Besuch von drüben

Schon am nächsten Morgen begann sie zu verstehen, was Frau Bender gemeint hatte. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit wurde sie nicht von selbst wach, sondern fand nur langsam und mit spürbarer Mühe in die Wirklichkeit zurück. Jemand klopfte ungeduldig an die Tür, und obwohl Leonie noch schlaftrunken war, wurde ihr doch im Nachhinein klar, dass das Klopfen schon seit einer geraumen Weile anhielt. Benommen setzte sie sich ganz auf, schwang die Beine aus dem Bett und murmelte: »Ja, ja. Ist ja schon gut! Ich komme.«

Das Klopfen brach tatsächlich ab, aber eine Sekunde später wurde die Türklinke langsam heruntergedrückt und die Tür selbst noch langsamer geöffnet und Frank lugte herein. »Es ist schon nach acht«, sagte er. »Frau Bender lässt dir ausrichten, dass du heute noch nicht zum Unterricht erscheinen musst, wenn du nicht willst. Aber unten in der Mensa gibt es Frühstück. Nach dem gestrigen Tag musst du ziemlich hungrig sein.«

Leonie hatte Mühe, sich an den gestrigen Tag zu erinnern. Die Bahnfahrt und ihr anschließender Transfer hierher hatten nur ungefähr bis Mittag gedauert. Den Rest des Tages hatte sie größtenteils damit verbracht, sich in eine unerträglich schlechte Laune hineinzusteigern und sich abwechselnd selbst Leid zu tun und wütend auf ihren Vater, auf Frank, auf Hendrik, auf Frau Bender und überhaupt die ganze Welt zu sein. Danach hatte sie den Computer eingeschaltet und ein wenig im Internet gesurft, ohne indes selbst genau zu wissen, was die bunten Bilder bedeuteten, die über den Monitor auf dem Schreibtisch flimmerten, und schließlich war sie ungewöhnlich früh zu Bett gegangen; müde von der Reise, aber auch in der vagen Hoffnung, dass die Welt am nächsten Morgen, wenn sie wieder ausgeruht und bei Kräften war, vielleicht ein bisschen freundlicher aussehen würde.

Beides war nicht der Fall.

Sie fühlte sich so zerschlagen, als hätte sie gar nicht geschlafen, und ihre Laune war während der Nacht nicht gestiegen, sondern noch weiter gesunken. Sie hatte nicht übel Lust, Frank mit wenig damenhaften Worten zu erklären, wohin er sich sein Frühstück stecken konnte, aber ihr wurde gottlob doch noch rechtzeitig klar, dass der junge Mann von allen hier vielleicht am wenigsten dafür konnte. Er machte nur seine Arbeit, und das Argument, dass ihn schließlich niemand gezwungen hatte, sie zu tun, zählte nicht - hätte er diesen Auftrag abgelehnt, hätte ihr Vater sicherlich jemand anderen gefunden, der ihn annahm. Und wenn sie ehrlich war, dann hätte sie es schlechter treffen können als mit ihm. Außerdem spielte es keine Rolle. Sie hatte weder vor ein halbes Jahr hier zu bleiben noch wenige Wochen. Nicht einmal einen einzigen Tag. Irgendwann in den Stunden, in denen sie allein in ihrem Zimmer gehockt und auf der Computertastatur herumgehämmert hatte, nur um ihre Finger zu beschäftigen, war ihr klar geworden, was sie zu tun hatte. Sie würde von hier verschwinden, und das noch heute. Wenn ihr Vater sie loswerden wollte, dann sollte er ihr das gefälligst ins Gesicht sagen.

»Ich komme gleich«, sagte sie, während sie müde die Hände hob und sich damit durchs Gesicht fuhr. Sie bückte sich nach ihren Kleidern, die sie am Abend zuvor unordentlich im ganzen Zimmer verstreut hatte, zog sich an und verschwand für eine Katzenwäsche im Bad. Wenige Augenblicke später verließ sie ihr Zimmer und wäre draußen auf dem Flur beinahe mit Frank zusammengeprallt, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Tür stand und offenbar auf sie wartete.

»Na, das ging aber schnell«, bemerkte er. Er machte eine auffordernde Geste. »Können wir?«

Wieso wir?, dachte Leonie. Hatte er etwa vor, sie von jetzt ab auf Schritt und Tritt zu begleiten? Doch sie schluckte alles, was sie dazu sagen wollte, hinunter und beließ es bei einem finsteren Blick und einem Schulterzucken. Auch das würde sich erledigt haben, noch bevor die Schulglocke zur Mittagspause schrillte.

Das gestern so friedlich daliegende Anwesen hatte sich über Nacht radikal verändert. Überall waren Stimmen und Gelächter zu hören, Schritte und andere Geräusche, und sie sah zahlreiche Jungen und Mädchen, die herumstanden und redeten oder auch geschäftig von hier nach dort eilten. Da es sich um eine Art Berufsschule handelte, waren die Schüler zum allergrößten Teil älter als sie, und es gab keine nervigen Sextaner, aber der Lärmpegel hätte dennoch mit jedem Kindergarten mithalten können. Als sie das betraten, was Frank vorhin als Mensa bezeichnet hatte, musste Leonie sich beherrschen, um sich nicht demonstrativ die Ohren zuzuhalten.

Der Raum war nicht besonders groß und Leonie schätzte auf den ersten Blick, dass sich kaum mehr als vierzig oder fünfzig Schüler darin aufhielten. Dennoch gab es nur noch einen einzigen freien Tisch am Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, auf den Frank jetzt deutete. Er schüttelte zugleich den Kopf, als sie sich in die andere Richtung zur Essensausgabe wenden wollte. »Setz dich ruhig«, sagte er. »Ich bringe dir dein Frühstück.«

Leonie ersparte sich die Frage, woher er denn wissen wollte, was sie frühstückte. Sie war sicher, dass er es wusste. Sie nickte, lächelte so freundlich, wie sie es überhaupt nur fertig brachte, und ging dann mit entschlossenen Schritten an ihm vorbei zur Essensausgabe um sich ein Tablett zu nehmen. Frank runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Leonie wusste selbst, dass sie sich albern benahm, aber diesen kleinen Anflug von Trotz war sie sich einfach schuldig. Sie nahm sich eine Kanne Tee, frischen Orangensaft sowie Aufschnitt und zwei halbe Brötchen und balancierte mit ihrer Last vorsichtig zwischen den überfüllten Tischen hindurch zum Fenster.

