes Schwert mit beidseitig geschliffener Klinge.

»Bist du verletzt?«, fragte er erschrocken.

Leonie schüttelte nur wortlos den Kopf und ihr Vater sah fragend zu Theresa hin. Sein Blick verdüsterte sich, als sie die Hand herunternahm und er die heftig blutende Wunde sah, die der Splitter in ihre Wange gerissen hatte.

»Verdammt noch mal, wie konnte das passieren?«, schnappte er wütend, während er zu Hendrik herumfuhr. »Wozu bezahle ich dich eigentlich? Meine Tochter hätte ums Leben kommen können!«

Hendrik richtete sich benommen auf. Er zitterte vor Schwäche am ganzen Leib und sein Blick war verschleiert. Leonie bezweifelte, dass er überhaupt begriff, was ihr Vater von ihm wollte. Rasch bückte sie sich nach Hendriks Schwert - es war nicht so schwer, wie sie erwartet hatte, sondern noch erheblich schwerer -, drückte es Hendrik in die Hand und drehte sich so um, dass sie den direkten Blickkontakt zwischen ihm und ihrem Vater unterbrach.

»Es ist nicht seine Schuld!«, rief sie. »Die Tür ist einfach aus dem Nichts aufgetaucht! Er konnte sie nicht sehen, weil sie ganz einfach nicht da war!«

Ihr Vater sah sie eine Sekunde lang zweifelnd an und wandte sich dann an Theresa. »Stimmt das?«

Theresa nickte knapp und aus dem Ausdruck von Zorn auf Vaters Gesicht wurde blankes Entsetzen. »Dann... dann kann er...«

»Dasselbe wie du«, unterbrach ihn Theresa. »Nur vermutlich um etliches besser. Ich schätze, er hat eine Menge mehr Übung.« Sie hob scheinbar gleichmütig die Schultern, aber das täuschte Leonie nicht darüber hinweg, dass ihre Stimme beinahe verächtlich geklungen hatte.

Leonie verstand nicht genau, was Theresa damit meinte, aber ihr Vater schien es dafür umso besser zu begreifen. Er wurde blass, doch Leonie hatte das sichere Gefühl, diesmal mehr vor Schreck als vor Wut. Geschlagene zehn Sekunden lang starrte er einfach ins Leere, und Leonie konnte in dieser Zeit regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann nickte er. »Also gut. Kommt mit. Hendrik - deine Männer sollen den Eingang halten. Ich brauche Zeit.«

Hendrik nickte zwar wortlos, aber angesichts der Tatsache, dass er sich nur schwankend auf den Beinen hielt und kaum noch die Kraft hatte, sein Schwert zu heben, wirkte diese Geste eher lächerlich. Leonie wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber sie fing gerade noch rechtzeitig ein warnendes Kopfschütteln von Theresa auf, und ihr Vater wandte sich auch schon mit einem Ruck um und winkte sie gleichzeitig mit einer so befehlenden Handbewegung heran, dass sowohl Leonie als auch Theresa ganz automatisch gehorchten.

Sie gingen den Tunnel ein kurzes Stück in die Richtung zurück, aus der ihr Vater und die Soldaten gekommen waren, bis sie zu einer weiteren der niedrigen Türen gelangten, die es hier überall gab. Leonie hatte kein gutes Gefühl, als sie sich dicht hinter ihrem Vater unter dem niedrigen Türsturz hindurchbückte, aber sie erlebte eine Überraschung: Der Raum auf der anderen Seite erwies sich nicht nur als unerwartet groß, er war auch keine kahle Zelle mit nassem Stroh auf dem Boden und nackten Steinwänden, in die eiserne Ringe und Ketten eingelassen waren, sondern eher etwas, das sie als Studierzimmer bezeichnet hätte, wenn es sich dabei auch um eines handelte, das aus einer mindestens tausend Jahre zurückliegenden Vergangenheit stammen musste: Die Wände waren mit schwerem dunkelbraunem Holz vertäfelt und es gab eine Anzahl einfacher, aber sehr gemütlich aussehender Möbel und sogar einen großen offenen Kamin, in dem ein prasselndes Feuer behagliche Wärme verbreitete. Unmittelbar davor stand ein kostbarer geschnitzter Schreibtisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Dasselbe, das ihr Vater draußen unter dem Arm getragen hatte - aber Leonie erkannte es jetzt auch als das wieder, das sie in Vaters Safe gesehen hatte.

»Passt an der Tür auf«, befahl Vater, während er mit schnellen Schritten um den Schreibtisch herumeilte und in dem wuchtigen Stuhl dahinter Platz nahm.

Die Worte galten dem halben Dutzend Männer, die mit ihnen hereingekommen waren. Diejenigen von ihnen, die es nicht ohnehin schon getan hatten, zogen ihre Waffen und nahmen in einem dichten Halbkreis vor der Tür Aufstellung, während Leonie und Theresa Vater folgten.

»Was tust du da?«, fragte Leonie verwirrt. »Glaubst du wirklich, dass jetzt der richtige Moment...«

Ihr Vater brachte sie mit einer unwilligen Geste zum Schweigen. »Ich suche einen Weg hier raus.«

»Und du glaubst, der steht in diesem...« Leonie brach mitten im Satz ab. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. »Wie hatte sie nur so dumm sein können?! ... Buch«, murmelte sie.

Ihr Vater reagierte nicht, sondern zog einen schweren schwarzgoldenen Füller aus der Jacke und schraubte scheinbar in aller Gelassenheit die Kappe ab.

»Das Buch...«, murmelte sie. »Ist es also... doch das? Ist... ist es das Buch, das der Archivar von uns haben wollte?«

»Nicht jetzt«, antwortete ihr Vater unwillig. Er sah sie nicht an, sondern blickte mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf das aufgeschlagene Buch vor sich. »Bitte, Leonie! Du kannst mir später Vorwürfe machen, aber jetzt müssen wir einen Weg hier raus finden.«

»Das wäre nicht nötig, wenn du diesen Irrsinn erst gar nicht angefangen hättest«, bemerkte Theresa spitz. Fast zu Leonies Überraschung reagierte ihr Vater nur mit einem kurzen eisigen Blick in ihre Richtung, bevor er sich wieder über das Buch beugte. Der Stift senkte sich auf die eng beschriebenen, vergilbten Seiten und hob sich dann wieder, ohne sie berührt zu haben.

»Tu es nicht«, sagte Theresa beinahe flehend. »Es ist doch wirklich schon genug Schaden angerichtet worden, oder etwa nicht?«

Leonies Vater sah noch einmal auf und bedachte sie mit einem langen, schwer zu deutenden Blick. »Willst du sterben?«, fragte er ganz ruhig.

