Der schwarze Wagen

Und dabei blieb es für die nächsten zwei oder drei Tage. Leonie hatte am darauf folgenden Morgen noch einmal versucht, ihren Vater auf den nächtlichen Besucher anzusprechen, sich aber eine so rüde Abfuhr eingehandelt, dass es ihr jegliche Lust auf einen weiteren Versuch verschlug.

Darüber hinaus war es genau so, wie ihr Vater prophezeit hatte: Das Leben ging weiter. Es war spürbar stiller, jetzt wo Großmutter nicht mehr da war, aber schon am Tag nach ihrer Beerdigung machten ihre Eltern das Geschäft wieder auf, und zwei Tage später stand auch Leonie wieder hinter der Theke, um ihrer Mutter zu helfen.

Sie hätte es nicht gemusst. Immerhin waren Sommerferien und ihr Vater hatte ihr ausdrücklich gesagt, dass sie ihre Ferien nicht im Laden verbringen müsse, sondern die freien Tage getrost genießen könne. Leonie hatte das auch zwei Tage lang beherzigt, aber schließlich hatte sie es vor lauter Langeweile nicht mehr ausgehalten. Sie kannte die Hand voll Videos, die sie besaß, mittlerweile auswendig, und dasselbe galt für ihre CDs und Musikkassetten. Die meisten der ohnehin wenigen Schulfreunde, die sie hatte, waren längst mit ihren Familien in Urlaub gefahren. Leonies Familie fuhr nie in den Urlaub. Die Buchhandlung warf einfach nicht genug ab, um einen Familienurlaub zu finanzieren, aber das machte ihr nichts aus. Sie brauchte keine fremden Länder und bezahlten Abenteuer: Alles, was sie brauchte, fand sie in ihren Büchern. Außerdem konnten sie es sich gar nicht leisten, das Geschäft für zwei oder gar drei Wochen geschlossen zu halten, und eine Aushilfe für diese Zeit war auch nicht drin.

Nicht dass ihnen die Kunden den Laden eingerannt und die Bücher aus den Regalen gerissen hätten. An dem Morgen, an dem sie das erste Mal wieder hinter der Theke stand, hatte sie gerade ein mickriges Taschenbuch und einen Stadtplan verkauft, und die junge Frau, die seit zehn Minuten im Geschäft war und die Bücher in den Regalen studierte, machte auch nicht wirklich den Eindruck, als hätte sie vor, etwas zu erwerben. Leonie hatte einen Blick dafür. Manche Kunden kamen, weil sie gezielt nach einem bestimmten Titel suchten, andere waren unschlüssig, was sie kaufen sollten, aber dennoch entschlossen, sich mit Lesestoff einzudecken, wieder andere waren einfach noch unsicher, ob sie überhaupt etwas kaufen wollten, und manche betraten den Laden mit dem festen Vorsatz, nichts zu kaufen. Diese Kundin gehörte eindeutig zur letzteren Kategorie. Was nicht bedeutete, dass sie nichts mitnehmen würde.

Leonie kramte in der altmodischen Registrierkasse herum und zählte zum dritten Mal hintereinander das Wechselgeld, wobei sie zum ebenfalls dritten Mal zu einem anderen Ergebnis kam. Vermutlich würde sich das auch beim fünften und zwölften Mal nicht ändern. Leonie hatte es nicht mit Zahlen. Außerdem fiel es ihr schwer, sich auf das Wechselgeld zu konzentrieren und zugleich der Kundin einen guten Teil ihrer Aufmerksamkeit zu widmen, die noch immer unschlüssig von einem Regal zum anderen schlenderte und dann und wann sogar einen Band herausnahm - wenngleich auch nur, um ihn sofort wieder zurückzustellen. Zumindest war ihre Handtasche nicht groß genug, um ein Buch darin verschwinden zu lassen.

Natürlich verdächtigte Leonie die junge Frau nicht, etwas stehlen zu wollen, aber man konnte nie wissen. Leonie hatte in dieser Hinsicht schon die erstaunlichsten Überraschungen erlebt.

Die junge Frau war elegant, sogar eindeutig teuer gekleidet, und sie war mit einem sehr großen, schwarzen Wagen gekommen, der so vor dem Schaufenster abgestellt war, dass man nur sein wuchtiges Heck erkennen konnte. Leonie verstand nicht viel von Autos, aber immerhin war ihr klar, dass es sich um ein ziemlich teures Fahrzeug handeln musste. Das alles änderte jedoch nichts daran, dass sie misstrauisch blieb. Sie hatte schon erlebt, dass auch solche Leute lange Finger machten.

Sie war auf die vierte Summe Wechselgeld gekommen und setzte gerade dazu an, es zum fünften Mal zu zählen, als sich die Kundin endlich umdrehte und mit der gleichen Bewegung - Leonie war sicher, vollkommen wahllos - ein Buch aus dem Regal nahm, um es zur Kasse zu tragen.

»Das nehme ich«, sagte sie.

Leonie hatte vorhin, als die Frau hereingekommen war, nur einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht erhascht, aber nun konnte sie es genau betrachten. Sie glaubte, etwas vage Bekanntes in ihren Zügen auszumachen, konnte das Gefühl aber nicht richtig einordnen und verwarf den Gedanken schließlich. Wenn man nur lange genug hinter einer Ladentheke stand, dann hatte man irgendwann so viele verschiedene Gesichter gesehen, dass einem jeder irgendwie bekannt vorkam. Außerdem hätte sie sich an eine Kundin, die einen solchen Wagen fuhr, ganz bestimmt erinnert.

Sie nannte den Preis und die junge Frau öffnete ihre Handtasche und zog einen Fünfhundert-Euro-Schein heraus.

»Oh«, sagte Leonie. Sie blickte unglücklich in ihre Kasse. Ganz egal, welche der vier Summen, die sie gerade herausbekommen hatte, nun stimmte - ihr Wechselgeld reichte nicht einmal annähernd. »Haben Sie es nicht kleiner? Ich fürchte, darauf kann ich nicht herausgeben.«

»Nein«, antwortete die Dunkelhaarige.

»Dann... muss ich Sie um ein wenig Geduld bitten.« Leonie griff zum Telefon, rief ihren Vater in seinem Arbeitszimmer an und bat ihn, nach vorne zu kommen und Bargeld mitzubringen.

»Das ist eine sehr schöne Buchhandlung«, bemerkte die junge Frau, während sie darauf warteten, dass Leonies Vater kam.

»Sie ist ziemlich alt«, gab Leonie zurück. Sie wusste nicht warum, aber ihr war plötzlich unbehaglich zumute. Die Frau war eindeutig nicht gekommen, um ein Buch zu kaufen, aber sie war auch nicht grundlos hier.

»Das ist ja gerade das Schöne«, erwiderte die Fremde. »Ich mag diese modernen Großbuchhandlungen nicht. Sie haben zwar eine Riesenauswahl, aber eigentlich sind es auch keine richtigen Buchhandlungen mehr, finde ich. Es fehlt die Atmosphäre. Das Besondere, das nun einmal eine Buchhandlung ausmacht. Das Geschäft ist bestimmt schon lange in Familienbesitz, oder?«

»Über tausend Jahre«, antwortete Leonie ganz automatisch. Erst dann wurde ihr klar, was sie da gerade gesagt hatte, und sie verbesserte sich hastig. »Ähm - ich meine natürlich: Schon sehr lange. Es könnten genauso gut tausend Jahre sein.«

»Sicher«, meinte die Kundin.

Leonie atmete innerlich auf, als ihr Vater eintraf und sie aus der peinlichen Situation rettete. Wie hatte sie nur einen solchen Blödsinn reden können?

»Wo ist denn das Problem?«, fragte Vater aufgeräumt. Leonie deutete, schweigend auf den Fünfhunderter und ihr Vater runzelte die Stirn. »O ja, ich verstehe«, sagte er bedauernd. »Aber ich fürchte, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Auf diesen Schein kann ich leider nicht herausgeben.«

»Das ist auch gar nicht nötig«, erwiderte die Kundin.

