Schöne neue Welt

Frank lümmelte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand neben der Tür und rauchte eine Zigarette, als sie die Bibliothek verließen. Theresa war auf den letzten Schritten wieder deutlich langsamer geworden, und als sie die Tür öffnete und ins Freie trat, schlenderte sie nicht nur fast gemächlich dahin, sondern hatte sich auch darüber hinaus wieder vollkommen in der Gewalt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, fand Leonie, wirkte schon fast gelangweilt. Wie es schien, musste sie ihre etwas voreilig gefasste Meinung über Theresa wohl überdenken. Die junge Frau war anscheinend eine weitaus bessere Schauspielerin, als sie bisher angenommen hatte.

Trotzdem schrak Frank heftig zusammen, als er das Geräusch der Tür hörte, nahm hastig die Zigarette aus dem Mund und schien eine geschlagene Sekunde lang nicht zu wissen, was er damit anfangen sollte. Dann tat er etwas, von dem Leonie beim besten Willen nicht sagen konnte, ob sie es nun nur sonderbar oder eher ziemlich erschreckend finden sollte: Statt den brennenden Glimmstängel einfach wegzuwerfen, schloss er die Hand darum und drückte die Zigarette auf diese ziemlich drastische Weise aus. Und wenn sie jemals den Ausdruck schlechten Gewissens auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt.

Leonie wollte eine entsprechende Frage stellen, aber sie fing im letzten Moment einen warnenden Blick von Theresa auf und folgte ganz automatisch ihrem Beispiel, indem sie mit schnellen Schritten an Frank vorbeiging und so tat, als hätte sie gar nichts bemerkt. Noch etwas Sonderbares geschah: Obwohl Frank noch vor kaum einer Viertelstunde schon fast gewaltsam darauf bestanden hatte, nicht von ihrer Seite zu weichen, ließ er Theresa und ihr jetzt gute zehn Schritte Vorsprung, bevor er ihnen endlich folgte, und selbst das alles andere als schnell.

»Was war denn das für ein Manöver?«, fragte sie verstört. Theresa warf ihr einen neuerlichen warnenden Blick zu, antwortete aber trotzdem - wenn auch leise - auf ihre Frage: »Wir haben ihn beim Rauchen ertappt.«

»Und?«, fragte Leonie.

Ein leises, amüsiertes Lächeln spielte für einen Moment um Theresas Lippen. »Niemand in diesem Teil der Welt raucht«, antwortete sie betont. »Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.«

»Soll das heißen, es ist verboten?«, fragte Leonie ungläubig.

»Verboten?« Theresa sah sie einen Moment lang fast irritiert an, dann lächelte sie erneut und schüttelte hastig den Kopf. »Wo denkst du hin? Schließlich leben wir nicht in einem Polizeistaat. Aber es gilt als unanständig, in der Öffentlichkeit zu rauchen, und als äußerst unvernünftig, es überhaupt zu tun.«

»Aha«, antwortete Leonie. Sie verstand nichts mehr.

Theresa lächelte noch einmal auf eine sehr merkwürdige - und wie Leonie fand, nicht wirklich amüsierte - Art, warf noch einen raschen Blick über die Schulter zu Frank zurück und beschleunigte ihre Schritte dann noch einmal, sodass Frank schon hätte rennen müssen um sie noch einzuholen, bevor sie das Hauptgebäude erreichten; was er selbstverständlich nicht tat.

»Und jetzt?«, fragte Leonie, als Theresa die Tür zwar öffnete, aber keinerlei Anstalten machte, hindurchzutreten oder gar weiterzugehen.

Theresa signalisierte ihr mit einem raschen Blick, sich zu gedulden, öffnete die Tür noch weiter und machte dann eine übertrieben einladende Geste in Franks Richtung. »Beeilen Sie sich ein bisschen«, rief sie. »Meine Stunde fängt gleich an. Und Sie wollen sich doch bestimmt einen guten Platz sichern, von dem aus Sie Leonie gut im Auge behalten können.«

Frank schenkte ihr einen bösen Blick, schwieg aber und marschierte stolz erhobenen Hauptes an ihnen vorbei. »Die Lehrertoilette ist gleich die Treppe hinauf und dann links«, sagte Theresa amüsiert. »Dort gibt es auch einen Verbandskasten. Nur falls Sie Ihre verbrannte Hand versorgen wollen.«

Leonie starrte sie verwirrt an. Dass Theresa nicht begeistert über Franks Anwesenheit war, hatte sie mittlerweile akzeptiert, aber sie verstand immer weniger, warum sie scheinbar alles in ihrer Macht Stehende tat, um ihn zu provozieren. Frank setzte auch zu einer gebührend scharfen Antwort an, aber Theresa schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab, noch bevor er es überhaupt ergreifen konnte.

