Ein folgenschwerer Streit

Der Rest des Tages verlief ziemlich ereignislos, worüber sich Leonie aber nun wirklich nicht beschweren wollte - ihr Bedarf an Abenteuern war nicht nur für diesen Tag, sondern für den Rest des Jahres gedeckt. Sie hatten sich relativ schnell von Wohlgemut verabschiedet, wobei sie sich wohlweislich gehütet hatte, Großmutter auf die Szene vor dem geheimen Alkoven anzusprechen.

Während sie mit dem Bus nach Hause fuhren, wagte sie aber dennoch einen behutsamen Vorstoß. »Wie alt ist Professor Wohlgemut eigentlich?«, fragte sie.

»Weit über neunzig«, antwortete Großmutter. »Sein genaues Alter verrät er nicht, aber es würde mich nicht wundern, wenn er auch noch seinen hundertsten Geburtstag als Leiter der Zentralbibliothek feiert.« Sie lachte leise. »Einige seiner Mitarbeiter behaupten, dass sie ihn wohl umbringen werden müssen, damit der Posten irgendwann neu besetzt werden kann.«

Leonie lachte ebenfalls, auch wenn sie den Scherz im Grunde nicht besonders komisch fand. Einigen anderen Fahrgästen schien es genauso zu ergehen wie ihr; ein junger Mann, der direkt hinter Großmutter saß, verzog zwar amüsiert die Lippen, aber zwei oder drei andere blickten eher böse.

»Und er ist auch noch völlig gesund, trotz seines hohen Alters?«

»Gesund wie ein Ochse«, bestätigte Großmutter. »Wenn alle Menschen so eine Konstitution hätten wie er, dann würden die Ärzte wohl reihenweise verhungern.«

Leonie ließ eine gewisse Zeit verstreichen, in der sie schweigend aus dem Fenster blickte. Der Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt und der Bus quälte sich durch einen ständig dichter werdenden Strom aus bunt lackiertem Blech, Glas und Kunststoff. Es war der alltäglichste Anblick, den man sich nur vorstellen konnte. Und doch: Etwas war anders. Leonie konnte den Unterschied nicht in Worte fassen, denn er war nicht greifbar, aber irgendetwas zwischen den Dingen schien sich verändert zu haben: als wäre ihr etwas von dem Unheimlichen, das ihr in der Bibliothek widerfahren war, in die richtige Welt nach draußen gefolgt.

Wieder so ein sonderbarer Gedanke, der so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie schüttelte ihn ärgerlich ab, drehte sich wieder zu Großmutter um und meinte: »Sag mal - es gibt doch da so eine komische Krankheit, bei der die Leute plötzlich anfangen, vollkommen grundlos andere zu beschimpfen.«

»Ja.« Großmutter nickte. »Sie ist sehr selten, aber es gibt sie tatsächlich. Ich habe einmal ein Buch darüber gelesen. Die armen Leute fangen plötzlich an, Beschimpfungen und die übelsten Beleidigungen auszustoßen, ohne dass sie selbst etwas dagegen tun können. Eine furchtbare Krankheit, wenn du mich fragst. Wer nicht weiß, dass die Leute krank sind, reagiert natürlich entsprechend wütend.« Sie blinzelte zu Leonie hoch. »Warum fragst du danach?«

»Nur so«, antwortete Leonie hastig. »Ich habe von dieser Krankheit gehört, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es so etwas wirklich gibt.«

Großmutter schwieg zwar, aber sie sah ganz und gar nicht so aus, als würde sie diese Erklärung glauben, und Leonie zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen. Der Rest des Tages verlief dann wirklich ereignislos - sieht man von einer unangenehmen Überraschung ab, mit der Leonie aber schon halbwegs gerechnet hatte: Kaum zu Hause angekommen, zog sie sich um, legte ihren gewohnten Schmuck an und trug schwarzen Nagellack und gleichfarbigen Lippenstift auf, aber als sie das Piercing wieder anbringen wollte, ging es nicht. Das einzige Ergebnis ihrer Bemühungen waren heftige Schmerzen und die Erkenntnis, dass sie das restliche Taschengeld dieser Woche für einen Besuch im Piercing-Studio einplanen konnte. Das war dann aber auch schon alles. Zumindest bis zum Abend.

Das Abendessen verlief gewohnt harmonisch, doch zu Leonies Erstaunen - und Erleichterung - verloren weder ihre Eltern noch Großmutter ein einziges Wort über den Besuch in der Zentralbibliothek. Sie ging früh schlafen.