Frank, der sich mit einer Tasse Kaffee begnügt hatte, folgte ihr in zwei Schritten Abstand, doch obwohl es an dem Tisch noch drei freie Plätze gab, machte er keine Anstalten, sich ebenfalls zu setzen, sondern trat ans Fenster, nippte an seinem Kaffee und tat so, als blicke er interessiert nach draußen. Leonie konnte ihm jedoch ansehen, dass seine Sinne in Wahrheit aufs Äußerste angespannt waren und er verstohlen, aber sehr aufmerksam nicht nur das Gelände vor dem Fenster, sondern auch alles hier drinnen im Auge behielt. Was immer sie von ihm gedacht hatte, der junge Mann verstand sich auf das, was er tat.

»Ist hier noch frei?«

Leonie sah fast erschrocken hoch und blinzelte dann verwirrt, als sie ins Gesicht ihrer neuen Schulleiterin blickte. Frau Bender stand, ebenfalls mit einem Tablett bewaffnet, vor ihrem Tisch und zog mit einer Bewegung, die langjährige Übung verriet, den Stuhl mit dem Fuß zurück und setzte sich ohne Leonies Antwort abzuwarten.

»Gerne«, sagte Leonie. »Nehmen Sie ruhig Platz. Nur keine Hemmungen.«

Theresa lächelte, schenkte sich einen Kaffee ein und hielt die Tasse mit beiden Händen vor den Mund, trank aber nicht, sondern sah Leonie nur aufmerksam über den Rand hinweg an. »Und? Wie war deine erste Nacht in der Verbannung?«

»Zu kurz«, antwortete Leonie unfreundlich. »Außerdem hatte ich ständig das Gefühl, beobachtet zu werden.« Sie blickte demonstrativ zu Frank hin, der ihre Worte gehört haben musste, denn sie hatte alles andere als leise gesprochen, und Theresa, deren Blick dem ihren gefolgt war, runzelte leicht überrascht die Stirn.

»Ich dachte, du wärst daran gewöhnt.«

»Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich nie«, erwiderte Leonie ruppig. Es kostete sie immer größere Mühe, weiterhin so unfreundlich zu bleiben. Am liebsten hätte sie Frau Bender zugelächelt und sich bei ihr für ihr Benehmen von gestern entschuldigt, aber sie war noch nicht so weit, über ihren eigenen Schatten zu springen. Sie war in einer Situation, in der sie einfach aufsässig sein musste, basta!

»Meine erste Stunde fängt erst um zehn an«, sagte die Schulleiterin. »Wenn du möchtest, führe ich dich noch ein bisschen herum.«

Leonie antwortete nicht gleich, sondern sah sich aufmerksam in der Mensa um. Der Lärmpegel schien deutlich abgenommen zu haben, seit sie hereingekommen war, aber sie vermochte nicht zu sagen, ob das an ihrer oder der Gegenwart der Schulleiterin lag. Was sie sagen konnte, war, dass sehr viele der anderen Schüler sie mit unverhohlener Neugier anstarrten. Leonie versuchte sich vergeblich einzureden, dass das ganz normal war, wenn eine neue Schülerin, noch dazu mitten im Jahr, ankam. Aber sie hatte auch nicht vergessen, was Theresa ihr gestern erzählt hatte. Sie war nicht irgendwer, sondern die Tochter eines berühmten Mannes, und sie konnte sich jetzt schon lebhaft vorstellen, wie die ersten Gespräche zwischen ihr und ihren neuen Mitschülerinnen und Mitschülern ablaufen würden. Sie war nicht besonders scharf darauf.

»Vielleicht«, sagte sie ausweichend. »Die Bibliothek würde mich interessieren. Ich meine die richtige. Nicht die in meinem Computer.«

»Gern«, antwortete Frau Bender. »Ich halte um zehn einen Videovortrag unten im Vorführraum. Der Stoff gehört zwar eigentlich zum zweiten Semester, aber ich würde mich freuen, wenn du kommst.« Sie zwinkerte ihr fast verschwörerisch zu. »Um ehrlich zu sein ist dieses Angebot nicht so ganz uneigennützig.«

»So?«, fragte Leonie. »Warum?«

»Es hat etwas mit dem letzten Buch deines Vaters zu tun«, antwortete Theresa. »Zumindest im weitesten Sinne: Es geht um den letzten großen Krieg.«

»Den Krieg?« Jetzt war Leonie ehrlich verwirrt. Kriege interessierten sie nun wirklich nicht. »Was hat das mit der Ausbildung eines Buchhändlers zu tun?«, wollte sie wissen. »Der letzte große Krieg ist doch Ewigkeiten her. Seither ist die Menschheit Gott sei Dank vernünftiger geworden.«

»Trotzdem sollte man dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte nicht vergessen«, antwortete die Schulleiterin. »Ganz davon abgesehen dass es eine Menge Bücher über dieses Thema gibt und du später vielleicht danach gefragt wirst. Und es scheint die Menschen ja zu bewegen - sonst hätten wohl kaum so viele den letzten Roman deines Vaters gelesen.«

Leonie hob die Schultern und gewann einen Moment damit, sich Tee einzuschenken. Das Geräusch, mit dem die aromatisch riechende Flüssigkeit in die Tasse floss, erinnerte sie unheimlicherweise an das Scharren von Federn auf Papier. »Mich interessiert es jedenfalls nicht«, sagte sie bestimmt. »Ich habe das Buch nicht einmal gelesen.«

»Das ist schade«, antwortete Theresa. »Ich hatte gehofft, dass du uns ein bisschen darüber erzählen könntest, wie dein Vater an das Thema herangegangen ist. Wie er recherchiert hat zum Beispiel.«

»Ich nehme an im Internet.« Leonie stand auf. »Können wir uns jetzt die Bücherei ansehen?«

Frau Bender blickte einen Moment lang irritiert auf ihr Frühstück hinab, das sie bisher nicht einmal angerührt hatte. Dann zuckte sie ganz leicht mit den Schultern, schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Warum nicht? Ich habe ohnehin gestern gesündigt und muss heute ein paar Kalorien sparen.«