»Keine Sorge«, meinte sie. »Ich werde niemandem etwas verraten. Um ehrlich zu sein gönne ich mir selbst ab und zu eine Zigarette, wenn ich sicher bin, dass es niemand sieht.«

Frank überlegte einen Moment lang sichtlich angestrengt. Dann hob er den Arm, blickte mit nachdenklich gerunzelter Stirn auf seine versengte Handfläche und nickte. »Ich kann mich darauf verlassen, dass Sie auf Leonie Acht geben?«

»Wie auf meine eigene Tochter«, antwortete Theresa. Ihre Hand strich dabei in einer raschen, fast unbewussten Geste über die dünne Silbernadel, die an einer Kette an ihrem Hals hing, und für einen kurzen Augenblick erschien ein sehr warmes, seltsames Lächeln in ihren Augen, das Leonie nicht verstand.

»Also gut«, sagte Frank. »Ich beeile mich.«

Er ging. Theresa sah ihm nachdenklich hinterher, bis er am oberen Ende der Treppe verschwunden war. »Irgendwie müssen wir deinen Schutzengel loswerden«, murmelte sie.

»Warum?«

Theresa schnaubte. »Was glaubst du wohl, mit wem dein Freund ständig telefoniert?«, fragte sie.

Leonie hob die Schultern, antwortete aber trotzdem: »Mit meinem Vater, nehme ich an. Oder mit Hendrik.« Sie maß Theresa mit einem langen Blick. »Warum fragst du?«

Statt einer Antwort sah Theresa noch einmal zum oberen Ende der Treppe hin, dann drehte sie sich mit einem plötzlichen Ruck um und ging mit so schnellen Schritten davon, dass Leonie sich sputen musste um zu ihr aufzuschließen. Sie hatte damit gerechnet, dass Theresa einen der Unterrichtsräume ansteuern würde - schließlich hatte sie ja gerade erst zu Frank gesagt, dass ihre Stunde gleich anfing -, aber sie eilte schnurstracks zur Mensa zurück.

Der Lärm, der aus dem Speisesaal drang, hatte deutlich nachgelassen. Leonie hörte jetzt nur noch ein gedämpftes Klappern und Klirren und das halblaute Murmeln einiger weniger Stimmen, sodass sie annahm, dass die meisten Schüler bereits in ihre Klassen gegangen und der Speisesaal nahezu verlassen war, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Auch der letzte freie Tisch am Fenster, an dem Theresa und sie vorhin gesessen hatten, war nun besetzt, und vor der Essensausgabe hatte sich eine lange Schlange gebildet, die nahezu bis zur Tür reichte.

Allerdings hatte Leonie noch nie eine solche Schlange gesehen, zumindest nicht im Speisesaal einer Schule. Die Schülerinnen und Schüler standen in einer geordneten Zweierreihe da, geduldig und sehr ruhig, ohne zu drängeln oder zu schubsen, jeder mit einem Tablett bewaffnet, das er ordentlich vor sich hielt, bis er an der Reihe war. Niemand versuchte sich vorzudrängeln, niemand stänkerte oder ärgerte seinen Vordermann, niemand randalierte oder lachte auch nur übermäßig laut. Und das war längst noch nicht alles. Es dauerte einen Moment, bis Leonie auffiel, was hier wirklich nicht stimmte: Es waren die Schüler.

Leonie fuhr mit einem so plötzlichen Ruck herum, dass etliche der gemurmelten Gespräche im Raum verstummten und ihre zukünftigen Mitschüler die Köpfe in ihre Richtung drehten und sie ansahen. Hier und da erschien ein fragender Ausdruck in einem Augenpaar, eine Stirn wurde verwirrt gerunzelt, eine Hand mit einer Gabel oder einem Glas hielt mitten in der Bewegung inne. Aber es waren ausnahmslos nur Überraschung und Erstaunen, die sie in den Gesichtern der Jungen und Mädchen las, nichts von all dem, was man erwartet hätte, wenn eine neue Schülerin an einer Schule erschien und sich gleich an ihrem allerersten Morgen kräftig danebenbenahm. Da war kein Spott, keine Häme, keine abfällige Bemerkung und kein derber Scherz auf ihre Kosten. Sie blickte nur in freundliche (und übrigens auch nur gut aussehende) und allenfalls etwas verwirrte Gesichter. Und so ganz nebenbei hatte sich auch das Aussehen der Anwesenden geändert: Die Jungen und Mädchen waren ohne Ausnahme ordentlich gekleidet und frisiert, und es erschien Leonie schon beinahe selbstverständlich, dass niemand mit vollem Mund sprach oder mit dem Essen herummanschte.

Leonie japste nach Luft.

»Ja«, murmelte Theresa. »Genau dasselbe wollte ich auch gerade sagen.« Etwas lauter und an die versammelten Schüler gerichtet fügte sie hinzu: »Die Teilnehmer der Geschichte-AG denken bitte daran, in fünf Minuten in den Vorführraum zu kommen.«

Hastig drehte sie sich um, drängelte Leonie beinahe gewaltsam aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu. »Das sind...«, begann sie, schüttelte den Kopf und brach mit einem hilflosen Schulterzucken und sichtlich nach Worten ringend ab.

»Zombies?«, schlug Leonie vor.

