Über den Styx

Obwohl Leonie sie gewarnt hatte, landete Theresa ebenso unsanft auf dem Boden der gemauerten Kammer wie sie selbst zehn Minuten zuvor. Allerdings benötigte sie nur wenige Sekunden, um die Benommenheit abzuschütteln und sich zu erheben.

»Wie behaglich«, murmelte sie, während sie missmutig abwechselnd ihre Hände und ihren - ehemals - schwarzen Rock musterte. Beides war mit einer hellgrünen, matt leuchtenden Pampe besudelt. »Nicht schon wieder!«, jammerte Theresa. »Ich dachte, das hätten wir ein für alle Mal hinter uns.«

Leonie versuchte schadenfroh zu grinsen, aber ganz wollte es ihr nicht gelingen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Nicht nur die schillernden grünen Pfützen waren zahlreicher geworden, auch der Geruch nach heißem Leim schien jetzt viel durchdringender als vorhin. Und es war ganz unbestreitbar wärmer...

»Was ist?«, fragte Theresa alarmiert. Leonies nachdenklicher Gesichtsausdruck war ihr offensichtlich nicht entgangen.

Leonie hob unbehaglich die Schultern. Spielten ihr die Nerven einen bösen Streich oder war da ein ganz leises, aber machtvolles Dröhnen und Rumpeln, das allmählich näher kam? »Ich weiß nicht«, sagte sie ausweichend. »Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir uns hier ganz schnell aus dem Staub machen sollten.«

»Keine Einwände«, erwiderte Theresa mit einem neuerlichen naserümpfenden Blick auf ihre Hände. »Wenn du mir sagst, wohin wir sollen.« Sie trat an die nächstbeste Wand und versuchte die hellgrüne Schmiere an den rauen Steinen abzuwischen, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte; schließlich handelte es sich um nichts anderes als halb erkalteten Leim. Theresas Miene wurde noch verdrießlicher.

Leonie sah sich noch einen Moment lang unschlüssig um, danach tat sie das, was sie ebenso gut auch gleich hätte tun können: Sie ging bis zur Mitte des Raumes und ließ sich neben der vergitterten Öffnung im Boden in die Hocke sinken. An der Wand des Schachts, der unter dem rostigen Gitter lag und einen Durchmesser von gut anderthalb Metern hatte, führte eine schmale, ebenfalls verrostete Leiter in unbekannte Tiefen hinab. Es kostete Leonie einige Willenskraft, doch nachdem sie ihren Ekel einmal überwunden hatte, fiel es ihr nicht sonderlich schwer, das Gitter zu ergreifen und beiseite zu schieben.

Theresa, die sich neben sie gekniet hatte, ächzte: »O nein! Ich werde ganz bestimmt nicht dort hinuntergehen!«

»Es war doch deine Idee, hierher zu kommen, oder?«, fragte Leonie.

Streng genommen stimmte das nicht, dachte Leonie. Eigentlich war es Conan gewesen, der sie ins Archiv gelockt hatte. Vielleicht hatte die Maus dabei mehr im Sinn gehabt als Frank abzuschütteln. Wenn sie es genau bedachte, dann hatte Conan noch niemals etwas Sinnloses getan...

Dennoch hatte Theresa natürlich vollkommen Recht: Auch Leonie konnte sich Dinge vorstellen, die sie lieber getan hätte, als in diesen Schacht hinabzusteigen. Eine ganze Menge Dinge sogar...

Theresa stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Ich werde ganz bestimmt nicht - pass auf.«

Die beiden letzten Worte schrie sie, gleichzeitig sprang sie auf die Füße und riss Leonie mit sich. Nur einen Sekundenbruchteil später rülpste eines der Zuflussrohre dumpf und spie einen Schwall grünen Leims aus, der haargenau dort auf dem Boden explodierte, wo Leonie und Theresa gerade noch gehockt hatten.

Dennoch kamen sie nicht vollkommen ungeschoren davon. Leonie schrie vor Schmerz und Entsetzen auf, als Spritzer der kochend heißen Flüssigkeit ihre Hände und die ungeschützten Unterarme versengten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie rücklings vor der grünen Masse zurückwich, die sich brodelnd auf dem Boden ausbreitete. Das Grollen und Zischen war mittlerweile so laut geworden, dass es jedes andere Geräusch verschlang, und die Luft begann sich mit wabernden grünen Schwaden zu füllen, sodass sie kaum noch die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte. Als wäre das alles noch nicht genug, wurde es schlagartig so heiß, dass jeder Atemzug zur reinen Qual wurde.

Und das war noch nicht einmal das Schlimmste.

Der größte Teil der gluckernden grünen Brühe verschwand sofort in der Tiefe, aber der verbliebene Rest reichte immer noch aus, eine rasch größer werdende kochende Pfütze auf dem Boden zu bilden, deren Ränder gierig nach ihren Schuhen leckten. Leonie hustete, wedelte mit der linken Hand, um die klebrigen Schwaden zu vertreiben, und wich gleichzeitig Schritt für Schritt zurück.

Um genau zu sein: Drei Schritte weit, dann stieß sie mit dem Rücken gegen den rauen Ziegelstein und hätte um ein Haar vor Entsetzen laut aufgeschrien. Die kochende Pfütze breitete sich mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit weiter aus. Noch ein paar Sekunden und ihr würde gar keine andere Wahl mehr bleiben, als nach oben zu greifen und in eines der Zuflussrohre zu klettern. Was geschehen würde, wenn ihr genau in diesem Moment auch hier ein Schwall heißen Leims entgegenschoss, das stellte sie sich vorsichtshalber erst gar nicht vor...

Gottlob kam sie nicht in die Verlegenheit, es herauszufinden. Gerade als die blubbernde Lache ihre Schuhe fast erreicht hatte, versiegte der Zufluss kochenden Leims. Die Pfütze begann rasch zusammenzuschrumpfen und abzukühlen. Dennoch verging mindestens noch eine Minute, bis sie es auch nur wagte, tief durchzuatmen. Die Hitze hatte so weit nachgelassen, dass sie nicht mehr das Gefühl hatte, flüssiges Feuer zu atmen, aber die Luft fühlte sich klebrig und widerwärtig an. Es vergingen noch einmal endlose, quälende Sekunden, bis sich die brodelnden Schwaden so weit lichteten, dass sie Theresa auch nur sehen konnte.

Leonie erschrak bis ins Mark. Wie es aussah, war Theresa nicht annähernd so glimpflich davongekommen wie sie. Auch sie war über und über mit heißem Leim bespritzt, doch während Leonie zum Großteil von ihrer Kleidung geschützt worden war, trug Theresa nur einen knielangen Rock und eine ärmellose Bluse. Sie musste Dutzende von schmerzhaften Verbrühungen erlitten haben.

»Alles in Ordnung?«, fragte Leonie. Die Frage kam ihr selbst etwas lächerlich vor, aber Theresa nahm nur langsam die Hände herunter und nickte.

»Das... war ziemlich... knapp«, sagte sie stockend. »Ich will ja nicht kleinlich sein, aber ich finde, wir sollten uns doch allmählich ein anderes Versteck suchen.«

Leonie nickte hastig. »Ich weiß allerdings nicht...« Sie sprach nicht weiter, als ihr bewusst wurde, dass Theresa ihr gar nicht mehr zuhörte.

Sie hatte sich umgedreht und war unmittelbar neben dem Abfluss in die Hocke gegangen. Der Schwall hatte nicht nur ein Muster geometrischer grüner Linien in den Fugen des gemauerten Fußbodens hinterlassen, sondern auch noch allerlei anderes Strandgut. Da waren Fetzen eines schwarzen Stoffes, zerbrochene Schreibfedern und halb aufgelöstes Papier. Doch das, was so ganz eindeutig Theresas Aufmerksamkeit erregt hatte, schien auf den ersten Blick nur ein formloser grüner Klumpen zu sein.

»Was... ist das?«, fragte Leonie zögernd.

Statt einer Antwort streckte Theresa die Hand aus und hob den glibberigen Klumpen auf.

»Ein... Buch?«, fragte Leonie zögernd. Sie war nicht ganz sicher. Was Theresa da langsam aus der grünen Pampe zog, schien einmal ein prachtvolles Buch mit schwerem Ledereinband und kunstvoller Goldprägung gewesen zu sein, aber zugleich sah es nicht wirklich wie ein Buch aus, sondern eher wie die perfekte Nachbildung eines Buches, die unglücklicherweise aus weichem Wachs bestand, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Als Theresa es hochhob, zerfiel es mit einem schmatzenden Laut in zwei Teile. Die Hälfte, die zu Boden fiel, löste sich in eine blubbernde grüne Schleimpfütze auf. Der Anblick erinnerte Leonie auf unheimliche Weise an das, was dem Scriptor in Theresas Bibliothek zugestoßen war.

»Ein Buch?«, meinte Theresa düster. Sie schüttelte den Kopf. »Das war nicht irgendein Buch, Leonie. Es war eines der Bücher aus dem Archiv.« Sie hob die Hand weiter, und auch der Rest, den sie noch in den Fingern hielt, begann sich Fäden ziehend aufzulösen.

Es dauerte einen Moment, bis Leonie wirklich verstand, was Theresa gerade behauptet hatte. »Ein Buch aus dem Archiv?«, keuchte sie. »Aber das... das ist doch vollkommen unmöglich! Du hast doch selbst gesagt, dass sie...«

»... niemals aus dem Archiv entfernt werden dürfen«, führte Theresa den Satz zu Ende. Ihre Stimme klang bitter, aber ihr Gesicht war plötzlich wie eine aus Stein gemeißelte Maske. Sie stieß ein heiseres Lachen aus. »Das da war kein Buch, Leonie. Es war ein komplettes Menschenschicksal. Und nun ist es dahin.«

Leonie war im ersten Moment nicht ganz sicher, ob sie die Tragweite dessen, was Theresa gesagt hatte, auch wirklich verstand - oder auch nur verstehen wollte. Fassungslos und mit heftig klopfendem Herzen starrte sie die zischende grüne Pfütze an, zu der das Buch zerschmolzen war, und Theresa fuhr mit leiser, sonderbar flacher Stimme fort:

»Ein ganzes Menschenleben, Leonie, endlos viele Jahre voller Freude und Leid, voller Lachen und Weinen, voller Erfahrungen und Sehnsüchte. Und nun ist es fort. Ausgelöscht. Niemand wird sich noch daran erinnern, wer dieser Mensch gewesen ist, wie er geheißen hat. Wie er aussah, was er getan hat.« Sie seufzte, tief und auf eine merkwürdige Art, die beinahe so etwas wie ein Schluchzen aus dem Laut machte. Für einen winzigen Moment glaubte Leonie Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. »Es ist genauso, als hätte er nie gelebt.«

Der Anblick des Schmerzes, der sich in den Augen der jungen Frau spiegelte, zog auch Leonies Herz zusammen. Vielleicht nur um sie irgendwie zu trösten, sagte sie leise: »Aber es ist doch nur ein einziges Buch von so vielen.«

»Nur eines?«, wiederholte Theresa traurig. »Und wenn es das deiner Mutter wäre, Leonie? Oder deiner Großmutter oder irgendeines anderen Menschen, der dir etwas bedeutet hat?« Sie stand auf. »Ich verstehe nicht, warum er das tut. Ich hätte ihm viel zugetraut, aber nicht das!«

Leonie sah sie verständnislos an. »Wovon...?« Dann sog sie scharf die Luft ein. Was Theresa da andeutete, war so ungeheuerlich, dass sie sich im ersten Moment fast weigerte, diesen Gedanken auch nur zu denken.