Noch bevor Theresa antworten konnte, erklang draußen auf dem Gang ein warnender Schrei und unmittelbar danach wieder das Klirren von Waffen. Vater schüttelte den Kopf, seufzte tief und machte einen raschen Federstrich, und Theresa zuckte zusammen und hob die linke Hand an die Wange, dorthin wo sie der Steinsplitter getroffen hatte. Ihre Haut war unversehrt, aber es war ein kleines Wunder, dass das winzige Geschoss sie nicht ernsthaft verletzt hatte. Die Sache hätte - wortwörtlich - ins Auge gehen können. Seltsamerweise lächelte Vater zufrieden, obwohl Leonie der Grund dafür rätselhaft blieb.

Der Kampflärm nahm an Intensität zu und Theresa sah nervös zur Tür hin und machte dann einen Schritt zurück. Sie fuhr sich abermals mit der Hand über die Wange, rieb die Finger aneinander und betrachtete sie nachdenklich.

Leonie beugte sich mit klopfendem Herzen vor und versuchte einen Blick auf die aufgeschlagenen Seiten des Buches zu werfen, was ihr auch gelang - aber sie konnte die winzige, verschnörkelte Handschrift trotzdem nicht entziffern.

»Also... stimmt es tatsächlich«, murmelte sie stockend und immer noch wie unter Schock. »Das... das ist das Buch, nicht wahr? Das Buch, das der Archivar von mir wollte!«

Theresa nickte zögernd. Ebenso wie Leonie blickte sie nervös auf das Buch auf dem Schreibtisch und - zumindest kam es Leonie so vor - noch deutlich nervöser auf den schweren, altmodischen Füllfederhalter, den ihr Vater in der Hand hielt, aber sie sagte nichts, sondern gab Leonie mit einem verstohlenen Wink zu verstehen, dass sie ihr folgen sollte, und zog sich dann ein paar Schritte zurück; ganz bestimmt nicht rein zufällig gerade weit genug, dass Vater sie nicht mehr verstehen konnte, als sie mit gesenkter Stimme antwortete.

»Ja. Das ist es. Das ist...«, Leonie hatte das sichere Gefühl, dass sie etwas Bestimmtes sagen wollte und sich im allerletzten Moment eines Besseren besann, wodurch sie für einen winzigen Augenblick ins Stocken geriet, »... das Buch deiner Großmutter.«

Es dauerte einen Moment, bis Leonie überhaupt begriff, was Theresas Antwort wirklich bedeutete. »Moment mal«, sagte sie. »Soll das heißen, dass dieses... dass dieses Buch das Leben meiner Großmutter verkörpert?«

»So könnte man es ausdrücken«, meinte Theresa. Sie wirkte bedrückt. »Das Buch, in dem das Leben deiner Großmutter aufgezeichnet ist.«

»Das ist das Buch, das der Archivar von mir haben wollte?«, vergewisserte sich Leonie. »Weswegen er uns in diese Falle gelockt und dich um ein Haar umgebracht hätte?«

Theresa nickte.

»Aber warum?«, fragte Leonie verstört. »Es... es ist doch nur ein Buch. Und er hat Millionen davon. Milliarden sogar.«

»So einfach ist das leider nicht«, erwiderte Theresa.

»Dann erklär es mir«, verlangte Leonie.

Theresa warf einen beunruhigten Blick zur Tür hin, bevor sie antwortete. Der Kampflärm war mittlerweile deutlich näher gekommen. Leonie dachte kurz an die gewaltige Masse von Kriegern zurück, die sie unten in der Halle gesehen hatte, und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wusste nicht, wie viele Männer Hendrik und ihr Vater zu ihrer Unterstützung mitgebracht hatten, aber ganz egal, wie viele es waren, es waren auf keinen Fall genug. Hendrik würde die Krieger des Archivars allenfalls ein paar Minuten aufhalten können, und auch das nur mit viel Glück.

»Das ist nicht so einfach«, sagte Theresa noch einmal. Sie sah nervös (oder ängstlich?) zu Vater hin. »Es spielt im Grunde keine Rolle, ob er ein Buch hat oder alle, verstehst du?«

»Sicher«, erwiderte Leonie und schüttelte heftig den Kopf.

Theresa lächelte flüchtig. »Ja. Ich habe auch lange gebraucht, um es zu verstehen. Und um ehrlich zu sein, bin ich bis heute nicht sicher, dass ich es wirklich verstanden habe.« Sie hob unglücklich die Schultern. »Vielleicht können wir es nicht verstehen... jedenfalls gibt es im Grunde nur ein einziges Buch.«

»Unsinn«, widersprach Leonie. »Du musst dich täuschen. Ich habe den Schreibsaal mit eigenen Augen gesehen! Allein dort waren es Tausende von Büchern! Und noch unendlich viel mehr standen oben in den Regalen!«

»Und trotzdem ist es immer dasselbe«, beharrte Theresa. »Versuche nicht es zu verstehen. Es ist eben so.«

Leonie versuchte es trotzdem - aber das einzige Ergebnis war, dass sich ihre Verwirrung noch steigerte. Unsicher sah sie zu ihrem Vater hin. Er saß scheinbar vollkommen reglos über das Buch gebeugt da, und auf seinem Gesicht lag nicht nur ein Ausdruck höchster Konzentration, sondern auch ein Netz feiner, glitzernder Schweißperlen. Die Hand, die den Füller hielt, zitterte sichtlich, und allein in den wenigen Augenblicken, die Leonie ihn ansah, senkte er die Spitze des Schreibgerätes drei- oder viermal auf das Buch hinab und zog sie dann wieder zurück, ohne irgendetwas geschrieben zu haben. Wenn Leonie ihren Vater jemals nervös gesehen hatte, dann jetzt.

»Es muss doch irgendeinen Ausgang geben«, sagte sie in fast verzweifeltem Ton.

»Keinen, den wir nehmen könnten«, antwortete Theresa. Sie versuchte aufmunternd zu lächeln, aber es geriet eher zur Grimasse.

Ein gellender Schrei drang vom Gang herein. Leonie fuhr erschrocken herum und auch der Kopf ihres Vaters flog mit einem Ruck in den Nacken. Einen Moment später erscholl ein zweiter, noch gellenderer Schrei, und aus dem Ausdruck von Sorge auf dem Gesicht ihres Vaters wurde etwas, von dem sich Leonie weigerte, es als das zu erkennen, was es ganz zweifelsfrei war - Verzweiflung -, weil dieses Eingeständnis ihre eigene Angst noch mehr geschürt hätte.

»Es... es muss einfach einen Ausgang geben«, murmelte sie. »Ich habe es schon einmal geschafft.« Immer verzweifelter sah sie sich um.