Theresa lächelte zwar, aber es wirkte ein wenig gequält. »Ich hätte es etwas anders formuliert«, erwiderte sie. »Eine Klasse, von der jeder Lehrer auf diesem Planeten träumt, zum Beispiel.«

»Sag ich doch«, bestätigte Leonie. »Zombies.«

Diesmal wirkte Theresas Lächeln schon etwas echter. Aber es hielt nur einen Atemzug, dann schüttelte sie abermals den Kopf und wurde schlagartig wieder ernst. »Heute Morgen waren sie noch nicht so.«

»Du meinst, bevor Frank mit meinem Vater telefoniert hat.«

»Zum Beispiel«, bestätigte Theresa. Plötzlich wirkte sie nicht mehr ernst, sondern sehr besorgt. »Erinnerst du dich an die Bibliothek? Das, was du darüber gesagt hast?«

»Dass sie mir vorkommt, als hätte mein Vater sie eingerichtet? Klar.« Leonie nickte und dann konnte sie selbst spüren, wie jedes bisschen Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sie keuchte. »Du meinst doch nicht...«

Das Geräusch rasch näher kommender Schritte ließ sie verstummen, und noch während sie sich umdrehte, fing sie einen warnenden Blick von Theresa auf. Sie war nicht erstaunt, als sie Frank erkannte, der mit schnellen Schritten auf sie zuhielt. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Hand zu verbinden, sondern nur ein aufgeweichtes Papiertuch darumgewickelt, um sie zu kühlen. Leonie vermutete, dass er sich eine hübsche Brandblase eingehandelt hatte.

»Ich dachte, Sie wären schon in Ihrem Klassenzimmer«, sagte er stirnrunzelnd.

»Wir sind auf dem Weg dorthin.« Theresa machte eine Kopfbewegung hinter sich. »Ich habe nur ein paar Nachzügler eingesammelt.« Mit einer demonstrativen Bewegung wandte sie sich zu Leonie um und sah sie beschwörend an. »Können wir?«

Für zwei oder drei Sekunden war Leonie einfach fassungslos. Nach allem, was sie gerade herausgefunden hatten, wollte Theresa ihr einen Film zeigen?

»Er wird dich interessieren, glaub mir«, fügte Theresa hinzu, laut und mit einem aufgesetzten Lächeln, aber auch mit einem noch beschwörenderen Blick. Sie hatte irgendetwas vor, das war Leonie klar, aber sie wusste nicht was. Sie nickte.

»Wollen Sie uns vielleicht begleiten?« fragte Theresa jetzt Frank mit zuckersüßer Stimme. »Wir haben genügend freie Plätze unten im Vorführraum und ein wenig Bildung hat noch niemandem geschadet.«

»Ich weiß«, antwortete Frank gelassen. »Es ist erst zwei Jahre her, dass ich meinen Magister in Germanistik und angewandter Psychologie gemacht habe.«

»Das überrascht mich jetzt wirklich«, bemerkte Theresa. »Ich dachte, in Ihrem Job braucht man eher Fertigkeiten wie Kung-Fu und Fahrgeschick.«

»Oh, darin bin ich auch ziemlich gut«, versicherte Frank. »Aber ein Psychologiestudium ist manchmal ganz nützlich. Es erleichtert es einem zum Beispiel ungemein, zu erkennen, wann man belogen wird.«

Theresa sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und setzte zu einer entsprechenden Antwort an, aber Leonie reichte es. Ihrer Meinung nach übertrieb Theresa mittlerweile hoffnungslos - letztendlich tat Frank nur seine Arbeit, und man konnte ihm schwerlich vorwerfen, dass er gut darin war -, und darüber hinaus war jetzt wirklich nicht der richtige Moment, eine private Fehde auszutragen. Mit einem entschlossenen Schritt trat sie zwischen Frank und Theresa und fragte: »Wohin müssen wir?«

Fast schien es, als würde sich Theresas Zorn nun auf Leonie entladen, dann aber seufzte sie nur und signalisierte ihr mit einem entsprechenden Blick, dass sie verstanden hatte. Die Sache war damit noch nicht vorbei, das war Leonie klar, aber zumindest für den Moment hatte Theresa wohl eingesehen, dass Diplomatie in diesem Fall eher zum Ziel führen würde. Sie machte eine entsprechende Handbewegung. »Dort entlang. Gleich die zweite Tür links.«

Der Vorführraum war ein großes, überraschend helles Zimmer mit weiß gestrichenen Wänden und großen Fenstern, durch die man auf den gepflegten parkähnlichen Garten blickte. Es gab keinen Filmprojektor und anstelle einer Leinwand hing ein mindestens vier Meter langer und etwa halb so breiter Flachbildschirm an der Wand. Leonie war einigermaßen überrascht. Sie hatte in einer Buchhändlerschule keinen so riesigen und sicherlich sehr kostspieligen LCD-Monitor erwartet. Gut zwei Dutzend Schüler saßen in einem lockeren Halbkreis auf einfachen, aber nichtsdestoweniger sehr bequem aussehenden Plastikstühlen vor der Bildwand. Die ohnehin nur gemurmelten Gespräche im Raum verstummten abrupt, als Leonie, Frank und Theresa eintraten. Und hätte Leonie noch irgendwelche Zweifel daran gehabt, dass sie sich denselben Zombieschülern gegenübersah, die ihr auch schon in der Mensa begegnet waren, sie wären spätestens in diesem Moment beseitigt gewesen. Es gab einfach keine Schulklasse auf der Welt, die spontan applaudierte, wenn ihre Lehrerin hereinkam und der Unterricht begann.