Leonie verstand die Spitze sehr wohl, tat aber so, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört, und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang. Die Schulleiterin folgte ihr und selbstverständlich schloss sich ihnen auch Frank wie ein Schatten an. Nachdem sie die Mensa verlassen hatten, blieb Leonie stehen und drehte sich zu ihm herum. »Jetzt übertreib es bitte nicht«, sagte sie. »Ich habe nicht vor, nach Frankfurt zu fahren und mich dort im Bahnhofsviertel herumzutreiben. Wir gehen lediglich in die Bücherei.«

Der junge Mann wirkte für einen Moment unschlüssig. Dann aber traf ihn ein eisiger Blick aus Theresas Augen, die immer noch keinen Hehl aus ihrem Unmut über seine bloße Anwesenheit machte, und er gab sich mit einem Achselzucken geschlagen. »Also gut«, meinte er. »Ich komme mit, aber ich warte draußen vor der Tür.«

Leonie gab auf und auch Theresa hatte wohl eingesehen, dass sie nicht mehr erreichen würden, denn sie beließ es bei einem Achselzucken und wandte sich ohne ein weiteres Wort ab, um ihren Weg fortzusetzen. Sie verließen das Haus und gingen über den ruhig daliegenden Hof zu jenem Gebäude hin, das Leonie schon am Vortag als Bibliothek identifiziert hatte. Leonie fiel auf, wie erstaunlich ruhig es war; sie selbst hatte keine Erfahrung mit dem Leben in einem Internat, aber in den normalen Schulen, die sie bisher besucht hatte, war es zehn Minuten vor Beginn des Unterrichts immer hoch hergegangen. Der Hof war jedoch fast menschenleer. Sie sah nicht einen einzigen ihrer neuen Mitschüler, und nachdem sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, verklang auch die Geräuschkulisse aus der Mensa. Hätte nicht hier und da Licht gebrannt und hätten nicht deutlich mehr Autos als gestern auf dem kleinen Parkplatz gestanden, man hätte meinen können, das Schulgelände wäre vollkommen verlassen. Doch als sie sich dem Bibliotheksgebäude näherten, glaubte sie eine flüchtige Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen; sie wandte schnell den Kopf in diese Richtung, entdeckte jedoch niemanden. Sie musste sich getäuscht haben.

Obwohl hinter den großen Glasscheiben des Büchereigebäudes Licht brannte und sie auch das Flimmern des einen oder anderen Computermonitors wahrnahm, war die Tür verschlossen. Die Schulleiterin zog eine Magnetkarte aus der Tasche, die sie durch den Schlitz des entsprechenden Lesegeräts an der Wand zog, und tippte anschließend noch eine fünfstellige Ziffernkombination in die kleine Tastatur darunter, was Frank zu einer spöttischen Bemerkung veranlasste.

»Ihre Bücherei ist besser gesichert als Fort Knox, wie?«, grinste er.

Frau Bender nickte. »Wir haben ein paar sehr wertvolle Bücher hier«, sagte sie ernst, erntete aber auch jetzt nur ein Achselzucken und einen fast mitleidigen Blick.

»Wer stiehlt denn Bücher?«, fragte Frank.

»Möglicherweise jeder, der auch in der Lage ist, sie zu lesen«, erwiderte die Schulleiterin spitz. Franks Grinsen entgleiste ein wenig, doch bevor er zu einer entsprechenden Antwort ansetzen und möglicherweise nun einen Streit vom Zaun brechen konnte, mischte sich Leonie ein und trat ganz bewusst zwischen ihn und Theresa, um auch den Blickkontakt zwischen den beiden zu unterbrechen.

»Du hattest versprochen hier draußen zu warten«, sagte sie.

Sie konnte dem jungen Bodyguard ansehen, dass er dieses vielleicht etwas voreilig gegebene Versprechen längst bereute. Aber sie gab ihm keine Gelegenheit, es zurückzunehmen, sondern drehte sich rasch um und bedeutete der Schulleiterin mit einem schon fast beschwörenden Blick weiterzugehen. Sie folgte ihr, schloss rasch die Tür hinter sich und fragte dann leise, damit Frank die Worte auf der anderen Seite der Tür nicht verstehen konnte: »War das unbedingt nötig?«

»Was?«, fragte Frau Bender.

»Ihn so zu provozieren«, antwortete Leonie. »Er hat Ihnen nichts getan, oder?«

»Er hat hier nichts verloren«, erwiderte Theresa. »Das hier ist eine Schule, kein Hochsicherheitstrakt.«

»Er tut nur seine Arbeit«, erwiderte Leonie. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie Frank eigentlich verteidigte. Sie konnte Theresa sehr gut verstehen. Noch gestern hatte sie Franks bloße Anwesenheit derart in Wut versetzt, dass sie am Schluss fast selbst über sich erschrocken war.

Sie gingen weiter. Der schmale Korridor, durch den Frau Bender sie führte, bestand fast zur Gänze aus Glas, sodass sie erkennen konnte, dass die Bücherei weit größer war, als es von außen den Anschein hatte. Es gab mindestens ein Dutzend, aus beidseitig gefüllten Bücherregalen gebildete Gänge, in denen Tausende, wenn nicht Zehntausende sorgsam geordneter Bände standen. Sonderbarerweise erfüllte sie der Anblick mit einem durch und durch unguten Gefühl, obwohl sie doch mit Büchern aufgewachsen war und sie über alles liebte. Dennoch fiel es ihr zunehmend schwerer, der Schulleiterin zu folgen und nicht auf ihre innere Stimme zu hören, die mit immer größerem Nachdruck darauf beharrte, auf der Stelle kehrtzumachen und dieses Gebäude zu verlassen. Ihr Herz begann zu klopfen. Was war nur mit ihr los? Leonie überkam ein Gefühl von Unwirklichkeit, das ebenso grundlos wie absurd sein mochte, dennoch aber mit fast jedem Augenblick stärker wurde.

Schließlich betraten sie etwas, das wie die Miniaturausgabe eines römischen Amphitheaters aussah - ein großer Dreiviertelkreis, dessen Stufen zu hoch waren, um sie bequem hinabsteigen, und zu niedrig, um bequem daraufsitzen zu können -, und Leonie blieb wie vom Donner gerührt stehen.