Und fand sich nahezu übergangslos in einem bizarren Albtraum wieder.

Leonie wusste die ganze Zeit über, dass es sich nur um einen Albtraum handelte, aber dieses Wissen, und das war das Unheimliche, änderte nichts an der furchtbaren Angst, die sie ebenfalls die ganze Zeit über hatte.

Es fing damit an, dass sie sich urplötzlich im Wohnzimmer wiederfand, wo ihre Eltern und Großmutter heftig miteinander stritten. Sie schrien sich lautstark an. Leonie konnte nicht verstehen, worum es ging, denn sie redeten in einer Sprache, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Aber dass es sich um einen Streit handelte, stand außer Frage, denn alle drei bewarfen sich ununterbrochen mit Büchern. Dann war sie plötzlich wieder in der Geheimkammer oben auf der Galerie, und auch die Maus war wieder da, nur dass Leonie jetzt gerade fünf Zentimeter groß war und die Maus sie überragte wie ein zum Leben erwachter Berg. Leonie wollte weglaufen, aber die Maus streckte blitzschnell eine Pfote aus, hielt sie fest und hob sie in die Höhe, um sie mit einer Nase zu beschnüffeln, die größer war als ihr ganzes Gesicht.

»Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt die Beine in die Hand nehmen und rennen, was das Zeug hält«, sagte die Maus, dann grinste sie und schüttelte den Kopf. »Obwohl das ja eigentlich Unsinn ist, wenn ich’s mir richtig überlege. Ich meine: Wenn man die eigenen Beine in der Hand hält, dann kann man ja eigentlich nicht mehr rennen, oder?«

Wie aus dem Nichts erschien Leonies Großmutter hinter der Maus. »Lass gefälligst meine Enkelin in Ruhe«, sagte sie und warf mit einem Buch nach der Maus. Noch im Flug verwandelte es sich in eine Mausefalle, aber bevor die Falle zuschnappen konnte, wechselte der Schauplatz erneut und Leonie fand sich, auf Händen und Knien hockend, in einem scheinbar endlosen gewölbten Gang wieder, dessen Wände und Decken aus dicht an dicht gestapelten Büchern bestanden. Großmutter und ihre Eltern waren nicht da, aber sie konnte sie wieder hören. Sie stritten immer noch in dieser sonderbaren unverständlichen Sprache und ihre Auseinandersetzung schien sogar noch heftiger geworden zu sein. So weit entfernt, dass sie praktisch nur Schemen erkannte, schienen Bücher durch die Luft zu fliegen, und ab und zu hörte sie einen klatschenden Laut.

Dann wachte sie auf. Gott sei Dank.

Leonie blieb minutenlang mit geschlossenen Augen liegen und lauschte in sich hinein. Kein Zweifel: Sie hatte einen Albtraum gehabt. Sie war in Schweiß gebadet und ihr Herz jagte wie nach einem Hundert-Meter-Sprint. Der Traum kam ihr mit jeder Sekunde, die sie darüber nachdachte, absurder vor, aber sie spürte noch immer den bitteren Nachgeschmack der abgrundtiefen Angst, mit der er sie erfüllt hatte. Und vielleicht noch unheimlicher war das Gefühl, dass dieser Traum eine bestimmte Bedeutung gehabt hatte. Als wollte er ihr etwas sagen. Aber was? Dass sie von dieser sonderbaren Maus mit ihrem noch viel sonderbareren Verhalten geträumt hatte, das konnte sie ja noch halbwegs verstehen - aber was sollte der Streit zwischen ihren Eltern und Großmutter? Solange sich Leonie erinnern konnte, hatten sie sich nie gestritten. Allein der Gedanke war schon lächerlich! Trotzdem bewies der Traum eine erstaunliche Hartnäckigkeit. Sie glaubte selbst jetzt noch, die aufgeregten Stimmen der drei Erwachsenen zu hören, die lauthals miteinander stritten.

Leonie setzte sich auf und tastete blind nach der Nachttischlampe neben ihrem Bett. Sie unterdrückte ein Seufzen, als das Licht anging und sie den Wecker ablas. Es war nach eins. Und das Geräusch streitender Stimmen, das aus dem Erdgeschoss heraufdrang, war immer noch da.