Außer hier.

»Such dir irgendwo einen freien Platz«, sagte Theresa. »Wo immer du willst. Es gibt keine Sitzordnung.« Sie drehte sich zu Frank um. »Und Sie...«

»Ich bleibe hier an der Tür und verhalte mich mucksmäuschenstill, keine Sorge«, unterbrach sie Frank. »Die werden nicht einmal merken, dass ich da bin.«

»Das will ich hoffen«, erwiderte Theresa düster. Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. »Bitte setz dich, Leonie, wir sind sowieso schon spät dran.« Als Leonie an ihr vorbeiging, raunte sie ihr zu: »Der Platz ganz links, direkt am Fenster. Neben dem Bildschirm ist eine Tür.«

Leonie ging zu dem bezeichneten Platz und ließ sich darauf nieder, und auch Frank verließ allem zum Trotz, was er gerade gesagt hatte, seinen Posten neben dem Eingang und begann mit einer kurzen, aber sehr gründlichen Inspektion des Raumes. Theresa sah ihm mit unübersehbarem Ärger zu, verbiss sich aber jeglichen Kommentar und schwieg, bis Frank endlich zufrieden war und zur Eingangstür zurückkehrte - um sich mit demonstrativ vor der Brust verschränkten Armen dagegenzulehnen.

»So, nachdem wir nun endlich anfangen können«, begann Theresa mit einem giftigen Blick in Franks Richtung, »begrüße ich euch alle zu unserer heutigen Geschichtsstunde.« Sie hielt jetzt eine flache Fernbedienung an der Hand, mit der sie flüchtig auf den gewaltigen Bildschirm hinter sich deutete. Das Gerät erwachte mit einem kaum hörbaren elektrischen Knistern zum Leben. »Heute befassen wir uns mit einem der dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit, dem letzten großen Krieg. Aus diesem Grund habe ich einen Film vorbereitet, der eure Erinnerung auffrischen soll, bevor wir im zweiten Teil der Stunde über das Gehörte diskutieren.«

Zum ersten Mal überhaupt wurde hier und da ein leises Murren laut und Theresa hob besänftigend die Hand. »Ich weiß, dass vielen von euch dieses Thema nicht gefällt, und glaubt mir, mir selbst geht es ganz genauso. Dennoch ist es wichtig, darüber zu reden.«

»Aber warum?«, fragte einer der Schüler. »Das ist doch Ewigkeiten her! Niemand führt heute mehr Krieg!«

»Es gibt doch schon seit fünfzig Jahren keine Armeen mehr auf der Welt!«, fügte ein anderer Schüler hinzu.

Leonie drehte sich auf ihrem Stuhl um und reckte den Hals, um nach denjenigen Ausschau zu halten, die diesen Unsinn von sich gegeben hatten. Erstaunlicherweise schien sie allerdings die Einzige hier zu sein, der das aufgefallen war.

»Und einer dieser Gründe dafür«, fügte Theresa mit einem beifälligen Lächeln hinzu, »war der große Krieg von 1914 bis 1918, der vom Boden dieses Landes aus seinen Anfang nahm.«

»Der Erste Weltkrieg, ja«, sagte Leonie. Geschichte hatte sie nie sonderlich interessiert und Militärgeschichte schon überhaupt nicht. Aber das wusste ja nun wirklich jedes Kind.

Nun ja - fast jedes.

»Wieso der Erste!«, fragte das Mädchen, das neben ihr saß.

»Ganz genau, der Weltkrieg«, sagte Theresa beinahe hastig und warf Leonie einen raschen warnenden Blick zu. »Er setzte nahezu ganz Europa in Brand und Millionen fanden den Tod.«

»Und was war mit dem Zweiten Weltkrieg?«, fragte Leonie.

Ihre Nachbarin starrte sie an, als zweifele sie an ihrem Verstand, und Theresas Blick wurde geradezu beschwörend. »Der fand gottlob niemals statt«, sagte sie hastig. »Dieser letzte große Krieg war so entsetzlich und hat so viele Leben gekostet, dass der Rest der Menschheit endlich vernünftig wurde und es nie wieder zu einem solch schrecklichen Irrsinn kam. Bald darauf wurde die Kriegführung weltweit geächtet und vor zweiundfünfzig Jahren wurde die letzte reguläre Armee auf der Welt offiziell aufgelöst. Seit einem halben Jahrhundert herrscht nun Frieden auf der Welt. Aber gerade deshalb dürfen wir die schrecklichen Ereignisse nicht vergessen, die dazu geführt haben, dass die Menschen endlich Vernunft annahmen.«

Leonie starrte sie mit offenem Mund an. Waren sie jetzt in der Abteilung Science-Fiction und Fantasy angekommen? Was Theresa da erzählte, mochte ja ein schöner Traum sein, aber mehr auch nicht - und noch dazu war es ziemlich naiv.

