Der Notar

Der nächste Morgen begann mit etwas, das für Leonie ebenso neu wie unangenehm war: Sie hatte verschlafen. In den neun Jahren, die sie jetzt zur Schule ging, war ihr das genau dreimal passiert, und davon war sie zweimal krank gewesen. Das dritte Mal hatte es einen Stromausfall gegeben, der die Elektrowecker des gesamten Stadtviertels lahm gelegt hatte; nahezu die halbe Klasse war an diesem Morgen zu spät - oder auch gar nicht - gekommen.

Heute leuchteten die digitalen Ziffern ihres Weckers zuverlässig und hell und sie zeigten präzise elf Minuten nach acht an. Das bedeutete, dass sie genau seit acht Minuten in der Schule sein sollte, um die erste Unterrichtsstunde zu verfolgen, Mathematik, wenn sie den Stundenplan richtig im Kopf hatte. Nicht dass sie es bedauerte, eine Mathestunde zu versäumen - schon gar nicht an diesem Morgen -, aber sie war ein bisschen erstaunt über ihre eigene Reaktion. Trotz ihres rebellischen Äußeren und ihres manchmal ganz bewusst provozierenden Auftretens war Leonie ein sehr gewissenhafter Mensch, was allein schon an ihrer Erziehung lag. Sie mochte es einfach nicht, zu spät zu kommen, und eigentlich hätte sie jetzt erschrocken aufspringen und mit wehendem Nachthemd ins Bad stürzen müssen.

Stattdessen blieb sie weiter reglos liegen und starrte den Wecker an, bis die roten Leuchtziffern um zwei Minuten weitergesprungen waren. Dann stand sie ohne irgendeine Hast auf, ging ins Bad und erledigte ihre Morgentoilette so gemächlich, als hätte sie alle Zeit der Welt. Irgendwie hatte sie sogar das Gefühl, es wäre so. Ihr Leben war in der zurückliegenden Nacht so gründlich aus den Fugen geraten, dass sie im Grunde nichts mehr von dem, was jetzt geschah, noch interessierte.

Sogar sie selbst schien sich verändert zu haben. Als sie endlich fertig war und einen abschließenden Blick in den Spiegel warf, sah sie aus wie immer: glattes hellblondes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, ein winziges Silberkreuz, das an einer dünnen Kette um ihren Hals hing und eine schicke weiße Rüschenbluse, die ihre zerbrechliche Gestalt hervorragend zur Geltung brachte. Sie trug weder Make-up noch Lippenstift oder Nagellack - viele ihrer Klassenkameradinnen schminkten sich schon seit Jahren, aber Leonie hielt nichts davon; sie war der Meinung, dass sie mindestens noch zehn Jahre Zeit hatte, bevor sie auch nur damit anfangen musste. Sie hatte das Glück, einen relativ dunklen Teint zu haben, sodass sie immer ein bisschen so aussah, als käme sie gerade von der Sonnenbank - obwohl sie so etwas natürlich niemals getan hätte.

Ja, das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war ganz genau so, wie es sein sollte, und doch kam ihr irgendetwas daran sonderbar vor. Da schien noch etwas anderes zu sein, als existiere unter der Oberfläche des Sichtbaren noch eine zweite, verborgene Wirklichkeit, die man nicht sehen konnte, die aber in immer stärkerem Maße versuchte, sich bemerkbar zu machen.

Leonie runzelte die Stirn über diesen seltsamen Gedanken - manchmal dachte sie schon seltsame Sachen -, streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und verließ das Bad. Schon auf der Treppe hörte sie die Stimmen ihrer Eltern, die auf der Terrasse saßen und frühstückten. Das taten sie immer, solange es das Wetter auch nur irgendwie zuließ, und normalerweise genoss Leonie die Dreiviertelstunde mit ihnen draußen in der Natur, ehe sie sich auf den Schulweg machte und Vater und Mutter in den Laden gingen, der die andere Hälfte des Hauses beanspruchte.

Heute hatte sie beinahe Angst davor. Mittlerweile hatte sie sich zwar einigermaßen beruhigt und sie sah die Welt und vor allem ihre eigene Zukunft auch nicht mehr nur grau in grau, aber sie hatte den Streit von vergangener Nacht nicht vergessen und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das gemeinsame Frühstück in harmonischer Atmosphäre ablaufen würde.

Aber sie erlebte eine Überraschung. Um genau zu sein sogar zwei.

Die erste saß in Gestalt ihrer Großmutter am Tisch. Nach der hässlichen Szene von letzter Nacht hätte Leonie niemals damit gerechnet, sie zusammen mit ihrer Mutter am Frühstückstisch zu sehen, als wäre nichts passiert, aber sie war da und sie sah genauso fröhlich und ausgeglichen aus wie immer.

Und die zweite, viel größere Überraschung war, dass das Frühstück tatsächlich in harmonischer, ja fast schon heiterer Stimmung stattzufinden schien. Großmutter und ihr Vater unterhielten sich leise und lachten sogar dann und wann, und ihre Mutter hatte sich bequem zurückgelehnt und nippte an ihrer morgendlichen Tasse Kaffee; das einzige kleine Laster, das sie sich gestattete. Als sie Leonie erblickte, runzelte sie zwar für einen kurzen Moment die Stirn und schien für einen noch kürzeren Moment regelrecht verwirrt zu sein, aber dann lächelte sie und deutete mit der Kaffeetasse in der Hand auf den einzigen freien Stuhl am Tisch. Das Gedeck war bereits aufgetragen und in der Tasse dampfte heißer Pfefferminztee, Leonies Lieblingsgetränk.

Leonie begrüßte alle und nahm auch gehorsam Platz, aber sie begann nicht zu frühstücken. Stattdessen blickte sie immer wieder verwirrt von einem zum anderen. Was ging hier vor? Dieses Theater war nahezu oscarverdächtig, nichtsdestotrotz aber regelrecht peinlich!

»Warum fängst du nicht an?«, fragte ihr Vater, nachdem etliche weitere Sekunden verstrichen waren. »Ist irgendetwas mit dem Tee nicht in Ordnung? Fühlst du dich nicht wohl?«

»Ich bin... nur ein bisschen müde.« Sie maß ihre Mutter mit einem durchbohrenden Blick. »Ich habe nicht gut geschlafen.«

»Oh.« Leonies Mutter wirkte bestürzt. »Das tut mir Leid. Ich hoffe doch, es war nicht unsere Schuld. Wir haben noch bis tief in die Nacht zusammengesessen und geredet, weißt du? Hoffentlich haben wir dich nicht gestört.«

Leonie starrte sie aus fassungslos aufgerissenen Augen an. Geredet? So konnte man es zwar auch nennen, doch diese Bezeichnung ging doch um Lichtjahre an der Wahrheit vorbei. Sie wandte sich mit einem fast flehenden Blick an Großmutter, aber sie erntete auch von ihr nur ein schmales und durch und durch ehrlich wirkendes Lächeln.