»Du willst doch nicht behaupten, dass... dass mein Vater...«, keuchte sie. »So etwas würde er nie tun!«

»Bist du sicher?«, fragte Theresa leise.

»Hundertprozentig!«, antwortete Leonie empört. »Das... das wäre ja beinahe so etwas wie... wie Mord!«

»Von seiner Warte aus vielleicht nicht«, räumte Theresa ein.

»Niemals«, beharrte Leonie. Sie begann zu zittern. »Warum tust du das? Ich weiß, dass du meinem Vater nicht traust, aber so etwas würde er nie tun!«

Theresa sah sie eine weitere Sekunde lang durchdringend an.

»Warum fragen wir ihn nicht einfach?« Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen schien sie vergeblich darauf zu warten, dass Leonie irgendetwas erwiderte, dann drehte sie sich mit einem Achselzucken um, ließ sich am Rand des Schachtes in die Hocke sinken und tastete mit dem Fuß nach der ersten Leitersprosse.

»Was ist denn jetzt los?«, wunderte sich Leonie. »Ich dachte, du wolltest auf schnellstem Weg in die Schule zurück!«

»Da hatte ich auch noch keine Ahnung, dass hier etwas nicht stimmt«, antwortete Theresa, während sie mit einem Ausdruck höchster Konzentration nach der nächsten Leitersprosse tastete. »Ich muss wissen, was dort unten geschieht.« Sie zwang sich zu einem leicht verkniffenen Lächeln. »Außerdem sollten wir uns ein bisschen beeilen. Es sei denn, du legst Wert auf eine heiße Dusche.«

Leonie drehte instinktiv den Kopf und sah erschrocken zu den Rohren hin. Nichts rührte sich, aber Theresa hatte natürlich Recht: Es konnte Stunden dauern, bis der nächste Schwall kochend heißen Leims zu ihnen hereinsprudelte, genauso gut aber auch nur wenige Augenblicke. Sie beeilte sich, hinter Theresa an den Schacht zu treten, und folgte ihr, sobald ihre Hände die oberste Sprosse freigaben.

Der Abstieg dauerte nicht lange, doch die wenigen Minuten kamen Leonie wie ein Ewigkeit vor. Unter ihnen schimmerte ein blasses grünliches Licht, während Theresa und Leonie selbst in eine vollkommene Dunkelheit gehüllt waren. Die rostzerfressenen Sprossen ächzten nicht nur bedrohlich unter ihrem Gewicht, sondern waren auch mit allmählich erkaltendem Leim beschmiert, sodass es Leonie immer wieder spürbare Anstrengung kostete, die Hände von dem klebrigen Eisen zu lösen. Es war nicht nur widerlich, sondern auf Dauer auch schmerzhaft. Dazu kam die Hitze, die von unten zu ihnen emporstieg und mit jeder Leitersprosse weiter zuzunehmen schien, bis sie ihnen das Atmen schwer machte. Die Luft war so klebrig, dass Leonie das Gefühl hatte, sich allmählich selbst in einen Leimpinsel zu verwandeln. Vielleicht sollten sie sich besser beeilen, bevor sie an einem rostigen Tritt festklebten oder nach einem Blinzeln die Augen nicht mehr aufbekamen. Sie rief Theresa zu, ein wenig an Tempo zuzulegen.

Je tiefer sie kamen, desto öfter legte sie den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Die Schachtmündung war längst verschwunden, und alles, was sie hörte, war das allmählich ansteigende Rauschen und Dröhnen des grünen Stromes unter ihnen, aber das, was sie nicht hörte, erledigten ihre außer Rand und Band geratene Fantasie und ihre Angst in perfekter Zusammenarbeit: Plötzlich war sie sicher, wieder dasselbe machtvolle Grollen zu vernehmen, das auch vorhin den Leimschwall angekündigt hatte. Und es kam eindeutig von oben.

Leonie rief sich in Gedanken zur Ordnung und sah wieder nach unten. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Unter ihnen rauschte ein breiter Strom aus giftgrünem, kochendem Leim mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges dahin. Er trug zahllose dunkle Gegenstände mit sich, die zu schnell vorbeiströmten um sie wirklich zu erkennen - auch wenn Leonie das ungute Gefühl hatte, eigentlich sehr wohl zu wissen, was da unter ihr entlangschoss, und es in Wahrheit nur nicht wissen zu wollen.

Theresa hatte das Ende des Schachtes erreicht und kletterte nun langsamer. Die Leiter hörte buchstäblich im Nichts auf. Theresas Beine baumelten plötzlich in der Luft, und sie wurde immer langsamer, während sie sich, jetzt nur noch an den ausgestreckten Armen hängend, weiter nach unten hangelte.

»Wie sieht es aus?«, rief Leonie zu ihr hinunter.

Theresa klammerte sich mit beiden Händen an die unterste Sprosse. Sie keuchte vor Anstrengung, bemühte sich aber, trotzdem, ganz zuversichtlich zu klingen. »Es... ist eine realistische Chance. Wir müssen... springen, aber es... ist zu schaffen.«

Theresa begann hin und her zu schwingen wie eine Zirkuskünstlerin am Trapez - und war dann plötzlich verschwunden. Noch bevor Leonie auch nur Zeit fand, wirklich zu erschrecken, wehte ein dumpfer Aufprall aus der Tiefe herauf, gefolgt von einem halblauten Ächzen.

»Theresa?«, rief sie ängstlich. »Ist alles in Ordnung?«

Es dauerte vielleicht eine Sekunde, bis Theresa antwortete, aber es war eindeutig die längste Sekunde ihres Lebens.

»Mir geht es gut«, rief sie mit einer Stimme, die sich nach dem genauen Gegenteil anhörte. »Nun komm schon. So schwer ist es nicht.«

»Ja«, maulte Leonie. »Ich muss ja einfach nur loslassen.« Sie zog eine Grimasse, kletterte weiter und hielt noch einmal inne, bevor sie zuerst den rechten und dann den linken Fuß von der Leiter löste. Ihr Herz begann zu rasen, während sie sich mit zusammengebissenen Zähnen Hand für Hand weiter in die Tiefe hangelte. Und einen Augenblick später konnte sie spüren, wie sich ihr die Haare sträubten.

Der Schacht mündete in der Decke eines halbrunden, bestimmt fünf oder sechs Meter breiten und etwa halb so hohen gemauerten Tunnels, durch den der kochende Strom schoss. Ein halbmeterbreiter Absatz aus rauem Ziegelstein fasste beide Seiten ein. Theresa hockte in sonderbar verkrampfter Haltung auf dem Absatz zur Rechten, was sie aber nicht daran hinderte, ihr demonstrativ fröhlich zuzuwinken.

In diesem Moment verlor Leonie den Halt. Sie schrie gellend auf, ließ die Sprosse los und flog in hohem Bogen durch die Luft. Der Tunnel vollführte einen rasenden Salto um sie herum, und aus dem Schacht, unter dem sie gerade noch gehangen hatte, ergoss sich ein dampfend heißer, giftgrüner Schwall in den Leimstrom, noch bevor Leonie das letzte Drittel ihrer anderthalbfachen Drehung beendet hatte und unmittelbar neben Theresa auf dem Absatz aufprallte.

Ihr Kopf schlug so hart gegen den Boden, dass sie Sterne sah. Irgendwie schaffte sie es zwar, nicht nur bei Bewusstsein zu bleiben, sondern sich sogar an dem rauen Stein festzuklammern, aber sie spürte auch, wie sie ins Rutschen geriet und in den Kanal hinabzugleiten drohte. Verzweifelt und blindlings griff sie um sich, krallte die Finger in die schmalen Fugen des uralten Mauerwerks und keuchte abermals vor Schmerz, als ihre Fingernägel einfach abbrachen und sie unaufhaltsam weiterrutschte. Ihr rechter Fuß berührte die Oberfläche des siedenden Stromes, und dieses Mal schrie sie in reiner Agonie auf, denn er war nicht nur heiß wie geschmolzenes Blei, sondern zerrte auch wie mit unsichtbaren Riesenfäusten an ihrem Bein. Noch eine Sekunde oder weniger und sie würde in den Strom hinabgezogen und bei lebendigem Leib gekocht werden!

Im buchstäblich allerletzten Moment packten entschlossene Hände nach ihr und zogen sie zurück auf den rauen Stein - und damit in Sicherheit.

Leonie rutschte mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung auf die Seite und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Für die gleiche Zeitspanne tat sie nichts anderes, als einfach dazuliegen und das köstliche Gefühl zu genießen, noch am Leben zu sein. Selbst der pochende Schmerz in ihrem Kopf erschien ihr wunderbar, denn wer Schmerzen verspürte, war schließlich noch am Leben.

Endlich aber hob sie die Lider, stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch und sah zu Theresa hin. Ihre Lebensretterin hockte sonderbarerweise gute drei oder vier Meter von ihr entfernt auf dem schmalen Sims und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Der Schrecken über das, was gerade beinahe geschehen wäre, stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben.

»Danke«, sagte Leonie. »Ich glaube, du hast mir gerade das Leben gerettet.«

»Ich... ich war das nicht«, murmelte Theresa mit sonderbar tonloser Stimme, und das Entsetzen in ihren Augen wurde nicht schwächer, sondern schien sich im Gegenteil noch zu steigern. Und Leonie war auch nicht mehr ganz sicher, dass Theresa wirklich sie anstarrte. Möglicherweise galt der Ausdruck von Entsetzen in ihren Augen auch etwas ganz anderem, etwas, das hinter ihr stand. Leonie drehte mit einiger Mühe den Kopf und starrte in ein Gesicht, das geradewegs einem Albtraum entsprungen zu sein schien.

Selbst für einen Scriptor war die Kreatur außergewöhnlich hässlich. Ihr Mund war ein dünner, vollkommen lippenloser Schlitz, hinter dem ein Gewirr zwar nadelspitzer, aber ausnahmslos fauliger und schiefer Zähne wuchs. Die Nase war so scharf und gekrümmt wie ein türkischer Dolch, und die Augen standen viel zu dicht beieinander und waren von etwas erfüllt, das abgrundtiefe Bosheit und Tücke hätte sein können, wäre nur ein wenig mehr Lebenskraft in ihnen gewesen. So wirkte ihr Blick einfach nur wie ein stummes verzweifeltes Flehen.

»Du... warst das?«, rief Leonie ungläubig. Sie war nicht einmal wirklich erschrocken. Und wenn sie es recht bedachte, dann sah der Scriptor eigentlich auch nicht Furcht einflößend aus, sondern trotz aller unbestreitbaren Hässlichkeit vielmehr bemitleidenswert. Das Wesen wog allerhöchstens zwanzig Pfund, und als es mit einem wortlosen Nicken auf ihre Frage antwortete, hatte sie nicht nur den Eindruck, dass seine Haut um seine Gestalt schlackerte wie ein viel zu großes Kleidungsstück.