Vaters Lächeln entgleiste für einen Moment, aber er fing sich sofort wieder. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte er. Leonie hatte jedoch das sichere Gefühl, dass er sehr genau verstanden hatte. Ihr Unbehagen wuchs.

»Nun, um ehrlich zu sein«, antwortete nun die dunkelhaarige junge Frau, »bin ich nicht gekommen, weil ich ein Buch kaufen wollte.«

»Sondern?«, fragte Vater. Leonie konnte regelrecht sehen, wie seine Laune umschlug.

»Ich bin hier, weil ich Ihnen ein Angebot machen will«, fuhr die Fremde fort. Sie hob ganz leicht die Stimme. »Bitte lassen Sie mich ausreden, bevor Sie etwas sagen.«

Vater nickte wortlos.

»Um mit der Tür ins Haus zu fallen - ich bin nicht zufällig hier.« Sie sah Vater nicht an, während sie sprach, und Leonie begriff, wie wenig wohl sie sich bei dem fühlte, was sie da gerade tat. »Ich vertrete eine Gruppe von... sagen wir... Investoren, die sehr daran interessiert wären, Ihr Geschäft zu erwerben.«

»Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich verkaufen will?«, fragte Vater.

»Ich fürchte, Ihnen wird über kurz oder lang keine andere Wahl bleiben«, antwortete die Fremde. »Wir sind über Ihre finanzielle Lage durchaus informiert.«

»So?« Vater wirkte nicht überrascht, aber sehr zornig. Leonie spürte, dass er sich nur noch mit äußerster Mühe beherrschte.

»Ja«, bestätigte die Dunkelhaarige. »Aber keine Sorge - wir wollen Ihre Notlage keineswegs ausnutzen. Ganz im Gegenteil. Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten, das Sie schlagartig all Ihrer Sorgen entheben würde, und darüber hinaus...«

»Interessiert es mich nicht«, fiel ihr Vater ins Wort. Er nahm das Buch von der Theke, ging zum Regal und stellte es an seinen Platz zurück. »Ich fürchte, Sie haben den Weg umsonst gemacht. Bitte gehen Sie.«

»Aber...«

»Auf der Stelle!« Er sprach nicht einmal sehr laut, aber irgendwie brachte er es fertig, trotzdem zu schreien. Die junge Frau blickte ihn noch einen Moment lang fast flehend an, aber sie schien wohl auch zu spüren, wie sinnlos es gewesen wäre, weiterzusprechen. Sichtlich enttäuscht steckte sie ihren Geldschein wieder ein und verließ ohne ein weiteres Wort das Geschäft. Leonie sah ihr nach, bis sie wieder in den Wagen gestiegen und abgefahren war. Erst dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu.

»Was war denn das für ein Auftritt?«, murmelte sie. Sie war nicht ganz sicher, ob sie erschrocken sein oder einfach in Gelächter ausbrechen sollte. Die Szene, die sie gerade erlebt hatte, hätte gut aus einem Mafia-Film stammen können - aber doch nicht aus der Wirklichkeit!

»Ich habe keine Ahnung.« Vater hob die Schultern, wie um seine Behauptung noch zu bekräftigen. »Ich habe diese Frau noch nie gesehen.«

»Aber was sie erzählt hat, das... das ist doch nicht wahr, oder?«, fragte Leonie stockend. Ihre Stimme zitterte, als sie fortfuhr: »Ich meine... wir... wir haben doch nicht wirklich so große finanzielle Probleme, oder?« Sie versuchte zu lachen, um ihren eigenen Worten den Schrecken zu nehmen, den sie selbst heraufbeschworen hatte, aber es gelang ihr nicht.

»Wir sind nicht reich«, antwortete ihr Vater ausweichend. »Das Geschäft ist nie besonders gut gelaufen, und in letzter Zeit ist...« Er hob die Schultern und vermied ihren Blick, als er weitersprach. »Du weißt selbst, wie schlecht das Geschäft seit einer Weile läuft.«

»Dann... dann hatte sie Recht?«, flüsterte Leonie ungläubig. »Wir werden das Geschäft verlieren? Und alles andere auch?«

»Unsinn!«, widersprach Vater. »Unsere Lage ist im Moment ein bisschen schwierig, aber nicht so ernst, wie es diese Möchtegern-Mafiosobraut gern hätte. Die allgemeine Wirtschaftslage ist wieder im Aufschwung, und wir können hier und da noch etwas einsparen. Und außerdem gibt es ja auch noch die Versicherung.«

»Was denn für eine Versicherung?«

»Deine Großmutter hatte eine kleine Lebensversicherung abgeschlossen«, antwortete ihr Vater. Das war eine Lüge, wie Leonie ganz genau wusste. Großmutter hatte nie eine Lebensversicherung gehabt. Sie hatte zeit ihres Lebens nichts von Banken und erst recht nicht von Versicherungen gehalten, die ihrer Meinung nach ohnehin alle nur Betrügereien waren. Aber sie schwieg.

»Pass bitte einen Moment lang allein auf das Geschäft auf«, sagte Vater. »Falls diese sonderbare Frau wieder auftaucht, dann ruf mich.«

Er ging und Leonie sah ihm zutiefst beunruhigt und verwirrt nach. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater sie jemals belogen hätte, doch nun hatte er es ganz eindeutig getan. Vielleicht hatte er ja nur zu einer Notlüge gegriffen, um sie zu beruhigen, aber er hatte sie belogen, und diese Erkenntnis schmerzte sie. Wenn sie tatsächlich so große Probleme hatten, wie diese fremde Frau behauptete, dann ging sie das schließlich auch etwas an. Sie war doch kein kleines Kind mehr!

Die Türglocke ertönte. Leonie wollte sich dem Kunden zuwenden, der das Geschäft betreten hatte - aber da war niemand.

Überrascht trat sie hinter dem Tresen hervor, ging zur Tür und betrachtete die altmodische Glocke, die an einem kleinen Federmechanismus darüber angebracht war. Die Vorrichtung war simpel, fast schon primitiv, aber gerade deshalb eigentlich narrensicher. Es war nahezu unmöglich, dass die Glocke anschlug, ohne dass die Tür geöffnet wurde. Aber die Glocke hatte gebimmelt! Fing sie jetzt schon an, Gespenster zu sehen?

Wenn ja, dann war es ein ziemlich kleines Gespenst. Vielleicht fünf oder sechs Zentimeter lang, mit einem etwa ebenso langen dünnen Schwanz und dichtem grauen Fell. Außerdem war es ziemlich schnell, denn es verschwand mit trippelnden, kleinen Schritten so rasch unter der Theke, dass Leonie streng genommen nur einen Schatten wahrnahm. Dennoch wusste sie genau, was es gewesen war. Schließlich erkannte sie eine Maus, wenn sie sie sah.

Das hatte jetzt gerade noch gefehlt, dachte sie. Nach dem ganzen Ärger, den sie sowieso schon hatten, auch noch Mäuse! Ihr Vater behauptete zwar immer, der größte Feind der freien Unternehmer wäre das Finanzamt, aber der größte Feind eines kleinen Buchhändlers waren zweifellos Ratten und Mäuse, die Bücher eindeutig lieber mochten als die meisten Menschen heutzutage. Sie hatten Bücher nämlich zum Fressen gern, und sie waren den kleinen Nagern umso lieber, je älter sie waren.

Allerdings war diese spezielle Maus nicht gekommen, um irgendwelchen Schaden anzurichten.