»Trink deinen Tee, Kind«, forderte sie Leonie auf. »Und iss etwas. Danach fühlst du dich besser, du wirst sehen.«

Leonie hätte am liebsten laut aufgeschrien. Sie fand dieses Theater mittlerweile nicht mehr peinlich, sondern regelrecht entwürdigend. Natürlich war sie froh, dass Großmutter und ihre Eltern offensichtlich wieder Frieden geschlossen hatten, aber mussten sie sie deshalb behandeln, als wäre sie ein Kleinkind oder hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank? Am liebsten wäre sie einfach aufgestanden und davongestürmt, doch sie wusste natürlich, dass sie ihre Mutter mit einem so rüden Verhalten gekränkt hätte, und das wäre trotz allem das Letzte gewesen, was sie wollte.

So schüttelte sie stattdessen nur den Kopf. »Ich habe auch gar keine Zeit. Ich komme jetzt schon zu spät zur Schule.«

»Kommst du nicht«, behauptete ihr Vater.

»Wie meinst du das? Es ist beinahe halb neun.«

»Ich habe mit deinem Lehrer gesprochen«, antwortete Vater. »Es ist alles in Ordnung. Du brauchst heute nicht zur Schule. Es sind ja sowieso nur noch zwei Tage, bis die Ferien anfangen.«

»Nicht zur Schule?«, wiederholte Leonie misstrauisch. Sie sah fragend von einem zum anderen. Ihr Vater war alles andere als autoritär oder übertrieben streng, aber was die Schule anging, verstand er normalerweise keinen Spaß.

»Wir haben in einer Stunde einen wichtigen Termin, zu dem auch du mitkommen musst«, sagte ihre Mutter.

»Was für einen Termin?«

»Einen Notartermin. Es wird wahrscheinlich den gesamten Vormittag dauern, und danach lohnt es sich nicht mehr, zur Schule zu gehen.«

»Einen Notartermin?«, vergewisserte sich Leonie. »Aber was habe ich denn mit einem Notar zu tun?«

»Du bist gewissermaßen die Hauptperson«, verkündete Großmutter. »Frühstücke ruhig zu Ende. Wir haben noch genug Zeit und deine Eltern werden dir unterwegs alles erklären.«

Seltsam, dachte Leonie, sie sagte deine Eltern, nicht Klaus und Anna, wie sie es normalerweise getan hätte.

Sie war jetzt vollkommen verwirrt. Sie verstand rein gar nichts mehr, aber ihre gerechte Empörung wuchs. Was ging hier vor?

»Ich gehe schon mal und bestelle ein Taxi.« Mutter schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Um diese Tageszeit dauert es manchmal ewig, bis ein Wagen kommt.«

»Taxi?«, wiederholte Leonie - nur um sicherzugehen, dass sie auch wirklich richtig gehört hatte.

»Selbstverständlich ein Taxi«, bestätigte ihre Mutter.

Leonie starrte ihre Mutter an, dann Großmutter, ihren Vater und schließlich wieder ihre Mutter. Sie sagte nichts. Hinter ihrer Stirn jagten sich die Gedanken, aber sie kamen zu keinem Ergebnis. War das eine ganz besondere Art von schlechtem Scherz, den sich ihre Familie da mit ihr erlaubte, oder schlief sie am Ende vielleicht noch immer und der Albtraum von vergangener Nacht dauerte weiter an?

Sie spürte den Blick ihrer Großmutter auf sich ruhen und drehte den Kopf. Großmutter wirkte... überrascht. Oder war es eher beunruhigt? Aber nur für einen winzigen Moment, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt und wedelte auffordernd zum gedeckten Frühstückstisch hin. »Du solltest wirklich etwas essen, Kind. Solche Notartermine dauern manchmal stundenlang. Du wirst bestimmt später Hunger bekommen, aber wenn es erst einmal angefangen hat, gibt es kein Zurück mehr. Das ist wie beim Zahnarzt, weißt du?«

Leonie griff widerstrebend zu, schmierte sich noch widerstrebender ein Käsebrötchen und knabberte lustlos daran herum. Ihre Großmutter betrachtete sie zufrieden und stand nach ein paar Augenblicken auf. »Es wird Zeit, dass ich mich umziehe. Schließlich kann ich ja nicht in Sack und Asche zu einem so wichtigen Termin erscheinen.«

»Tu das«, sagte Leonies Vater. »Ich fahre schon mal den Wagen zurück in die Garage. Anna hat vollkommen Recht. Wir bekommen sowieso keinen Parkplatz in der Stadt. Nicht um diese Zeit.«

Leonie verschluckte sich an ihrem Brötchen, hustete und fiel fast vom Stuhl, als ihr Vater mit schnellen Schritten um den Tisch herumeilte und ihr kräftig mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter schlug. »Nicht so hastig«, sagte er. »Es ist ungesund, zu schnell zu essen, das weißt du doch. Alles in Ordnung?«

Leonie schluckte den Bissen mühsam hinunter, an dem sie fast erstickt wäre, hustete noch einmal und sah ihren Vater aus großen Augen an. »Was... hast du... gesagt?«, japste sie.

»Dass es ungesund ist, zu schnell zu essen.«

»Nein, vorher. Das mit dem Wagen.«

»Ich bringe ihn jetzt zurück in die Garage«, antwortete ihr Vater. »Was ist daran nicht in Ordnung.«

»Was für einen Wagen?!«

»Den Mercedes.« Ihr Vater wirkte nun vollkommen verwirrt. »Welchen denn sonst? Oder hast du gedacht, wir nehmen zu viert den Porsche? Großmutter und du müssten schon im Kofferraum sitzen.« Er lachte über seinen eigenen Scherz, aber unter dem Lächeln in seinen Augen verbarg sich ein Funke aufkeimender Sorge. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Mit ihr?, dachte Leonie hysterisch. Mit IHR?, Sie hustete noch einmal - jetzt allerdings eher, um Zeit zu gewinnen und auf diese Weise nicht sofort antworten zu müssen -, stand auf und wich rückwärts gehend zwei Schritte vor ihrem Vater zurück.

»Was ist hier los?«, keuchte sie.

»Los?« Ihr Vater legte die Stirn in Falten. Er verstand ganz offensichtlich wirklich nicht, was sie meinte.