Und dann war die Tür da, von einem Lidschlag auf den anderen, genau wie damals, als sie zusammen mit ihren Eltern in der Zelle gesessen hatte: eine schmale holzverkleidete Tür, die in der dunklen Holzvertäfelung der Wände nur auffiel, wenn man wirklich ganz genau hinsah. Leonie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und deutete auf die Tür, aber Theresas Reaktion fiel vollkommen anders aus, als sie erwartet hatte: Die junge Frau lächelte nur traurig und machte eine Geste in die entsprechende Richtung, die irgendwie resigniert wirkte. Leonie sah sie noch einen Moment lang verwirrt an, aber dann ging sie mit raschen Schritten hin und riss die Tür auf.

Dahinter lag eine massive Wand aus dunkelroten Ziegeln.

»Spar dir die Mühe«, sagte Theresa traurig. »Und wenn du noch hundert Ausgänge finden würdest - auf diese Weise kommen wir hier bestimmt nicht raus.«

»Aber wieso?« Leonie trat einen Schritt zurück und musterte hilflos die dunkelbraune, fugenlos vertäfelte Wand vor sich. »Du hast doch selbst gesagt, dass wir...«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach sie Theresa. »Aber wir sind hier in seinem ureigensten Reich. Du und ich, wir können die Wirklichkeit zwar erkennen, aber nur er kann sie verändern. Wenigstens hier.«

Wieder wehte ein Schrei vom Gang herein, gefolgt von einem dumpfen Krachen und einem Brüllen, das ganz bestimmt nicht aus einer menschlichen Kehle stammte, und nur einen Augenblick später taumelte ein blutüberströmter Soldat der Stadtgarde herein und brach nach wenigen Schritten zusammen. Schon im nächsten Moment folgte ihm Hendrik. Er bot einen kaum besseren Anblick als der Krieger vor ihm und er war nun so erschöpft, dass er nur zwei oder drei Schritte weit taumeln konnte, ehe er kraftlos gegen die Wand sank.

»Sie brechen durch«, keuchte er. »Wir können sie nicht aufhalten. Es sind einfach zu viele.«

Leonies Vater sah nur für eine halbe Sekunde auf und senkte den Blick dann wieder auf die eng beschriebenen Seiten des Buches vor sich. Seine Hand zitterte, als er die goldene Spitze des Füllfederhalters ansetzte und dann mit einer plötzlich entschlossenen Bewegung etwas durchzustreichen und neu zu schreiben begann.

Nervös sah Leonie auf die Stelle, wo vor einem Moment die Tür erschienen und kurz darauf wieder verschwunden war. Und dann fuhr sie so heftig zusammen, dass Theresa ihr einen raschen alarmierten Blick zuwarf.

»Wieso kann ich mich daran erinnern?«, fragte sie. »Wenn er die Wirklichkeit verändern kann, wieso weiß ich dann, dass dort gerade eine Tür war und jetzt nicht mehr?«

Theresa lächelte. Aus irgendeinem Grund schien sie die Frage zu freuen. »Weil du die Gabe hast«, sagte sie in beinahe stolzem Tonfall.

»Aber bisher...«

»... war sie noch nicht vollkommen in dir erwacht«, unterbrach sie Theresa. »Aber bald ist es so weit. Nicht mehr lange und sie wird dir vollkommen zur Verfügung stehen.«

Wenn wir dann noch am Leben sind, dachte Leonie schaudernd. Das kurze Gespräch mit Theresa hatte nur wenige Sekunden gedauerte; dennoch hatte diese winzige Zeitspanne gereicht, um die Situation an der Tür dramatisch zu verändern. Hendrik hatte sich zumindest weit genug erholt, um sich zu Vaters Schreibtisch zu schleppen, und hinter ihm drängten weitere Kämpfer der Stadtgarde herein. Die Männer waren ausnahmslos verletzt, einige von ihnen so schwer, dass sie kaum noch gehen konnten. Hinter ihnen versuchten riesenhafte Gestalten sich hereinzudrängen, die aber von den Gardisten zurückgetrieben wurden.

Aber wie lange noch?, dachte Leonie schaudernd. Selbst wenn sie die Verwundeten mitzählte, blieben Hendrik vielleicht noch zwölf oder fünfzehn Männer; so gut wie nichts gegen die gewaltige Armee, über die der Archivar gebot.

»Haltet sie auf«, rief Vater. »Nur noch einen Augenblick. Ich bin gleich so weit.« Er sah nicht einmal hoch, sondern fuhr fort, mit dem schweren Füllfederhalter in dem aufgeschlagenen Buch zu schreiben.

»Ich hoffe, er weiß, was er tut«, murmelte Theresa gepresst. »Ein Fehler und alles ist aus.«

»Hast du nicht gerade gesagt, dass wir hier sowieso nicht mehr rauskommen?«, fragte Leonie.

»Wir?« Theresa schien im ersten Moment nicht zu wissen, wovon Leonie sprach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das habe ich nicht gemeint«, sagte sie düster.

Leonie verzichtete darauf, nachzubohren, aber sie wäre wohl auch gar nicht dazu gekommen. Das Handgemenge an der Tür hörte für einen Moment auf, aber nur um schon im nächsten Augenblick erneut und mit doppelter Wucht loszubrechen. Genau wie bei dem Hinterhalt im Gang war es vermutlich nur die schmale Tür, welche die Hand voll Verteidiger davor bewahrte, schlichtweg überrannt zu werden. Zwei, drei gewaltige Krieger versuchten einzudringen und spießten sich selbst an den Hellebarden der Verteidiger auf, wodurch sie ihren nachdrängenden Kameraden gleichzeitig den Weg versperrten, und hätten die Gardisten gegen menschliche Gegner gekämpft, hätten sie sich auf diese Weise vielleicht sogar noch eine Weile halten können.

Aber ihre Gegner waren keine Menschen, und so wenig, wie sie Gnade oder Mitleid kannten, kannten sie Furcht oder auch nur Rücksicht sich selbst gegenüber. Es gelang den Gardisten, zwei oder drei Aufseher zurück in den Gang zu schleudern, und fast schien es, als hätte das Schicksal der riesigen Geschöpfe den Kampfeswillen ihrer Kameraden draußen gebrochen, doch dann warf sich eine weitere gepanzerte Kreatur mit ausgebreiteten Armen und einem gewaltigen Brüllen durch die Tür herein. Wie ihre Vorgänger wurde auch sie von den drohend vorgereckten Spitzen der Hellebarden empfangen und spießte sich selbst daran auf, aber die ungestüme Wut ihres Angriffs schleuderte auch zwei oder drei Verteidiger zu Boden. Vielleicht für eine Sekunde oder weniger gerieten ihre Reihen ins Wanken, und diese winzige Zeitspanne reichte, um den Kampf endgültig zu entscheiden. Ein weiterer Aufseher drängte herein, dann noch einer und noch einer. Auch sie teilten das Schicksal ihres Vorgängers und rannten offenen Auges in ihr Verderben, aber ihr selbstmörderisches Opfer zerbrach den Verteidigungsring endgültig. Vier, fünf, sechs, schließlich ein Dutzend Krieger stürmten herein und trieben die Verteidiger erbarmungslos und so schnell zurück, dass es nicht einmal zu einem echten Kampf kam. Hendriks Männer vermochten dem Vormarsch der gepanzerten Ungeheuer vielleicht ein wenig von seinem Schwung zu nehmen, aber nicht ihn wirklich aufzuhalten. Die Männer der Stadtgarde wurden regelrecht niedergerannt.