Noch während Leonie mit schnellen Schritten um die Theke herumeilte, um dem unerwünschten Eindringling den Weg abzuschneiden, wusste sie, dass es sich um eine ganz bestimmte Maus handelte. Sie hatte dieses Tier schon gesehen. Schon oft. Sie wusste nicht wo, aber das Wissen war so plötzlich und mit so unerschütterlicher Überzeugung in ihr, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kam, es anzuzweifeln. Die Maus zeigte auch nicht die geringste Scheu, sondern wartete auf der anderen Seite der Ladentheke auf sie und trippelte dann fast gemächlich los. Sie war gekommen, um ihr etwas zu zeigen oder sie an einen bestimmten Platz zu führen.

Es kam Leonie absurd vor, doch obwohl es sich nur um eine Maus handelte, empfand sie plötzlich eine tiefe Zuneigung zu dem kleinen Wesen; ein Gefühl, als wäre es ihr einziger Freund in einer ganzen Welt voller Feinde und bestenfalls Fremder. Umso wichtiger erschien es ihr aber jetzt, die Maus hinauszuschaffen. Ihren Vater würde der Schlag treffen, wenn er den kleinen Nager sah - und die Maus zweifellos auch, mit viel verheerenderen Folgen. Sie schritt ein wenig schneller aus, um den kleinen Nager einzuholen, aber die Maus lief ebenfalls schneller, fast als hätte sie ihre Gedanken erraten.

»Verdammt, bleib doch stehen!«, rief Leonie. »Ich tu dir doch nichts! Im Gegenteil! Du solltest dir selbst einen Gefallen tun und lieber verschwinden, ehe mein Vater dich sieht.«

Unbeeindruckt von dieser Warnung rannte die Maus noch schneller und huschte unter der Verbindungstür zum Haus hindurch, obwohl der Spalt dazu eigentlich zu schmal war. Aber möglich oder nicht - sie war hindurch, und damit nicht nur im Haus, sondern zumindest theoretisch auch in Reichweite ihres Vaters. Leonie folgte ihr, so schnell es ging, aber im Gegensatz zu ihr konnte sie nicht unter der Tür hindurchlaufen, sondern musste sie öffnen, wodurch sie weitere kostbare Zeit verlor. Als sie in den dunklen Hausflur trat, war es bereits zu spät. Die Maus hatte die Küche fast erreicht, aus der die Stimmen ihres Vaters und ihrer Mutter drangen, die sich lautstark stritten.

»Du weißt, dass ich das niemals zulassen werde!«, sagte Mutter gerade. »Wir hätten es vorher nicht tun sollen und aus diesem Grund schon gar nicht!«

Leonie versuchte gleichzeitig schneller und leiser zu laufen, aber nur eines von beiden war möglich; sie entschied sich für leiser. Die Maus war genau vor der offenen Tür stehen geblieben und hatte sich zu ihr umgedreht. Mit ein bisschen Glück würden ihre Eltern den kleinen Nager nicht sehen, aber wenn sie auf den uralten, knarrenden Holzdielen auch nur einen einzigen unvorsichtigen Schritt machte, würden sie sie garantiert hören, und dann war alles aus.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich persönlich bereichern will?«, keuchte ihr Vater. Die Empörung in seiner Stimme war echt. »Aber ich glaube nicht, dass wir überhaupt noch eine andere Wahl haben. Das war Theresa, verdammt noch mal!«

Leonie schlich auf Zehenspitzen weiter. Die verfluchten Fußbodenbretter knarrten trotzdem, aber nicht allzu laut, und ihre Eltern waren so sehr in ihr Streitgespräch vertieft, dass sie es mit ein wenig Glück gar nicht gehört hatten.

»Theresa?«, entfuhr es ihrer Mutter. »Hat sie dich erkannt?«

Noch zwei oder drei Schritte, schätzte Leonie. Die Maus hockte nach wie vor reglos da und blickte zu ihr hoch. Hätte Leonie nicht ganz genau gewusst, dass es völlig unmöglich war, im Gesicht eines Tiers zu lesen, hätte sie geschworen, dass sie äußerst zufrieden aussah.

»Natürlich nicht«, antwortete Vater. »Wie könnte sie? Aber sie sind hier, verstehst du? Und du weißt, dass diese Leute nicht aufgeben werden! Wir müssen es tun! Schon um Leonies Willen!«

Leonie hatte die Tür jetzt fast erreicht. Sie ließ sich behutsam in die Hocke sinken und streckte die Hand aus.

»Reicht dir immer noch nicht, was das letzte Mal passiert ist?«, fragte Mutter. »Es wird jedes Mal schlimmer, begreifst du das denn nicht?«

Sie hatte es fast geschafft. Zwar wagte sie es noch nicht, aufzuatmen, aber die Maus setzte sich brav in Bewegung, sprang mit einem Satz auf ihre Hand und begann ihren Arm emporzuklettern. In diesem Moment erscholl auf der anderen Seite der Tür ein erstaunter Ausruf. Leonie richtete sich erschrocken auf, doch es war natürlich zu spät. Ihr Vater erschien unter der Tür, noch bevor sie auch nur dazu ansetzen konnte, sich umzudrehen und wegzulaufen.

»Was machst du denn hier?«, fuhr er sie an. »Hast du gelauscht?« Er riss die Augen auf, keuchte und prallte einen halben Schritt zurück. Er starrte die Maus an, die auf Leonies Schulter saß, aber dem Entsetzen in seinen Augen nach hätte es genauso gut eine giftige Riesenspinne sein können oder ein tödlicher Skorpion.

»Du schon wieder!«

Leonie machte ebenfalls einen Schritt zurück und diese Vorsichtsmaßnahme war keineswegs übertrieben. Ihr Vater überwand seinen Schrecken und wollte nach der Maus greifen, aber Leonie kam ihm zuvor. Sie legte rasch und in einer eindeutig beschützenden Geste die Hand über ihren neuen Freund und ihr Vater erstarrte mitten in der Bewegung.

»Was soll das?«, fragte er.

»Ich will nicht, dass du ihr etwas tust.« Leonie sah den Zorn in Vaters Augen aufblitzen und fügte leise und fast widerwillig hinzu: »Bitte!«

Leonies Mutter erschien neben ihm und sah sie beide fragend an. Sie schwieg, aber Vater deutete anklagend auf Leonie und sagte leise: »Unsere Tochter belauscht uns neuerdings, wusstest du das? Und sie hat anscheinend auch ein neues Haustier.«

»Ich belausche euch nicht«, erwiderte Leonie in patzigem Ton. »Und das hier ist nicht mein neues Haustier! Ich bin ihr nur nachgelaufen, um sie einzufangen. Deshalb bin ich hier.« Sie nahm die Hand herunter und öffnete sie; die beste Gelegenheit für die Maus, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen und das Weite zu suchen. Stattdessen machte sie es sich auf ihrer ausgestreckten Handfläche gemütlich und begann sich in aller Seelenruhe die Barthaare zu putzen.

»So, so, du kennst dieses Tier also gar nicht?«, fragte Vater. »Leonie, bist du verrückt, eine Maus hier anzuschleppen?«

»Aber ich schwöre, dass ich sie vor einem Augenblick zum ersten Mal gesehen habe!«, beteuerte Leonie.

Ihr Vater machte sich nicht einmal die Mühe, ihr zuzuhören, sondern drehte sich zu Mutter um und deutete zugleich wieder anklagend auf Leonie. »Genau, wie ich es dir gesagt habe!«

Mutter beugte sich leicht vor, um die Maus genauer zu betrachten. »Also ich finde sie... irgendwie niedlich.«

»Mag sein«, antwortete Vater. »Aber wo eine Maus ist, da sind andere meistens auch nicht fern. Das fehlte uns jetzt gerade noch.« Er drehte sich wieder zu Leonie um. »Ich hätte dich wirklich für vernünftiger gehalten.«

»Aber ich sagte doch, dass ich diese...«

»Lüg mich nicht an!«, unterbrach sie ihr Vater. »Und wenn du es tust, dann tu es wenigstens ein bisschen geschickter. Glaubst du etwa, ich hätte den Karton nicht gesehen, den du für sie gebastelt hast?«

»Was für einen Karton?«, fragte Leonie. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon ihr Vater sprach.