»Was hast du?«, fragte Frau Bender.

Leonie antwortete nicht, denn sie hatte ihre Worte gar nicht gehört. Sie starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf die kindsgroße Figur, die auf einem kleinen Podest auf der anderen Seite des Raumes stand.

Es war ein Scriptor.

Selbst über die große Entfernung hinweg konnte man erkennen, dass er grob und mit nicht besonders großer Kunstfertigkeit aus Pappmaschee gefertigt worden war - die Proportionen stimmten nicht. Die Linien waren zu grob und das Gesicht unter der weit nach vorne gezogenen Kapuze war nur die schlechte Karikatur eines Gesichtes, das an sich schon wie die Karikatur eines Gesichtes aussah.

Dennoch bestand nicht der geringste Zweifel daran, was diese Figur darstellen sollte.

»Was... was ist das?«, murmelte sie.

Die Schulleiterin wandte kurz den Blick und machte dann eine Bewegung, die eine Mischung aus einem Kopfschütteln und einem hilflosen Achselzucken zu sein schien. »Unsere Kunst-AG hat vor einem halben Jahr einen Wettbewerb veranstaltet«, erläuterte sie. »Diese Skulptur hat gewonnen. Und ich...« Plötzlich verstummte sie. Statt weiterzusprechen sah sie Leonie auf eine völlig neue, verstörte Weise an, dann drehte sie sich zu der Figur um und betrachtete sie mit schräg gehaltenem Kopf und sehr nachdenklich. Leonie starrte weiterhin auf die hässliche Pappgestalt und sah das Gesicht der Schulleiterin nur aus den Augenwinkeln, dennoch entging ihr nicht, wie sehr sich der Ausdruck darauf plötzlich änderte. Aber dann schüttelte Frau Bender heftig den Kopf und wandte sich wieder ganz Leonie zu.

»Also gut, ich gebe zu, es ist kein großes Kunstwerk«, sagte sie mit dem vollkommen missglückten Versuch eines spöttischen Lächelns. »Aber so schrecklich ist es nun auch wieder nicht, oder?«

Leonie schwieg, und das war vielleicht die schlimmste Antwort, die sie ihr geben konnte. Die Figur stellte einen Scriptor dar! Leonie wusste nicht, was ein Scriptor war, so wenig wie sie wusste, warum ihr der bloße Gedanke daran so furchtbare Angst einjagte, aber es war eben so. Das Gefühl des Unwirklichen wurde stärker. Plötzlich musste sie wieder an die Bewegung denken, die sie draußen bemerkt hatte, und ein kurzer eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Vielleicht war es nicht nur Einbildung gewesen. Vielleicht war dort wirklich etwas, ebenso wie hier drinnen etwas war, das sie nicht sehen konnte, dafür aber umso deutlicher spüren, und das sie mit einer immer größer werdenden Furcht erfüllte. Etwas hier war falsch.

»Was hast du?«, fragte Frau Bender alarmiert.

Es kostete Leonie große Mühe, den Kopf zu schütteln, und noch viel mehr Mühe, ihren Blick endlich von der unheimlichen Skulptur loszureißen. Sie versuchte ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen, aber es misslang ebenso kläglich wie das Theresas gerade eben. »Nichts«, behauptete sie. »Sie haben Recht. Die Figur ist nicht besonders gut. Ich muss wohl...«

Sie sprach nicht weiter, sondern ließ den Satz in einem hilflosen Achselzucken enden, und zu ihrer Überraschung gab sich die Schulleiterin damit sogar zufrieden. Dennoch war sie deutlich nervös, als sie sich wieder umwandte und mit schnellen Schritten weiterging. Leonie folgte ihr, und selbstverständlich erlaubte sich ihre eigene Fantasie den derben Scherz, ihr vorzugaukeln, dass sich die Figur des Scriptors auf ihrem Pappsockel bewegte, gerade als sie an ihr vorüberging. Aber Leonie widerstand der Versuchung, sich erschrocken zu ihr umzudrehen, sondern schritt nur schneller aus, um wieder zu Theresa aufzuschließen. Möglicherweise stimmte hier wirklich etwas nicht, aber wenn, dann war sie es, nicht diese alberne Pappfigur, über die sie sich Gedanken machen sollte.

»Das ist also unsere Bibliothek«, begann Frau Bender und vollführte dabei jene fahrigen Gesten, die die eigene Nervosität überspielen sollten und sie stattdessen nur noch unterstrichen. »Wir sind wirklich ziemlich stolz darauf. Ich glaube, es ist die größte im Umkreis von sicherlich hundert Kilometern. Du findest hier alles, was du auch in deiner Online-Bibliothek im Computer hast, und bestimmt noch eine ganze Menge mehr.« Sie schien darauf zu warten, dass Leonie auf eine ganz bestimmte Art auf diese Worte reagierte, aber als sie keine Antwort bekam, hob sie leicht enttäuscht die Schultern und fuhr fort: »Lass dich nicht von dem scheinbaren Durcheinander hier abschrecken. Wir haben ein sehr ausgeklügeltes Computersystem, mit dessen Hilfe wir jedes Buch innerhalb kürzester Zeit finden.«

Leonie antwortete immer noch nicht. Ihre Blicke glitten verwirrt über die ordentlich in Reih und Glied dastehenden Buchrücken. Irgendetwas stimmte damit nicht. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber das Gefühl war einfach zu deutlich um es zu ignorieren. Sie war mit Büchern aufgewachsen und liebte sie, und auch wenn die kleine elterliche Buchhandlung, in der sie manchmal ausgeholfen hatte, nicht einmal annähernd mit dieser ungeheuren Menge von Titeln mithalten konnte, die sich rings um sie herum bis unter die Decke stapelten, so war sie doch den Anblick vieler Bücher gewöhnt. Aber das hier...

Und dann wusste sie es. Alle diese Bücher sahen gleich aus.

Natürlich gab es Unterschiede: Manche Bände waren schmal, manche dick, es gab Taschenbuchausgaben und schwere, in Leder gebundene Prachtbände und dennoch ähnelten sie sich alle auf geradezu unheimliche Weise. Die Buchrücken waren schwarz oder dunkelbraun oder blau und Farbe und Typographie der Titel und Autorennamen nahezu überall identisch. Sie vermisste das bunte Durcheinander von Formaten, Farben und Schriftarten, das sie aus der heimatlichen Buchhandlung kannte. Es war, als hätte jemand versucht, alle diese vollkommen unterschiedlichen Bücher in ein einheitliches Aussehen zu pressen, als stammten sie alle aus der Werkstatt des gleichen, streng auf Ordnung bedachten Buchbinders.