Der Scriptor war zwei oder drei Schritte vor ihr zurückgewichen und sah sie mit einem Ausdruck an, den Leonie nicht verstand, der ihr Herz aber so tief berührte, dass sie mit den Tränen kämpfen musste. Er hob die Hand um ihr zuzuwinken und Leonie stemmte sich mühsam vollends in die Höhe, streckte zugleich aber auch vorsichtshalber die linke Hand aus und hielt sich an der Wand des Tunnels fest. Sie war noch immer ein bisschen wackelig auf den Beinen, und ihr wurde erst jetzt nach und nach klar, wie schmal der gemauerte Pfad beiderseits des tosenden Stroms aus geschmolzenem Leim wirklich war, auf dem sie sich befanden. So viel zu dem, was Theresa unter einer realistischen Chance verstand.

»Du... du willst doch nicht etwa mit ihm gehen?«, keuchte Theresa.

»Immerhin hat er mir gerade das Leben gerettet, oder?«, gab Leonie zurück - allerdings ohne den Scriptor dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Das kleine Geschöpf wich rückwärts gehend Schritt für Schritt vor ihr zurück, aber sie hätte schon blind sein müssen um nicht zu sehen, dass es von ihr erwartete ihm zu folgen.

Sie hörte, wie Theresa hinter ihr aufstand und einen einzelnen zögernden Schritt machte, bevor sie abermals stehen blieb und scharf die Luft zwischen den Zähnen einsog. Als sie sich widerwillig halb zu ihr umdrehte, sah sie, dass hinter ihnen gleich ein halbes Dutzend Scriptoren aufgetaucht war. Die grotesken Wesen standen einfach nur da und sahen Theresa und sie an, ohne sich zu rühren oder irgendetwas zu sagen, doch der Sinn ihrer stummen Botschaft war vollkommen klar.

»Das... gefällt mir nicht«, sagte Theresa nervös.

»Vielleicht wollen sie uns etwas zeigen«, vermutete Leonie. Sie wartete, bis Theresa weitergegangen war und zu ihr aufgeschlossen hatte, dann setzte auch sie sich wieder in Bewegung und folgte dem Scriptor, der ihr das Leben gerettet hatte. Er trippelte mit hängenden Schultern und kleinen, irgendwie kraftlos wirkenden Schritten vor ihnen her und drehte nur manchmal den Kopf, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie ihm auch wirklich nachkamen. Auch die anderen Scriptoren, die hinter Theresa aufgetaucht waren, setzten sich in Bewegung. Sie waren gerade eine Winzigkeit zu weit entfernt, als dass Leonie Details hätte erkennen können, aber sie hatte zumindest den Eindruck, dass sie auf ebenso unheimliche Weise verändert waren wie das einzelne Geschöpf vor ihnen.

»Ich frage mich, wohin sie uns wohl bringen«, murmelte sie.

Theresa antwortete nicht. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verhärtete sich noch weiter, und im ersten Moment glaubte Leonie, das wäre nur eine Reaktion auf die Anwesenheit der Scriptoren, doch dann registrierte sie, dass Theresas Blick starr auf den kochenden Fluss gerichtet war, an dem sie entlangmarschierten.

Der brodelnde Strom führte auch hier große Mengen des unterschiedlichsten Treibguts mit sich: zerfetzten Stoff, zerbrochene Möbel und Papier, aber auch formlose Körper unterschiedlicher Größe und in verschiedenen Stadien der Auflösung; Scriptoren und Schusterjungen, manchmal auch einen reglosen Aufseher, und einmal glaubte sie auch die hoch gewachsene Gestalt eines Redigators zu erkennen, die langsam um sich selbst drehend vorbeitrieb, wobei sich ihre Arme in der Strömung aus geschmolzenem Leim auf und ab bewegten, als winke sie ihnen zu.

Und Bücher. Zerfetzte, aufgequollene Bücher, roh herausgerissene Seiten und zerbrochene Einbände, halb zerschmolzene, langsam auseinander fließende Klumpen und zerknitterte Blätter, aber auch vollkommen unbeschädigte Bücher, die wippend wie kleine Flöße auf der grünen Flüssigkeit trieben, die allmählich ihre Substanz verzehrte. Dazwischen immer wieder reglose Körper, nicht nur Schusterjungen, Scriptoren und Aufseher, sondern auch Geschöpfe, die ihr vollkommen fremd waren und selbst im Prozess der Auflösung erschreckend wirkten.

Trotz der Hitze, die von dem reißenden Strom ausging, verspürte Leonie ein eisiges Frösteln. Der unterirdische Kanal war zu einem Totenfluss geworden. Sie gingen am Ufer des Styx entlang, und Leonie wagte nicht einmal sich vorzustellen, welch unbekannte Schrecken auf ihrer Wanderung noch lauern mochten.

Nach einer Weile sah sie wieder in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, und stellte fest, dass sie jetzt nur noch einen Begleiter hatten. Die Scriptoren, die sie bisher begleitet hatten, waren ebenso lautlos wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren, und Leonie spürte eine sonderbare Mischung aus Erleichterung und Sorge. Sosehr sie die Nähe der unheimlichen Geschöpfe auch mit Unbehagen erfüllt hatte, fühlte sie sich doch nun auf seltsame Weise im Stich gelassen. Mit jedem Schritt, den sie dem Scriptor tiefer in die düstere unterirdische Welt hinein folgten, fühlte sie sich mehr allein gelassen und weiter von zu Hause entfernt.

Theresa schien es nicht anders zu ergehen. Sie starrte weiter mit ausdruckslosem Gesicht auf den Fluss hinaus, aber sie sah auch immer öfter über die Schulter zurück, und so gut sie sich auch in der Gewalt haben mochte, gelang es ihr doch immer weniger, ihre Nervosität zu verbergen. Auch ihre Bewegungen wirkten fahrig und abgehackt, und das seltsame mattgrüne Licht, das hier unten herrschte, schien ihr Gesicht auf fast unheimliche Weise zu verwandeln: Hatte Leonie sie bisher für höchstens zehn Jahre älter als sich selbst gehalten, war es ihr plötzlich vollkommen unmöglich, ihr Alter auch nur annähernd zu schätzen. Sie schien... zeitlos, hätte ebenso gut achtzehn wie achtzig sein können, und trotz dieser fast gespenstischen Veränderung kam sie Leonie mit einem Mal so vertraut vor, als hätten sie nicht nur wenige Stunden, sondern ihr ganzes Leben miteinander verbracht. Die silberne Nadel, die sie an einer dünnen Kette um den Hals trug, schien sich in der unheimlichen Helligkeit zu bewegen, als wäre sie von eigenem Leben erfüllt.

Theresa musste ihre Blicke wohl gespürt haben, denn sie blieb stehen und hob fast erschrocken die Hand an die Brust, wie um die Piercing-Nadel vor ihr zu verbergen. Und in diesem Augenblick veränderte sich das Gesicht noch einmal und auf schreckliche Weise: Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Leonie einer uralten Frau gegenüberzustehen, einer Frau, die sie...

Nein. Das war vollkommen unmöglich. Sie hätte keinen magischen Blick für das Wesentliche gebraucht, um das zu merken! Leonie weigerte sich schlicht, den Gedanken auch nur zu Ende zu denken.

Theresa nahm die Hand herunter und der unheimliche Moment verging so rasch, wie er gekommen war.

»Ich... ich glaube, das gehört dir.« Sie hob die Hände in den Nacken, nestelte umständlich das dünne Goldkettchen los und reichte es Leonie. »Ich hätte es dir schon längst zurückgeben sollen. Entschuldige.«

»So war das nicht gemeint«, sagte Leonie hastig. »Ich wollte dich nicht anstarren.«

»Hast du auch nicht«, behauptete Theresa fast unwillig. Sie machte eine auffordernde Geste, als Leonie zögerte nach dem Kettchen zu greifen, und ließ es schließlich kurzerhand in Leonies ausgestreckte Handfläche fallen. »Und selbst wenn, wäre es nichts weniger als dein gutes Recht gewesen. Schließlich gehört sie dir.« Sie zwang ein nicht hundertprozentig überzeugendes Lächeln auf ihr Gesicht. »Du solltest gut darauf Acht geben, Leonie. Sie ist vielleicht das Letzte, was dich noch mit deinem alten Leben verbindet.«

Leonie schloss mit einem angedeuteten Nicken die Hand um das dünne Goldkettchen mit dem sonderbar geformten Anhänger und tatsächlich glaubte sie ein flüchtiges Gefühl von Wärme zu verspüren. Aber zugleich war sie auch nicht sicher, ob Theresa wirklich Recht hatte. Die Nadel mochte - abgesehen von ihren Erinnerungen - das Allerletzte sein, was sie noch mit ihrem alten Leben verband, aber sie begann zugleich auch zu ahnen, dass dieser Teil ihrer Vergangenheit unwiderruflich vorbei war. Zu viel war inzwischen geschehen, zu vieles hatte sich verändert, war zerstört oder verwandelt worden. Sie war nicht einmal sicher, ob sie dieses alte Leben, von dem Theresa gesprochen hatte, überhaupt zurückhaben wollte.

Trotzdem zögerte sie nur noch einen Moment, bevor sie sich die Kette überstreifte und sich wieder ihrem kleinen Führer zuwandte. Der Scriptor war noch ein paar Schritte weitergeschlurft: und dann ebenfalls stehen geblieben, um aus traurigen müden Augen zu ihnen zurückzublicken. Er rührte sich nicht, aber Leonie spürte, dass ihnen nicht mehr allzu viel Zeit blieb. Die Kräfte des kleinen Geschöpfes ließen rapide nach. Sie setzten sich wieder in Bewegung.

»Ich frage mich, wohin er uns bringt«, murmelte Theresa, nachdem sie dem Scriptor ein weiteres Stück gefolgt waren. »Und warum.«

Leonie antwortete nicht gleich. Der Scriptor schlurfte mit hängenden Schultern vor ihnen her und sie war jetzt sicher: Er war langsamer geworden. Seine Bewegungen wurden immer matter, und auch wenn ihr der Gedanke selbst verrückt vorkam - sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass er beständig kleiner wurde. »Erinnerst du dich, was der Scriptor in der Bücherei gesagt hat?«, fragte sie schließlich.

Theresa nickte düster. »Sinngemäß meinte er wohl, dass sie uns vernichten werden«, meinte sie bitter. »Ja.«

»Aber wer?«

Theresa schnaubte. »Kannst du dir denn das wirklich nicht denken?« Sie maß Leonie mit einem kurzen und fast vorwurfsvollen Blick, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und starrte wieder auf den Fluss. Die Flut regloser Körper, zerbrochener Möbel und sich allmählich zersetzender Bücher schien noch zugenommen zu haben. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen mündeten große runde Schächte - ähnlich dem, durch den sie selbst hier heruntergekommen waren - in der Decke, aus denen immer wieder brodelnde grüne Sturzfluten sprudelten.

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein.«

»Was?«, fragte Theresa.

»Das würde Vater nicht tun«, sagte Leonie überzeugt.

»Dein Vater, wie du ihn kennst, sicher nicht«, bestätigte Theresa.