»Wir können es uns nicht leisten, jetzt auch noch dieses Viehzeug am Hals zu haben«, fuhr ihr Vater fort, ohne ihre Frage zu beachten. »Du bringst sie jetzt nach draußen. Haben wir uns verstanden?«

»Sicher«, sagte Leonie kleinlaut.

»Gut«, antwortete ihr Vater. »Und sorge dafür, dass die Maus nicht wiederkommt.«

Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Leonie ging rasch an ihm vorbei (in einem so großen Bogen, wie sie nur konnte), durchquerte mit schnellen Schritten die Küche und trat auf die Terrasse hinaus. Die Hitze traf sie wie ein Schlag. Am Tag vor Großmutters Beerdigung waren die Temperaturen zwar ein wenig gefallen, aber seither war es nur umso heißer geworden. Jetzt, um die Mittagszeit, flimmerte die Luft im Garten vor Hitze, wie es manchmal in Filmaufnahmen aus der Wüste zu sehen war oder über der brennenden Startbahn eines Flughafens, nach der Explosion eines startenden Airbusses.

Seltsam, dass sie ausgerechnet auf diesen Vergleich kam. Er war ziemlich weit hergeholt und eigentlich hatte sie noch nie einen Hang zum Morbiden gehabt.

»Das ist alles deine Schuld«, sagte sie zu der Maus, die vollkommen ungerührt damit fortfuhr, ihre Barthaare zu putzen. »Wenn du es darauf angelegt hattest, mir Ärger zu bereiten, dann ist es dir jedenfalls prima gelungen.«

Sie überquerte die Terrasse, sah sich einen Moment lang unschlüssig um und entschied dann, ihren aufdringlichen neuen Freund am anderen Ende des Gartengrundstückes abzusetzen. Der Garten war sehr groß, fast schon riesig. Leonie hatte alte Fotos aus besseren Zeiten gesehen und wusste, dass er früher einmal sehr gepflegt gewesen war, fast schon wie ein kleiner Park Jetzt aber war er hoffnungslos verwildert - ebenso mitgenommen durch mangelnde Pflege wie die einst prachtvolle Jugendstilvilla, die langsam aber sicher verfiel. Ein regelrechter Dschungel; jedenfalls für eine Maus. Wahrscheinlich würde sie Stunden brauchen, um den Rückweg zu finden, und mit etwas Glück würde sie es überhaupt nicht schaffen.

Leonie ging bis zum jenseitigen Ende des Grundstückes und ließ sich in die Hocke sinken, um den kleinen Nager ins Gras zu setzen, überlegte es sich dann aber anders und trat mit einem großen Schritt über das hinweg, was nach dem Feuer vom Gartenzaun übrig geblieben war. Das Nachbargrundstück war zwar nicht annähernd so groß wie das ihrer Familie, dafür aber umso verwilderter. Der Brand lag schon ein paar Jahre zurück, und bisher hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Ruine zu beseitigen oder das Haus gar wieder aufzubauen. Soweit Leonie wusste, war die gesamte Familie, der das Haus gehört hatte, bei dem Unglück ums Leben gekommen, sodass es keine Erben gab, und ein Käufer hatte sich für das Grundstück bis heute wohl nicht gefunden.

Während Leonie vorsichtig zwischen den von Unkraut überwucherten Mauerresten entlangging, konnte sie das fast verstehen. Sie war ganz bestimmt nicht abergläubisch, aber von diesem Ort ging etwas Unheimliches aus. Vielleicht lag es einfach daran, dass hier eine ganze Familie ausgelöscht worden war. Einfach so, ohne irgendeinen Grund oder Anlass, nur aus einer puren Laune des Schicksals heraus.

Es war grausam, und außerdem hatte sie das Gefühl, dass es falsch war. Unfälle waren nie richtig, aber dieser hier war auf eine ganz bestimmte Art falsch. Er hätte nicht passieren dürfen.

Leonie schüttelte den Gedanken mit einiger Mühe ab. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, zwischen den brandgeschwärzten Mauerresten hindurch auf die andere Seite des Grundstückes zu gelangen, wo sie abermals in die Hocke ging und die Maus diesmal wirklich absetzte.

»So«, sagte sie. »Hier kannst du bleiben. Das gehört alles dir, wenn du willst. Ich an deiner Stelle würde das Angebot annehmen. Mein Vater ist im Moment nicht besonders gut drauf, fürchte ich.«

Die Maus beschnüffelte ihr neues Zuhause zwar eifrig, machte aber keine Anstalten, im Gras zwischen den Trümmern zu verschwinden, wie Leonie gehofft hatte, sondern kam im Gegenteil nach ein paar Augenblicken zurück und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich verstehe«, seufzte sie. »Du bist eine zahme Maus, habe ich Recht? Irgendjemand hat dich aufgezogen und dir all diese Kunststückchen beigebracht. Dann kann ich dir nur raten, zu deinem früheren Besitzer zurückzugehen.«

Leonie ertappte sich dabei, eine oder zwei Sekunden lang tatsächlich daraufzuwarten, dass die Maus antwortete. Sie lachte über diese kindische Vorstellung, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten davon. Nach sechs oder sieben Metern blieb sie noch einmal stehen und sah sich um. Die Maus war verschwunden. Offenbar hatte sie sich doch dazu entschieden, lieber auf ihre Warnung zu hören.

Der Gedanke war fast so absurd wie der zuvor, aber Leonie war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Ganz im Gegenteil: Trotz der brütenden Hitze lief ihr plötzlich ein eisiger Schauer über den Rücken und sie verspürte eine grundlose, aber bohrende Angst. Es hatte nichts mit dieser komischen Maus zu tun, das war ihr plötzlich klar.

Es war dieser Ort. Mehr denn je hatte sie das Gefühl, dass hier irgendetwas falsch war, so falsch, wie es nur ging. Es hätte diese Ruine nicht geben dürfen. Irgendetwas war hier geschehen, das so vollkommen verkehrt war, dass sich alles in ihr dagegen sträubte, auch nur einen weiteren Schritt in das Durcheinander aus verfilztem Unkraut und verkohlten Mauerresten zu tun.

Statt auf demselben Weg zurückzukehren, auf dem sie gekommen war, beschloss sie, das Grundstück zu umrunden und die Buchhandlung durch den Vordereingang wieder zu betreten. Das bedeutete einen Umweg von bestimmt fünfhundert Metern, wenn nicht mehr, aber das war ihr im Augenblick sogar recht. Sie hasste es, wenn ihre Eltern sich stritten - und sie hegte noch immer einen tiefen Groll gegen ihren Vater, weil er sie so offensichtlich angelogen hatte. Vielleicht war es besser, wenn sie ihm für eine Weile aus dem Weg ging.

Leonie trat endgültig auf den Bürgersteig und machte sich auf den Weg; allerdings viel langsamer, als es nötig gewesen wäre.

Als sie um die Ecke bog, sah sie den Wagen.

Leonie kam der Autotyp noch genauso unbekannt vor wie zuvor, aber sie erkannte den Wagen ohne jeden Zweifel wieder. Es war die teure schwarze Limousine, die vorhin vor der Buchhandlung geparkt hatte. Sie war nur zwanzig oder dreißig Meter weit gefahren und stand jetzt so da, dass sie vom Laden aus zwar nicht mehr gesehen werden konnte, ihre Insassen die Buchhandlung jedoch problemlos im Auge behalten konnten.