»Sind das alles... Sonderausgaben?«, fragte sie.

Frau Bender verstand nicht einmal ihre Frage, das sah Leonie ihr deutlich an. »Wie meinst du das?«

Leonie hob hilflos die Schultern. »Ich meine: Lassen Sie Ihre Bücher extra neu einbinden, damit man gleich erkennt, dass sie in diese Bibliothek gehören?«

»Wie?«, blinzelte Theresa.

»Ich meine nur...« Leonie sprach auch jetzt nicht weiter, sondern drehte sich plötzlich auf dem Absatz um, ging ein paar Schritte zurück und blickte in den benachbarten, ebenfalls aus Bücherregalen bestehenden Gang. Der Anblick unterschied sich nicht im Geringsten von dem, in dem Frau Bender und sie standen. Da waren Hunderte und Aberhunderte gleichfarbiger, gleichformatiger und ähnlich beschrifteter Bücher. Es war unheimlich.

»Was ist los mit dir?«, fragte Frau Bender, als Leonie zu ihr zurückkehrte.

»Nichts«, sagte Leonie. Sie raffte sich zu einem Lächeln auf. »Es tut mir Leid. Ich habe nicht gut geschlafen. Anscheinend bin ich heute nicht unbedingt in Hochform.«

Die Schulleiterin sah sie einen Moment lang misstrauisch an, aber dann breitete sich ein verständnisvoller Ausdruck auf ihrem Gesicht aus. »Ich an deiner Stelle wäre das wahrscheinlich auch nicht. Aber deshalb sind wir ja hier, nicht wahr - damit du auf andere Gedanken kommst. Wie ist es: Willst du unser Computersystem auf die Probe stellen? Nenn mir irgendein Buch, und ich garantiere dir, dass ich es innerhalb von zwei Minuten finde. Wenn nicht, fahre ich heute Abend mit dir in die Stadt und lade dich zum Essen ein.«

»Goethe«, antwortete Leonie.

Theresas Stirn legte sich in Falten. »Willst du mich beleidigen?«, fragte sie gutmütig. »Dafür brauche ich keinen Computer. Zwei Gänge links, das erste Regal.«

»Also gut«, sagte Leonie. »Stephen King. Atlantis.«

Damit schien sie Frau Bender schon in größere Verlegenheit zu bringen - aber das war ja schließlich der Sinn der Aktion gewesen. Leonie war auch bei ihrem Vater schon mehrmals mit ihrer Vorliebe für fantastische Literatur angeeckt, und es hätte sie fast gewundert, wenn die Schulleiterin anders als mit einem missbilligenden Stirnrunzeln reagiert hätte. Offenbar war es auch an dieser Schule wie an jeder anderen: Zwischen dem Geschmack der Lehrer und dem ihrer Zöglinge klaffte ein Spalt, so breit wie der Grand Canyon. Frau Bender verschenkte von den angestrebten zwei Minuten jedoch nur einen Atemzug, dann drehte sie sich um und trat mit schnellen Schritten an eines der allgegenwärtigen Computerterminals, die Leonie schon beim Eintreten bemerkt hatte. Mit geschickten, sehr schnellen Bewegungen tippte sie den Namen des Autors und des Buches ein und wartete darauf, dass der Computer die Antwort ausspuckte.

Er tat es nicht. Der Bildschirm blieb leer.

»Das ist seltsam.« Sie drehte den Kopf und warf Leonie einen fragenden Blick über die Schulter hinweg zu. »Bist du sicher, dass der Autor so heißt?«

Beinahe hätte Leonie laut aufgelacht. Hatte Theresa nicht vor wenigen Minuten erst behauptet, dass das hier die am besten sortierte Bücherei im weiten Umkreis wäre? Sie nickte.

Frau Bender tippte noch einmal - diesmal langsamer - Titel und Autorennamen ein, bekam aber auch jetzt kein Ergebnis. »Tja, dann hast du mich wohl erwischt«, sagte sie. »Von diesem Autor haben wir nichts. Wer soll das sein?«

»Niemand«, antwortete Leonie verstört. »Versuchen Sie...« Sie überlegte einen Augenblick. »Konsalik«, sagte sie schließlich.

Theresa tippte auch diesen Namen in die Tastatur des Computers, aber der Monitor weigerte sich noch immer eine Antwort auszuspucken.

»Und du bist sicher, dass diese beiden Leute wirklich Bücher geschrieben haben?«, erkundigte sich Frau Bender. »Ich meine: Eigentlich müssten wir sie hier haben, wenn nicht, dann müsste der Computer zumindest einen Querverweis auf andere Quellen ausspucken.«

Statt direkt zu antworten trat Leonie neben sie und fing an, nicht annähernd so schnell wie ihre Schulleiterin zuvor, aber mit deutlich größerer Sorgfalt, weitere Namen und Buchtitel in den Computer einzugeben. Sie arbeitete sich von Konsalik über Simmel, Grisham, Barbara Wood und Dean Koontz bis zu Michael Ende und schließlich J. K. Rowling vor, ohne dass der Computer auch nur einen einzigen Titel ausgespuckt hätte. Allmählich begann ihr die Sache unheimlich zu werden.

»Was suchst du eigentlich?«, fragte Theresa nach einer Weile. Die zwei Minuten, die sie vorhin so vollmundig versprochen hatte, waren längst verstrichen, aber daran dachte Leonie schon gar nicht mehr.

»Romantitel«, sagte sie. »Unterhaltungsromane, wie sie jedermann liest.«

»Belletristik also«, nickte Theresa. »Die Auswahl ist naturgemäß nicht allzu groß, aber die wichtigsten Titel haben wir selbstverständlich hier. Die Physiker, zum Beispiel, von Dürrenmatt.« Sie tippte dasselbe in die Computertastatur ein und weniger als eine Sekunde später erschien eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben auf dem Monitor. »Siehst du«, sagte sie triumphierend. »Gang sieben, Regal zwei, drittes Fach von links.«

»Aha«, machte Leonie.