Leonie starrte die geschlossene Zimmertür einen Moment lang vollkommen fassungslos an und schwang ihre Beine aus dem Bett. Auf nackten Füßen ging sie zur Tür, lauschte noch einmal einen Moment und drückte dann die Klinke herunter. Im Flur brannte kein Licht, aber von unten drang ein matter gelber Schein herauf und die Stimmen waren nun deutlicher zu hören. So schwer es Leonie auch immer noch fiel, es zu glauben: Großmutter und ihre Eltern stritten tatsächlich!

Sie redeten nicht in einer unverständlichen Traumsprache, doch es gelang Leonie dennoch nicht, zu verstehen, worum es ging. Sie verstand nur Wortfetzen. Aber die Tonlage ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen: Was noch nie vorgekommen war, geschah jetzt, nur eine Etage unter ihr.

Leonie blieb sekundenlang reglos an der Tür stehen und fragte sich verzweifelt, was sie tun sollte. Sie hätte ins Zimmer zurückgehen und sich wieder ins Bett legen können - sie hatte das Gefühl, dass sie es sogar musste. Was dort unten geschah, ging sie nichts an, und sie hatte schon gar kein Recht, hier zu stehen und zu lauschen - aber die bloße Erkenntnis, dass Großmutter und ihre Eltern nicht nur miteinander stritten, sondern sich regelrecht anschrien, schockierte sie zutiefst. Ihre Großmutter war der sanfteste Mensch, den sie kannte, und auch ihre Eltern legten normalerweise großen Wert auf einen gepflegten Umgangston.

Und dann hörte sie ganz deutlich ihren Namen.

Leonie riss ungläubig die Augen auf. Ihr Name fiel erneut - sie konnte nicht sagen, in welchem Zusammenhang, aber es war ganz eindeutig ihr Name! - und nun gab es kein Halten mehr. Rasch schloss sie die Tür hinter sich, schlich auf nackten Füßen die Treppe hinab und konzentrierte sich so angestrengt auf die Worte, die aus dem Wohnzimmer drangen, wie sie nur konnte.

Auf den letzten Stufen wurde sie immer langsamer, und als sie sich dem Wohnzimmer näherte, blieb sie schließlich ganz stehen. Die Tür stand offen, und in dem großen Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hing, konnte sie ihre Eltern und Großmutter beobachten, ohne selbst sofort gesehen zu werden. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.

»Niemals!«, sagte ihre Mutter gerade. Sie schlug zwar nicht mit der Faust auf den Tisch, so wenig wie Großmutter und sie sich gegenseitig mit Büchern bewarfen, aber Leonie wäre nicht einmal mehr erstaunt gewesen, hätte sie es getan. »Das lasse ich nicht zu!«

»Aber Anna!«, antwortete Großmutter beschwörend. »So glaub mir doch! Ich liebe Leonie ebenso sehr wie du. Ich würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustößt. Aber ich weiß auch, was ich gesehen habe. Du musst mir glauben, Anna! Sie hat die Gabe!«

Gabe?, dachte Leonie. Was für eine Gabe?

»Humbug!«, widersprach Mutter. »Nein!« Sie schrie es und schlug nun wirklich - wenn auch nur mit der flachen Hand, nicht mit der Faust - auf den Tisch. »Ich will von diesem Unsinn nichts mehr hören!«

»Unsinn?« Großmutter sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Aber Kind, was redest du nur? Du weißt doch ganz genau, was...«

»Nein!«, unterbrach sie Leonies Mutter, nun nicht mehr schreiend, aber noch immer in scharfem Ton. »Nichts weiß ich. Ich weiß nur, dass ich mein ganzes Leben lang diesen Unsinn gehört habe - und dass ich es bedaure wie nichts anderes. Die Gabe!« Sie beugte sich erregt vor und in ihren Augen erschien ein Ausdruck, der selbst Leonie schaudern ließ, obwohl sie ihren Blick nur über den Spiegel hinweg auffing. »Es ist genug! Ich habe mein ganzes Leben in den Dienst dieser so genannten Gabe gestellt. Ich habe auf alles verzichtet. Ich hatte keine Jugend, keine Kindheit, kein Leben! Ich habe fast fünfzig Jahre lang in diesen Mauern verbracht, eingesperrt mit nichts anderem als deinen Büchern!«

»Aber... aber ich dachte, du liebst Bücher«, murmelte Großmutter. Sie wirkte erschüttert.