Plötzlich loderte eine kalte Wut in Leonie hoch. Wer immer diese fremde Frau war, zumindest im Moment gab sie ihr die alleinige Schuld an dem, was vorhin passiert war. Und vor allem daran, dass ihr Vater sie belogen hatte. Leonie blieb für einen ganz kurzen Moment stehen, ging dann aber umso schneller weiter, und zwar nicht zurück nach Hause, sondern schräg über die Straße und schnurstracks auf die schwarze Luxuslimousine zu. Während sie es tat, schoss ihr noch einmal die Bemerkung ihres Vaters durch den Kopf, der die Fremde als Möchtegern-Mafiosobraut bezeichnet hatte, und plötzlich fand sie den Vergleich nicht mehr im Geringsten komisch - aber ihr Zorn überwog dennoch bei weitem. Sie erreichte den Wagen, riss die Beifahrertür auf und starrte eine Sekunde lang ziemlich verdattert auf den dunkelhaarigen Mann mit Sonnenbrille und schwarzem Anzug, der hinter dem Steuer saß. Der Beifahrersitz des Wagens war leer.

»Das ist die falsche Tür, Leonie«, sagte eine leicht amüsiert klingende Stimme. »Komm doch nach hinten. Die Tür ist offen.«

Leonie drehte erschrocken den Kopf und erblickte die junge Frau, die vorhin bei ihnen im Geschäft gewesen war, auf der breiten Rückbank. Obwohl die Scheiben des Wagens dunkel getönt waren, trug sie nun ebenfalls eine Sonnenbrille, was Leonies Meinung nach selbst für einen richtigen Mafioso stark übertrieben gewesen wäre.

»Worauf wartest du?«

Leonie rief sich fast gewaltsam in die Wirklichkeit zurück, öffnete die hintere Tür des Wagens und stieg ein. Es war eine von jenen wirklich großen, luxuriösen Limousinen, die zwei gegenüberliegende Sitzbänke hatten und wahrscheinlich auch eine Bar, einen Fernseher und allen möglichen anderen Schnickschnack. Leonie nahm gegenüber der Dunkelhaarigen Platz, rutschte aber zugleich auch so weit wie möglich von ihr weg. Der kleine Verrat, den ihre Körpersprache auf diese Weise an ihr beging, blieb ihrem Gegenüber nicht verborgen, aber sie reagierte nur mit einem flüchtigen Stirnrunzeln darauf.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie. »Es ist ziemlich heiß draußen. Ich habe gekühlte Limonade da.«

»Nein, danke.«

»Also gut.« Die Fremde hatte die Hand bereits halb nach einem mit Mahagoni verkleideten Kästchen ausgestreckt - vermutlich die Bar -, ließ sie jetzt aber unverrichteter Dinge wieder sinken und deutete ein Achselzucken an. »Dein Vater hat sich also doch noch entschlossen, mit uns zu reden.«

»Nein«, sagte Leonie.

»Nein?«

»Meine Eltern wissen nicht, dass ich hier bin«, erklärte Leonie. »Und ich glaube auch nicht, dass sie sehr begeistert wären, wenn sie es wüssten.«

»Das ist schade«, bemerkte die junge Frau. Leonie versuchte vergeblich, in ihrem Gesicht zu lesen. Die Sonnenbrille machte es einfach unmöglich.

»Warum wollen Sie meinen Eltern alles wegnehmen?«, fragte sie geradeheraus. »Was haben Sie davon? Sie sind doch schon reich!« Sie machte eine wütende Handbewegung. »Allein dieses Auto ist wahrscheinlich mehr wert als unser ganzes Haus!«

»Hat er dir das erzählt?«, fragte Theresa. »Dass wir ihm das Haus wegnehmen wollen?«

»Nein«, antwortete Leonie. »Das brauchte er gar nicht. Ich war schließlich dabei.« Sie schüttelte zornig den Kopf. »Warum tun Sie das?«

»Niemand will euch irgendetwas wegnehmen, Leonie«, erklärte die Fremde. »Weder deinen Eltern noch dir. Ganz im Gegenteil. Wir wollen dir helfen. Es geht nicht darum, dass deine Eltern das Erbe verlieren, sondern darum...«

»Dass ich es bekomme«, führte Leonie den Satz zu Ende. »Ich weiß.«

Ihr Gegenüber war ehrlich verblüfft. Bestimmt zehn Sekunden lang sah sie Leonie nur wortlos durch die getönten Gläser ihrer Sonnenbrille an.

»Theresa«, fügte Leonie nach ein paar Augenblicken betont hinzu.

»Du kennst meinen Namen?«

Leonie nickte wortlos. Insgeheim verfluchte sie diese verdammte Sonnenbrille, hinter der sich die dunkelhaarige junge Frau versteckte. Irgendetwas sagte ihr, dass es wichtig sei, Theresas Reaktionen zu beobachten.

»Hat dein Vater...?«, begann Theresa.

»Nein«, unterbrach sie Leonie. Das war eine glatte Lüge - und zugleich auch wieder nicht. Sie hatte Theresas Namen zuerst aus dem Mund ihres Vaters gehört und sie hatte auch nicht vergessen, auf welche Art er über sie gesprochen hatte. Doch darüber hinaus hatte sie Theresas Namen schon vorher irgendwann einmal gehört. Sie hatte sie sogar schon mal gesehen und mit ihr gesprochen, und das vor gar nicht langer Zeit. Es war sehr beunruhigend, so etwas über jemanden zu denken, von dem sie ganz genau wusste, dass sie ihm nie zuvor begegnet war, aber es war eben so. Basta!

»Deine... Großmutter?«, fragte Theresa zweifelnd.

Leonie schwieg. Tief in ihr regte sich eine Erinnerung, doch etwas hinderte sie daran, Gestalt anzunehmen.

»Was hat sie über uns erzählt?«, fragte Theresa. »Klang sie... aufgeregt?«

»Nicht viel«, antwortete Leonie ausweichend. »Eigentlich nur, dass es euch gibt.«

»Und das schon sehr lange«, bestätigte Theresa. »Selbst die ältesten Aufzeichnungen, die wir besitzen, sagen nicht wie lange, und sie reichen wirklich weit in die Vergangenheit zurück. Ich hatte kaum zu hoffen gewagt, dass deine Großmutter dir überhaupt von uns erzählt hat. Sie hat kurz nach deiner Geburt jeden Kontakt zu uns abgebrochen, weißt du? Wir haben nie herausgefunden warum. Sie hat plötzlich keinen Brief mehr beantwortet, keine Anrufe mehr entgegengenommen...« Für einen Moment unterbrach sie sich, um sich nach vorn zu beugen und dem Fahrer einen Wink zu geben. Der Motor war so leise, dass Leonie nicht das mindeste Geräusch hörte, aber sie fühlte ein ganz sachtes Vibrieren, und der schwere Wagen setzte sich in Bewegung.

»Was wird das?«, fragte Leonie alarmiert.

»Eine Entführung«, antwortete Theresa lachend. »Was hast du denn gedacht?« Sie schüttelte den Kopf und wurde sofort wieder ernst. »Ich finde nur, so redet es sich besser.«

»So?« Leonie blickte misstrauisch von ihr zum Haus ihrer Eltern und wieder zurück. Natürlich glaubte sie nicht wirklich, dass Theresa vorhatte sie zu entführen, aber das änderte nichts daran, dass sie sich mit jedem Meter, den sie sich von der Buchhandlung entfernten, unbehaglicher fühlte.

»Also gut«, gestand Theresa. »Ich möchte allein mit dir reden. Es wäre nicht gut, wenn dein Vater oder deine Mutter uns zusammen sehen würden. Aber keine Sorge, wir fahren nur ein paarmal um den Block. Du kannst jederzeit aussteigen.«

»Ab hundertzehn Stundenkilometern aufwärts, wie?«

Theresa lachte wieder. »So schnell fährt die alte Kiste gar nicht«, antwortete sie. Und damit hatte sie vermutlich Recht, dachte Leonie. Sie verstand nicht viel von Autos, aber der Motor hörte sich wirklich nicht sehr gut an, und jedes Mal, wenn Theresa in einen anderen Gang schaltete, ertönte ein ungesundes Knirschen, das an Zahnräder erinnerte, die nicht mehr so präzise ineinander griffen, wie sie es sollten.