»Suchst du noch mehr? Umberto Eco, Franz Kafka...« Theresa brach ab, als sie Leonies fast erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. »Was hast du?«

»Nichts«, antwortete Leonie. »Außer vielleicht, dass man meinen könnte, mein Vater hätte Ihre Bibliothek ausgestattet. Er hält nicht viel von Unterhaltungsromanen.«

»Dein Vater hat nicht das Geringste damit zu tun«, versicherte Theresa. »Ehrlich gesagt war ich ziemlich erstaunt, als er vor ein paar Wochen angerufen hat. Ich hätte nicht erwartet, dass er überhaupt von unserer Existenz weiß.«

»Das ist es ja gerade«, murmelte Leonie.

Schaudernd sah sie sich um. Anders als vorhin machte sie sich nun die Mühe, etliche der Titel auf den Buchrücken zu entziffern, und was sie las, das verstärkte das unheimliche Gefühl noch, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie begann langsam an den Regalen entlangzugehen, und mit jedem Schritt, den sie tat, mit jedem Buchtitel, den sie las, wurden die Schauer kälter, die in immer rascherer Folge über ihren Rücken liefen. Theresa hatte nicht übertrieben: Die Bibliothek war tatsächlich gut sortiert. Sie fand eine große Sammlung an Gedicht- und Essaybänden, philosophische, theologische, naturwissenschaftliche und schöngeistige Schriften, aber nur sehr wenige Romane und selbst deren Auswahl beschränkte sich auf die absoluten Klassiker der Weltliteratur. Was sie gerade zu Theresa gesagt hatte, war eigentlich mehr als Scherz gemeint gewesen, doch mit einem Mal begannen ihr ihre eigenen Worte fast Angst zu machen: Es war tatsächlich so, als wäre diese ganze gewaltige Bibliothek nach dem persönlichen Geschmack und Gutdünken ihres Vaters ausgestattet worden.

Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie blieb stehen, fuhr auf dem Absatz herum und ging dann mit schnellen Schritten zu Theresa zurück, die stehen geblieben war und ihr verwirrt hinterher geblickt hatte. »Wie war das mit den Querverweisen?«, fragte sie mit einer Geste auf den Computer. »Das System kennt auch Bücher, die nicht hier sind?«

»Sicher.«

»Dann hätte es die Namen finden müssen, die ich genannt habe.«

»Falls es sie gibt«, antwortete Frau Bender. »Aber um ehrlich zu sein: Ich habe auch noch nie von diesen Autoren gehört.«

»Das ist lächerlich«, erwiderte Leonie. »Michael Ende. Die unendliche Geschichte. Sie müssen doch wenigstens davon gehört haben!«

Theresa schüttelte den Kopf, dann aber stockte sie mitten in der Bewegung und ein sonderbarer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Etwas wie Schrecken, als wäre ihr plötzlich etwas wieder eingefallen, das sie längst vergessen gehabt hatte. »Ich...«, begann sie, brach dann ab und schüttelte fast hilflos den Kopf. Zwei, drei Sekunden lang sah sie Leonie noch verstört an, dann fuhr sie mit einer plötzlichen Bewegung herum und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Leonie konnte nicht erkennen, was sie in die Tastatur eingab, aber das Ergebnis auf dem Bildschirm war jedes Mal dasselbe: nichts.

»Das verstehe ich nicht«, murmelte sie. »Ich...«

Theresa fuhr mit einem erstickten Schrei und so heftig zurück, dass sie gegen Leonie prallte und sie vermutlich von den Füßen gerissen hätte, wären sie nicht gemeinsam gegen eines der schweren Bücherregale in ihrem Rücken gestolpert. Leonie war im ersten Moment viel zu verwirrt, um auch nur zu begreifen, was geschah. Mit einiger Mühe fand sie ihr Gleichgewicht wieder, und mit etwas mehr Mühe löste sie sich aus der Umarmung ihrer Schulleiterin, die sich ganz instinktiv an sie geklammert hatte - und dann schrie sie ebenfalls.

Eine dürre, von pergamentener, grauer Haut überzogene Hand war hinter dem Schreibtisch erschienen, auf dem der Computer stand, und hatte sich mit solcher Kraft in die Platte gekrallt, dass sich die langen Fingernägel in das weiche Holz gruben. Noch während Leonie aus hervorquellenden Augen auf das unwirkliche Bild starrte, erschien eine zweite, wie skelettiert aussehende Hand und die Kapuze eines schwarzen, zerknautschten Mantels wurde zurückgeschoben, unter der ein hakennasiges, abgrundtief hässliches Gesicht aus blutunterlaufenen Augen zu ihnen heraufblickte.

Und das war eindeutig zu viel! Sowohl Leonie als auch ihre Schulleiterin fuhren gleichzeitig mit einem Schrei herum und stürmten los. Mit einem Dutzend weit ausgreifender, gehetzter Schritte erreichten sie den Lesesaal - und Leonie, die die Spitze übernommen hatte, blieb so abrupt stehen, dass Theresa nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte und gegen sie prallte. Sie fiel. Mit wild rudernden Armen brachte Leonie das Kunststück fertig, das Gleichgewicht zu halten und nur relativ sanft auf das rechte Knie herabzusinken, und doch bemerkte sie in diesem Moment kaum etwas von dem kleinen Unglück, denn sie starrte vollkommen fassungslos auf den Sockel, auf dem die Skulptur des Scriptors gestanden hatte.

Sie war verschwunden.

»Lauft nicht weg«, wimmerte ein dünnes Stimmchen hinter ihnen.

Langsam, mit hämmerndem Herzen und am ganzen Leib vor Angst zitternd, drehte sich Leonie um. Sie wusste, was sie sehen würde, noch bevor sie die Bewegung zu Ende gebracht hatte, und dennoch musste sie die Hand vor den Mund schlagen, um nicht vor Schrecken und Furcht erneut aufzuschreien, als sie die kindsgroße, in einen schwarzen Umgang gehüllte Gestalt erblickte, die hinter dem Computertisch hervorhumpelte.