Auch Leonie fühlte sich roh gepackt und herumgerissen, aber es war nur Hendrik, der Theresa und sie in Richtung Schreibtisch stieß, sich aber auch zugleich schützend vor sie stellte und mit einer entschlossenen Bewegung sein Schwert hob, um sie vor den heranrückenden Kriegern zu verteidigen. Es war allenfalls eine symbolische Geste. Es kam Leonie diesmal nicht nur so vor: Sie sah ganz deutlich, dass Hendrik all seine Kraft brauchte, um das schwere Claymore auch nur zu heben.

Die Situation war so absurd, dass sie nicht einmal richtig erschrak. Was sie erlebte konnte einfach nicht wahr sein. Großer Gott - sie war ein junges, modernes Mädchen, das am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebte und mit Dingen wie DVD-Recordern, Internet und computergesteuerten, vollautomatischen Küchen aufgewachsen war, und ihre unheimlichste Begegnung vor diesem Abenteuer war die mit den Kochkünsten ihrer Tante gewesen, die sie gottlob nur alle paar Jahre einmal besuchte - und jetzt sollte sie von einem Ungeheuer, das geradewegs einem Film von Steven Spielberg entsprungen sein konnte, mit einem Schwert erschlagen werden? Das war lächerlich!

Unglückseligerweise war es nicht nur lächerlich, sondern auch wahr. Hendrik hatte sie zusammen mit Theresa so dicht gegen den Schreibtisch gedrängt, dass sie die harte Kante in den Nieren spüren konnte, und sich zusammen mit den zwei oder drei Männern der Stadtgarde, die als einzige noch auf den Beinen standen, schützend vor ihnen aufgebaut. Und noch während Leonie versuchte zu begreifen, was sie sah, rollte eine neue Welle der unheimlichen Angreifer heran. Erst einer, dann der zweite und schließlich der dritte Soldat fielen unter der ungestümen Wut der Ungeheuer, und dann war es nur noch Hendrik, der zwischen ihnen und dem sicheren Tod stand. Theresa schrie auf, während Leonie selbst stumm und wie gelähmt dastand und den riesigen gepanzerten Kreaturen entgegenblickte, als reiche es, die Gefahr einfach nur zu verleugnen, um ihr zu entgehen.

Auf eine sonderbare Art distanziert, als erlebe sie das alles nicht wirklich, sondern nur im Traum, beobachtete sie, wie Hendrik sein Schwert hochriss und ein riesiger Aufseher ihm die Waffe bereits mit dem ersten Hieb aus der Hand schleuderte; sie flog davon und Hendrik taumelte, von der schieren Wucht des Schlages getrieben, rückwärts gegen Theresa und riss sie mit sich zu Boden. Ein zweiter Aufseher stürmte heran und zog seine Waffe, um zu Ende zu bringen, was sein Kamerad begonnen hatte, und dann, im allerletzten Moment, war es ihr, als wäre die Zeit stehen geblieben: Das halbe Dutzend gigantischer, in schwarzes Eisen und reißende Stacheln gehüllter Gestalten, das sie umgab, erstarrte mitten in der Bewegung, und für einen winzigen, aber spürbaren Moment wurde es fast unheimlich still.

Jeder Laut erlosch. Selbst ihr Herzschlag schien für einen Augenblick auszusetzen; der einzige noch hörbare Laut war ein sonderbar helles, hektisches Kratzen, wie von Metall, das über raues Papier glitt.

Und dann geschah etwas, das ihr im allerersten Moment noch viel unglaublicher vorkam: Statt zu Ende zu bringen, wozu sie gekommen waren, senkten die monströsen Angreifer mit einem Mal ihre Waffen und zogen sich langsam ein paar Schritte zurück. Unmittelbar vor der Tür bildete sich eine Lücke in ihrem bisher undurchdringlichen Kreis, durch die eine hoch gewachsene Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel schritt.

Ganz langsam kam der Archivar auf sie zu. Leonie konnte sein Gesicht unter der schwarzen Kapuze jetzt genauso wenig wie zuvor erkennen, spürte nur wieder die Berührung seines Blickes wie die einer rauen Hand und wie immer krümmte sich etwas in ihr unter der bloßen Nähe dieses... Dinges. Wenn sie jemals daran gezweifelt haben sollte, so war sie nun sicher, keinem Geschöpf Gottes gegenüberzustehen, keinem wie auch immer gearteten Wesen, das in dieser oder irgendeiner anderen vorstellbaren Welt lebte. Die Kreatur kam ihr so nahe, dass sie sie mit dem ausgestreckten Arm hätte berühren können, und erneut wehte ein körperloser, eisiger Hauch zu Leonie herüber, so fremdartig und böse, dass sie ein leises, angsterfülltes Wimmern nicht unterdrücken konnte.

DAS BUCH.

»Aber ich weiß doch nicht, was du meinst«, schluchzte sie leise.

Aber das stimmte nicht. Spätestens Theresas Worte hatten ihr klar gemacht, dass sie es in Wahrheit die ganze Zeit über gewusst hatte - so wie der Archivar vom ersten Augenblick an in ihren Gedanken gelesen hatte. Irgendetwas in ihr hatte lediglich mit Erfolg verhindert, dass dieses Wissen tatsächlich in ihr Bewusstsein drang, aber nun, einmal ausgesprochen, konnte sie es nicht mehr verleugnen. Es war das Buch ihrer Großmutter, das dieses Ungeheuer von ihr verlangte, das Buch, das sie in Vaters Safe gesehen hatte und das nun aufgeschlagen auf dem Schreibtisch hinter ihr lag. Zitternd und so mühsam, als koste sie diese winzige Bewegung alle Kraft, die sie aufbringen konnte, drehte sie sich um und sah ihren Vater an.