Leonie setzte dazu an, die Frage zu wiederholen, aber dann fuhr sie stattdessen auf dem Absatz herum und stürmte ins Haus zurück. Mit weit ausgreifenden Schritten durchquerte sie die Küche und den Hausflur. Sie fand ihre Mutter im Wohnzimmer, wo sie gerade den Telefonhörer auf die Gabel zurücklegte und sich wieder zur Tür umdrehen wollte. Ein leicht fragender Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als sie den aufgelösten Zustand ihrer Tochter registrierte. »Was...?«

»Was ist hier los?«, fiel ihr Leonie ins Wort. »Ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird!«

Sie konnte genau sehen, dass ihre Mutter erneut zu einer ausweichenden Antwort ansetzte, aber dann seufzte sie tief und sagte: »Also gut. Ich sehe ein, es war ein Fehler. Dein Vater und ich wollten dich überraschen - und vor allem wollten wir dir das Ganze ersparen. Alles, was mit Urkunden und den Gerichten zu tun hat, ist im Grunde furchtbar langweilig.«

»Aha«, machte Leonie. Sie verstand kein Wort.

»Gut, es war ein Fehler. Aber ich hoffe doch, dass du uns deswegen nicht gleich den Kopf abreißt oder uns die Freundschaft kündigst.« Sie lächelte und schien ganz offenbar darauf zu warten, dass Leonie dieses Lächeln erwiderte, zum Zeichen, dass sie ihr verziehen hatte.

Leonie tat jedoch nichts dergleichen. Sie stand einfach nur da, ohne ein Wort zu verstehen, und starrte ihre Mutter an - oder genauer gesagt: das Foto, das hinter ihr an der Wand hing. Es war ein ziemlich altes, schlicht gerahmtes Bild, dessen Farben schon deutlich verblasst waren und das eine gut fünfundzwanzig Jahre jüngere Ausgabe ihrer Eltern zeigte, die Hand in Hand vor dem Hintergrund eines prachtvollen Sonnenuntergangs zu sehen waren. Zwischen ihnen und der Sonne, die wie ein glühender Feuerball im Meer versank, erhob sich die schwarze Silhouette der Akropolis von Athen. Leonie selbst war noch nie dort gewesen, denn seit sie auf die Welt gekommen war, reisten ihre Eltern nicht mehr so viel wie früher, aber sie hatten natürlich oft davon erzählt. Das Foto, das Leonie jetzt anstarrte, war nur eines von gut zwei Dutzend, die die Wand hinter der Kommode bedeckten und ihre Eltern an allen möglichen Orten der Welt zeigten. Leonie kannte sogar die Geschichte, die zu jedem einzelnen dieser Bilder gehörte.

Aber wieso hatte sie nur das Gefühl, dass all diese Fotografien hier nichts zu suchen hatten?

»Leonie?«, fragte ihre Mutter.

Leonie ignorierte sie. Langsam ging sie an ihr vorbei, trat dicht an das Foto heran und streckte die Hand aus. Als sie den Rahmen von der Wand löste, konnte sie seine Umrisse immer noch auf der Tapete erkennen. Die Wand war zwar sauber, aber wenn man das Bild abnahm, sah man doch, wie stark die Farbe im Laufe der Jahre nachgedunkelt war.

»Leonie?«, fragte ihre Mutter noch einmal. Sie klang jetzt besorgt. »Geht’s dir gut? Ist alles in Ordnung?«

Sie hörte immer noch nicht hin. Hilflos drehte sie das gerahmte Bild in den Händen, betrachtete den hellen Umriss, den es auf der Wand zurückgelassen hatte, dann wieder das Bild selbst. Das Foto hing dort seit fünf Jahren, oder sechs, wenn nicht länger, aber gestern Nacht...

Ein eisiger Schauer rann über Leonies Rücken. Plötzlich wagte sie es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Hastig hängte sie das Bild an seinen Platz zurück und zwang ein leicht verunglücktes Lächeln auf ihr Gesicht, bevor sie sich ihrer Mutter zuwandte. »Nichts«, sagte sie. »Es ist... schon gut.«

»Was ist denn mit dem Bild?«

»Nichts«, wiederholte Leonie hastig. »Ich dachte, das Glas hätte einen Sprung, aber es war wohl nur eine Spiegelung.«

Ihre Mutter bedachte das Foto mit einem schrägen Blick, dann Leonie selbst mit einem viel längeren und eindeutig besorgten. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich mit dieser Antwort zufrieden geben, die auch zu eindeutig nach einer Ausrede klang. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, erscholl draußen vor dem Haus das charakteristische Brummen eines Dieselmotors und dann ein ungeduldiges Hupen.

»Das Taxi ist da«, meinte Leonie schnell.

»Wir können den Termin verschieben«, sagte ihre Mutter, »wenn du dich nicht wohl fühlst.«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte Leonie. »Wirklich. Ich war nur... ein bisschen überrascht, das ist alles. Ich gehe schon mal und sage Großmutter Bescheid.« So schnell, dass es mehr nach einer Flucht als nach irgendetwas anderem aussah, fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Zimmer.

Wie sich zeigte, musste sie Großmutter gar nicht holen. Vater und sie kamen ihr entgegen, noch bevor sie den halben Weg zur Treppe zurückgelegt hatte, und nicht einmal zwei Minuten später saßen sie zusammen im Taxi und fuhren in die Stadt.

Die Fahrt dauerte eine knappe halbe Stunde und Leonie sprach in dieser Zeit keine fünf zusammenhängenden Sätze. Den Zustand, in dem sie sich befand, als Verwirrung zu bezeichnen, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, so fremd, als wäre sie an diesem Morgen in einer Welt - und einem Körper! - aufgewacht, in die sie nicht gehörte.

Natürlich waren solche Gedanken der blanke Unsinn, aber sie hatte sie nun einmal, und das Chaos hinter ihrer Stirn nahm mit jeder Sekunde eher noch zu. Und natürlich blieb ihr Zustand auch ihren Eltern nicht verborgen. Sie sagten zwar nichts, aber sie tauschten viel sagende Blicke, meist, wenn sie der Meinung waren, dass Leonie es nicht merkte, und auch sie wurden immer stiller. Die letzten zehn Minuten schließlich legten sie alle in unbehaglichem Schweigen zurück.

Es war so, wie ihre Mutter prophezeit hatte: Die Kanzlei des Notars lag in einer schmalen Seitenstraße mit gepflegten Stadthäusern aus dem vorletzten Jahrhundert und war vollkommen zugeparkt. Das Taxi musste mitten auf der Straße anhalten, damit sie überhaupt aussteigen konnten, und schon der kurze Moment, den ihr Vater brauchte, um den Fahrer zu bezahlen und sich eine Quittung ausstellen zu lassen, reichte, um einen kleinen Stau zu provozieren. Ein besonders ungeduldiger Autofahrer hupte wütend.