»Lauft nicht weg«, wimmerte der Scriptor. »Ihr müsst... uns helfen.«

Leonie vollführte einen ungeschickten, stolpernden Schritt zurück und wäre beinahe über Theresa gestürzt, die sich genau in diesem Moment hinter ihr wieder in die Höhe arbeitete, und die unheimliche Gestalt in dem schwarzen Kapuzenmantel schleppte sich weiter auf sie zu. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Scriptor. Er ging weit nach vorne gebeugt, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, aber seine Bewegungen waren so langsam und unsicher, als brauchte er jedes bisschen Kraft, das er in sich fand, um sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten, und statt des schrillen, aufmüpfigen Keifens, das die Stimmen der Scriptoren normalerweise kennzeichnete, waren seine Worte in einem so jämmerlichen Ton hervorgestoßen, dass es Leonie schier das Herz brach. Ein Teil von ihr hatte immer noch Angst vor diesem grotesken Geschöpf, das von seinem Sockel herabgestiegen und zum Leben erwacht zu sein schien, aber zugleich empfand sie auch ein so tiefes Mitleid mit dieser gepeinigten Kreatur, dass sie fast ohne ihr eigenes Zutun einen Schritt in ihre Richtung machte, bevor sie zitternd wieder stehen blieb.

»Was... was ist das?«, schluchzte Theresa.

Leonie reagierte nicht darauf. Die Angst war immer noch da, aber sie begann zunehmend zu verblassen wie ein Fernsehbild, das langsam von einem anderen, bedeutsameren überlagert wurde und nicht ganz verschwand, aber an Wichtigkeit verlor.

Sie machte einen weiteren Schritt in Richtung des Scriptors, dann noch einen und schließlich eilte sie dem hilflos hin und her torkelnden Geschöpf entgegen und erreichte es gerade noch rechtzeitig um es aufzufangen, als es mit einem schmerzerfüllten Wimmern endgültig zusammenbrach.

Leonie hatte nicht erwartet, dass das kleine Geschöpf sonderlich schwer sein würde; aber als sie es auffing, da hatte sie das Gefühl, kaum mehr als einen leeren Mantel in den Armen zu halten. Vor lauter Überraschung hätte sie den Scriptor nun beinahe doch fallen lassen, dann griff sie umso kräftiger zu, und vielleicht sogar ein wenig zu kräftig, denn der Scriptor stieß einen hellen Schmerzensschrei aus und versuchte mit schwächlichen Bewegungen sich aus ihrer Umarmung zu befreien. So behutsam sie konnte, ließ Leonie das kleine Geschöpf ganz zu Boden gleiten und fiel neben ihm auf die Knie. Es wurde ihr nicht selbst bewusst, aber plötzlich war jegliche Angst verschwunden und sie empfand nur noch Mitleid mit dieser gequälten Kreatur.

»Was hast du denn nur?«, fragte sie. »Und wie kommst du hierher?«

»Helfen«, wimmerte der Scriptor. Zitternd streckte er die Hände nach ihr aus, und obwohl es noch keine fünf Minuten her war, dass Leonie schon die pure Nähe dieses Wesens mit schierer Todesangst erfüllt hatte, zögerte sie jetzt nicht, ihrerseits den Arm auszustrecken und die fast zum Skelett abgemagerten Finger des Scriptors vorsichtig zu ergreifen. »Du musst uns helfen«, jammerte das Geschöpf. »Sie töten uns. Sie töten uns alle!«

»Aber ich... ich verstehe nicht«, murmelte Leonie. Ihr Herz hämmerte immer stärker, doch die Furcht, die sich nun wie eine eisige Hand um ihr Herz schloss und es langsam und unbarmherzig zusammenzudrücken begann, war von einer gänzlich anderen Art als noch vor ein paar Augenblicken und hatte vollkommen andere Gründe. Sie hörte die Schritte ihrer Schulleiterin hinter sich (ihrer Schulleiterin? Theresa?), aber statt sich zu ihr umzuwenden, beugte sie sich nur noch weiter vor und schlug die Kapuze des Scriptors zurück. Was sie sah, hätte ihr um ein Haar noch einen Schreckensschrei entlockt.

Die Scriptoren, die sie kannte, waren alles andere als Schönheiten - um genau zu sein waren sie die mit Abstand hässlichsten zweibeinigen Kreaturen, die ihr jemals unter die Augen gekommen waren -, doch dieses Geschöpf bot einen Anblick des Jammers. Es war ebenso hässlich wie seine Brüder, aber sein Gesicht war noch viel weiter abgemagert und schien tatsächlich nur aus einem mit rissiger, graugrüner Haut überzogenen Totenschädel und einer Nase wie eine scharfe gebogene Messerklinge zu bestehen. Die Augen waren tief in die Höhlen zurückgesunken und bar jeden Glanzes und der lippenlose, breite Mund hatte nahezu alle Zähne verloren. Scriptoren dufteten schon normalerweise nicht unbedingt nach Rosenwasser, aber dieses Geschöpf verströmte einen Gestank, der Leonie fast den Magen umdrehte; den Gestank nach Krankheit und Tod.

»Um Gottes willen, was... was ist das?«, stammelte Theresa hinter ihr.

Leonie beachtete sie gar nicht, sondern beugte sich noch weiter über den Scriptor, hielt seine zitternden Finger nun mit der rechten Hand fest und strich ihm mit der Linken tröstend über die Stirn. Allein die Berührung jagte ihr schon wieder einen eisigen Schauer über den Rücken. Seine Haut fühlte sich an wie heißes Sandpapier. »Was ist nur mit dir geschehen?«, flüsterte sie.

Irgendetwas, das schon im Erlöschen begriffen war, flackerte noch einmal in den Augen des Scriptors auf und er stemmte sich mit einer schier unvorstellbaren Kraftanstrengung halb auf die Ellbogen. »Sie vernichten uns«, flüsterte er. »Du musst uns helfen. Du musst sie aufhalten oder auch... auch ihr werdet am Ende... alle...«

Seine Stimme versagte. Er stieß noch ein letztes qualvolles Röcheln aus, dann lief ein heftiges Zittern durch seinen ausgemergelten Körper und er erschlaffte endgültig in Leonies Armen. Unendlich behutsam und nur mit größter Mühe die Tränen unterdrückend, ließ Leonie das kleine Geschöpf zu Boden gleiten, und sie fühlte sich dabei, als wäre es ein alter, lieb gewonnener Freund gewesen, keine von genau den Kreaturen, die Theresa und ihr nach dem Leben getrachtet hatten, und schlimmer noch, als wäre sein Schicksal ihre Schuld.