Dennoch fuhr Theresa vollkommen unbeeindruckt fort. »Wir schauen uns jetzt gemeinsam einen Film an, über den wir später noch diskutieren werden.« Sie tippte auf die Fernbedienung. Mit einem kaum hörbaren Summen begannen sich schwarze Lichtschutzrollos vor die Fenster zu schieben und gleichzeitig übernahm sanftes, indirektes Licht die Beleuchtung. Theresa trat zwei Schritte zurück, warf Leonie einen weiteren verstohlenen Blick zu und drückte eine Taste auf ihrer Fernbedienung, woraufhin der riesige Bildschirm in grellem Weiß aufleuchtete und eine Sekunde später in Flammen aufging.

Natürlich explodierte er nicht wirklich. Vielmehr zuckte eine grelle Lichtexplosion über den wandgroßen Schirm, und gleichzeitig drang das Krachen und Dröhnen einer so ungeheuren Explosion aus den versteckt angebrachten Lautsprechern, dass Leonie spüren konnte, wie der Stuhl unter ihr zu zittern begann.

Dann fiel das Licht aus.

In der nächsten Sekunde wurde der Bildschirm schwarz und Theresa schrie mit schriller Stimme: »Feuer!«

Das Ergebnis war das blanke Chaos.

Schreie gellten durch den Raum. Jungen und Mädchen sprangen in die Höhe. Stühle wurden umgeworfen und schlitterten krachend über den Boden. Gleichzeitig erwachte der Bildschirm wieder zum Leben und begann Flammen und grelle Lichtblitze zu spucken, Explosionen grollten und ringsumher brach endgültig Panik aus.

Auch Leonie sprang in die Höhe und fuhr herum. Im ersten Moment hatte sie fast Mühe, sich zu orientieren. Das Grollen und Krachen dröhnte immer lauter. Der Bildschirm spie Flammen und stroboskopische orangeweiße Lichtexplosionen in den Raum, die die Bewegungen der durcheinander stürzenden Schüler in harte Einzelbilder zerhackten. Für eine oder zwei Sekunden drohte auch sie den Überblick zu verlieren. Um ein Haar hätte sie sich einfach der Menge angeschlossen, die hysterisch auf den Ausgang zurannte.

Es war Franks Anblick, der sie wieder in die Wirklichkeit zurückriss.

Auch er war erschrocken zusammengefahren, als die erste Explosion auf dem Bildschirm aufgeflammt war, aber er geriet keineswegs in Panik. Ganz im Gegenteil bewies seine Reaktion, was Leonie schon die ganze Zeit über vermutet hatte: dass er sich bestens auf seinen Job verstand. Statt das Nächstliegende zu tun - nämlich die Tür, an der er mit lässig verschränkten Armen gelehnt hatte, aufzureißen und hindurchzustürmen -, stieß er sich mit einer kraftvollen Bewegung davon ab und versuchte in ihre Richtung zu laufen.

Es blieb bei dem Versuch.

Franks Pech war, dass ihm gut dreißig Schülerinnen und Schüler entgegenströmten, die im Moment nichts anderes im Kopf hatten, als den Raum durch genau diese Tür zu verlassen. Er wurde einfach von der lebenden Flut ergriffen und mitgerissen. Das Letzte, was Leonie von ihm sah, waren seine hilflos rudernden Arme und der fassungslose Ausdruck auf seinem Gesicht, als er einfach auf den Flur hinausgestoßen wurde und dann verschwand. Beinahe hätte er ihr sogar Leid getan.

Aber nur beinahe.

Leonie riss sich fast gewaltsam in die Wirklichkeit zurück und fuhr wieder herum. Ihr Blick tastete hektisch über die Wand neben dem Bildschirm und suchte die Tür, von der Theresa gesprochen hatte. Im ersten Anlauf hatte sie Mühe, sie zu entdecken, und für einen winzigen, aber durch und durch grässlichen Moment drohte sie erneut in Panik zu geraten. Dann - endlich - bemerkte sie einen haarfeinen Spalt in der Tapete. Ohne auch nur noch einen Blick zum Ausgang zurückzuwerfen, stürmte sie los.

Es gab keine Klinke oder irgendeinen anderen Öffnungsmechanismus, aber die Tür sprang mit einem leisen Klicken auf, gerade als Leonie die Hand danach ausstrecken wollte. Dahinter lag ein schmaler, lang gestreckter Raum, an dessen Wänden sich deckenhohe Metallregale entlangzogen, die mit allem möglichen Krempel voll gestopft waren, sodass nur ein schmaler Gang in der Mitte frei blieb. Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine weitere, nackte Metalltür mit einem kleinen Notausgang-Schildchen darüber. Leonie durchquerte den Raum mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten und hätte sich fast die Hand verstaucht, als sie ohne innezuhalten auch durch die nächste Tür stürmen wollte.

Sie war verschlossen.