»Wir waren bei Großmutter«, erinnerte Leonie. »Und dem Grund, warum ihr uns das Haus wegnehmen wollt.«

»Unsinn!«, widersprach Theresa. Sie kurbelte heftig am Lenkrad des uralten Bentley, der anscheinend nicht über den Luxus einer Servolenkung verfügte, und warf mit einem Ruck den Kopf in den Nacken, als ihr eine Strähne ihres langen hellblonden Haares ins Gesicht fiel. »Niemand will euch irgendetwas wegnehmen. Es geht um dich, Leonie. Es ist ungeheuer wichtig, dass du die legitime Erbin bist.«

»Aber wo ist denn da der Unterschied?«, fragte Leonie. »Wenn es euch schon so lange gibt, wie du behauptest, welchen Unterschied machen denn dann die paar Jahre? Ich meine: Irgendwann wird es mir doch sowieso gehören.«

»Aber dann kann es zu spät sein.« Theresa drückte wütend auf die Hupe, als ihnen ein anderer Wagen die Vorfahrt nahm, und trat gleichzeitig hart auf die Bremse. Trotzdem rutschte der schwere Mercedes noch ein gutes Stück weiter und kam der Stoßstange des Vordermannes bedrohlich nahe, bevor sie den Wagen wieder vollständig unter Kontrolle hatte. Theresa zog eine ärgerliche Grimasse, aber sie sparte sich jeden Kommentar und setzte ihre so abrupt unterbrochene Erklärung fort. »Versteh mich bitte nicht falsch, Leonie. Ich will deinen Vater nicht schlecht machen oder so etwas. Er ist ein guter Mensch. Und er handelt ganz bestimmt in bester Absicht. Aber er ist leider ein miserabler Geschäftsmann. Wusstest du, dass deine Großmutter früher einmal eine sehr vermögende Frau war?«

Leonie schüttelte den Kopf.

»Aber das war sie«, bekräftigte Theresa. »Seit dein Vater das Geschäft übernommen hat, ist es damit steil bergab gegangen. Das Vermögen ist weg und eure Buchhandlung...« Sie hob die Schultern. »Hat er dir gesagt, dass das Haus kurz vor der Zwangsversteigerung steht?«

»Wie bitte?«, entfuhr es Leonie.

»Das ist leider die Wahrheit«, sagte Theresa. »Euch bleiben vielleicht noch zwei Wochen, wenn überhaupt. Falls deine Eltern bis dahin nicht eine nennenswerte Summe auftreiben, werdet ihr alles verlieren.«

»Und du willst sie ihnen geben?«

Theresa lachte. »Glaub mir, ich würde es sofort tun, wenn ich es könnte. Aber ich bin nicht reich. Geld hat mich noch nie interessiert.«

»So wie meinen Vater.«

»Es ist nicht seine Schuld«, meinte Theresa. »Es ist kein Verbrechen, kein guter Geschäftsmann zu sein.«

»Und warum bin ich dann hier?«

»Weil das, was jetzt vielleicht passiert, auf keinen Fall sein kann!«, rief Theresa heftig. »Ihr werdet nicht nur das Haus verlieren, sondern auch die Buchhandlung, und das darf nicht passieren, verstehst du?«

»Nein«, sagte Leonie ehrlich.

Theresa seufzte. Sie setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment erscholl hinter ihnen ein zorniges Hupen. Theresa legte instinktiv (und mit einem hörbaren Krachen) den Gang ein und fuhr los. Ihr war offensichtlich nicht aufgefallen, dass die Ampel, vor der sie angehalten hatten, längst wieder Grün zeigte - so vertieft war sie in ihr Gespräch gewesen. Den Radfahrer, der plötzlich aus einer Seitenstraße geschossen kam, hatte sie anscheinend auch nicht gesehen, denn sie wich ihm mit einer erschrockenen Drehung am Lenkrad aus und verfehlte ihn buchstäblich um Haaresbreite.

»Entschuldigung«, meinte sie verlegen. »Ich... fahre nicht so oft Auto.«

Mit dieser Schrottmühle würde ich das auch nicht, dachte Leonie. Sie sah sich in dem heruntergekommenen schwarzen Ford um und wunderte sich fast ein wenig über sich selbst, dass sie überhaupt in diesen rollenden Schrotthaufen eingestiegen war. Laut sagte sie: »Vielleicht halten wir irgendwo an und trinken etwas. Ich könnte eine eiskalte Cola gebrauchen.«

Theresas Blick machte klar, dass sie den Wink verstanden hatte. Leonie hatte aber trotzdem Recht: Die altersschwache Lüftung des Wagens mühte sich vergeblich, die Temperatur auf ein erträgliches Maß zu senken, produzierte aber nichts außer Lärm. Sie waren beide längst in Schweiß gebadet.

»Da vorne ist eine Eisdiele.« Theresa tippte auf die Bremse, setzte den Blinker und schaltete mit einem Geräusch herunter, das Leonie befürchten ließ, das Getriebe könnte ihnen um die Ohren fliegen. Sie atmete innerlich auf, als sie vor dem Straßencafe anhielten und sie aussteigen konnte. Nach der brütenden Hitze, die sich im Inneren des Wagens angestaut hatte, kamen ihr die hochsommerlichen Temperaturen im ersten Moment fast angenehm vor.

Sie nahmen Platz. Praktisch sofort erschien eine Kellnerin an ihrem Tisch, und sie bestellten zwei Colas und die beiden größten Eisbecher, die Leonie auf der Karte fand. Theresa wirkte ein bisschen erschrocken, als sie die Preise auf der Karte sah. Immerhin befanden sie sich in der mit Abstand nobelsten Wohngegend der Stadt, und die Preise in diesem Straßencafe orientierten sich an der Kaufkraft der Leute, die hier lebten.

Leonie wollte ihr unterbrochenes Gespräch fortsetzen, aber Theresa winkte rasch ab und bedeutete ihr zu warten, bis die Kellnerin zurückgekommen war und ihre Bestellung gebracht hatte. Leonie war zwar ungeduldig, konnte Theresa aber durchaus verstehen. Was sie zu besprechen hatten, war von ungeheurer Wichtigkeit und gewiss nicht für fremde Ohren bestimmt. Außerdem würde sie jeder, der sie zufällig belauschte, wahrscheinlich für komplett verrückt halten.

Es dauerte auch nur einen Moment. Die Kellnerin kam und brachte ihre Bestellung, und Theresa stürzte die Häute ihres Getränks in einem einzigen gierigen Zug hinunter. Ganz kurz glitt ein gewaltiger Schatten über die Straße hinweg, und als Leonie hochsah, glaubte sie eine riesige, geflügelte Kreatur zu sehen, die am Himmel über der Stadt entlangflog, aber es war wohl nur eine Wolke, die durch eine Laune der Natur für einen kurzen Augenblick diese Form angenommen hatte, bevor sie wieder auseinander gerissen wurde.

»Also?«, begann Leonie, als sie endlich wieder allein waren. »Du wolltest mir erklären, warum es so wichtig ist, dass die Buchhandlung mir gehört und nicht meinen Eltern.«

»Nur die legitime Erbin darf das Archiv betreten«, erklärte Theresa und nahm die Antwort auf Leonies nächste Frage gleich vorweg, indem sie mit den Schultern zuckte. »Und jetzt frag mich bitte nicht, warum das so ist. Das sind nun einmal die Regeln. Wir haben sie nicht gemacht. Wir befolgen sie nur.«

»Einfach so, ohne zu fragen?«

»Es hätte verheerende Folgen, wenn man dagegen verstoßen würde«, sagte Theresa ernst.

»Und wer hat sie aufgestellt?«, fragte Leonie.