»Was soll das heißen: Wie ich ihn kenne?«

Theresa seufzte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme nicht mehr bitter oder vorwurfsvoll, sondern auf unbestimmte Weise traurig; und ein bisschen enttäuscht. »Der Mann, der uns aus dem Archiv befreit hat, ist nicht mehr dein Vater, Leonie«, sagte sie. »Er hat sich verändert, mehr vielleicht, als ich es bisher befürchtet habe.«

»Quatsch!«, antwortete Leonie heftig. Vielleicht ein bisschen zu heftig, selbst für ihren eigenen Geschmack. Konnte es sein, dass sie tief in sich längst erkannt hatte, was Theresa ihr gerade zu sagen versuchte, und nur so harsch darauf reagierte, weil sie diese Wahrheit gar nicht hören wollte! Dennoch fuhr sie fort: »Ich kenne doch meinen Vater!«

»Ja, das dachte ich auch einmal«, antwortete Theresa mit einem milden Lächeln, das eigentlich gar nicht zu so einem jugendlichem Gesicht wie dem ihren zu passen schien. »Ich kannte deinen Vater gut, Leonie, auch wenn er sich selbst nicht mehr daran zu erinnern vermag. Es war immer ein sehr sanftmütiger Mensch, dem Harmonie und Frieden über alles gingen und ich fürchte, diesen Menschen gibt es nicht mehr.« Sie hob die Hand, als Leonie sie unterbrechen wollte, und fuhr eine Spur lauter fort:

»Du hast mich nicht richtig verstanden, als ich gesagt habe, er hat sich verändert. Ich meinte das wortwörtlich, Leonie.«

»Was... was soll das heißen«, fragte Leonie stockend. Ihr Herz begann zu klopfen.

»So, wie ich es sage«, antwortete Theresa. »Das Buch gibt seinem Besitzer die Macht, die Wirklichkeit zu verändern. Aber ich fürchte, dein Vater ist noch einen Schritt weiter gegangen. Er hat sich selbst verändert.«

»Sich selbst...?«, ächzte Leonie. »Du meinst, er... er hätte sich selbst umgeschrieben?!«

»Wenn dir dieser Ausdruck lieber ist«, erwiderte Theresa. »Du weißt, dass es so ist. Leonie, der Mann, der uns aus der Gewalt des Archivars befreit hat, sah nicht einmal mehr wirklich so aus wie dein Vater! Es war größer. Stärker. Von seinem neuen Selbstbewusstsein gar nicht zu reden!«

»Aber das... so etwas würde mein Vater niemals tun!«, protestierte Leonie.

Theresas Lächeln wurde noch eine Spur trauriger. »Nicht der Mann, den du gekannt hast, Liebling«, sagte sie sanft. Sie schüttelte den Kopf. »Wie oft habe ich das schon erlebt. Es beginnt immer gleich, Leonie. Harmlos und in allerbester Absicht. Meist sind es Kleinigkeiten. Vielleicht eine kleine Ungerechtigkeit des Schicksals, die korrigiert werden kann ohne dadurch irgendjemanden zu beeinträchtigen.« Sie hob die Schultern. »Aber wenn man schon einmal dabei ist, warum dann nicht auch gleich den angeborenen Herzfehler beseitigen oder die krumme Nase? Den schief gewachsenen Zahn, über den sich immer schon alle lustig gemacht haben? Und warum nicht ein wenig stärker werden und vor allem gesünder?« Sie lachte, ganz leise, aber auch sehr bitter. »Es fängt immer gleich an, Leonie, und es endet immer gleich. Der Mensch ist einfach nicht dafür geschaffen, absolute Macht zu besitzen. Nicht über die Welt und schon gar nicht über sich selbst.«

Leonie sagte nichts mehr dazu. Sie weigerte sich noch immer, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Theresa Recht haben könnte - aber es war nur ihr Verstand, der darauf beharrte. Tief in sich wusste sie, dass genau das passiert war. Sie hatte es schon gewusst, lange bevor Theresa es aussprach.

Sie gingen eine geraume Weile in unbehaglichem Schweigen nebeneinander her, dann blieb Theresa plötzlich stehen, legte den Kopf auf die Seite und schloss die Augen um zu lauschen.

»Was hast du?«, fragte Leonie alarmiert.

Theresa hob abwehrend die Hand. »Hörst du nichts?«

Auch Leonie lauschte nun konzentriert und kurz darauf glaubte sie ein dumpfes, noch weit entferntes Grollen und Brausen zu hören; ein Geräusch ganz ähnlich dem, das sie vorhin oben in der Kammer gehört hatte, nur ungleich machtvoller und auf schwer fassbare Weise bedrohlicher.

»Was ist das?«, fragte sie.

Theresa hob die Schultern, aber es wirkte nicht sonderlich überzeugend. »Hoffentlich nicht das, was ich befürchte«, sagte sie und setzte sich wieder in Bewegung. »Komm.«

Sie gingen jetzt schneller, und auch der Scriptor schritt rascher aus, so weit ihm dies überhaupt noch möglich war. Er schwankte jetzt mehr, als er ging, und ein paarmal glaubte Leonie auch zu sehen, dass seine Füße schmierige hellgrüne Abdrücke auf dem Stein hinterließen. Nach und nach wurde das Grollen und Brausen lauter, und bald gesellte sich auch noch ein sachtes Vibrieren hinzu, das anfangs nur in der Luft zu schweben schien, bis es so gewaltig wurde, dass der Boden unter ihren Füßen zitterte.

Theresa hob plötzlich die Hand und deutete nach vorne. Leonies Blick folgte der Geste. Im ersten Moment erkannte sie nur so etwas wie eine grün schimmernde Unendlichkeit, doch schon nach ein paar weiteren Schritten sah sie, worauf Theresa sie hatte aufmerksam machen wollen, und wurde instinktiv langsamer.

Nicht weit vor ihnen beschrieb der gewaltige unterirdische Fluss einen sanften Bogen nach links. Nun aber war die gemauerte Wand gewaltsam durchbrochen worden, sodass der Strom sein angestammtes Bett verlassen hatte. Der schimmernde grüne Nebel, den sie aus der Entfernung gesehen hatten, war nichts anderes als die sprühende Gischt, mit der sich der kochende Leim an den Wänden des mit roher Gewalt geschaffenen Lochs brach.

Theresa beschleunigte plötzlich ihre Schritte, sodass sie nach einem Augenblick nicht nur den Scriptor überholte, sondern selbst Leonie Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten. Sie war vollkommen außer Atem, als sie an der Biegung anlangten und Theresa ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern über das Gewirr von Steinen und herausgebrochenem Mauerwerk zu steigen begann, das den Boden hier bedeckte.

Leonie folgte ihr, so schnell sie konnte, fiel aber nun trotzdem immer rascher zurück. Die Steine bildeten nicht nur ein nahezu unübersteigbares Hindernis, sondern waren darüber hinaus auch noch mit einer glibberigen Schicht aus halbflüssigem Leim bedeckt, was jeden Schritt zu einer lebensgefährlichen Kletterpartie werden ließ. Unmittelbar neben ihnen schoss der brüllende Strom dahin, der mittlerweile so reißend war, dass ein Sturz nichts anderes als den sicheren Tod bedeutet hätte. Theresa schien die Gefahr jedoch nicht einmal zu registrieren. Geschickt wie eine Bergziege, aber ungleich schneller kraxelte sie über das Gewirr von scharfkantigen Steinen und Felstrümmern und blieb schließlich mitten in der Bresche im Mauerwerk stehen.

Irgendwie brachte Leonie das Kunststück fertig, zu ihr aufzuschließen, ohne sich mehrere Knochen zu brechen oder kopfüber in die kochend heiße Brühe zu fallen. Theresa stand hoch aufgerichtet und starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen nach unten. Leonies Herz machte einen erschrockenen Sprung, als ihr Blick dem Theresas folgte.

Kaum einen halben Meter neben ihnen verwandelte sich der Leimstrom in einen stiebenden grünen Wasserfall, der mit einem ungeheuren Tosen in der Tiefe verschwand, wobei er alles mit sich riss, was als Treibgut an Leonie vorbeigeschwommen war. Es war ihr unmöglich, zu sagen, wie tief der Abgrund war, in den sich der Strom ergoss. Er schien bodenlos zu sein, ganz ähnlich dem, in den der Zug gestürzt war, und so wie bei jener gigantischen Schlucht konnte sie auch hier den gegenüberliegenden Rand nicht erkennen. Falls es ihn überhaupt gab.

»Was... was ist das?«, flüsterte sie mit dünner, zitternder Stimme.

»Das Nichts«, antwortete Theresa leise. Leonie verstand ihre Worte über dem Tosen des Wasserfalls kaum, aber irgendwie war das auch nicht mehr nötig. Das unheimliche schwarze Nichts, vor dem sie standen, schien nicht nur den grünen Strom aufzusaugen, sondern die Wirklichkeit selbst. Menschliche Stimmen hatten hier so wenig Bestand wie irgendetwas anderes. »Das vollkommene Nichts, aus dem alles entstanden ist und in das eines Tages alles zurückkehren wird.« Sie schluckte mühsam. »Aber doch noch nicht jetzt«, flüsterte sie. »Um Himmels willen, doch jetzt noch nicht! Was hat er getan?«.

Vielleicht war es nicht einmal das, was Theresa sagte, sondern vor allem der Unterton puren Entsetzens in ihrer Stimme, der auch Leonie schier den Atem nahm. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an das, was Theresa ihr über das Archiv erzählt hatte: Was sie sahen, war nicht die Realität. Es kam dem, was hier unten wirklich war, nicht einmal nahe, denn sie befanden sich in einer Welt, die weder für Menschen gemacht noch für ihre Sinne erfassbar war. Was sie sahen, war nur das, was ihr menschlicher Verstand ihnen zu sehen vorgaukelte, in dem Versuch, eine begreifbare Realität in etwas hineinzuinterpretieren, an dem er sonst zerbrochen wäre. Die Bresche, vor der sie standen, war mehr als nur ein Loch in einer Wand und die bodenlose Schwärze dahinter mehr als nur Dunkelheit. Vor ihnen lag nichts mehr als das große Vergessen, dem kein Erwachen mehr folgen würde. Es war nicht das Ende der Welt, dachte sie schaudernd, oder das Ende des Universums oder der Zeit, sondern das Ende von allem.

Jemand hatte ein Loch in die Wirklichkeit gerissen.

Und Theresa und sie wussten auch wer.

Doch dieses Wissen half ihnen in diesem Augenblick kein Stück weiter. Sie standen einfach nur am Rand des bodenlosen Schlunds und starrten in das alles verschlingende Nichts hinab - wie lange, das hätte Leonie später nicht zu sagen vermocht; vermutlich spielte es auch gar keine Rolle, denn Zeit bedeutete an diesem schrecklichen Ort am Rande der Wirklichkeit nichts. Irgendwann jedenfalls konnte sie es nicht mehr ertragen und kletterte über die glitschigen Steine zurück auf halbwegs sicheren Boden und noch einmal eine Ewigkeit später folgte ihr auch Theresa.

Der Scriptor hatte die ganze Zeit über schweigend auf sie gewartet, und jetzt, als sie das unvorstellbar furchtbare Nichts erblickt und begriffen hatten, warum er sie hierher geführt hatte, drehte er sich einfach um und schlurfte vor ihnen her. Leonie versank vollständig in sich selbst, und während sich ihre Füße ohne ihr Zutun zu bewegen schienen, schossen ihr tausend verrückte Gedanken durch den Kopf.

Ihr Vater war dabei, die Welt zu vernichten. So absurd dieser Gedanke in ihren Ohren klang, so einfach und grässlich war er. Sie wusste, dass Theresa Recht hatte.