»Natürlich tue ich das«, antwortete Mutter. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Bitte versteh mich nicht falsch. Ich weiß, du wolltest immer nur das Beste für mich, und natürlich auch, dass du Leonie niemals bewusst in irgendeine Gefahr bringen würdest. Du glaubst an das, was du sagst und tust, und handelst nur in bester Absicht. Aber ich weiß auch, welchen Preis ich bezahlt habe, und ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter ihn ebenfalls zahlen muss.«

»Welchen... welchen Preis denn?«, flüsterte Großmutter erschüttert.

»Mein Leben«, antwortete Leonies Mutter. »Ich kenne nichts anderes als dieses Haus. Früher, wenn die anderen Kinder gespielt haben, da war ich hier, um dir mit deinen Büchern zu helfen. Als die anderen jungen Mädchen mit ihren Freunden ausgegangen sind, da habe ich die Bibliothek im Keller sortiert. Als die jungen Frauen mit ihren Familien in Urlaub gefahren sind, da habe ich dir geholfen, irgendwelche dubiosen Handschriften zu finden. Alles, was ich je in meinem Leben wirklich gehabt habe, alles, was meinem Leben einen Sinn gibt, ist Leonie. Ich werde nicht zulassen, dass sie dasselbe durchmachen muss wie ich. Sie wird nicht die kostbarsten Jahre ihres Lebens opfern, um auf einen Moment zu warten, der niemals kommt. Es gibt diese Gabe nicht, Mutter. Ich habe fünfzig Jahre lang darauf gewartet, dass sie sich in mir regt, aber sie existiert nicht.«

»Manchmal überspringt sie eine Generation«, murmelte Großmutter.

»Es gibt sie nicht«, sagte ihre Tochter, sehr leise und sehr bitter. »Sieh es endlich ein. Du und ich, wir haben unser beider Leben einer Sache geopfert, die niemals wirklich existiert hat. Ich werfe es dir nicht vor, aber ich werde nicht zulassen, dass Leonie den gleichen Fehler begeht wie ich.«

»Aber ich habe es gesehen«, flehte Großmutter.

»Du hast gesehen, was du sehen wolltest«, antwortete Leonies Mutter leise. »Ich werde nicht zulassen, dass Leonies Leben so verläuft wie meines. Wenn es sein muss, nehme ich meine Tochter und gehe fort.«

Für ein paar Sekunden kehrte vollkommenes Schweigen ein, dann senkte Großmutter den Blick und flüsterte: »Das wird nicht nötig sein.« Ganz langsam stand sie auf, trat vom Tisch zurück, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Leonie sah im Spiegel, wie ihre Mutter den Arm ausstreckte, wie um Großmutter zurückzuhalten, aber dann ließ sie die Hand wieder sinken und drehte sich mit einem Ruck weg, und Großmutter setzte ihren Weg ungehindert fort und verließ das Wohnzimmer.

Leonie wich im letzten Moment zwei Schritte hoch auf die Treppe zurück, sodass sie sich in vollkommener Dunkelheit befand. Ihre Großmutter streifte sie fast im Vorbeigehen, ohne sie auch nur zu bemerken.

Leonies erster Impuls war, ihr nachzueilen, um sie zu fragen, was das alles zu bedeuten hätte, aber stattdessen stand sie einfach weiter wie gelähmt da, bis Großmutter das Ende des Flures erreichte und in dem Zimmer verschwunden war, das sie bewohnte, seit Leonies Eltern das Haus übernommen hatten. Erst als die Tür mit einem hörbaren Klicken ins Schloss fiel, erwachte Leonie wieder aus ihrer Erstarrung und plötzlich überschlugen sich ihre Gedanken. Was ging hier vor? Was bedeutete diese unglaubliche Szene, deren Zeugin sie gerade geworden war? Und was hatte Großmutter gemeint, als sie von dieser ominösen Gabe gesprochen hatte?

Sie machte wieder einen Schritt die Treppe hinab, um zu ihren Eltern zu gehen, doch plötzlich fehlte ihr auch dazu der Mut. Für Leonie war innerhalb weniger Minuten eine Welt zusammengebrochen. Noch bevor sie ihr Zimmer verlassen hatte, war sie der festen Überzeugung gewesen, in einer der glücklichsten Familien zu leben, die es gab, und jetzt...

Ihre Augen füllten sich mit brennender Hitze. Sie hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben, ohne es zu bemerken, und ihre Arme und Knie begannen heftig zu zittern. Hinter ihrer Stirn tobte ein wahrer Sturm von Gefühlen. Vielleicht geschieht das ja alles nicht wirklich, dachte sie hysterisch. Vielleicht schlief sie ja immer noch und erlebte nur eine besonders perfide Fortsetzung des Albtraumes von gerade eben. Es war doch einfach nicht möglich, dass eine so harmonische Familie innerhalb eines einzigen Augenblickes zu nichts anderem als einer gewaltigen Lüge zerbrach!