Er hatte aufgehört zu schreiben und blickte mit vollkommen unbewegtem Gesicht zu der unheimlichen Erscheinung hoch. Als er Leonies Bewegung registrierte, löste er seinen Blick für einen winzigen Moment von dem unsichtbaren Gesicht unter der Kapuze, um ihr zuzulächeln, wandte sich dann aber sofort wieder dem Archivar zu.

DAS BUCH.

Die Worte hämmerten mit solcher Wucht in ihren Gedanken, dass Leonie taumelte und gestürzt wäre, hätte sie sich nicht instinktiv an der Schreibtischkante festgehalten. Ihre Knie zitterten und sie spürte, wie die Kraft immer schneller und schneller aus ihrem Körper wich, fast als reiche die bloße Nähe des unheimlichen Geschöpfes, um ihr jegliche Kraft zu rauben. Ihre Angst hatte eine Qualität erreicht, für die sie nicht einmal Worte fand, denn wenn es überhaupt etwas gab, was sie mit Sicherheit über diese schreckliche Kreatur in ihrem schwarzen Mantel sagen konnte, dann dass das, was sie ihr antun würde, tausendmal schlimmer sein musste als der Tod.

»Lass sie in Ruhe«, sagte ihr Vater ruhig. Er stand auf. Der Archivar wandte sich langsam in seine Richtung, aber seine fordernd ausgestreckte Hand wies nach wie vor auf Leonie.

DAS BUCH.

»Sie kann es dir nicht geben, weil es mir gehört«, erklärte ihr Vater. »Also lass sie in Ruhe! Das hier ist eine Sache zwischen uns.«

Er setzte sich wieder. Seine Hand, die noch immer den altmodischen Füller hielt, senkte sich auf die aufgeschlagene Seite, und Leonie schob es auf die Panik, die in ihren Gedanken tobte, dass sie den Eindruck hatte, den Archivar fast erschrocken zusammenfahren zu sehen. Es musste ein Irrtum sein. Es gab nichts in diesem Universum, was dieser monströsen Erscheinung Angst machen konnte.

»Keine Angst«, sagte ihr Vater, leise, in verändertem Ton und nunmehr ganz an sie gewandt. »Er wird dir nichts tun. Er braucht dich.«

Der Archivar starrte sie an. Noch einmal - zum letzten Mal - erklang seine unmenschliche, fordernde Stimme in ihren Gedanken, dann wich er, rückwärts gehend, bis zur Tür zurück und hob den Arm.

Der Befehl galt seinen Kriegern. Derjenige, der Hendrik niedergeschlagen hatte, setzte einen gewaltigen, in einem schweren eisernen Stiefel steckenden Fuß auf Hendriks Brust um ihn niederzuhalten. Ein zweiter packte Theresa und riss sie so brutal in die Höhe, dass sie einen kleinen Schmerzensschrei ausstieß, während sich ein drittes Geschöpf unmittelbar vor Leonie aufbaute und eine knappe, aber drohende Handbewegung machte, an deren Bedeutung es keinen Zweifel gab. Die übrigen Krieger gingen langsam um den Schreibtisch herum und auf ihren Vater zu. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Waffen zu ziehen - wozu auch? Jedes einzelne der unheimlichen Geschöpfe war weit über zwei Meter groß, hatte die Schulterbreite eines Riesen und Hände, die aussahen, als könnten sie damit so mühelos Zaunpfähle zerbrechen, wie Leonie ein Streichholz umgeknickt hätte. Ihr Vater sah ihnen ruhig entgegen, und gerade als der erste Aufseher die Hand nach ihm ausstreckte um ihn zu packen, machte er einen blitzschnellen Federstrich.

Die Wand hinter Leonies Vater teilte sich und spie ein halbes Dutzend Armbrustschützen aus. Noch bevor das gepanzerte Ungeheuer seine Bewegung auch nur halb zu Ende bringen konnte, feuerten sie ihre Waffen ab, und der Koloss taumelte, von drei oder vier eisernen Armbrustbolzen zugleich getroffen, zurück und riss ein paar seiner Kameraden mit sich zu Boden. Die, die ihm entgingen, wurden von den restlichen Armbrustschützen getroffen und stürzten ebenfalls.

Und in der gleichen Sekunde verwandelte sich die Kammer in ein Tollhaus. Plötzlich waren überall Türen, die krachend aufsprangen oder gleich in Stücke gerissen wurden, und Dutzende von Männern in den weiß-rot gestreiften Hemden, schimmernden Brustharnischen und Helmen der Stadtgarde stürmten herein. Sie bewegten sich unglaublich schnell, und obwohl Leonie viel zu überrascht und verwirrt war, um wirklich Einzelheiten zu erkennen, hatte sie doch das Gefühl, dass diese Männer weit größer und muskulöser waren als die, die Hendrik begleitet hatten, und den Aufsehern in Kraft und Wildheit keineswegs nachstanden.

Schwerter und Hellebarden blitzten, Armbrustbolzen und Pfeile flogen und binnen weniger Augenblicke waren die Krieger des Archivars niedergemacht; einschließlich derer, die Hendrik und Theresa festhielten.

Auch an Leonies Ohr zischten gleich drei Pfeile vorbei (einer davon tatsächlich so dicht, dass sie die Berührung seiner Federn spüren konnte!), die sich knirschend durch die Rüstung des Aufsehers neben ihr bohrten und das gigantische Geschöpf zurücktaumeln ließen. Aus einem blinden Reflex heraus schlug die Bestie noch im Zusammenbrechen nach ihr. Leonie reagierte blitzartig, duckte sich unter dem Hieb, der ihr vermutlich den Kopf von den Schultern gefegt hätte, und wollte herumfahren, aber Hendrik packte sie noch in der Bewegung am Arm und riss sie so grob zu Boden, dass sie vor Schmerz keuchte. Sie wollte sich losreißen, doch Hendrik zerrte sie im Gegenteil mit noch größerer Kraft mit sich, griff mit der anderen Hand nach Theresa und stieß sie beide unsanft in eine Ecke des Raumes, um mit gespreizten Beinen und abwehrbereit erhobenen Armen vor ihnen Aufstellung zu nehmen.

Aber es gab nichts mehr, wovor er sie hätte schützen müssen. Der Kampf war noch nicht vorbei, denn auf der anderen Seite des Zimmers waren plötzlich neue und größere Türen aus dem Nichts entstanden, durch die Krieger des Archivars hereinstürmten, doch man musste keine große Erfahrung in solchen Dingen haben um zu sehen, wie aussichtslos der Angriff war. Für jeden Aufseher und Redigator, der hereinkam, tauchten drei, vier, fünf Männer der Stadtwache auf, und Leonie sah nun, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Jeder einzelne dieser mittelalterlich anmutenden Soldaten war ein wahrer Riese, gegen den selbst Hendrik schmächtig und klein wirkte.