Schließlich kamen sie zu einer Treppe, die so gewendelt wie das Haus einer versteinerten prähistorischen Riesenschnecke in die Höhe führte. Leonie wusste nicht, wie viele Stufen sie schon zurückgelegt hatten, als sich der Schleier über ihrem Verstand allmählich zu lichten begann, aber es mussten Hunderte sein. Ihre Waden waren mittlerweile so verkrampft, als hätten sich dort ihre Muskeln in hölzerne Stöcke verwandelt, und ihr Rücken schmerzte unerträglich. Trotzdem kam kein Laut der Klage über ihre Lippen und sie wurde nicht einmal langsamer. So schlimm der Schmerz war, hatte sie doch das Gefühl, ohne ihn im Moment nicht weiterleben zu können, denn obwohl ihr jeder Schritt eine schier unerträgliche Qual bereitete, hatte sie doch zugleich auch etwas, wogegen sie ankämpfen konnte; und daraus nahm sie die Kraft, überhaupt noch weiterzugehen.

Ihrem kleinen Führer schien es dagegen richtig schlecht zu gehen. Schon seit einer geraumen Weile war der Scriptor immer langsamer geworden. Seine Schritte waren schleppend und er stolperte immer öfter, obwohl er sich mit der Hand an der Mauer abstützte und vor jeder Stufe, die er in Angriff nahm, einen unmerklichen Augenblick zögerte um neue Kraft zu schöpfen. Zwei Mal war er bereits auf die Knie herabgefallen und hatte sich jedes Mal mit allergrößter Anstrengung wieder auf die Beine gekämpft, und das letzte Mal nur, um sogleich wieder zu stürzen, wobei er einen schmierigen hellgrünen Fleck auf den steinernen Treppenstufen hinterließ. Als er das erste Mal ausgerutscht war, hatte Leonie versucht ihm aufzuhelfen, aber der Scriptor war ihrer Berührung fast panisch ausgewichen und hatte sogar kraftlos nach ihr geschlagen, sodass es bei diesem einen Versuch geblieben war. Leonie war schon seit einer ganzen Weile klar, dass der Scriptor sterben würde, aber er wollte ganz offensichtlich nicht, dass sie ihm half.

»Er ist nicht der Einzige«, sagte Theresa plötzlich. Leonie sah sie einen Moment lang verständnislos an und Theresa fuhr mit einer müden Geste auf die verkrümmte, grauhäutige Gestalt auf den Treppenstufen fort: »Die Scriptoren. Sie sterben. Und ich glaube, alle anderen auch.«

»Der Leimtopf«, vermutete Leonie.

Theresa lächelte traurig. »Es ist kein Leim. So wenig wie das hier eine Treppe ist, oder dieses Geschöpf ein lebendes Wesen. Es ist die Essenz des Archivs. Der Stoff, aus dem unsere Erinnerungen gemacht sind. Und er vergeht, Leonie.«

»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Leonie leise.

»Tun?« Theresa blickte traurig auf den sterbenden Scriptor hinab. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Ich fürchte, es gibt nichts mehr, was wir noch tun können. Vielleicht möchte ich deinem Vater nur noch eine einzige Frage stellen: Warum?«

Der Scriptor stemmte sich wimmernd in die Höhe, quälte sich zwei weitere Stufen die Treppe hinauf und sank mit einem Keuchen, das etwas Endgültiges hatte, gegen die Wand. Der Anblick brach Leonie schier das Herz, aber sie widerstand der Versuchung, sich zu ihm hinabzubeugen und ihn einfach in die Arme zu schließen, um ihm seine letzten Augenblicke zu erleichtern. Der Gedanke, dass sie diese Geschöpfe einmal als ihre Todfeinde betrachtet hatte, kam ihr jetzt geradezu absurd vor.

»Wenn ich nur wüsste, wie ich dir helfen kann«, sagte sie leise. Ihre Stimme versagte beinahe.

»Du kannst nichts mehr für ihn tun«, meinte Theresa. »Es geht zu Ende. Nicht nur mit ihm.«

Der Scriptor hob mühsam einen Arm und deutete die Treppe hinauf.

Dann starb er.

Leonie drehte sich mit einem Ruck weg und schloss für die Dauer von zwei oder drei Herzschlägen die Augen. Als sie wieder hinsah, war der Scriptor verschwunden. Von ihm war nicht mehr zurückgeblieben als ein zerschlissener schwarzer Mantel und ein grüner Schmierfleck auf den Stufen.

Theresa blickte nachdenklich nach oben, in die Richtung, in die der Scriptor gedeutet hatte. »Ich frage mich, was dort oben ist«, murmelte sie. Plötzlich erschien so etwas wie ein Funke neuer Hoffnung in ihren Augen. Sie fuhr herum, sah einen Moment lang Leonie und dann deutlich länger und mit nachdenklich gerunzelter Stirn das an, was von dem Scriptor übrig geblieben war.

»O verdammt, wie konnte ich nur so dumm sein!«, murmelte sie. Mit einem Mal wirkte sie furchtbar erregt und begann wild mit beiden Händen in der Luft herumzufuchteln. »Ja, verstehst du denn nicht, Leonie?«, sprudelte sie hervor. »Er hat es uns doch gesagt! Heute Morgen, in der Bücherei! Der Scriptor dort hat uns angefleht ihnen zu helfen!«

»Ja - und?«, fragte Leonie verständnislos.

»Bisher hat er uns nur Dinge gezeigt«, antwortete Theresa erregt. »Aber es muss etwas geben, was wir tun können, sonst hätte er uns nicht hierher gebracht. Es muss dort oben sein. Komm!« Sie stürmte los, rannte drei oder vier Stufen die Treppe hinauf und blieb wieder stehen. »Worauf wartest du?«

Leonie war noch immer viel zu perplex, um sich auch nur von der Stelle zu rühren. Nachdem Theresa noch vor einem Augenblick am Boden zerstört gewesen war, schien sie nun vor neuer Energie zu bersten. Sie setzte zu einer entsprechenden Frage an, aber Theresa ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern winkte heftig mit den Händen und kam gleichzeitig die Treppe wieder herab, wie um Leonie nötigenfalls einfach am Arm zu packen und mit sich zu ziehen.

»Nun komm schon. Es kann nicht mehr weit sein.«

Leonie fand keine Gelegenheit, sie zu fragen, woher sie diese Gewissheit nahm. Sie war im Grunde schon froh, dass Theresa es jetzt dabei bewenden ließ, in etwas schnellerem Tempo als bisher weiterzugehen, und nicht etwa die Treppe hinaufrannte.

Zu ihrem Glück war es tatsächlich nicht mehr sehr weit. Leonie schätzte, dass sich die Treppe vielleicht noch dreißig oder vierzig Stufen in die Höhe schraubte, bevor sie durch eine niedrige Tür traten, die auf eine der ihnen schon hinlänglich bekannten Galerien hinausführte. Stimmengewirr, geschäftiges Hantieren und Rumoren drangen zu ihnen herauf, lang nachhallende Hammerschläge und ein dumpfes Knirschen und Bersten und einmal ein dumpfer Schlag, dem ein heftiges Vibrieren des Bodens folgte, als wäre etwas ungemein Großes und Schweres umgefallen. Theresa und Leonie blieben unwillkürlich für einen kurzen Moment stehen, bevor sie weitergingen und nebeneinander an das brusthohe Geländer traten.

Unter ihnen erstreckte sich eine gewaltige kreisrunde Halle mit zahlreichen Ein- und Ausgängen, die früher einmal so etwas wie ein zu groß geratener Maschinenraum gewesen sein musste, nun aber einen einfach nur noch chaotischen Anblick bot. Wohin Leonie auch blickte, sah sie geheimnisvolle, riesige Maschinen, gewaltige Gebilde aus rostzerfressenem Eisen und mannsdicken Balken aus geteertem Eichenholz, hoch wie ein mehrstöckiges Haus, und manche so wuchtig, dass sie eher wie gestrandete eiserne Schiffe wirkten. Da waren riesige Pleuelstangen und Kolben, doppelt mannshohe Zahnräder und hausgroße Kessel, Hebel, die für die Hände von Riesen gemacht zu sein schienen, und Rohrleitungen, die drei Männer zugleich mit ausgestreckten Armen nicht hätten umfassen können. In der Luft lag noch immer der Geruch von heißem Metall und Öl, doch nicht eine dieser geheimnisvollen Maschinen arbeitete noch.

Das konnten sie auch gar nicht, denn die Halle wimmelte nur so von Männern, die emsig damit beschäftigt waren, sie auseinander zu nehmen.

Leonie sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, als ihr klar wurde, was dort unter ihnen geschah. Es waren Männer der Stadtgarde, Hunderte, wenn nicht Tausende, die allein oder in kleineren und größeren Gruppen dabei waren, die Maschinen mit wenig Rücksicht und großer Effektivität in Kleinteile zu zerlegen. Schrauben wurden herausgebrochen, Rohrleitungen grob in Stücke gehackt, gewaltige Zahnräder mit noch gewaltigeren Brechstangen auseinander gerissen oder kurzerhand in Stücke gebrochen. Leonie korrigierte in Gedanken den ersten Eindruck, den sie von dem Geschehen in der Halle gewonnen hatte: Diese Männer waren nicht damit beschäftigt, die Maschinen abzubauen. Sie zerstörten sie.

»Was bedeutet das?«, murmelte sie benommen.

Theresa lachte bitter. »Ich glaube, du kennst die Antwort.« Sie schloss die Augen und schüttelte mit einem hörbaren Seufzen den Kopf. »Er leistet ganze Arbeit, das muss man ihm lassen.«

»Wer?«, fragte Leonie.

Bevor Theresa antworten konnte, sagte eine Stimme hinter ihr: »Ich glaube, deine neue Freundin meint mich.«

Leonie fuhr mit einem Schreckenslaut herum und ihr Vater führte den Satz mit einem angedeuteten Achselzucken und einem säuerlichen Lächeln in Theresas Richtung zu Ende: »Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob ich mich wirklich geschmeichelt fühlen soll.«

Er war nicht allein gekommen. Wie aus dem Nichts erschienen zwei hoch gewachsene Männer im typischen Weiß und Rot der Stadtgarde neben ihm, und Leonie wusste einfach, dass hinter ihnen weitere Gardisten warteten.

»Wie geht es dir, Leonie?«, fragte Vater.

»Meinst du diese Frage ernst?«, schnappte Theresa, bevor Leonie auch nur einen einzigen Ton herausbekam. Ihre Augen blitzten kampflustig und sie trat herausfordernd auf Vater zu. Einer der beiden Stadtgardisten setzte dazu an, ihr den Weg zu vertreten, aber Vater machte eine rasche Geste und der Mann entspannte sich wieder. »Deine Tochter wäre fast ums Leben gekommen!«

»Stimmt das?«, fragte Vater, direkt an Leonie gewandt und mit einem plötzlichen Ausdruck von Sorge in den Augen.

»Sie übertreibt«, antwortete Leonie ausweichend. »Es war ein bisschen ungemütlich, aber nicht wirklich gefährlich.«

»Ja, und wie ich dich kenne, würdest du das auch noch behaupten, wenn du gerade deinen Kopf unter dem linken Arm trägst«, meinte Vater kopfschüttelnd. Aus der Sorge in seinen Augen wurde mühsam unterdrückter Zorn, als er sich zu Theresa umdrehte. »Sie haben Glück, dass Leonie nichts zugestoßen ist!«, sagte er mit drohend gesenkter Stimme.