Leonie stolperte einen Schritt zurück, betrachtete eine Sekunde lang verdutzt ihre geprellte Hand und dann ein wenig länger und eindeutig mehr als nur ein wenig fassungslos die verschlossene Tür. Wieso ging dieses vermaledeite Ding nicht auf? Ganz davon abgesehen, dass sie es gewohnt war, dass sich alle Türen vor ihr öffneten, war es eindeutig ein Notausgang, der gar nicht verschlossen sein durfte.

Ihr blieb keine Zeit, sich über die Ungerechtigkeit des Schicksals aufzuregen. Fast verzweifelt fuhr sie herum und starrte die Tür an, durch die sie hereingekommen war. Noch war sie verschlossen, aber es konnte nur Augenblicke dauern, bis ihr Schutzengel seine Glieder entwirrt hatte und wieder in den Vorführraum stürmte um nach ihr zu suchen. Und wenn er auch nur halb so gut war, wie Leonie annahm, dann würde er höchstens ein paar Sekunden brauchen, um die getarnte Tür neben der Bildschirmwand zu entdecken.

Etwas berührte ihren Fuß, ganz sacht nur, kaum mehr als das Streicheln einer Feder, aber Leonie fuhr trotzdem erschrocken zusammen und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Dann senkte sie den Blick und sie vergaß schlagartig ihren Schrecken. Ihre Augen wurden groß. »Conan?«, murmelte sie ungläubig.

Die winzige Maus hüpfte von ihrem Fuß hinunter, entfernte sich ein paar trippelnde Schritte, drehte sich dann um und blickte zu ihr hoch, und es gab nicht den geringsten Zweifel: Es war Conan. Sie erkannte Conan nicht nur an seinem ganz und gar nicht mäusischen Benehmen, sondern auch an der dünnen Schramme auf der Nase, die von seinem Zusammenstoß mit Mausetod herrührte. Aber wie kam er hierher?

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, trippelte die Maus auf eines der Regale zu, kletterte mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt an dem nackten Metall hoch und drehte sich auf dem obersten Regalbrett wieder um, bevor er auffordernd zu ihr herabblickte.

»Das... das meinst du jetzt nicht ernst!«, ächzte Leonie.

Conan grinste sie an und nickte.

Leonie blinzelte. Es war keine Einbildung. Die Maus grinste sie tatsächlich an. Schadenfroh. Ganz eindeutig schadenfroh.

Draußen polterte es. Ein gedämpfter Schrei und dann eine wütende Stimme drangen durch die geschlossene Tür und Leonie warf ihre letzten Bedenken über Bord und trat an das Regal heran. Die gesamte Konstruktion begann zu ächzen und unter ihrem Gewicht zu zittern, als sie daran emporkletterte.

Die Stimmen, die durch die Tür drangen, wurden lauter. Leonie glaubte Theresa und Frank in dem Stimmengewirr zu erkennen, und auch wenn sie nicht ganz sicher war, trieb sie allein der Gedanke an ihren Bodyguard dazu an, ihre Anstrengungen zu verdoppeln. Das gesamte Eisenregal begann zu wanken und Leonie sah sich schon rücklings zu Boden stürzen und unter einem tonnenschweren Trümmerberg begraben daliegen. Aber darauf kam es jetzt vermutlich auch nicht mehr an.

Mit einem entschlossenen Ruck zog sie sich ganz auf das oberste Regalbrett hinauf, wo Conan auf sie wartete, und hielt entsetzt den Atem an, als sich das gesamte Regal ächzend nach vorne neigte und dann mit einem hörbaren Knirschen wieder in seine ursprüngliche Position zurücksackte. Irgendetwas fiel aus dem Regal und zersplitterte mit einem Krachen auf dem Fußboden, das Leonies Meinung nach auf dem gesamten Schulgelände zu hören sein musste. Conan piepste, kitzelte mit seinen Barthaaren durch ihr Gesicht und trippelte wieder davon und Leonie drehte sich mühsam in dem schmalen Zwischenraum zwischen Regal und Decke um und versuchte hinter ihm herzukriechen. Conan flitzte schnurstracks auf die Wand zu und durch sie hindurch.

Die Stimmen wurden noch lauter, dann flog die Tür mit einem Knall auf und sie konnte hören, wie jemand hereinstürmte. Leonie kroch sofort hastig weiter. Irgendetwas Scharfkantiges schrammte schmerzhaft über ihre Rechte und hinterließ einen langen, blutigen Kratzer auf ihrem Handrücken, aber Leonie nahm auch darauf keine Rücksicht mehr, sondern bewegte sich nur umso schneller. Eingedenk dessen, was ihr gerade mit dem Notausgang passiert war, schloss sie schon einmal die Augen und versuchte sich gegen den Schmerz zu wappnen, mit dem ihr Schädel gegen die massive Ziegelsteinmauer prallen würde.

Sie schlug sich den Schädel an, und zwar so gewaltig, dass sie buchstäblich Sterne sah - allerdings nicht an der Wand, sondern einen guten Meter tiefer auf dem Boden des gemauerten Raumes, in den sie jäh hinabstürzte.

Einen Moment lang blieb sie einfach benommen liegen und wartete darauf, dass ihr Kopf aufhörte sich so anzufühlen, als wollte er jeden Augenblick explodieren. In ihren Ohren rauschte das Blut, und wie von weit, weit her hörte sie Stimmen, die heftig miteinander stritten. Irgendetwas raschelte und ein süßlicher, nicht einmal unangenehmer Geruch drang ihr in die Nase.