»Furchtbar«, sagte Großmutter. »Die Menschen heute haben einfach kein Verständnis mehr füreinander.«

Sie warteten vor dem Eingang des Notariats, der unter einem gewaltigen steinernen Vordach lag. Es wurde von vier fast halbmeterdicken Säulen gestützt, und die zweiflügelige Tür aus uraltem, mit kunstvollen Schnitzereien übersäten Holz sah aus, als wöge sie mindestens eine Tonne. Der Anblick erinnerte Leonie an irgendetwas, aber sie konnte nicht sagen woran.

»Ja, früher war alles besser, nicht wahr?«, stichelte Leonies Mutter. Leonie wusste allerdings, wie wenig ernst das gemeint war. Großmutter und sie machten sich gern einen Spaß daraus, sich gegenseitig auf den Arm zu nehmen.

»Nicht alles, aber vieles, mein Kind. Die Leute hatten mehr Zeit füreinander.«

»Und es gab mehr Krankheiten, mehr Ungerechtigkeit und mehr Not...«

»... mehr Liebe und Rücksichtnahme...«

»... mehr Hunger und Kinderarbeit...«

Leonie verdrehte innerlich die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Sie war froh, als sie sah, wie ihr Vater seine Brieftasche einsteckte und die Straße überquerte, wobei er dem Autofahrer, der immer noch ungeduldig seine Hupe malträtierte, ein strafendes Kopfschütteln zukommen ließ; ernst gemeint oder nicht - diese Diskussionen zwischen Mutter und Großmutter konnten Stunden dauern, wenn sie niemand bremste.

Sie klingelten und traten ein, als praktisch unmittelbar darauf ein leises elektrisches Summen erklang und die riesige Tür wie von Geisterhand bewegt aufsprang. Leonies Blick streifte im Vorbeigehen das kleine Messingschildchen, das neben der Tür an der Wand hing. Dr. Fröhlich stand da in verschnörkelten Buchstaben, Notar. Ein seltsamer Name für einen Notar, fand sie.

Dafür sah das Notariat aber genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Wände waren mit schwerem schwarzen Holz vertäfelt, zu dem die kostbar geschnitzten Möbel hervorragend passten. Auf dem Boden lagen dicke Teppiche, und das Licht kam aus wertvollen Kronleuchtern, die unter der ebenfalls vertäfelten Decke hingen. Eine altmodisch gekleidete Sekretärin führte sie in ein großzügig angelegtes Wartezimmer, aber ihnen blieb gerade genug Zeit sich zu setzen, bevor die Tür auch schon wieder aufging und Dr. Fröhlich eintrat. Großmutter stand auf, um ihn zu begrüßen, und auch Leonie drehte sich zur Tür... und erstarrte mitten in der Bewegung.

Zu behaupten, dass Fröhlich aussah wie ein Notar, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Es war, als hätte ein begnadeter Künstler ihn zu keinem anderen Zweck erschaffen, als dem allgemeinen Klischee von einem Notar bis aufs i-Tüpfelchen zu entsprechen, und ihm dann irgendwie Leben eingehaucht.

Er war unglaublich alt - mindestens zehn Jahre älter als Großmutter, schätzte Leonie, wenn nicht mehr - und trug einen dunkelgrauen zweireihigen Anzug, der wahrscheinlich noch älter war als er selbst, aber dennoch tadellos in Schuss. Manschetten und Ellbogen waren mit kleinen Lederflicken verstärkt, damit der Stoff nicht durchscheuerte, darunter trug er eine ebenfalls graue Weste und ein blütenweißes Hemd, das mit einer roten Samtfliege geschlossen wurde. In seinem rechten Auge steckte ein altmodisches Monokel. Der einzige Stilbruch war seine Frisur. Sie existierte praktisch nicht: Den dünnen Haarkranz, den ihm die Jahre noch gelassen hatten, hatte er zu einem geradezu lächerlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihm bis auf die Schultern reichte, aber kaum so dick war wie ein Kinderfinger.

Oder, um es anders auszudrücken: Vor Leonie stand...

»Professor Wohlgemut?«, murmelte sie fassungslos. »Was soll denn jetzt dieser Mummenschanz schon wieder?«

»Nur Doktor, nicht Professor.« Der angebliche Notar wandte sich in ihre Richtung und lächelte geschmeichelt. »Und Fröhlich, statt Wohlgemut. Du musst Leonida sein. Nach allem, was mir deine Großmutter über dich erzählt hat, sollte es mich eigentlich nicht mehr wundern, dass du dieses altmodische Wort überhaupt kennst, aber du...«

Er unterbrach sich, rückte sein Monokel zurecht und maß Leonie mit einem sehr langen, sehr aufmerksamen Blick, und während er das tat, wandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von bloßer Freundlichkeit über Verwirrung und Erschrecken bis hin zu etwas, von dem Leonie nicht sicher war, ob sie es überhaupt wirklich erkennen wollte.

»Du bist... Leonie?«, murmelte er.

»Meine Enkelin«, sagte Großmutter stolz. »Ich habe Ihnen doch von ihr erzählt, Doktor.«

»Das... das haben Sie, meine Liebe«, antwortete Fröhlich stockend. Sein Blick haftete noch immer wie gebannt auf Leonie, und was sie nun darin las, das grenzte eindeutig an Entsetzen. »Ich hatte sie mir nur... ein wenig anders vorgestellt.« Mühsam riss er sich von Leonies Anblick los, nahm das Monokel ab und drehte sich mit einem Ruck ganz zu Großmutter um.

»Bevor wir zum offiziellen Teil kommen, hätte ich Sie gern noch für einen Moment gesprochen, Frau Kammer. Unter vier Augen.«

»Was ist denn los?«, fragte Leonies Mutter. Sie klang ein bisschen alarmiert.

»Nichts«, antwortete Fröhlich, ohne dass sein Blick den Großmutters auch nur für einen Sekundenbruchteil losgelassen hätte. »Nur eine reine Formalität.« Er war ein miserabler Lügner, fand Leonie.

Ihre Mutter schien wohl ungefähr dasselbe zu denken wie sie, aber Fröhlich gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu sagen, sondern drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Großmutter folgte ihm und auch Leonie stand auf.

»Wohin?«, wollte ihr Vater wissen.