»Hättest du mich sonst erschießen lassen?«, fragte Theresa patzig. »Oder vielleicht lebendig irgendwo einmauern?«

Leonies Vater war klug genug, die Herausforderung nicht anzunehmen, sondern Theresa nur mit einem ärgerlichen Blick zu bedenken, bevor er sich wieder seiner Tochter zuwandte. Sein Tonfall wurde zwar milder, blieb aber dennoch vorwurfsvoll. »Und von dir hätte ich ebenfalls ein bisschen mehr Vernunft erwartet. Großer Gott, Leonie, weißt du eigentlich, was dir alles hätte passieren können? Es ist schon fast ein kleines Wunder, dass ihr noch am Leben seid!«

»Ich stehe nun mal nicht darauf, eingesperrt zu werden«, antwortete Leonie trotzig.

»Eingesperrt?« Die linke Augenbraue ihres Vaters rutschte ein Stück nach oben und er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass Leonie glaubte seine Zähne knirschen zu hören. Er hatte sich augenblicklich wieder in der Gewalt, aber Leonie begriff, dass Theresa Recht hatte: Ihr Vater hatte sich verändert.

»Du kannst es meinetwegen eine Schule nennen, aber für mich war es ein Gefängnis. Noch dazu eines mit einem scharfen Wachhund.«

Ihr Vater seufzte. »Ich weiß zwar, dass ich meinen Atem verschwende, aber ob du es mir nun glaubst oder nicht, es geschah nur zu deinem Schutz. Ich habe Frank nicht beauftragt, dich zu bespitzeln, sondern dich zu beschützen.«

»Wovor?«, fragte Leonie zornig. »Wer sollte mir wohl etwas tun?«

Ihr Vater seufzte wieder. »Ihr beide«, sagte er betont und mit einem raschen, dafür aber wenig freundlichen Seitenblick auf Theresa, »habt euch mit Mächten eingelassen, denen ihr nicht gewachsen seid. Du bist in Gefahr, Leonie, ganz gleich auf welcher Seite der Wirklichkeit du dich aufhältst. Aber ich hätte dich vielleicht besser beschützen sollen. Seine Macht ist hier viel größer.«

»Seine Macht?«, fragte Theresa.

»Der Archivar«, antwortete Vater. »Er ist noch nicht besiegt. Meine Truppen schlagen die seinen, wo immer sie aufeinander treffen, aber der Krieg ist noch längst nicht vorbei.«

»Krieg?«, murmelte Leonie verständnislos. »Truppen? Was... was für ein Krieg?«

Bevor ihr Vater antworten konnte, ließ Theresa ein leises, durch und durch humorloses Lachen hören. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass dein treu sorgender Vater nur gekommen ist um dich zu retten«, bemerkte sie böse. »Natürlich war das auch ein Grund - oder sollten wir lieber sagen: ein willkommener Vorwand?«

Ihr Vater starrte sie an. Er sagte nichts, aber in seinem Gesicht arbeitete es.

»Und wenn wir schon einmal hier sind, dann gibt es eigentlich keinen vernünftigen Grund, wieder zu gehen, nicht wahr?«, fuhr Theresa ungerührt fort. Ihre Stimme triefte nur so vor Hohn. »Wo die Sache einmal so gut in Schwung ist, können wir die Gelegenheit ja auch gleich nutzen, um reinen Tisch zu machen.«

»Reinen Tisch zu machen?«, wiederholte Leonie ungläubig. Ihr Blick wanderte verständnislos von Theresas Gesicht zu dem ihres Vaters und wieder zurück. Die beiden starrten sich fast hasserfüllt an, und es war klar, dass keiner von ihnen auch nur einen Fingerbreit nachzugeben bereit war. »Was soll das heißen?«

Wie auf ein Stichwort erzitterte die gewaltige Halle unter ihnen in diesem Moment wieder unter einem gewaltigen Schlag. Leonie fuhr erschrocken herum und auch Theresa wandte sich um und sah in die Halle hinab. Ein weiteres der gigantischen Zahnräder - es war höher als Leonies Elternhaus und musste zahllose Tonnen wiegen - war umgefallen und in drei Teile zerborsten. Die Wucht des Aufpralls hatte den Boden darunter zerbrochen, und aus den gezackten, an erstarrte schwarze Blitze erinnernden Rissen drang wabernder giftig grüner Dampf, der sich allmählich um das gewaltige Trümmerstück herum auszubreiten begann. Leonie sah, wie sich Arbeiter und Soldaten hastig vor diesen tastenden Nebelfetzen in Sicherheit brachten, als handele es sich um giftiges Gas.

»Das siehst du doch.« Theresa beantwortete die Frage, die eigentlich an ihren Vater gerichtet gewesen war, mit einiger Verspätung und einer entsprechenden Geste nach unten, und Leonie fuhr erneut und noch erschrockener zusammen, als ihr Blick der Handbewegung folgte und sie beobachtete, wie einer der Männer in Weiß und Rot in seiner Hast ins Stolpern geriet, fiel und nicht schnell genug wieder auf die Füße kam, sodass ein Zipfel der wabernden grünen Schwaden über ihn hinwegglitt wie eine suchende Hand. Als sich der leuchtende Dunst verzog, war auch der Mann verschwunden. Leonie schlug mit einem verhaltenen Schrei die Hand vor den Mund.

Ihr Vater trat mit einem einzigen schnellen Schritt neben sie, blickte einen Moment lang irritiert in die Tiefe und legte ihr dann mit einem beruhigenden Lächeln die Hand auf die Schulter. »Keine Angst«, sagte er, »da ist nichts.«

»Nichts?!« Leonie schlug seine Hand regelrecht beiseite und wich instinktiv zwei Schritte vor ihm zurück »Der Mann ist tot!«, keuchte sie.

»Aber wie kann etwas sterben, das niemals gelebt hat?«, fragte Theresa spöttisch. Sie schüttelte heftig den Kopf, als Leonie antworten wollte. »Dein Vater hat sich seine kleine Privatarmee erschaffen, verstehst du das immer noch nicht?« Sie deutete in die Halle hinab. »Das da sind sozusagen seine Scriptoren. Und er benutzt sie nicht anders als der Archivar seine Truppen.« Sie seufzte tief. »Hier unten herrscht Krieg, Leonie. Vielleicht der gnadenloseste Krieg, den es jemals gegeben hat. Dein Vater vernichtet das Archiv.«

»Das ist nicht wahr, oder?«, murmelte Leonie. Mühsam drehte sie sich wieder um und zwang sich ihrem Vater ins Gesicht zu blicken. »Sag, dass... dass das nicht wahr ist! Du kannst doch hier nicht alles zerstören! Nicht einfach so!«

Wieder blitzte reiner Zorn in den Augen ihres Vaters auf. Sie konnte sehen, wie er zu einer wütenden Antwort ansetzte, aber er beherrschte sich auch dieses Mal. Statt sie anzufahren, wonach ihm sichtlich der Sinn stand, drehte er sich mit einem Ruck um und gab ihr gleichzeitig einen herrischen Wink. »Komm mit!«

Sie verließen die Galerie durch die gleiche Tür, durch die Theresa und sie getreten waren, nur dass sie jetzt nicht mehr auf eine endlos lange Wendeltreppe hinausführte, sondern in einen langen, strahlend hell erleuchteten Gang mit sauberen weißen Wänden. Es roch nach frischer Farbe und in der Luft lag noch jenes schwache Echo hektischer Aktivität, wie man es manchmal in gerade fertig gestellten Häusern oder frisch renovierten Wohnungen wahrnimmt.

»Du verschwendest keine Zeit, wie?«, fragte Theresa spöttisch.

»Man tut, was man kann«, antwortete Leonies Vater ungerührt. Er schritt rascher aus, um eine Tür am Ende des Korridors zu erreichen. Sie glitt mit einem kaum hörbaren Summen vor ihm zur Seite, als er noch zwei Schritte davon entfernt war. Dahinter kam ein kleiner, ganz mit verchromtem Metall vertäfelter Raum zum Vorschein. Erst als Theresa und Leonie hinter Vater eintraten, entpuppte er sich als eine Liftkabine.

Zu ihrer Überraschung folgten ihnen Vaters Begleiter nicht, sondern blieben reglos draußen auf dem Gang stehen, bis die Lifttüren geschlossen waren und sich die Kabine lautlos in Bewegung setzte. Es hätte auch einigermaßen komisch ausgesehen, dachte Leonie: diese supermoderne Fahrstuhlkabine und zwei Männer in mittelalterlichen Kleidern und Waffen.

Theresa sah sich demonstrativ in der kleinen, rundum verspiegelten Kabine um. Die Tür schloss so perfekt, dass man schon sehr genau hinsehen musste, um den haarfeinen Spalt zu erkennen. Es gab keine sichtbaren Knöpfe oder andere Bedienungselemente, und Leonie konnte sich auch nicht erinnern, dass ihr Vater irgendetwas gesagt hatte, nachdem sie in den Lift getreten waren. Trotzdem spürte sie, wie sich die Kabine immer schneller und schneller nach oben bewegte.

»Schick«, bemerkte Theresa sarkastisch. »Könnte glatt aus STAR TREK stammen. Warum beamen wir uns nicht gleich ans Ziel?«

Einen Moment lang machte Vater ganz den Eindruck, als hielte er es nicht für nötig, auf eine so dumme Frage überhaupt zu antworten. »So funktioniert das nicht, junge Dame«, sagte er schließlich. »Es reicht nicht, sich etwas zu wünschen. Es ist hier etwas einfacher, Dinge zu erschaffen, das will ich gerne zugeben, aber man muss schon wissen, wie sie funktionieren.«

»Na ja, da ist zerstören deutlich einfacher, das sehe ich ein«, meinte Theresa spitz.

»Niemand zerstört hier etwas«, erwiderte Vater zornig. »Sie sind ein bisschen vorschnell mit Ihren Urteilen, finden Sie nicht?«

»Vielleicht ja auch nur dem gegenüber, was ich sehe«, entgegnete Theresa. Aber sie klang ein ganz kleines bisschen unsicher, fand Leonie, so als spürte sie selbst, dass der Anteil von Trotz in ihrem Tonfall weit größer war, als er sein durfte, wenn sie auch nur eine Spur von Glaubhaftigkeit behalten wollte. Ihr Vater machte sich dann auch gar nicht erst die Mühe, noch einmal zu antworten, sondern beließ es bei einem Achselzucken und schwieg, bis der Aufzug sein Ziel erreicht hatte und die Türhälften wieder auseinander glitten.

Der Anblick verschlug Leonie buchstäblich die Sprache. Vor ihnen lag ein hell erleuchteter, weiß gestrichener Gang, der nach einem knappen Dutzend Schritten auf eine der Leonie schon hinlänglich bekannten Galerien hinausführte. Doch damit hörte die Ähnlichkeit mit allem, was Leonie jemals hier unten gesehen hatte, auch schon auf.

Die Galerie war weitaus breiter, als sie sie in Erinnerung hatte, und verfügte über ein Geländer aus mattiertem Chrom statt porösem Stein und wurde zur Halle hin von einer schräg nach außen geneigten Glasscheibe begrenzt. Der Boden bestand aus hellgrauem Kunststoff, wie auch die kleinen Sitzgruppen, die in regelmäßigen Abständen auf der Galerie platziert waren. Große Blumenkübel, die sich mit modernen Plastiken und Kunstobjekten aus Plexiglas und Aluminium abwechselten, vervollständigten den Eindruck, sich auf dem Aussichtsbalkon eines modernen Bürohochhauses zu befinden. Als Leonie den Blick hob, stellte sie fest, dass die Trennscheibe bis an die Unterkante der nächsthöheren Galerie hinaufreichte. Das System setzte sich unter und über ihnen fort, sodass es nirgendwo eine direkte Verbindung zum Inneren der Halle gab.