Leonie stemmte sich mühsam in die Höhe und blinzelte ein paarmal, bis die bunten Sterne vor ihren Augen allmählich verblassten. Sie musste nicht lange darüber nachdenken, wo sie war: Die Wände der niedrigen gewölbten Kammer, in die sie gestürzt war, bestanden aus roh vermauerten Ziegelsteinen und sie identifizierte das seltsame Aroma jetzt eindeutig als den typischen Geruch von Buchbinderleim. Sie war wieder im Archiv - wenn auch offensichtlich in einem Teil des unterirdischen Labyrinths, den sie zuvor noch nie kennen gelernt hatte.

Die Kammer war kreisrund und maß vielleicht sieben oder acht Meter, war dabei aber gerade so hoch, dass ein groß gewachsener Mann unter der Mitte der leicht gewölbten Decke aufrecht stehen konnte. Ein gutes Dutzend runder, halbmetergroßer Öffnungen war in regelmäßigen Abständen auf halber Höhe in den Wänden verteilt - durch eines dieser Zuflussrohre war Leonie hereingeschlittert - und genau in der Mitte der Kammer befand sich eine große, mit schweren Eisenstäben vergitterte Öffnung im Boden. Die Luft war warm und feucht, und je mehr sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnten, umso deutlicher sah sie die kleinen, hellgrün schimmernden Pfützen auf dem Boden und die glitzernden, hellgrünen Tropfen, die sich in den Fugen des morschen Mauerwerks festgesetzt hatten, an den Wänden herabliefen oder in dünnen Rinnsalen aus den Zuflüssen tröpfelten.

Ein eisiges Frösteln kroch Leonies Rücken herauf, als sie begriff, wo sie sich befand: Sie war wieder in einem Teil des unterirdischen Kanalsystems, durch das Theresa und sie geirrt waren, bevor sie in die Gefangenschaft des Archivars geraten waren. Dies hier musste wohl so etwas wie ein Sammelbecken sein, in das Abflussrohre aus verschiedenen Richtungen mündeten, um sich zu einem größeren Strom zu vereinen. Sie schauderte erneut - und heftiger -, als ihr klar wurde, was für ein Glück sie gehabt hatte, dass das System im Moment nicht in Betrieb war. Andererseits hätte Conan sie wohl kaum hierher geführt, wenn die Gefahr bestanden hätte, dass sie in kochendem Buchbinderleim ertrank...

Wo war die Maus überhaupt?

Leonie sah sich aufmerksam um, dann lauschte sie einen Moment lang noch konzentrierter, aber von Conan war weder etwas zu sehen noch zu hören. Leonie machte sich allerdings keine allzu großen Sorgen um ihren kleinen Freund - Conan konnte ganz gut auf sich selbst aufpassen, und bisher war dieses bemerkenswerte Tier eigentlich immer verlässlich aufgetaucht, wenn sie es wirklich gebraucht hatte. Möglicherweise hatte das Tierchen sie ja auch gar nicht hierher geführt, weil es ihr etwas Bestimmtes zeigen wollte, sondern war nur in das erstbeste Versteck gehuscht, um vor Frank in Sicherheit zu sein.

Sie wandte sich wieder dem Rohr zu, durch das sie hereingekommen war. Franks und Theresas Stimmen - sie konnte sie nun genau unterscheiden - waren deutlich auf der anderen Seite zu vernehmen, und als Leonie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie die beiden sogar sehen; wenn auch nur ihre Köpfe, auf die sie aus gut zwei Metern Höhe hinabblickte. Die beiden waren bei ihrer Lieblingsbeschäftigung: Sie stritten sich.

»Das wird Folgen haben, verlassen Sie sich darauf«, sagte Frank gerade. »Leonies Vater wird nicht begeistert sein, wenn ich ihm davon erzähle!«

»Wovon?«, gab Theresa spöttisch zurück. »Dass wir hier einen Kurzschluss hatten und das Licht ausgefallen ist?«

»Kurzschluss, dass ich nicht lache!« Frank wedelte aufgeregt mit etwas herum, das Leonie erst auf den zweiten Blick als die kleine Fernbedienung erkannte, die Theresa vorhin in der Hand gehabt hatte. »Den haben Sie damit fabriziert, und zwar mit voller Absicht!«

»Ach, und wie?«

»Das finde ich schon heraus«, versprach Frank düster. »Ich werde das Ding mitnehmen und gründlich untersuchen lassen.«

»Also, wenn Sie kaputte Fernbedienungen sammeln«, antwortete Theresa spöttisch, »dann kann ich Ihnen noch eine ganze Menge...«

»Schluss jetzt!« Frank schrie fast. Wütend trat er an den Notausgang heran und riss ein paarmal ebenso ungeduldig wie vergebens an der Klinke. »Ich gebe Ihnen eine letzte Chance: Sie sagen mir, wo Leonie ist, und bringen mich zu ihr und die ganze Sache bleibt unter uns.«

»Und wenn nicht?«, erkundigte sich Theresa in fast fröhlichem Ton.