Sie hörte, wie Theresa hinter ihr scharf die Luft einsog und erneut dazu ansetzte, eine Frage zu stellen, doch in diesem Augenblick geschah etwas Furchtbares: Leonie spürte, wie irgendeine unheimliche Veränderung mit dem leblosen Körper des Scriptors vor sich ging und zog hastig die Hände zurück. Und das keinen Augenblick zu früh, denn plötzlich lief ein heftiges Beben durch den Leib des Scriptors und dann begann er sich auf schreckliche Weise zu verändern. Sein Gesicht fiel ein und wurde zu einer hellgrünen, brodelnden Masse, die Finger sanken herab und auseinander wie plötzlich leere Handschuhe und zerschmolzen einen Augenblick später ebenfalls und dann sank der ganze Mantel raschelnd in sich zusammen. Es geschah unglaublich schnell: Kaum eine halbe Minute, nachdem es begonnen hatte, hatte sich der Leib des Scriptors in eine hellgrüne, blubbernde Pfütze verwandelt, die sonderbarerweise intensiv nach Marzipan roch. Aber das Zischen und Brodeln hielt an und eine weitere halbe Minute später waren auch die letzten Überreste des Scriptors verschwunden. Vor Leonie und Theresa lag jetzt nur noch ein leerer, zerschlissener schwarzer Mantel.

»Großer Gott, was war das?«, murmelte Theresa.

Leonie ließ noch einen weiteren Augenblick vergehen, in dem sie reglos und von einem entsetzlichen Gefühl der Schuld gepeinigt dasaß und auf das leere Kleidungsstück hinabsah, dann richtete sie sich langsam auf und drehte sich noch langsamer zu Theresa um.

»Weißt du das wirklich nicht, Theresa?«

Ihre Schulleiterin sah sie verwirrt an. »Theresa?«, wiederholte sie. »Nimm es mir nicht übel, Leonie, aber ich glaube nicht, dass wir uns...« Sie verstummte. Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, ähnlich dem von vorhin, als sie über die verschwundenen Buchtitel und Autorennamen gesprochen hatten, aber viel intensiver, erschrockener jetzt. Sie sah Leonie an, dann den leeren Mantel des Scriptors, dann wieder Leonie, und ganz langsam begann ein Entsetzen in ihren Augen zu erwachen, wie Leonie es niemals zuvor im Blick irgendeines Menschen gesehen hatte. »Aber das kann doch nicht... nicht sein«, flüsterte sie.

»Du musst dich erinnern«, sagte Leonie. Ihr selbst erging es kaum besser als Theresa. Ganz plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. Sie wusste wieder, wer sie war, wo sie war, wie sie hierher gekommen und was zuvor passiert war. Aber sie verstand nichts von all dem wirklich.

»Was geschieht mit mir?«, murmelte Theresa. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. »Was... was ist hier los?«

»Du musst dich erinnern«, wiederholte Leonie. Obwohl ein nicht kleiner Teil von ihr die junge Frau noch immer als Schulleiterin und Respektsperson betrachtete und sich mit geradezu verbissener Kraft an diese Realität klammerte, die nichts mit ihrem wirklichen Leben zu tun hatte, trat sie entschlossen auf Theresa zu, ergriff ihre linke Hand und legte die andere auf ihre Schulter. »Erinnere dich!«, sagte sie fast beschwörend. »Du kannst es, genau wie ich. Du hast die Gabe. Du musst die Welt so sehen, wie sie wirklich ist!«

Ganz instinktiv streifte Theresa ihre Hand ab und machte einen halben Schritt zurück, blieb dann aber wieder stehen. Erneut änderte sich der Ausdruck in ihren Augen; aus dem Entsetzen wurde ein gequälter Blick, der das auszudrücken schien, was auch Leonie spürte.

»Aber warum?«, murmelte sie. Mit einiger Mühe riss sie ihren Blick von Leonies Gesicht los, drehte sich halb um ihre eigene Achse und sah sich mit immer wilder werdenden Bewegungen in der Bibliothek um. »Das kann er doch nicht wirklich getan haben«, flüsterte sie. »Das... das ist unvorstellbar. So verrückt kann doch kein Mensch sein!«

Leonie verstand nicht wirklich, was sie meinte, aber Theresa gab ihr auch keine Gelegenheit, eine entsprechende Frage zu stellen, sondern war mit zwei schnellen Schritten beim nächstbesten Bücherregal und begann wahllos Bücher von den Brettern zu nehmen, um sie aufzuschlagen und dann hastig wieder zurückzustellen, manche auch einfach fallen zu lassen. Sie trat an das nächste Regal, um dort ebenso zu verfahren, dann an ein drittes und schließlich viertes, bevor sie stehen blieb und sich wieder zu Leonie umdrehte, um sie nun wieder eindeutig entsetzt anzublicken. »Du hattest Recht«, sagte sie.

»Womit?«

»Diese Bücher hier«, antwortete Theresa. »Es sind fast nur Klassiker. Große Literatur, Weltgeschichte, Physik und Philosophie...« Sie hob die Schultern. »Das ist genau der Geschmack deines Vaters, habe ich Recht? Keine seichte Unterhaltung. Nichts Überflüssiges.«

»Du meinst, er hat diese Bücherei nach seinem Geschmack erschaffen?«, fragte Leonie. Ihr Herz begann schon wieder zu klopfen. Sie kannte die Antwort auf ihre eigene Frage, und sie war viel komplizierter und viel schrecklicher als die, die sie in diesem Moment von Theresa hören wollte.

Theresas Antwort bestand jedoch nur aus einem schrillen, fast hysterischen Laut, der irgendwo zwischen einem Lachen und einem kaum noch unterdrückten Schrei bestand. »Diese Bücherei?«, keuchte sie und schüttelte heftig den Kopf. »O nein, Leonie. Ich fürchte, das ist längst noch nicht alles. Komm mit!«

Leonie streckte die Hand nach ihr aus, wie um sie aufzuhalten, aber Theresa stürmte einfach an ihr vorbei und war schon fast beim Ausgang, als Leonie endlich aus ihrer Erstarrung erwachte und sich beeilte ihr zu folgen.

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