Theresa, die vorausgegangen war, trat an die verchromte Brüstung und blieb dann mit einem so plötzlichen Ruck stehen, als wäre sie unmittelbar vor der Glaswand gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Leonie sah, wie sich ihre Haltung versteifte. Sie ging schneller, blieb neben Theresa stehen und starrte sie besorgt an.

Theresas Gesicht hatte jedes bisschen Farbe verloren. Sie stand stocksteif und wie zur Salzsäule erstarrt da, aber sie zitterte dennoch am ganzen Leib, und in ihren Augen stand ein Entsetzen geschrieben, als blickte sie geradewegs in den Schlund der Hölle hinab. Leonies Herz begann wie verrückt zu klopfen, als sie sich umdrehte und ebenfalls nach unten sah.

Im ersten Moment fiel ihr nichts Ungewöhnlicheres auf, als dass es tatsächlich so war, als würde sie auf dem Balkon eines modernen Bürohochhauses stehen und in dessen Innenhof hinabsehen, aber dann wurde ihr schlagartig klar, was hier nicht stimmte, und sie konnte spüren, wie auch aus ihrem Gesicht schlagartig alle Farbe wich.

Sie kannte diesen Raum. Sie hatte schon einmal auf dieser Galerie gestanden und in die riesige runde Halle hinabgesehen und es war noch nicht einmal lange her - nur hatte sich beides so sehr verändert, dass sie es selbst jetzt kaum wiedererkannte, obwohl sie wusste, wo sie sich befanden.

Unter ihnen lag der Schreibsaal. Oder das, was einmal der Schreibsaal des Archivs gewesen war.

In gewisser Hinsicht war er es immer noch, nur auf eine gänzlich andere und vollkommen falsche Art.

Dort, wo zuvor Hunderte und Aberhunderte altmodischer Stehpulte gewesen waren, an denen ganze Armeen emsiger Scriptoren endlose Buchstabenkolonnen in schwere ledergebundene Bücher geschrieben hatten, erstreckten sich nun zahllose Reihen kleiner moderner Schreibtische aus dezentem grauem Kunststoff. Anstelle eines Buches erhob sich auf jedem einzelnen dieser Schreibtische ein papierdünner Computermonitor, über den endlose Zahlen- und Buchstabenkolonnen flimmerten.

Das Unheimlichste überhaupt aber war die Stille, die dort unten herrschte. Nicht der mindeste Laut drang aus dem zahllose Stockwerke messenden Abgrund zu ihnen herauf, und das lag ganz und gar nicht nur an der dicken Glasscheibe, die sie von der Halle trennte. Dort unten rührte sich... nichts.

»O mein Gott, das Scriptorium«, flüsterte Theresa, »was hast du nur getan?«

Leonie hörte, wie ihr Vater mit langsamen Schritten näher kam und unmittelbar hinter ihnen stehen blieb, sodass sich seine Gestalt als geisterhaft verzerrter Schemen in der sanft nach außen geneigten Glasscheibe spiegelte, aber es war ihr unmöglich, sich zu ihm umzudrehen oder auch nur den Blick von der unheimlichen Szenerie zu lösen.

Der Schreibsaal lag wie ausgestorben unter ihnen. Die einzige Illusion von Bewegung kam von dem lautlosen Flackern der Computermonitore. Es gab niemanden, der die Geräte bediente, keinen, der sich auch nur davon überzeugt hätte, dass sie ordnungsgemäß funktionierten und alles seine Richtigkeit hatte. Doch selbst wenn Leonie der freie Blick über die gewaltige Halle verwehrt geblieben wäre, hätte sie einfach gespürt, dass es in dem riesigen Raum kein Leben gab.

Ihr Blick tastete sich an den endlosen Reihen grauer Schreibtische entlang, bis er jenen Punkt erreichte, an dem bei ihrem ersten Besuch hier unten der gewaltige steinerne Turm gestanden hatte. In gewissem Sinne war er noch immer da, aber er hatte sich auf die gleiche unheimliche Weise verändert wie der gesamte Raum: Anstelle des Turms aus klobigem Bruchstein erhob sich nun ein fast graziles Gebilde aus Glas, Kunststoff und schmalen verchromten Kühlrippen, von dessen Spitze ein mattes bläuliches Leuchten auszugehen schien.

»Der Zentralrechner«, sagte ihr Vater. Offensichtlich war ihm ihr Blick nicht entgangen, aber ebenso offensichtlich deutete er ihn auch gründlich falsch, denn in seiner Stimme war ein deutlicher Unterton von Stolz. Nach drei oder vier Schritten blieb er stehen. »Von dort aus werden alle anderen Rechner gesteuert und das Datenmanagement überwacht.«

»Aber... aber wo sind die Bücher?«, flüsterte Leonie. »All die Scriptoren und das Inventarium? Wo sind sie geblieben? Was hast du nur getan?«

»Wir brauchen keine Scriptoren mehr«, antwortete ihr Vater, »und was diese altmodischen handgeschriebenen Bücher angeht, so...«

»Altmodische Bücher?«, keuchte Theresa. Sie fuhr herum und wiederholte, plötzlich schreiend: »Altmodische Bücher? Das waren nicht nur irgendwelche altmodischen Bücher, das waren Menschenleben! Und du hast sie ausgelöscht, einfach weggeworfen, wie ausgediente Möbelstücke, die man nicht mehr braucht und auf den Müll wirft!«

Vater sah sie einen Moment lang sehr traurig an. »Wenn Sie mich wirklich kennen würden, dann wüssten Sie auch, dass ich so etwas nie tun würde.«

»Lüg nicht auch noch!«, fuhr ihn Theresa an. »Wir haben gesehen, was du getan hast!«

»Ich verstehe«, sagte Vater traurig.

»Das bezweifle ich«, erwiderte Theresa aufgebracht. »Wir haben...«

»Ich nehme an, ihr habt einige der alten Bücher gefunden, die wir entsorgt haben.« Aus irgendeinem Grund schien ihn Theresas Zorn zu amüsieren.

»Entsorgt?« Theresa ächzte. »Sagtest du gerade entsorgt? Um Himmels willen, wir reden hier von Menschenleben! In diesen Büchern, die ihr entsorgt habt, waren die Erinnerungen an zahllose Schicksale aufgezeichnet: an jeden Tag, jede Stunde, jede noch so winzige Kleinigkeit!«

»Und nichts davon ist verloren«, entgegnete Vater lächelnd. Zwei oder drei Sekunden lang weidete er sich ganz offensichtlich an dem verwirrten Ausdruck auf Theresas und Leonies Gesichtern, dann drehte er sich um und ging zwei Schritte weit in den Gang zurück, aus dem sie gekommen waren. Er schien so sicher zu sein, dass sie ihm folgen würden, dass er es nicht einmal für nötig erachtete, sich mit einem Blick davon zu überzeugen. Nach drei oder vier Schritten blieb er stehen und klatschte in die Hände und ein Teil der Wandverkleidung vor ihm bewegte sich mit einem leisen elektrischen Summen zur Seite. Dahinter kam ein schmales, indirekt beleuchtetes Glasregal zum Vorschein, auf dem zahllose silbern schimmernde CDs aufgereiht waren, jede einzelne in einer durchsichtigen Kunststoffhülle verpackt und mit etwas gesichert, das wie ein winziges Zahlenschloss aussah, auch wenn man vermutlich die spitzen Finger einer Elfe gebraucht hätte, um die kaum stecknadelkopfgroßen Tasten zu drücken.

»Es ist alles hier«, erklärte er stolz. »Jedes einzelne Buch. Jeder einzelne Buchstabe, jedes Komma wurde akribisch übertragen.« Er drehte sich zu Theresa um. »Sie sehen also, junge Dame, dass das, was man zu sehen glaubt, nicht unbedingt die Wahrheit sein muss.«

Theresa starrte das CD-Regal aus ungläubig aufgerissenen Augen an. Sie schien etwas sagen zu wollen, aber ihre Stimme versagte und sie brachte nur ein ersticktes Keuchen heraus.

Als klar wurde, dass er keine Antwort bekommen würde, wandte sich Vater direkt an sie. »Es tut mir Leid, wenn du einen falschen Eindruck gewonnen hast, Leonie. Vielleicht war es meine Schuld. Ich hätte dich früher in meine Pläne einweihen sollen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir Leid. Ich hatte einfach zu viel zu tun. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber vielleicht kannst du es ja wenigstens verstehen.«

»Zu viel zu tun?«, ächzte Theresa. »Mit... mit dieser Ungeheuerlichkeit?«

Vater seufzte. Leonie sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, sich weiter zu beherrschen, aber nach zwei oder drei Sekunden drehte er sich ganz zu Theresa um und zwang ein leicht verunglücktes Lächeln auf sein Gesicht. »Ungeheuerlichkeit? Wieso?«

»Weil... weil...« Theresa rang sichtlich nach Worten. »Weil es eben nicht richtig ist«, stieß sie schließlich hervor.

»Weil es nicht richtig ist«, wiederholte Vater seufzend. »Das ist nicht unbedingt das, was ich unter fundierter Kritik verstehen würde.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihre Furcht verstehen, aber glauben Sie mir, sie ist vollkommen unbegründet. Nichts wird verloren gehen. Ganz im Gegenteil.« Er wedelte mit der Hand in Richtung Regal. »Diese Art, Daten zu sichern, ist viel zuverlässiger als Buchstaben mit Tinte auf Papier zu schreiben. Ich habe die Bücher im Archiv gesehen. Sie altern. Manche schneller, manche langsamer, aber sie altern. Irgendwann zerfallen sie, und dann ist das Menschenleben, das in ihnen aufgezeichnet war, endgültig verloren. Diese Daten hier sind für die Ewigkeit gesichert.«

»Blödsinn!«, schnappte Theresa. »Nichts hält ewig. Auch dein technisches Spielzeug nicht!«

»Nun, vielleicht nicht wirklich ewig«, gestand Vater lächelnd. »Aber doch für eine Zeitspanne, die uns beinahe wie die Ewigkeit vorkommt. Wenn Sie so wollen, dann habe ich allen Menschen, deren Bücher wir noch retten konnten, die Unsterblichkeit geschenkt.«

Der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar, und Leonie spürte plötzlich eine wilde Hoffnung in sich hochsteigen, so als träfe die Begeisterung ihres Vaters irgendetwas in ihr, das nur zu gern bereit war zu glauben, dass ihr Vater alles andere als ein Ungeheuer war, das mit seinem Egoismus die ganze Welt in Gefahr brachte. Doch noch überwog ihre Skepsis. Es war einfach nicht vorstellbar, dass sie und Theresa sich tatsächlich verrannt hatten in der Annahme, das alte Archiv mit all seinen Büchern, Scriptoren und dem ganzen Inventarium retten zu müssen; schließlich waren sie Hüterinnen, die einer Jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealten Tradition folgten, um das Archiv und die Welt davor zu bewahren, dass jemand nach seinem eigenen Gutdünken anfing die Wirklichkeit umzuschreiben.

Aber andererseits: War nicht ihr Vater vielleicht derjenige, der Weitblick bewiesen hatte, und konnte es nicht sein, dass er Recht hatte - und sie einen Grund, stolz auf ihn zu sein?