Theresa hob wieder die Schultern und begann nachdenklich mit ihrem Mineralwasser zu spielen. »Derselbe, der das Archiv eingerichtet hat, nehme ich an. Vielleicht auch niemand. Vielleicht war es ja schon immer so.«

»Unsinn!«, widersprach Leonie. »Nichts war immer so. Jemand muss sie aufgestellt haben!«

»Da bin ich nicht so sicher«, erwiderte Theresa. »Siehst du, ich glaube, dass das Archiv... nicht wirklich das ist, was wir darin sehen.« Sie lachte leise. »Die Vorstellung wäre ja auch ein bisschen komisch, nicht wahr - ein riesiger Saal, in dem Tausende hässlicher Gnome jahrein, jahraus damit beschäftigt sind, minutiös Buch über das Leben jedes einzelnen Menschen zu führen.«

Leonie riss verblüfft die Augen auf. Woher wusste sie das? Theresa konnte unmöglich von dem verrückten Albtraum wissen, den sie vor ein paar Tagen gehabt hatte. Und der ihr im Übrigen auch erst wieder eingefallen war, als Theresa davon gesprochen hatte!

Ihr Erstaunen blieb Theresa nicht verborgen. Sie nippte an ihrem Orangensaft und lächelte. »Du warst also auch schon dort.«

»Ja«, antwortete Leonie. »Ich meine... nein. Es... es war doch nur ein Traum.«

»Und wie könnte ich dann davon wissen?«, fragte Theresa und schüttelte erneut den Kopf. »Jeder von uns ist es am Anfang so ergangen, Leonie. Keine hat geglaubt, dass sie es wirklich erlebt hat. Und wie gesagt: Ich persönlich glaube auch nicht, dass das Archiv wirklich das ist, was wir darin sehen. Es ist ein Ort, an dem das Schicksal aufgezeichnet wird - frag mich nicht, von wem oder wie oder warum. Die Hüterinnen vor uns haben vielleicht Göttergestalten gesehen, die mit Blitzen glühende Buchstaben in Felsen gebrannt haben, und die, die nach uns kommen werden, stehen vielleicht in einem Saal voller Computerterminals.«

»Du meinst, jeder sieht das, was er zu sehen erwartet?«, vermutete Leonie. »Weil wir das, was wirklich da ist, gar nicht erkennen können?«

»Das nehme ich an«, antwortete Theresa.

»Und ich sehe einen Saal voller hässlicher, vorlauter Zwerge«, murmelte Leonie. »Sollte uns das etwas über meinen Gemütszustand verraten?«

Theresa lachte herzhaft, aber sie wurde auch gleich wieder ernst und schüttelte den Kopf. Sie trank wieder von ihrem Orangensaft, sprach aber nicht sofort weiter, sondern drehte sich halb in ihrem Stuhl um und ließ ihren Blick über die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite schweifen. Sie waren ausnahmslos groß und teuer, wie in diesem Viertel nicht anders zu erwarten war, aber mehr als eines machte auch einen verwahrlosten Eindruck. Die Vorgärten waren verwildert, die eine oder andere Fensterscheibe eingeschlagen oder auch einfach nur zerbrochen.

»Und?«, fragte Leonie. »Das war doch noch nicht alles?«

»Ich fürchte schon«, erwiderte Theresa, allerdings erst, nachdem sie ihren Blick fast gewaltsam von den Häusern auf der anderen Straßenseite losgerissen hatte. Sie wirkte irritiert, als hätte sie etwas gesehen, was sie zutiefst verwirrte. Leonie fiel auf, dass sie Theresa nie gefragt hatte, woher sie eigentlich kam. Ganz offensichtlich kannte sie sich in dieser Stadt nicht aus.

»Es spielt keine Rolle, was das Archiv wirklich ist und ob es jemand erschaffen hat, und wenn ja warum. Es ist da, das ist alles, was zählt.«

»Und ihr...«, Leonie verbesserte sich, obwohl es ihr plötzlich schwer fiel, überhaupt weiterzusprechen, »... wir können es betreten.«

»Ja«, antwortete Theresa. »Und nicht nur das.«

Das beklemmende Gefühl, das sich in ihr breit gemacht hatte, verstärkte sich. Tief in sich drin wusste sie längst, was Theresa ihr sagen wollte, aber der Gedanke war einfach zu bizarr, als dass sie sich auch nur gestattete, ihn zu Ende zu denken.

»Diejenigen von uns, die die Gabe besitzen«, fuhr Theresa fort, »haben nicht nur die Macht, das Archiv zu betreten. Sie können es verändern.«

»Verändern? Du meinst...«

»Wir können die Wirklichkeit verändern«, sagte Theresa leise. »Nicht die Zukunft und auch nicht die Gegenwart, aber das, was geschehen ist. Deine Großmutter hatte diese Gabe, du hast diese Gabe und auch ich habe sie. Und einige der anderen. Wir sind nur wenige, und keine von uns weiß, warum uns diese furchtbare Macht verliehen wurde. Aber wir haben sie.«

»Weißt du, was du da sagst?«, flüsterte Leonie.

»Ich hoffe, du weißt es«, antwortete Theresa.

»Aber das... das ist... unvorstellbar!«, krächzte Leonie. Ihre Stimme drohte zu versagen. »Jemand der... der über eine solche Macht verfügt, könnte... könnte...« Sie brach ab. Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, was sie empfand.

»Könnte buchstäblich die Welt aus den Angeln heben«, führte Theresa ihren Satz zu Ende und nickte. »Oder sie zerstören. Was ich gesagt habe, ist nicht ganz richtig. Wer die Macht hat, die Vergangenheit zu verändern, der hat durchaus auch die Macht, die Zukunft zu beeinflussen. Er kann buchstäblich alles tun. Und dabei so unvorstellbar viel Schaden anrichten.« Sie machte eine Bewegung auf die Häuser auf der anderen Straßenseite. »Hier hat es vor ein paar Jahren gebrannt, nicht wahr?«

Leonie schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Auf unserem Nachbargrundstück.«

»Jetzt denk nur, wenn jemand die Möglichkeit hätte, das Feuer zu verhindern«, sagte Theresa. »Es sind Menschen dabei ums Leben gekommen. Wäre es nicht eine gewaltigen Versuchung, zu wissen, all diese Menschen retten zu können?«

»Und was spricht dagegen?«, fragte Leonie. Sie schnitt Theresa mit einer Geste das Wort ab, als diese antworten wollte. »Du hast Recht, es sind Menschen ums Leben gekommen. Eine ganze Familie. Und sie haben nichts weiter verbrochen, als im falschen Moment in diesem Haus zu sein. Wenn ihr diese Macht habt, warum setzt ihr sie nicht ein?«

Sie hatte so laut gesprochen, dass etliche der anderen Gäste ihre Unterhaltung unterbrachen und fragend in ihre Richtung blickten. Theresa machte eine rasche besänftigende Geste und bedeutete Leonie zugleich, leiser zu reden. »Weil wir es nicht dürfen«, sagte sie dann. »Niemand hat das Recht, die Vergangenheit zu verändern. Du könntest eine noch viel entsetzlichere Katastrophe auslösen. Nur weil du Gutes tun willst. Vielleicht kannst du das Feuer verhindern und diese Menschen retten, und einer von ihnen wächst zu einem wahnsinnigen Diktator heran, der die ganze Welt zerstört. Aber keine Sorge: Keiner von uns würde es auch nur versuchen.«

»Bist du sicher?«, fragte Leonie.

»Ganz sicher«, antwortete Theresa. »Du selbst besitzt diese Macht, Leonie. Du hast die Gabe von deiner Großmutter geerbt. Geh in das Archiv. Du kennst die Namen deiner Nachbarn, die damals ums Leben gekommen sind. Geh in das Archiv, suche das Buch, in dem ihre Leben aufgeschrieben sind, und ändere es.« Sie machte eine auffordernde Geste. »Worauf wartest du? Ich werde nicht versuchen dich aufzuhalten.«

Leonie rührte sich nicht. Sie starrte Theresa nur betroffen an.