»Dann sehe ich mich gezwungen, Leonies Vater anzurufen und ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie seiner Tochter zur Flucht verholfen haben«, antwortete Frank. »Glauben Sie mir: Dass Sie Ihren Job verlieren, dürfte danach Ihr allerkleinstes Problem sein.«

»Zur Flucht verholfen.« Theresa schüttelte den Kopf und lachte leise. »Großer Gott, das klingt ja, als wäre sie eine Schwerverbrecherin.«

»Sie haben keine Ahnung, in welcher Gefahr sich das Mädchen befindet, wie?«, fragte Frank, plötzlich sehr leise, aber auch sehr ernst.

»Nein«, antwortete Theresa. »Warum erzählen Sie es mir dann nicht?«

»Sagen Sie mir dann, wo sie ist?«

»Ich weiß es nicht, verdammt noch mal«, antwortete Theresa zornig - was vermutlich sogar der Wahrheit entsprach.

Frank seufzte. »Also gut. Sie haben es nicht anders gewollt.« Er steckte die Fernbedienung ein, sah Theresa noch einmal durchdringend an und fuhr dann auf dem Absatz herum. Leonie hörte, wie die Tür hinter ihm zuknallte. Sie zögerte nur noch einen Moment, dann hob sie entschlossen die Arme und schob sich mit einiger Mühe durch das schräg ansteigende Rohr wieder auf das Regal auf der anderen Seite hinaus.

Im ersten Moment bemerkte Theresa sie nicht einmal. Sie stand an der Tür zum Vorführraum und zerrte wütend an der Klinke, wobei sie die wüstesten Beschimpfungen gegen Frank ausstieß.

»Er hat uns eingeschlossen, habe ich Recht?«

Theresa fuhr erschrocken herum und hob die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Ihre Augen traten vor Unglauben ein Stück weit aus den Höhlen. »Leonie!«, ächzte sie. »Wo kommst du denn...?« Sie brach ab. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, während ihr Blick über die scheinbar massive Ziegelsteinmauer hinter Leonie tastete. Leonie drehte den Kopf, um ihrem Blick zu folgen, und als sie es tat, verstand sie den ungläubigen Ausdruck in Theresas Augen sehr viel besser. Von hier aus betrachtet wirkte die Mauer vollkommen massiv. Von den Knien abwärts verschwanden ihre Beine einfach in der Mauer!

Theresa seufzte. Sie runzelte die Stirn und nickte. »Ich verstehe«, murmelte sie. »Das Archiv.«

Statt einer Antwort robbte Leonie ächzend ganz auf den Regalboden hinaus und setzte dazu an, sich umzudrehen und zu Theresa hinabzuklettern, aber die junge Frau winkte hastig ab. »Bleib da.«

Leonie blinzelte. »Wie meinst du das?« Täuschte sie sich oder war in ihrer eigenen Stimme plötzlich ein leiser, aber unüberhörbar hysterischer Unterton?

Theresa schnaubte. »Fragst du das im Ernst? Wahrscheinlich ruft er jetzt mit seinem Handy die Kavallerie. In spätestens einer Stunde wimmelt es hier von seinen Kollegen.« Sie schenkte der verschlossenen Tür einen giftigen Blick. »Und so lange wird er mich...«, sie verbesserte sich, »uns garantiert hier eingesperrt lassen.« Sie schüttelte resigniert den Kopf, riss sich mit sichtlicher Mühe vom Anblick der verschlossenen Tür los und begann direkt neben Leonie am Regal hinaufzuklettern. »Wir müssen hier raus.«

»Aber was... was ist mit dem Notausgang?«, fragte Leonie nervös.

Theresa schüttelte so heftig den Kopf, dass das gesamte Regal unter ihr zu beben begann, und zog sich mit einer entschlossenen Bewegung unmittelbar neben sie auf das oberste Brett hinauf. »Vergiss ihn. Der Schlüssel hängt im Sekretariat.«

»Ein tolles Versteck«, entfuhr es Leonie.

Theresas Blick verdüsterte sich für einen Moment. »So war das ja auch nicht geplant«, sagte sie patzig. »Ich hatte gehofft, dass er die Tür gar nicht findet.« Sie seufzte. »Anscheinend habe ich ihn unterschätzt. Es tut mir Leid.«

Leonie winkte ab. Ihr taten ihre eigenen Worte bereits wieder Leid. Sie waren ihr einfach so herausgerutscht und sie hatte Theresa gewiss keinen Vorwurf machen wollen. Dennoch ließ ihr allein die bloße Vorstellung, noch einmal ins Archiv zurückkehren zu müssen, einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Andererseits hatten sie ja nicht vor, zu einer Expedition durch die Tiefen des Archivs aufzubrechen. Mit ein bisschen Glück, dachte sie, während sie mit dem Fuß nach der unsichtbaren Öffnung in der Wand tastete, fanden sie auf der anderen Seite rasch einen Ausgang, der sie in die Wirklichkeit zurückbrachte.

Aber natürlich sollte es anders kommen.

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