»Ich suche nur die Toilette«, log Leonie, ungefähr so überzeugend wie Fröhlich gerade, und genau wie er gab sie ihren Eltern keine Gelegenheit, zu protestieren, sondern lief rasch aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Großmutter verschwand gerade hinter der Biegung des langen Korridors und Leonie schritt schneller aus, um sie einzuholen. Sie hatte endgültig genug von diesem Affentheater. Sie würde Großmutter und diesen angeblichen Dr. Fröhlich zur Rede stellen, hier und jetzt.

Auf halbem Wege kam sie an einer offen stehenden Tür vorbei. An einem Schreibtisch in dem Raum dahinter saß Fröhlichs Sekretärin, die sie nur eine halbe Sekunde lang strafend ansah, bevor ihr Gesichtsausdruck in ein verständnisvolles Lächeln überging. »Den Gang hinunter und dann links«, sagte sie.

Leonie nickte flüchtig und beschleunigte ihre Schritte. Ein kleines Messingschildchen an der Wand zeigte ihr, dass die Toiletten tatsächlich links lagen, aber sie bog rechts ab, die Richtung, in die Fröhlich und ihre Großmutter gegangen waren. Von den beiden fehlte jede Spur, doch es gab auf dieser Seite des Ganges nur eine einzige Tür, sodass kaum die Gefahr bestand, sie zu verlieren. Leonie beschleunigte ihre Schritte noch weiter, streckte schon die Hand nach dem Türgriff aus, bemerkte aber dann, dass die Tür gar nicht zu war. Sie stand einen Spaltbreit offen, gerade weit genug, um lauschen und unbemerkt hindurchspähen zu können. Nach allem, was sie bisher an diesem Morgen erlebt hatte, hatte sie kaum noch Skrupel, genau das zu tun.

Und kaum hatte sie es getan, waren auch diese letzten Skrupel fort, denn sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte.

Großmutter und der angebliche Fröhlich hatten die Maske der Freundlichkeit abgelegt und standen sich wie zwei Kampfhähne gegenüber. Fröhlich hatte sein Monokel aus dem Auge genommen und wedelte damit herum wie ein mittelalterlicher Krieger mit seinem Schwert.

»Sag mir, dass du das nicht getan hast!«, keuchte er, noch nicht wirklich schreiend, doch auch nicht mehr sehr weit davon entfernt. »Ich kenne die Antwort ja bereits, aber trotzdem: Sag mir, dass du nicht das getan hast, was ich glaube!«

»Dieses Theater ist albern, findest du nicht?«, fragte Großmutter.

»Albern?« Fröhlich japste nach Luft. »Sagtest du: albern? Mein Gott, hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du angerichtet hast?«

»Das Einzige, was ich tun konnte«, antwortete Großmutter. Sie klang fast trotzig, aber auch irgendwie traurig. »Was ich tun musste.«

»Unsinn!«, schnappte Fröhlich. »Du hast... etwas Ungeheuerliches getan. Ausgerechnet du! Wer außer dir sollte besser wissen, dass wir niemals aus persönlichen Gründen...«

»Es waren keine persönlichen Gründe«, fiel ihm Großmutter ins Wort. »Ich hatte keine andere Wahl. Unsere Zeit läuft ab - und du weißt so gut wie ich, was passiert ist. Du warst schließlich dabei, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das war«, antwortete Fröhlich böse. Leonie hatte nicht die geringste Ahnung, was diese knappe Bemerkung zu bedeuten hatte, aber das änderte nichts daran, dass sie ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte und sie plötzlich sehr froh war, die Tür nicht aufgemacht zu haben.

»Ich hatte keine andere Wahl, bitte glaub mir«, beteuerte Großmutter. »Wir wussten immer, dass dieser Moment eines Tages kommen würde.«

»So!« Fröhlich schrie fast. »Weißt du eigentlich, was du möglicherweise angerichtet hast?«.

»Ja«, antwortete Großmutter mit großem Ernst. »Ich bin mir der Gefahr bewusst, aber ich musste es tun. Der Moment ist nicht mehr fern, und ich fürchte, dass mir nicht mehr genug Zeit bleibt. Es ist Anna, nicht Leonie. Sie hat mir schwere Vorwürfe gemacht und sie hat Recht damit. Was ich ihr angetan habe, ist unverzeihlich. Ich werde mit dieser Schuld leben müssen, aber ich kann dasselbe nun nicht auch noch Leonie antun.«

»Dann hättest du mit ihr reden müssen.« Fröhlich sah weder so aus, noch hörte er sich so an, als hätte ihn Großmutters Argument irgendwie beeindruckt.

»Dazu ist keine Zeit mehr«, antwortete Großmutter. »Es hat bereits begonnen.«

»Unsinn!«, protestierte Fröhlich. »Wie oft haben wir das schon gedacht? Und es ist niemals passiert. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt jemals passieren wird. Wer weiß: Vielleicht hat deine Tochter ja sogar Recht, und wir sind es, die einem Traum nachjagen.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte Großmutter.

»Trotzdem.« Fröhlich schüttelte heftig den Kopf, aber er wirkte jetzt nicht mehr wirklich zornig, sondern eher verstört, fast schon ängstlich. »Was du getan hast, war unverzeihlich. Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was hätte passieren können.«

»Und was passiert, wenn ich fortgehe und niemand da ist, der meinen Platz einnimmt?« Großmutter schüttelte entschlossen den Kopf. »Glaub bitte nicht, dass ich es mir leicht gemacht habe, aber ich hatte keine Wahl.«

»Dann bete ich zu Gott, dass deine Wahl die richtige war«, seufzte Fröhlich. »Und dass er mächtig genug ist, uns zu helfen, falls nicht.«

»Jetzt wirst du melodramatisch«, sagte Großmutter lachend. »Aber du hattest ja schon immer einen gewissen Hang dazu.«

»Ich kann darüber nicht lachen.« Fröhlich klemmte sich das Monokel wieder ins Auge und machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Geh und hol deine Familie, bevor sie misstrauisch wird.«

Leonie wich rasch zwei Schritte von der Tür zurück, dann wandte sie sich um und begann zu rennen. Aber nur wenige Schritte weit. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr aufging, und fuhr abermals herum, und als ihre Großmutter aus Fröhlichs Büro trat, sah es ganz so aus, als käme Leonie gerade aus der anderen Richtung.