»Du würdest es nicht tun«, sagte Theresa.

»Nein«, gab Leonie zu. Sie wusste selbst nicht warum, aber sie spürte, dass Theresa Recht hatte. Selbst wenn sie über die unvorstellbare Macht verfügte, von der Theresa behauptete, sie habe sie von ihrer Großmutter geerbt: Sie würde sie nicht einsetzen.

»Keine von uns würde so etwas tun«, fuhr Theresa fort. »Dieselbe Macht, die uns diese Möglichkeit gegeben hat, hat wohl auch dafür gesorgt, dass wir uns der Verantwortung bewusst sind, die damit einhergeht. Wir würden diese Macht niemals missbrauchen. Wir könnten es gar nicht. Und es ist auch noch nie geschehen.«

Es dauerte nur einen Moment, bis Leonie der fundamentale Fehler in diesem Gedanken auffiel. »Woher willst du das wissen? Wenn jemand wirklich die Vergangenheit verändert hätte, würdest du es gar nicht merken. Du würdest dich nicht an diese andere Vergangenheit erinnern, weil sie niemals passiert wäre.«

»Es ist noch nie geschehen«, beharrte Theresa stur. Leonie fand, dass sie es sich damit ein bisschen leicht machte, doch Theresa fuhr schon im gleichen Sekundenbruchteil fort: »Aber jetzt könnte es passieren.«

»Wieso?«, fragte Leonie erschrocken.

»Weil deine Mutter die Gabe nicht hat«, antwortete Theresa. »Aber dadurch, dass deine Mutter nun die legitime Erbin deiner Großmutter ist, steht auch ihr die Tür zum Archiv offen. Und mit ihr jedem, dem sie den Zutritt gestattet.«

Vor allem den letzten Satz, fand Leonie, betonte sie auf eine Weise, die ihr gar nicht gefiel. »Du willst doch nicht behaupten, dass meine Mutter...«

»Natürlich nicht«, fiel ihr Theresa hastig ins Wort. »Aber allein ihre Anwesenheit dort könnte schon schlimme Folgen...« Sie brach ab. Ihre Augen verengten sich, als sie Leonie mit wachsendem Schrecken ansah. »Sie war auch schon dort«, murmelte sie schließlich.

Leonie schwieg.

»Und nicht nur sie.« Es war schon fast unheimlich, doch Theresa schien in ihrem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. »Großer Gott!«

»Es ist nichts passiert«, sagte Leonie rasch. »Sie... sie haben nichts angerührt. Sie hatten gar keine Gelegenheit dazu.«

»Du warst also auch da.« Theresa sah ganz so aus, als hätte sie am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen.

»Aber ich habe auch nichts angerührt«, versicherte Leonie. »Ehrenwort. Es ist nichts passiert.«

»Um dich einmal selbst zu zitieren«, erwiderte Theresa. »Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben«, beharrte Leonie. »Glaub mir!«

»Mir bleibt ja wohl auch keine andere Wahl«, seufzte Theresa. Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Verstehst du jetzt, warum es so wichtig ist? Du musst deine Eltern dazu überreden, dir das Erbe, die Buchhandlung und alles andere, zu überschreiben. Nur eine Hüterin, die über die Gabe verfügt, darf das Archiv betreten. Die Gefahr wäre viel zu groß.«

Leonie schwieg eine ganze Weile. Das Entsetzen und die Angst in Theresas Stimme waren zweifellos echt, aber sie hatte auch nicht vergessen, was ihr Vater vorhin gesagt hatte. Was wenn er Recht hatte und das alles nur ein geschickter Versuch Theresas und ihrer Komplizen war, die Kontrolle über das Familienerbe zu erlangen? So sympathisch Theresa ihr auch war: Ihre Geschichte klang schon sehr fantastisch. Und letzten Endes kannte sie die junge Frau ja praktisch gar nicht. Die wüste Geschichte über die Familie, die auf dem Nachbargrundstück ums Leben gekommen war, hatte sie zwar erschreckt, aber sie war eben doch nicht mehr als das: Eine wüste Geschichte, die möglicherweise auf Wahrheit beruhte. Trotzdem ertappte sie sich dabei, einen raschen nervösen Blick in die Richtung zu werfen, in der das niedergebrannte Haus lag. »Ich muss darüber nachdenken«, sagte sie zögernd.

»Das verstehe ich«, antwortete Theresa - obwohl sie alles andere als glücklich aussah. »Aber lass dir nicht zu viel Zeit damit.«

»Und wenn sie nicht einverstanden sind?«, fragte Leonie. »Was soll ich tun? Meine eigenen Eltern enterben lassen?«

»So weit wird es hoffentlich nicht kommen«, meinte Theresa.

»Und wenn doch?«

»Wir werden nicht zulassen, dass es so weit kommt«, erklärte Theresa.

Die Stimmung begann zu kippen, und obwohl Leonie dies spürte, fragte sie mit hörbar kühlerer Stimme: »Soll das eine Drohung sein?«

»Nein«, sagte Theresa. »So war das nicht gemeint. Ich wollte nur...« Sie hob die Schultern. »Ich wollte nur, dass du begreifst, wie ernst die Situation ist. Denk einfach über das nach, was ich dir erzählt habe. Vielleicht treffen wir uns hier morgen um dieselbe Zeit wieder?« Sie wollte aufstehen, aber Leonie hielt sie mit einer Handbewegung zurück.

»Wenn das alles wahr ist«, fragte sie, »warum hat Großmutter mir dann nie davon erzählt?«

Theresas Reaktion machte ihr klar, dass sie genau diese Frage befürchtet und bis zum letzten Moment gehofft hatte, sie nicht zu hören. »Das weiß ich nicht«, sagte sie zögernd. »Gleich nach deiner Geburt hat sie jeden Kontakt mit uns abgebrochen. Wir wissen nicht warum. Glaub mir, es ist die Frage, die wir alle uns seit fünfzehn Jahren immer wieder stellen.«

»Wie viele seid ihr denn?«, wollte Leonie wissen.

»Nicht sehr viele.« Theresa winkte die Kellnerin herbei und bedeutete ihr, die Rechnung zu bringen. »Vielleicht nicht genug für die Aufgabe, die vor uns liegt.« Sie begann in ihrer Handtasche zu kramen und förderte schließlich eine abgewetzte Geldbörse zutage. Als sie sie öffnen wollte, schüttelte Leonie den Kopf. Sie hatte den nervösen Blick nicht vergessen, mit dem Theresa die Preise auf der Speisekarte gemustert hatte.

»Ich mache das schon«, sagte sie.

Theresa ließ sich nicht zweimal bitten. Sie sah zwar ein bisschen verlegen aus, aber sie ließ ihre Geldbörse trotzdem rasch wieder in der Handtasche verschwinden und stand auf. »Denk bitte darüber nach«, sagte sie noch einmal. »Und... es wäre besser, wenn deine Eltern nichts von diesem Gespräch erfahren würden. Jedenfalls noch nicht.«

Wieso überraschte sie das nicht?, dachte Leonie. Sie erwiderte jedoch nichts, sondern nickte zum Abschied und sah zu, wie Theresa zu ihrem rostzerfressenen alten VW ging und einstieg.

Sie hatte ihr nicht angeboten, sie nach Hause zu bringen, aber das nahm Leonie ihr auch nicht weiter übel. Die Hinfahrt in dieser Rostschleuder hatte ihr schon gereicht. Und sie war im Grunde ganz froh, die knapp anderthalb Kilometer nach Hause zu Fuß zurücklegen zu müssen. So hatte sie wenigstens Zeit, sich ein paar Fragen zurechtzulegen, die sie ihrem Vater stellen würde.

Sie hatte das Gefühl, dass es eine Menge Fragen sein würden.

Und nicht alle würden ihrem Vater gefallen.

Vielleicht gar keine davon.

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