Die Gedanken machten sie ganz wirr im Kopf. Vielleicht hatte ihr Vater mit seiner kleinen Präsentation ja genau das beabsichtigt; vielleicht hatte er vor, sie so lange zu verwirren und ihr seine Sicht der Dinge einzureden, bis ihr gar nichts anderes mehr übrig blieb, als ihm zu glauben und sich auf seine Seite zu stellen, gleichgültig ob er nun im Recht war oder nicht.

Es war Theresa, die sie vor dieser Konsequenz rettete. »Und wer sagt dir, dass das richtig ist?«, fragte sie Vater schroff. »Wer gibt dir die Legitimation, Dinge zu tun, deren Folgen du nicht im Geringsten abschätzen kannst?«

»Was sollte falsch daran sein? Der Tod ist eine solche Verschwendung! Denken Sie nur an all die großartigen Menschen, die gelebt haben. Einstein. Shakespeare. Leonardo da Vinci.« Er zögerte einen winzigen Moment. »Jesus.«

»Vielleicht hat es ja einen Sinn, dass alles ganz genau so ist, wie es ist«, antwortete Theresa mühsam beherrscht. »Die Menschen sind nicht für die Unsterblichkeit gemacht - ist dir dieser Gedanke schon mal gekommen?«

Leonies Vater antwortete nicht gleich, sondern sah Theresa einige Sekunden mit undeutbarem Ausdruck an, dann drehte er sich um, schloss mit einer bedächtigen Bewegung den CD-Schrank und ging auf die Galerie zurück, wo er sich mit beiden Händen schwer auf das verchromte Geländer aufstützte und nach unten sah. Er wartete, bis Theresa und Leonie ihm gefolgt waren, bevor er sprach, aber er drehte sich nicht zu ihnen um. »Sie gehören offensichtlich zu denen, die prinzipiell gegen jegliche Neuerung sind. Ich kenne solche Leute zur Genüge, glauben Sie mir. Ich bin nur ein wenig enttäuscht, eine solche Einstellung bei einem so jungen und intelligenten Menschen wie Ihnen anzutreffen.« Er hob die Schultern. »Schade.«

Theresa funkelte ihn an. »Du weißt nicht, was du da redest!«

»Ich glaube, ich weiß es besser als Sie, junge Dame«, entgegnete Vater, noch immer ruhig, aber in hörbar kühlerem Ton als zuvor. Seine Geduld neigte sich jetzt spürbar dem Ende zu. Er wandte sich noch immer nicht zu ihnen um, ließ Theresas Spiegelbild in der Glasscheibe vor sich aber nicht aus den Augen. Leonie ihrerseits konnte sein Gesicht ebenfalls nur als verzerrte Spiegelung auf dem Glas erkennen, aber sie war in diesem Moment beinahe froh darüber. Obwohl Vater sich sehr bemüht hatte, mit beherrschter Stimme zu sprechen, war in seinen Augen etwas, das ihr Angst machte - trotz oder gerade deshalb, weil sie ihm so gern geglaubt hätte, dass er auf dem richtigen Weg war.

»Aber darum geht es doch gar nicht und das weißt du ganz genau!«, antwortete Theresa heftig. Sie machte eine zornige, weit ausholende Geste. »Das alles hier ist... falsch! Niemand hat das Recht, einfach hierher zu kommen und alles nach seinen Vorstellungen umzukrempeln.«

Vater erwiderte ihren Blick gelassen, schüttelte abermals den Kopf und nahm die Arme herunter, während er sich an Leonie wandte. »Es tut mir Leid«, sagte er, »ich wollte nicht verletzend sein. Entschuldige bitte, Leonie.« Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Wir sollten uns nicht streiten. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.«

Theresa wandte sich an Leonie. »Glaubst du wirklich, deine Großmutter hätte deinem Vater diese Macht überlassen? Glaubst du im Ernst, sie hätte sich gegen die uralten Gesetze aufgelehnt, nur damit ein einzelner Mann vollkommen willkürlich über die Wirklichkeit entscheidet?«

»Ich...«, begann Leonie hilflos, während ihre Gefühle einen Purzelbaum nach dem anderen schlugen.

»Und was ist mit dir?«, setzte Theresa erbarmungslos nach. »Wäre es dir in den Sinn gekommen, deinem Vater Macht über die Wirklichkeit zu verleihen, wenn du die legitime Erbin deiner Großmutter geworden wärst?«

Jetzt konnte Leonie gar nicht mehr anders, als den Kopf zu schütteln. »Natürlich nicht. Aber... aber...«

Vaters Miene hatte sich während Theresas Worten zunehmend verfinstert. Doch anstatt ihr mit einer scharfen Parade dazwischenzufahren, machte er einen Schritt in Leonies Richtung und streckte den Arm aus und Leonie wich ganz instinktiv um die gleiche Distanz vor ihm zurück. Die Bewegung tat ihr im gleichen Moment schon wieder Leid, in dem sie sie ausführte, aber sie war auch nicht in der Lage, sie zu stoppen.

Ein Ausdruck tiefer Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht ihres Vaters breit. Er sagte nichts, aber er sah nun wieder Theresa an und der Ausdruck in seinen Augen änderte sich schlagartig.

Sie hat Recht, dachte Leonie währenddessen, und plötzlich fühlte sie sich schrecklich leer und unsagbar müde, so als würde ihr jemand - oder etwas - alle Energie entziehen. Einen Moment lang war sie versucht gewesen Vater zu glauben, und das kleine Kind in ihr, das seinen Vater immer noch als allmächtig und unfehlbar ansah, hatte gehofft, dass er trotz allem das Richtige tat. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nicht stimmte.

»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Leonie hastig, bevor ihr Vater etwas sagen konnte. »Ich weiß, was du denkst, aber sie hat mich nicht beeinflusst. Ich... ich bin der gleichen Meinung wie sie.« Es fiel ihr schwer, dem Blick ihres Vaters standzuhalten, aber sie zwang sich mit leiser, aber dennoch fester Stimme weiterzureden. »Ich hätte dasselbe gesagt, auch ohne sie.«

»Das glaube ich nicht.« Vater klang mit einem Mal unsicher, so als hätte ihn Leonies Antwort vollkommen überrascht. »Warst du nicht früher immer diejenige, der ich viel zu wenig fortschrittlich gewesen bin?« Er versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich.

»Das muss zu der Zeit gewesen sein, als du noch aus Überzeugung mehr Straßenbahn als Auto gefahren bist«, antwortete sie. »Und als du noch richtige Bücher gelesen hast und nicht versucht hast Gott zu spielen.«

Ihr Vater blinzelte. »Wie?«

»Wir haben die wunderschöne neue Welt gesehen, die du dir zurechtgebastelt hast«, sagte Theresa bissig.

Leonies Vater ignorierte sie. Er starrte seine Tochter weiter mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen an. »Aber das kannst du doch nicht im Ernst meinen!«, murmelte er.

»Du hast alles verändert«, antwortete Leonie leise. Sie wies mit einer resignierten Geste auf die wie ausgestorben unter ihnen daliegende Riesenhalle und sah den Mann an, der einmal ihr Vater gewesen war und nun nicht einmal äußerlich noch sehr viel Ähnlichkeit mit ihm hatte, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie versuchte nicht sie zurückzuhalten.

»Ich rede nicht von dem da unten«, sagte sie leise. »Das ist schlimm genug, aber viel schlimmer ist das, was du mit dem Rest der Welt angestellt hast.«

»Was habe ich denn angestellt?«, fragte Vater spröde.

»Du missbrauchst deine Macht«, antwortete Theresa an Leonies Stelle. »Niemand hat das Recht, die Geschichte zu verändern!«

»Was für ein Unsinn«, antwortete Leonies Vater. »Sie haben Recht. Ich habe ein paar Veränderungen vorgenommen, aber ich habe nicht vor, mich zum Herrscher der Welt aufzuschwingen, wenn Sie das befürchten.«

»Wozu auch?«, fragte Theresa böse. »Wenn du sie dir doch ganz nach deinem Geschmack zurechtbasteln kannst.«

Leonie sah ihrem Vater an, wie schwer es ihm fiel, noch immer die Fassung zu bewahren. Vermutlich war es einzig und allein ihre Gegenwart, die ihn davon abhielt, zu explodieren. »Ich habe nichts dergleichen vor«, erklärte er zum wiederholten Mal. »Ich habe getan, was jeder an meiner Stelle getan hätte. Ich habe die Welt von ihrer größten Geißel befreit und den Krieg abgeschafft, das ist wahr. Jeder an meiner Stelle hätte so gehandelt.«

»Und was kommt als Nächstes?«, fragte Theresa böse. »Wirst du den Krebs abschaffen? Die Umweltzerstörung beseitigen? Politische Meinungsverschiedenheiten beilegen? Die Armut abschaffen?«

»Und warum nicht?«

»Weil Menschen diese Macht nicht haben dürfen!«, rief Theresa heftig.

»Ich habe sie aber nun einmal«, entgegnete Vater ruhig. »Und es wäre geradezu verbrecherisch, sie nicht zu nutzen.« Er wandte sich wieder an Leonie und sein Tonfall wurde beinahe flehend. »Ich habe die Möglichkeit, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, Leonie. Ich kann die Menschheit von ihren schlimmsten Plagen befreien! Von Geißeln, unter denen sie seit Jahrtausenden leidet! Wir könnten endlich in Frieden leben, ohne Ungerechtigkeit und Angst vor der Zukunft! Erwartet du wirklich, dass ich diese Chance ungenutzt verstreichen lasse?«

»So fängt es immer an«, sagte Theresa bitter.

Vater ignorierte sie. »Leonie!« sagte er flehend.

Leonie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, seinem Blick standzuhalten. »Du hattest kein Recht dazu«, murmelte sie.

»Ach?«, meinte ihr Vater. Seine Stimme wurde eine Spur kühler. »Und warum nicht?«

»Weil das alles hier nicht dir gehört«, antwortete Theresa an Leonies Stelle. »Du dürftest von Rechts wegen nicht einmal hier sein.«

»Denkst du auch so?«, fragte er seine Tochter leise. Er klang traurig, dachte Leonie. Und sehr enttäuscht. Ganz offensichtlich hatte er sich den Verlauf dieses Gespräches vollkommen anders vorgestellt.

»Großmutter hätte dir die Macht über das Archiv niemals gegeben«, sagte sie ohne ihren Vater anzusehen. Noch leiser, kaum mehr als flüsternd, fügte sie hinzu: »Und ich auch nicht.«

»Weil du auf diese einmalige Gelegenheit verzichtet hättest«, vermutete Vater. Er seufzte tief. »Dann ist es vielleicht gut, dass alles so gekommen ist. Es tut mir Leid. Glaub mir, es wäre mir lieber gewesen, wenn ich dich hätte überzeugen können, aber du lässt mir keine andere Wahl.«

»Als welche?«, fragte Leonie mit tränenerstickter Stimme. »Mich zu meinem Glück zu zwingen?« Sie hatte bitter klingen wollen, aber selbst dazu fehlte ihr mit einem Mal die Kraft.

»Wenn du es so nennen willst. Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst. Vielleicht wirst du es später einmal.«

»Und wenn nicht, wirst du schon dafür sorgen, nicht wahr?«, fragte Theresa. »Auf die eine oder andere Weise.«

Leonies Vater ignorierte sie weiter. »Es tut mir Leid«, erklärte er noch einmal. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn ihr jetzt geht. Wir reden später noch einmal über alles, wenn du dich ein bisschen beruhigt hast.«

»Wenn es noch ein Später gibt«, sagte Theresa düster.

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