»Oh, hallo Leonie«, sagte Großmutter. »Hast du mich gesucht?«

»Nein«, antwortete Leonie. »Ich war nur...«

Sie deutete leicht verlegen auf die Toilettentür hinter sich. »Dort.«

»Du bist aufgeregt, vermute ich«, meinte Großmutter. »Na ja, ich an deiner Stelle wäre das wahrscheinlich auch. Sei so lieb und hol deine Eltern. Herr Dr. Fröhlich ist jetzt so weit.«

Das bezweifelte Leonie. Aber sie widersprach nicht, sondern ging gehorsam, um ihre Eltern zu holen, und nicht einmal zwei Minuten später saßen sie alle zusammen an einem Tisch, der die Abmessungen von König Artus’ Tafelrunde hatte und an dem mindestens dreißig Personen Platz gefunden hätten. Er war vollkommen leer bis auf einen beeindruckenden schwarzen Aktenordner aus Leder, den Fröhlich vor sich aufklappte. Leonie reckte den Hals und sah, dass er voller augenscheinlich alter, zum Teil noch handbeschriebener Blätter war. An dem einen oder anderen erkannte sie sogar noch die Reste altmodischer roter Wachssiegel.

Fröhlich räusperte sich und sofort kehrte Ruhe ein.

»Bitte entschuldigen Sie die kleine Verzögerung«, begann er. »Eine lästige Formalität, aber Sie wissen ja, wie die Behörden in diesen Dingen sind. Es muss alles und immer seine Richtigkeit haben.« Er warf ein Beifall heischendes Lächeln in die Runde, aber als es nicht erwidert wurde, räusperte er sich erneut und schlug einen offizielleren Ton an.

Was folgte, dauerte geschlagene anderthalb Stunden, doch das bedeutete ganz und gar nicht, dass es Leonie währenddessen langweilig gewesen wäre. Sie verstand fast gar nichts von dem, was Fröhlich in gestelztem Paragraphendeutsch vorlas, aber sie verstand sehr wohl, was es bedeutete: nicht weniger, als dass Großmutter ihr die Buchhandlung und ihr gesamtes Vermögen überschrieb.

Als sie an diesem Punkt von Fröhlichs größtenteils unverständlichen Ausführungen angekommen waren, unterbrach Leonie den Redefluss des Notars. »Einen Moment«, bat sie und wandte sich an Großmutter. »Soll das heißen, dass... dass du mir dein Geschäft... schenkst?«

»Und alles andere auch, ja«, bestätigte Großmutter. Sie lächelte. »Vereinfacht ausgedrückt.«

»Aber... aber das verstehe ich nicht«, sagte Leonie. Sie warf einen hilflosen Blick in Richtung ihrer Mutter, erntete aber nur ein Lächeln, das ihre Verwirrung eher noch steigerte. »Ich bin doch nur deine Enkelin. Mutter...«

»... ist damit einverstanden«, unterbrach sie Großmutter. »Es war sogar vielmehr ihre Idee als meine. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Es ist alles in Ordnung.«

Das hatte Leonie an diesem Morgen ein paarmal zu oft gehört, um sich noch damit zufrieden zu geben. »Aber das steht mir gar nicht zu!«, protestierte sie. »Und ich will es auch nicht.«

Fröhlich wollte etwas sagen, doch Großmutter brachte ihn mit einem raschen Blick zum Schweigen. »Das weiß ich«, sagte sie. »Und glaube mir, deine Mutter weiß es auch. Aber es ist in unserer Familie seit sehr langer Zeit Tradition, das Geschäft immer auf die jüngste Generation zu überschreiben. Und es ist der ausdrückliche Wunsch deiner Eltern, dass diese Tradition fortgeführt wird.«

»Außerdem ist es ohnehin nur eine Formsache«, fügte Fröhlich hinzu. »Bis zu deinem achtzehnten Geburtstag bist du zwar juristisch die Inhaberin des Geschäftes, aber deine Eltern sind als treuhändlerische Verwalter eingesetzt - und dasselbe gilt auch für das Vermögen.«

»Das heißt, ich kann euch nicht morgen rausschmeißen, den Laden verkaufen und das Geld mit Freunden verjubeln?«, fragte Leonie mit gespielter Enttäuschung.

Alle lachten - außer Fröhlich vielleicht, der unangenehm berührt wirkte. Schließlich räusperte er sich affektiert. »Wenn ich dann jetzt fortfahren dürfte?«

Er durfte.

Was folgte, war eine weitere halbe Stunde weitschweifigen Beamtendeutschs und dann eine Menge Unterschriften, Stempel und wieder Unterschriften. Leonie unterbrach Dr. Fröhlich nicht mehr und sie hörte auch kaum noch hin. Sie war viel zu erschlagen von dem, was sie gerade erfahren hatte. Sie sollte das elterliche Geschäft erben, und noch dazu Großmutters Vermögen, von dem sie zwar keine Ahnung gehabt hatte, das aber Fröhlichs Andeutungen zufolge beachtlich sein musste? Warum? Und vor allem: Warum jetzt? Großmutter war alt, aber doch nicht so alt, dass sie ernsthaft damit rechnen musste, nur noch kurze Zeit zu leben!

Nach einer kleinen Ewigkeit waren alle Papiere unterschrieben, alle Siegel angebracht und Fröhlich klappte seinen Ordner zu. »Damit ist es amtlich und beglaubigt. Ich leite die Papiere dann gleich heute noch an das zuständige Amtsgericht weiter.« Er wandte sich lächelnd an Leonie. »Meinen herzlichen Glückwunsch, junge Dame. Falls ich es noch erleben sollte, werden wir uns an deinem achtzehnten Geburtstag wiedersehen. Aber das ist dann nur noch eine reine Formsache. Das Schlimmste hast du hinter dir.«

Eine Formsache?, dachte Leonie, so wie die Formalität, die er gerade mit Großmutter besprochen hatte? Sie sagte nichts, aber der durchbohrende Blick, den sie Fröhlich zuwarf, schien viel sagend genug zu sein, denn der alte Notar hielt ihm nur einen kleinen Moment lang stand, bevor er sich mit einem nervösen Räuspern abwandte und schließlich erhob.

»Dann wäre ja im Moment alles erledigt«, sagte er. »Falls es keine weiteren Fragen gibt, werde ich meine Sekretärin anweisen, Ihnen ein Taxi zu bestellen.«

Plötzlich war die Stimmung im Raum unangenehm. Leonie sah, dass das Lächeln ihrer Großmutter für einen Moment entgleiste, und auch ihre Eltern wirkten mit einem Mal angespannt. Nach einer kühlen, förmlichen Verabschiedung verließen sie das Notariat.

Das Taxi, von dem Fröhlich gesprochen hatte, wartete schon. Der Fahrer hatte eine Parklücke, nur ein paar Schritte entfernt, gefunden, sodass es diesmal keinen Verkehrsstau gab. Leonie nahm auf der hinteren Bank Platz, zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter, während Großmutter - ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit - vorne neben dem Fahrer saß.