Die Krieger des Archivars fielen beinahe so schnell, wie sie hereinstürmten, und nicht einer kam auch nur in Theresas und ihre Nähe. Obwohl sie ununterbrochen Nachschub erhielten, wurden sie doch unbarmherzig zurückgetrieben, sodass sich der Kampf rasch auf den Bereich vor der Tür verlagerte und es nicht einmal eine Minute dauerte, bis die ersten Männer der Stadtgarde hinaus auf den Gang drängten, um die Angreifer weiter zurückzuschlagen.

Ungläubig sah Leonie zu ihrem Vater hin. Er saß in fast lässiger Haltung hinter dem gewaltigen Schreibtisch und beobachtete die bizarre Schlacht mit einer Miene, deren Ausdruck zwischen Verachtung und höchster Aufmerksamkeit schwankte. Irgendwann senkte er seinen Stift auf das Buch und schien wieder etwas durchzustreichen oder hinzuzufügen; Leonie war viel zu weit entfernt und viel zu aufgeregt um sagen zu können, ob er tatsächlich schrieb oder es ihr nur so vorkam.

»Großer Gott, nein!«, murmelte Theresa. »Leonie, mach bitte, dass er aufhört. Weiß er nicht, was er da anrichtet?«

»Immerhin hat er uns das Leben gerettet«, sagte Hendrik, aber Theresa sah ihn nur auf eine Art an, die Leonie einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.

»Da wäre ich nicht so sicher«, erwiderte sie.

Leonie sah abwechselnd Theresa und ihren Vater mit wachsender Verwirrung an. Sie verstand nicht wirklich, wovon Theresa sprach, aber ihre Worte berührten doch etwas in ihr, das sie erneut schaudern ließ; als wäre tief in ihr ein geheimes Wissen, das ihr trotz allem noch immer verborgen blieb, dessen Bedeutung und Tragweite sie aber dennoch spürte. Zögernd blickte sie wieder zum Ausgang hin. Der Kampf tobte noch immer mit unverminderter Wucht, das hörte sie jetzt mehr, als sie es sah - nur hier und da wehrten sich noch einige Aufseher erbittert gegen die immer größer werdende Übermacht und auch an ihrem Schicksal gab es keinen Zweifel. Der Großteil der so scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten Krieger jedoch hatte die Kammer bereits verlassen, und so gewaltig der Kampflärm draußen auch war, so schnell entfernte er sich zugleich. Die Krieger des Archivars wehrten sich erbittert, aber sie wurden offensichtlich sehr schnell zurückgedrängt.

Fragend sah sie Hendrik an, und als er ihren Blick mit einem angedeuteten Nicken beantwortete, ging sie an ihm vorbei und trat zu ihrem Vater hin. Auf halbem Wege wurde sie von Theresa überholt, die heftig mit beiden Armen gestikulierte und ganz so aussah, als könne sie sich nur mit Mühe beherrschen, sich nicht einfach auf Vater zu stürzen und ihm den Stift zu entreißen.

»Was tust du da?«, fragte sie. »Das darfst du nicht! Du weißt nicht, was du anrichtest! Du...«

»Nicht jetzt«, schnitt ihr Vater das Wort ab. »Bitte, Theresa. Was immer du mir zu sagen hast - tu es später.«

»Später ist es zu spät«, antwortete Theresa erregt. Sie machte tatsächlich Anstalten, nach dem Buch zu greifen, aber Leonies Vater streckte rasch die Hand aus und hielt ihren Arm mit stählernem Griff fest.

»Nicht jetzt, habe ich gesagt!«, sagte er eisig.

»Aber...«

»Hendrik!« Leonies Vater machte eine entsprechende Geste mit der freien Hand. »Das hier ist nicht der richtige Ort für zwei junge Frauen. Bitte bring meine Tochter und unseren Gast dorthin, wo sie in Sicherheit sind.«

»Ich bitte dich, hör auf!«, flehte Theresa. Sie versuchte sich loszureißen, aber Leonies Vater schien die Bewegung nicht einmal zu spüren. Ohne die geringste Mühe hielt er sie fest, bis Hendrik, der nun plötzlich wieder so frisch und ausgeruht wirkte, als käme er gerade aus einem Erholungsurlaub, hinter sie getreten war und ihr fast sanft die Hand auf die Schulter legte.

»Bitte sei vernünftig«, sagte er. »Ich möchte dir nicht wehtun.«

Theresa fuhr mit einer wütenden Bewegung herum und funkelte ihn an. »Aber ich wette, du würdest es, wenn du müsstest, wie?«, schnappte sie.

Hendriks Antwort bestand nur aus einem bedauernden Achselzucken, an dessen Bedeutung es aber keinen Zweifel geben konnte. Theresa funkelte ihn noch einen Moment lang herausfordernd an, dann jedoch konnte Leonie regelrecht sehen, wie alle Kraft aus ihr wich und sie innerlich aufgab. Widerstandslos trat sie zurück und folgte Hendrik, als er sie behutsam in Richtung Ausgang schob.

»Was bedeutet denn das nur?«, murmelte Leonie. Als ob sie es nicht gewusst hätte! Aber es war so wie mit dem Wissen um das Buch: Auch wenn sie es die ganze Zeit über geahnt hatte, so weigerte sie sich doch selbst jetzt noch, diese Ahnung zu der Gewissheit werden zu lassen, die sie im Grunde längst war. Dennoch fuhr sie fort: »Bitte, Vater! Ich...«

»Nicht jetzt«, unterbrach sie ihr Vater. Das Bedauern in seiner Stimme klang echt, doch sie sah auch die Entschlossenheit in seinem Blick, die ihr klar machte, wie sinnlos jedes weitere Wort wäre. »Hendrik wird euch in Sicherheit bringen. Hier ist es gefährlich. Unterschätze dieses Wesen nicht. Es wird nicht so schnell aufgeben.«

»So wenig wie du, wie?«, fragte Theresa böse. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, vor wem wir mehr Angst haben sollten!«

Vater ignorierte sie. Er sah weiter abwechselnd das aufgeschlagene Buch vor sich und seine Tochter an und deutete dann auf Hendrik. »Bitte geh jetzt mit ihm. Ich werde dir später alles erklären und auch all deine Fragen beantworten. Aber jetzt ist einfach nicht der richtige Moment dazu.« Er schloss mit einem kurzen, aber eindeutigen Blick in Hendriks Gesicht und Leonie gab endgültig auf. Sie kannte ihren Vater gut genug um zu wissen, wie sinnlos jedes weitere Wort in diesem Augenblick gewesen wäre. Schweigend trat sie neben Hendrik und Theresa und ging zusammen mit ihnen aus dem Raum.