Und durch den Schleier aus Tränen vor ihren Augen hielt sie den Blick weiter fest auf den Spiegel gerichtet. Sie konnte sehen, dass ihr Vater aufgestanden und um den Tisch herumgeeilt war, um seine Frau tröstend in die Arme zu schließen. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden sprachen, aber der harte Ausdruck in den Augen ihrer Mutter blieb, auch wenn jetzt Tränen ihr Gesicht benetzten. Und endlich hielt es Leonie nicht mehr aus. Sie machte auf der Stelle kehrt und ging in ihr Zimmer zurück. Sie warf sich lang ausgestreckt auf das Bett, vergrub ihr Gesicht ins Kissen und weinte sich in den Schlaf.

Auch diesmal fand sie sich sofort in einem düsteren Albtraum wieder, der aber vollkommen anders war als der erste und aus dem sie genau wie beim ersten Mal schon nach kurzer Zeit schweißgebadet und mit klopfendem Herzen wieder erwachte. Für einen ganz kurzen Moment klammerte sie sich an die vollkommen absurde Hoffnung, dass auch der furchtbare Streit zwischen Großmutter und ihren Eltern nur eine weitere Facette ihres Albtraumes gewesen war, und die Welt wieder in Ordnung sein würde, wenn sie am nächsten Morgen aufstand und zum Frühstück nach unten ging. Aber schon bevor sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass dem nicht so war. In gewissem Sinne war die heftige Szene sogar der schlimmste aller Albträume; aber er gehörte zu jener Sorte, aus der es kein Erwachen gab.

Außerdem spürte sie, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war.

Leonie hatte das Nachtlicht brennen lassen, als sie sich aufs Bett geworfen hatte, doch nun war es vollkommen dunkel. Es war auch vollkommen still, aber Leonie spürte dennoch die Anwesenheit einer weiteren Person, die dicht neben ihrem Bett stand und schweigend auf sie herabsah. Da ihre Familie das Haus allein bewohnte, war die Auswahl derer, die da so heimlich in ihr Zimmer schleichen konnten, um sie im Schlaf zu beobachten, nicht sehr groß: Es kamen nur ihre Eltern und natürlich Großmutter in Frage. Trotzdem blieb Leonie vollkommen reglos und mit nahezu angehaltenem Atem liegen, statt sich einfach umzudrehen und die Augen aufzuschlagen. Plötzlich hatte sie Angst; eine Angst, die binnen Sekunden so stark wurde, dass sie all ihre Kraft aufbieten musste, um weiter reglos dazuliegen und nicht vor Furcht zu wimmern. Es gab keinen Grund, ängstlich zu sein, nicht einmal einen unlogischen, geschweige denn einen wirklichen. Dennoch war sie da, wurde mit jedem schweren Herzschlag, der wie ein Paukenhieb in Leonies Ohren dröhnte, schlimmer.

Irgendetwas raschelte, dann konnte sie spüren, wie der nächtliche Besucher näher kam und sich lautlos vorbeugte. Und einen Sekundenbruchteil, bevor eine knochige, schmale Hand ihr Haar berührte und es mit einem sachten elektrischen Knistern streichelte und sie ihr Kölnischwasser roch, wusste Leonie, dass es Großmutter war. Sie hätte erleichtert sein sollen. Spätestens in diesem Moment hätte sie aufhören können, mit zusammengekniffenen Augen dazuliegen und die Schlafende zu spielen, aber Leonie war immer noch wie gelähmt. Gerade hatte sie sich nicht rühren wollen; jetzt konnte sie es nicht.

Ihre Großmutter stand lange so da und strich ihr übers Haar und schließlich beugte sie sich vor und hauchte Leonie einen Kuss auf die Schläfe. Ihre Lippen berührten sie nicht einmal wirklich, doch sie kamen ihr so nahe, dass sie ihre Wärme spüren konnte.

»Du armes Kind«, flüsterte Großmutter. »Wenn ich doch nur etwas tun könnte. Aber das liegt nicht mehr in meiner Macht. Ich kann nur hoffen, dass du mir eines Tages verzeihst, was ich dir angetan habe.«

Und damit richtete sie sich wieder auf, drehte sich um und verließ mit nahezu lautlosen Schritten das Zimmer.

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