Und kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt, da hielt es Leonie endgültig nicht mehr aus. »Ich will jetzt endlich wissen, was das zu bedeuten hat«, platzte sie heraus. »Was sollte das alles? Wieso gehört plötzlich mir das Geschäft und all das Geld?«

Der Fahrer warf ihr einen überraschten Blick über den Spiegel hinweg zu und auch ihre Mutter runzelte einen Moment lang missbilligend die Stirn; einen solchen Ton war sie von ihrer Tochter nun wirklich nicht gewohnt. Es war ihr Vater, der antwortete.

»Das ist doch nur eine reine Formsache. Juristische Finessen.« Er lächelte verkrampft. »Unter anderem auch, um dem Finanzamt ein Schnippchen zu schlagen, wenn du es genau wissen willst. Bei den heutigen Erbschaftssteuern muss man zu solchen Mitteln greifen, damit überhaupt noch etwas übrig bleibt.«

Das entsprach möglicherweise sogar der Wahrheit, aber es passte leider so gar nicht zu dem Gespräch zwischen Fröhlich und Großmutter, das Leonie belauscht hatte.

»Und warum so plötzlich?«, fragte sie. »Bis gestern Abend wusste ich von gar nichts und mit einem Mal bin ich... bin ich Millionärin oder so was.«

Die Augenbrauen des Fahrers im Spiegel rutschten noch ein gutes Stück weiter nach oben und Vater sagte: »Nein, nein. Ganz so wild ist es nun auch wieder nicht.«

»Sag es ihr«, verlangte Großmutter.

Leonies Vater zog die Brauen zusammen. »Aber...«

»Sag es ihr!«, forderte Großmutter noch einmal und in schärferem Ton. Wenn Leonie es recht bedachte, klangen ihre Worte eigentlich schon fast wie ein Befehl. Ihr Vater reagierte nicht, aber er sah plötzlich sehr unglücklich aus.

»Was sollst du mir sagen?«, fragte Leonie.

Ihr Vater wich ihrem Blick aus und Großmutter sagte: »Ich muss fort.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Leonie.

»Ich werde euch... für eine Weile verlassen«, verkündete Großmutter. »Nicht für immer, aber doch für eine gewisse Zeit.«

»Was soll das heißen: für eine gewisse Zeit?«, hakte Leonie nach.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Großmutter unbehaglich. »Ein Jahr, vielleicht zwei.«

»Aber du kommst doch wieder?!«

»Selbstverständlich komme ich wieder«, versicherte Großmutter fast hastig. »Aber es kann eine Weile dauern und ich bin schließlich keine zwanzig mehr. Und dein Vater hat vollkommen Recht: So kompliziert, wie die Gesetze heutzutage sind, wäre es unverantwortlich, nicht gewisse... Vorkehrungen zu treffen.«

»Aber warum weiß ich nichts davon?« Leonie kämpfte plötzlich mit den Tränen, doch sie konnte selbst nicht genau sagen, ob es Tränen des Schmerzes oder der Wut waren. »Du musst weg - aber wieso und wohin und... und wann?«

»Ich habe noch einen Verwandten«, antwortete Großmutter. »Einen Bruder. Ich habe ihn schon seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen, dass ich seine Existenz beinahe vergessen hatte.«

Einen Bruder?, dachte Leonie. Es fiel ihr schwer, das zu glauben. In all den Jahren hatte Großmutter niemals von einem Bruder erzählt, sondern stets beteuert, dass sie und ihre Mutter ihre einzigen lebenden Verwandten waren.

»Vor ein paar Tagen kam ein Telegramm aus Kanada, wo mein Bruder lebt«, fuhr Großmutter fort. Sie sah Leonie bei diesen Worten nicht an, sondern blickte nach vorne aus dem Fenster. Was Leonie von ihrem Gesicht erkennen konnte, war das personifizierte schlechte Gewissen. »Es geht ihm nicht sehr gut. Er ist zwei Jahre älter als ich, musst du wissen, und er ist schon seit recht langer Zeit krank. Ich werde mich wohl für eine Weile um ihn kümmern müssen.«

»Und... und wann?«, fragte Leonie. In ihrem Hals saß plötzlich ein dicker, bitterer Kloß. »Ich meine: Wann musst du fort?«

»Schon heute«, sagte Großmutter leise. »Um genau zu sein: jetzt. Ich komme nicht mehr mit nach Hause, Leonie. Ich habe mein Gepäck schon gestern Abend zum Flughafen bringen lassen und mein Flugzeug geht in zwei Stunden.«

»In... zwei Stunden«, wiederholte Leonie ungläubig. Ihr Atem stockte. Sie drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte ebenfalls aus dem Fenster. Sie hatte bisher nicht darauf geachtet, aber nun fiel ihr auf, dass sie sich nicht auf dem Weg nach Hause befanden, sondern in die entgegengesetzte Richtung fuhren. »Soll das heißen, dass...?«

»Wir sind schon auf dem Weg zum Flughafen, ja.« Großmutter sah sie immer noch nicht an. Ihre Finger hatten sich um den Griff der altmodischen Handtasche geschlossen und kneteten ihn ununterbrochen.

»Aber... aber warum?«, murmelte Leonie. Sie begann den Kampf gegen die Tränen, die immer heftiger in ihren Augen brannten, allmählich zu verlieren, doch das war ihr egal. »Ich meine: Warum so plötzlich? Warum habt ihr mir nie etwas gesagt?« Sie wandte sich fast flehend an ihre Mutter, aber die wich ihrem Blick genauso aus wie ihr Vater und auch Großmutter.

»Es ging alles so schnell«, antwortete Großmutter vom Beifahrersitz aus. »Vor ein paar Tagen wussten wir ja schließlich selbst noch nichts davon. Und wir haben bis tief in die Nacht hinein versucht, eine andere Lösung zu finden, aber es ist uns nicht gelungen. Es war ein Fehler, es dir zu verschweigen, ich weiß. Es tut mir Leid.«

Leonie schwieg. Sie fragte sich, warum sie dieses unwürdige Theater nicht endlich beendete und sagte, dass sie ganz genau wusste, worüber Großmutter und ihre Eltern wirklich bis tief in die Nacht hinein geredet hatten. Aber sie verzichtete darauf. Sie blickte nur aus dem Fenster, kämpfte mühsam und immer vergeblicher gegen die Tränen an und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah, bis sie den Flughafen endlich erreicht hatten.