Auch draußen auf dem Gang war der Kampf vorbei. Überall lagen erschlagene Aufseher, Redigatoren und unterschiedlich große Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln, aber es dauerte einen Moment, bis Leonie auffiel, dass nicht einer der reglos daliegenden Körper das Weiß-Rot und Kupfer der Stadtgarde trug. So unglaublich das angesichts dessen schien, was sie selbst mit den monströsen Kriegern des Archivars erlebt hatte - der erbitterte Kampf hatte offensichtlich auf Seiten der Verteidiger nicht ein einziges Opfer gefordert!

Sie hatte erwartet, dass Hendrik sich nach links wenden würde, fort von der Richtung, in die sich die Schlacht verlagert hatte, aber zu ihrer Überraschung deutete er nach rechts, von wo noch immer das Klirren von Waffen und das wütende Getöse des Kampfes an ihr Ohr drang. Auch Theresa wirkte überrascht, doch sie zuckte nur leicht mit den Achseln und setzte sich dann gehorsam in Bewegung.

Sie kamen an weiteren erschlagenen und sterbenden Kriegern des Archivars vorbei, und kurz bevor sie auf die Galerie hinaustraten, musste Hendrik einige der riesigen Körper mühsam zur Seite räumen, damit Theresa und sie nicht gezwungen waren, über sie hinwegzuklettern; hier schien der Widerstand besonders heftig gewesen zu sein.

Hendrik deutete nach links, doch Theresa wandte sich mit einem demonstrativen Ruck in die entgegengesetzte Richtung und trat an die Brüstung heran. Bevor Leonie ihr folgte, sah sie sich rasch und aufmerksam um und das gespenstische Bild wiederholte sich: Auch hier lagen Dutzende, wenn nicht Hunderte erschlagener Krieger des Archivars, doch sie gewahrte nicht einen einzigen von Hendriks Männern. So erleichtert Leonie auch war, dass der Kampf offensichtlich keine Menschenleben gefordert hatte, so wenig verstand sie zugleich, was sie erblickte: Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu diese Kolosse fähig waren und wie gnaden- und rücksichtslos sie kämpften. Es war einfach unvorstellbar, dass nicht ein einziger von Hendriks Männern gefallen oder zumindest verwundet sein sollte. Dann trat sie neben Theresa an die Brüstung und vergaß den unheimlichen Anblick sofort, denn das Bild, das sich ihr bot, als sie in die Halle hinabsah, war noch viel entsetzlicher.

Unter ihnen wogte eine erbitterte Schlacht. Dort mussten Hunderte und Aberhunderte riesiger, gepanzerter und in stachelbewehrtes schwarzes Eisen gehüllter Gestalten sein, die sich gegen eine mindestens ebenso große Anzahl von Männern der Stadtgarde verteidigten, die erbarmungslos auf sie losgingen. Der Kampf ging so schnell hin und her, dass es Leonie im ersten Moment nicht nur schwer fiel, Freund und Feind auseinander zu halten - obwohl sich die Männer der Stadtwache in ihren bunten Uniformen und kupferfarben schimmernden Harnischen und Helmen deutlich von den ausnahmslos in Schwarz gekleideten Kriegern des Archivars abhoben -, sondern sie auch nicht sagen konnte, wer in dieser verbissenen Schlacht die Oberhand gewann.

Und obwohl der Anblick sie mit blankem Entsetzen erfüllte, zwang sie sich, noch einmal und genauer hinzusehen, und was sie sah, schien der Beweis für das unheimliche Gefühl zu sein, das sie hier drinnen und auch schon draußen im Gang gehabt hatte: Der Kampf wurde auf beiden Seiten mit gnadenloser Härte geführt, wobei weder die menschlichen Angreifer noch die unheimlichen Verteidiger Rücksicht auf sich selbst oder gar ihre Gegner zu nehmen schienen, und doch waren es ausnahmslos die Krieger des Archivars, die fielen. Leonie beobachtete mehrere Male, wie Gardisten von Schwert- oder Keulenhieben getroffen oder auch einfach von einer der gigantischen Kreaturen angesprungen wurden, und doch stürzten sie allerhöchstem zu Boden, um sich sofort wieder aufzurichten, und meistens nicht einmal das. Hätte Leonie nicht gewusst, dass es vollkommen unmöglich war, sie hätte geschworen, dass die Männer, die ihr Vater zu Hilfe gerufen hatte, unverwundbar waren.

Aber waren Türen, die aus dem Nichts auftauchten, und Schächte im Boden, die einfach verschwanden, nicht ebenso unmöglich?

Das schreckliche und intensive Gefühl, angestarrt zu werden, riss Leonie aus ihren Gedanken.

Es war der Archivar. Er befand sich auf gleicher Höhe mit ihnen auf der Galerie, wenn auch auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Wie ein Feldherr, der sich zu einem erhöhten Aussichtspunkt begeben hatte, um den Verlauf der Schlacht zu beobachten, aber anders als Hendrik, Theresa und Leonie selbst, blickte er nicht nach unten, sondern starrte sie an. Über die große Entfernung hinweg war es noch viel aussichtsloser als sonst, sein Gesicht erkennen zu wollen, doch Leonie konnte auch jetzt seinen Blick wie eine unangenehme körperliche Berührung spüren. Und obwohl er nun so viel weiter entfernt war, kam es ihr erneut so vor, als pralle irgendetwas in ihr vor dieser Berührung zurück.

Neben ihr sog Theresa scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, und sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sich auch Hendrik mit einem Ruck aufrichtete und anspannte. Seine Hand glitt ganz automatisch zum Schwert und schloss sich um den Griff der wuchtigen Waffe und Theresa wich ganz instinktiv einen halben Schritt von der steinernen Brüstung zurück.

»Wir sollten jetzt besser gehen«, sagte Hendrik. Theresa nickte nervös, während Leonie einfach dastand und die unheimliche Gestalt auf der anderen Seite der Halle weiter anstarrte. Es war sonderbar: Der Anblick machte ihr jetzt vielleicht mehr Angst denn je; ihr Herz hämmerte, ihre Knie zitterten, und ihr Mund fühlte sich plötzlich so trocken und ausgedörrt an, als hätte sie seit Tagen nichts mehr getrunken. Dennoch gelang es ihr jetzt zum allerersten Mal, dem Blick dieser schrecklichen, unsichtbaren Augen standzuhalten. Etwas hatte sich geändert. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendetwas war anders als noch vor wenigen Minuten, als sie dem Archivar das letzte Mal gegenübergestanden hatte.

»Kommt!«, rief Hendrik. Er wandte sich nach links und machte zwei, drei Schritte, bevor ihm auffiel, dass weder Theresa noch Leonie sich auch nur von der Stelle rührten. Abrupt blieb er wieder stehen und drehte sich unwillig um. »Wir müssen weg!«, sagte er in drängendem Ton. »Ich weiß nicht, wie lange die Männer sie aufhalten können. Sie werden zurückkommen!«

»Das Gefühl habe ich eigentlich nicht«, antwortete Theresa. In ihrer Stimme war etwas, das Leonie dazu brachte, ihren Blick von der schwarzen Gestalt auf der anderen Seite der Halle zu lösen und zu Theresa hinzusehen. Das Gesicht der jungen Frau wirkte gefasst, fast ausdruckslos, aber es hatte nun auch noch das allerletzte bisschen Farbe verloren, und Leonie hätte gar nicht sehen müssen, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte und verkrampft dastand, um zu begreifen, wie es hinter dieser Maske aussah.

»Wie meinst du das?«, fragte Hendrik.

»Bist du blind?« Theresa trat wieder an die Brüstung heran und deutete mit einer erregten Handbewegung nach unten. »Siehst du nicht, was dort vor sich geht?«

Hendrik nickte wortlos.

»Das muss aufhören!«, rief Theresa erregt. »Das darf nicht geschehen! Wir müssen ihn aufhalten!«

»Das wird wohl kaum nötig sein«, sagte eine spöttische Stimme hinter ihnen. Theresa fuhr erschrocken herum und blickte einen Moment lang verdattert in das Gesicht von Leonies Vater, der - wieder einmal - vollkommen lautlos hinter ihnen aufgetaucht war. Er wurde von gleich vier Männern der Stadtwache flankiert und trug etwas Großes, Schwarzes unter dem linken Arm, das Leonie im ersten Moment für das Buch hielt, in dem er gerade geschrieben hatte, das aber irgendwie... falsch aussah. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen«, fuhr er fort, »aber die Männer werden mit diesen Bestien fertig, keine Angst. Ich glaube nicht, dass sie es noch einmal schaffen, hier heraufzukommen.«

»Das habe ich nicht gemeint!«, schnappte Theresa.

»Ach?«, machte Leonies Vater spöttisch. Theresa wollte etwas darauf erwidern, aber er schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab und drehte sich mit einer ebenso abrupten, zornig wirkenden Bewegung auf dem Absatz um und funkelte Hendrik an. »Hatte ich dir nicht befohlen sie wegzubringen?«

Hendrik schrumpfte unter seinem scharfen Ton sichtbar zusammen, und das - wie es Leonie vorkam - nicht nur im übertragenen Sinne. Zum allerersten Mal fiel ihr auf, dass ihr Vater tatsächlich ein gutes Stück größer war als der hoch gewachsene, breitschultrige Hendrik und eine Kraft und Selbstsicherheit ausstrahlte, vor der wohl jeder zu den Dimensionen eines Zwerges zusammengeschrumpft wäre. »Verzeihen Sie«, sagte Hendrik hastig. »Ich wollte nicht...«

»Es ist mir ziemlich gleich, was Sie wollten, Hendrik«, fiel ihm Vater ins Wort. »Das hier ist ein Schlachtfeld. Frauen haben hier nichts zu suchen. Und meine Tochter schon gar nicht. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Hendrik nickte hastig und senkte den Blick, aber diese Antwort schien Leonies Vater nicht zu genügen. Über seinen Augenbrauen erschien ein tiefes, ärgerliches Stirnrunzeln. Ohne noch etwas zu sagen holte er das, was Leonie bisher für ein Buch gehalten hatte, unter dem linken Arm hervor und klappte es auf. Leonie erkannte endlich, was es wirklich war, und ihre Augen weiteten sich ungläubig und Theresa stieß einen kleinen, halb überraschten, halb aber auch eindeutig entsetzten Schrei aus.

»Nein!«, keuchte sie. »Das darfst du nicht! Du weißt ja nicht mehr entdecken.« Vielleicht hatte die Menschenmenge Hendrik auf dem Bahnsteig draußen einfach verschlungen, vielleicht hatte ihm auch diese für ihn unheimliche, fremde Umgebung so große Angst eingeflößt, dass er einfach auf dem Absatz kehrtgemacht und sein Heil in der Flucht gesucht hatte, kaum dass Leonie im Zug saß. Sie strengte noch einen Moment lang die Augen an, um ihn in der Menschenmenge draußen auf dem Bahnsteig doch noch irgendwo zu sehen, dann ließ sie sich mit einem resignierten Seufzen im Sitz zurücksinken.

Kaum hatte sich der ICE in Bewegung gesetzt, da ging auch schon die Abteiltür auf und der Schaffner trat ein, um ihren Fahrschein zu kontrollieren. Nachdem er ihn mit einer in der futuristischen Atmosphäre des Zuges geradezu antiquiert anmutenden Zange entwertet hatte, hob er noch einmal den Kopf und ließ seinen Blick demonstrativ über die anderen Sitze und das Display mit der Anzeige Reserviert schweifen.

»Ich sitze auf dem richtigen Platz«, sagte Leonie. »Ich habe reserviert - hier.« Sie wedelte mit ihrer Fahrkarte, aber der Schaffner beachtete sie nicht einmal.

»Ja, so könnte man es sagen«, antwortete er. »Aber genau genommen sind alle Plätze reserviert.«

»Ich verstehe kein Wort«, erwiderte Leonie. »Mein Vater hat die Fahrkarte für mich gekauft.«

»Hat er nicht«, antwortete der Schaffner, korrigierte sich aber dann sofort wieder: »Oder doch, genau genommen hat er alle Fahrkarten für dieses Abteil gekauft.«

»Wie bitte?«, ächzte Leonie.

»Er wollte wohl, dass du unterwegs deine Ruhe hast«, vermutete der Schaffner. »Na ja, das geht mich nichts an. Ich kontrolliere jetzt die anderen Abteile. Soll ich dir auf dem Rückweg etwas aus dem Speisewagen mitbringen? Ein Getränk vielleicht?«

Leonie lehnte dankend ab und der Schaffner hob enttäuscht die Schultern und ging. Leonie blieb völlig verwirrt zurück. Ihr Vater hatte gleich das ganze Abteil für sie reservieren lassen, nur damit sie ihre Ruhe hatte? Was sollte denn dieser Unsinn nun wieder? Ihr Vater war zwar niemand, der sich seines Wohlstandes schämte, aber so damit herumzuprotzen hatte auch noch nie zu seinen Eigenarten gehört. Leonie fand auf diese Frage ebenso wenig eine Antwort wie auf so viele andere, die sie sich in den letzten Tagen gestellt hatte. Schließlich schüttelte sie den Gedanken ab, zuckte demonstrativ mit den Schultern, obwohl sie allein im Abteil war, und wandte sich wieder dem Fenster zu.

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