Der Abschied war kurz. Großmutters Gepäck war bereits an Bord und Vater brauchte nur zehn Minuten, um das hinterlegte Ticket abzuholen und für sie einzuchecken. Sie hätten noch Zeit gehabt, bevor Großmutter einsteigen musste, aber niemand protestierte, als sie vorschlug, lieber ein wenig eher durch die Passkontrolle und den Sicherheits-Check zu gehen; nur damit auch alles klappte. Leonie verfolgte das ganze Gespräch wie in Trance. Selbst als Großmutter sie zum Abschied in die Arme schloss und auf die Stirn küsste, kam sie sich wie in einem bösen Traum gefangen vor. Sie krächzte nur ein kaum verständliches Lebewohl und wandte sich dann mit einem Ruck ab, weil Großmutter die Tränen nicht sehen sollte, die ihr über das Gesicht liefen.

Danach rechnete sie damit, dass ihre Eltern möglichst schnell nach Hause fahren würden, aber das Gegenteil war der Fall. Statt sofort wieder in ein Taxi zu steigen, gingen sie hinauf ins Restaurant, von dem aus man einen Ausblick auf die Start- und Landebahnen hatte. Sie bestellten Kaffee und Kuchen für sich, aber als sie Leonie nach ihren Wünschen fragten, sah sie sie nur entsetzt an. Ihre Großmutter hatte die Familie gerade verlassen, und das - Leonie spürte es einfach - für immer. Wie konnten sie in diesem Moment Kaffee und Kuchen bestellen, als gäbe es etwas zu feiern?

Die Zeit verging nur schleppend. Die Kellnerin brachte die Bestellung, und ihre Eltern begannen sich über alltägliche Belanglosigkeiten zu unterhalten, so als wäre nichts geschehen. Schließlich aber ließ ihr Vater seine Kaffeetasse sinken und deutete mit der freien Hand durch die große Panoramascheibe nach draußen. »Das ist Großmutters Maschine.«

Leonie fuhr fast erschrocken herum und folgte seiner Geste. Am Ende der Startbahn, durch die große Entfernung scheinbar auf die Dimensionen eines Spielzeugflugzeuges zusammengeschrumpft, war ein in drei bunten Farben lackierter Jumbojet in Position gerollt. Gerade als Leonie hinsah, setzte er sich scheinbar schwerfällig in Bewegung, gewann aber rasch an Tempo.

Der Anblick versetzte ihr einen tiefen Stich und sie spürte, wie sich ihre Augen schon wieder mit Tränen füllen wollten. Diesmal gelang es ihr, sie unter Aufbietung aller Willenskraft zurückzudrängen, aber sie saß stocksteif da und war sich dabei durchaus bewusst, dass ihr Gesicht zu einer vollkommen ausdruckslosen Maske erstarrte.

Etwas berührte ihre Finger. Leonie riss ihren Blick von dem immer schneller werdenden Jumbojet los und bemerkte, dass ihre Mutter ihre Hand ergriffen hatte. Es sollte eine Geste des Trostes werden, aber sie bewirkte in Leonie in diesem Augenblick eher das Gegenteil. Sie rührte sich nicht, doch es kostete sie große Anstrengung, ihre Hand nicht abzuschütteln.

Ihre Mutter schien das zu bemerken, denn nach einer Weile zog sie ihre Hand zurück, und in den Ausdruck von Mitleid in ihren Augen mischten sich Bedauern und ein leiser Schmerz.

»Es tut mir so Leid, Schatz«, sagte sie mitfühlend. »Aber glaub mir, wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Es ist besser so. Und sie kommt ja wieder.«

»Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt«, flüsterte Leonie. In ihrer Stimme war ein so bitterer und zugleich vorwurfsvoller Ton, dass ihre Mutter leicht zusammenzuckte und ihr Vater stirnrunzelnd in ihre Richtung sah und sichtlich dazu ansetzte, etwas zu erwidern, aber ihre Mutter legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und er schwieg.

Leonie sah wieder zur Startbahn. Sie bereute ihre Worte bereits. Sie hatte ihre Mutter verletzt und sie war dazu noch unfair gewesen, das wusste sie. Aber es tat so weh. Leonie begriff erst jetzt, als sie dem immer schneller und schneller werdenden Flugzeug hinterherstarrte, wie gewaltig der Verlust war, den sie erlitten hatte. Solange sie sich erinnern konnte, hatte Großmutter selbstverständlich zu ihrem Leben dazugehört. Sie konnte sich einfach noch nicht vorstellen, dass sie nun nicht mehr da sein sollte. Es war buchstäblich kein Tag vergangen, an dem sie sie nicht gesehen hatte, und gerade in den letzten Jahren, in denen ihre Mutter immer stärker in die Buchhandlung eingebunden gewesen war, hatte sie eigentlich mit Großmutter die meiste Zeit verbracht. Sie waren mehr als Großmutter und Enkelin gewesen, nämlich trotz des gewaltigen Altersunterschiedes sehr gute Freundinnen. Und all das sollte jetzt vorbei sein, von einem Moment auf den anderen und ohne dass sie wirklich wusste warum? Nein, so unfair konnte das Schicksal einfach nicht sein.

Das Flugzeug wurde immer noch schneller. Als es abhob, bemerkte Leonie einen verschwommenen Reflex auf der großen, leicht gebogenen Panoramascheibe. Es war nur ein Huschen, etwas, das sich für einen Sekundenbruchteil im Glas spiegelte und dann wieder verschwunden war, aber Leonie erkannte trotzdem ganz deutlich eine schmale, vom Alter gebeugte Gestalt, die einen zweireihigen grauen Anzug trug, Weste und Fliege und ein Monokel im rechten Auge.

Sie fuhr so erschrocken herum, dass sie gegen den Tisch stieß und Geschirr und Besteck klirrten. Hinter ihr war niemand. Das Restaurant war gut besucht und etliche Gäste blickten wie sie gerade aus dem Fenster und sahen dem startenden Flugzeug nach, aber es war kein hundertjähriger Notar mit Monokel und dünnem Pferdeschwanz unter ihnen.

»Was hast du?«, fragte ihre Mutter leicht alarmiert.

»Nichts«, antwortete Leonie. Sie musste sich getäuscht haben. In dem Zustand, in dem sie sich befand, war es ja kein Wunder, dass ihre Fantasie anfing, ihr böse Streiche zu spielen.

Das Flugzeug war in der Luft, als sie sich wieder zum Fenster umdrehte, und neigte sich zur Seite, während es allmählich an Höhe gewann.

»Sei nicht traurig, Schatz«, sagte ihre Mutter leise. »Sie kommt ja zurück. Bestimmt.«

Und in diesem Moment explodierte der Jumbo und verwandelte sich in einen lodernden Feuerball.

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