Kidnapping für Anfänger

Sie rasten auf quietschenden Reifen bis zum Ende der Straße, und Frank bog so schnell ab, dass das Heck des Wagens ausbrach und Leonie schon wieder unsanft nach vorne geschleudert wurde. Frank machte ein entschuldigendes Gesicht, aber der Wagen wurde trotzdem nicht langsamer, bis sie die nächste Kreuzung erreichten und abermals abbogen. Seine Augen blitzten; es war nicht zu übersehen, dass er es trotz allem genoss, den schweren Wagen in so halsbrecherischem Tempo über die Straße zu jagen.

»Haben Sie eigentlich keine Angst, einem Streifenwagen zu begegnen?«, fragte Leonie.

Frank sah sie so vollkommen verständnislos an, dass Leonie es vorzog, das Thema zu wechseln. »Wohin fahren wir?« Sie machte eine rasche Handbewegung, als Frank zu einer Entgegnung ansetzte. »Und bitte nicht wieder etwas in der Axt wie: an einen sicheren Ort.«

Frank lächelte flüchtig und nahm den Fuß vom Gas, sodass der Wagen ein bisschen langsamer wurde; wenn auch wirklich nur ein bisschen. Er hob die Schultern. »Sehr viel mehr kann ich dir leider nicht sagen«, behauptete er. »Ein kleines Hotel, auf der anderen Seite der Stadt. Außer mir und deinem Vater kennen es nur noch zwei oder drei andere.« Sein Blick verdüsterte sich. »Und wie viele von denen noch leben, weiß ich nicht.«

»Diese Männer waren Ihre Freunde«, vermutete sie.

»Ein paar«, antwortete Frank. Er wich ihrem Blick aus.

»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Leonie - was ehrlich gemeint war. Obwohl es keinen Grund dafür zu geben schien, fühlte sie sich verantwortlich für das, was geschehen war.

»Es würde mir schon helfen, wenn ich wenigstens wüsste, in welche Sache wir da hineingeraten sind.« Frank schüttelte verstört den Kopf. »Habe ich das gerade alles wirklich erlebt? So etwas... so etwas gibt es doch gar nicht! Ungeheuer mit Schwertern und Keulen, die aus dem Nichts auftauchen und kugelsicher sind. Das kann doch nur ein Albtraum gewesen sein!«

»Ich...« Leonie setzte dazu an, etwas zu sagen, aber sie sprach nicht weiter, sondern sah Frank nur mit einer Mischung aus Verwirrung und langsam aufkeimendem Schrecken an. Etwas durch und durch Unheimliches geschah: Leonie glaubte regelrecht zu hören, wie in ihrem Kopf eine ganze Schar emsiger, kleiner Handwerker daranging, die Mauer um ihre Erinnerungen zu reparieren. Was sie gerade noch gewusst hatte, war nun wieder verschwunden. Worte, die gerade noch einen Sinn ergeben hatten, taten es plötzlich nicht mehr, und die Erinnerung an ein ganzes zurückliegendes Leben wurde stärker, von dem sie zugleich ganz genau wusste, dass sie es nie gelebt hatte. Leonie hatte das Gefühl, ihre Persönlichkeit würde sich auflösen. Es war das mit Abstand Grässlichste, was sie jemals erlebt hatte. Und das Allerschlimmste überhaupt war, dass sie selbst die Erinnerung an diesen Moment in wenigen Augenblicken verloren haben würde.

»Ich verstehe.« Frank klang traurig. »Du willst nicht darüber reden.«

»Nein!«, widersprach Leonie heftig. »Ich meine: doch. Ich... ich will schon, aber ich... ich kann nicht.«

»Lass gut sein«, sagte Frank mit einem verständnisvollen Lächeln, das vielleicht schlimmer als alles andere war, was er hätte tun können. »Ich verstehe. Es ist wahrscheinlich auch besser so. Ich bekomme auch so schon genug Ärger, ohne mehr zu wissen, als gut für mich ist.«

»Aber Sie verstehen nicht«, rief Leonie fast verzweifelt. »Ich kann nicht!«

»Schon gut«, antwortete Frank. Er lächelte erneut, sah dann wieder nach vorne - und runzelte plötzlich die Stirn. Sein Blick konzentrierte sich auf den Innenspiegel.

»Was ist?«, fragte Leonie alarmiert.

»Nichts«, erwiderte Frank, allerdings in ganz und gar nicht überzeugendem Ton. Er lächelte nervös. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

Leonie sah ihn noch eine Sekunde lang fragend an, dann drehte sie sich umständlich in ihrem Sitz um. Sie fuhren schon seit einer kleinen Weile über eine vierspurige Allee, die von luxuriösen Ein- und Zweifamilienhäusern und kleinen Villen gesäumt wurde. Die Straße war fast leer. Hinter ihnen befand sich nur ein einziges Fahrzeug und das bot nicht gerade einen alltäglichen Anblick.

»He!«, sagte Leonie überrascht. »Das ist eine Pferdedroschke!«

»Ein Einspänner, ja«, bestätigte Frank. »Muss mindestens aus dem letzten Jahrhundert stammen. Wenn nicht aus dem vorletzten.«

»So etwas sieht man heutzutage kaum noch«, sagte Leonie staunend.

»Stimmt«, entgegnete Frank. »Und? Fällt dir sonst nichts auf?«

Leonie versuchte es, aber nach ein paar Sekunden hob sie nur die Schultern. »Nein. Was denn?«

»Es ist fast neun«, antwortete Frank gepresst. Er starrte wie gebannt in den Rückspiegel. »Wir fahren über die Hauptverkehrsstraße der Stadt. Und es ist nicht ein einziges anderes Fahrzeug zu sehen.«

Leonie fuhr erschrocken zusammen und sah sich in alle Richtungen um. Frank hatte Recht. Mit Ausnahme der bizarren Kutsche hinter ihnen war nicht ein einziges Fahrzeug auf der Straße. Und das war noch nicht alles. In keinem einzigen Haus brannte Licht und auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen. Es gab nur sie und dieses unheimliche, antiquierte Gespann. Und...

Leonie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Sie bleibt die ganze Zeit hinter uns«, murmelte sie ungläubig.

»Und das seit mindestens fünf Minuten«, bestätigte Frank »Dabei fahren wie gute sechzig Stundenkilometer.«

»Das... das kann doch wohl nicht wahr sein!«, ächzte Leonie.

»Es sei denn, die haben ein Turbo-Pferd da hinten.« Frank schürzte grimmig die Lippen. »Mal sehen, wie schnell es wirklich ist.« Er trat das Gaspedal durch und der Wagen beschleunigte mit einem schrillen Surren. Die Tachometernadel erreichte die siebzig, dann die achtzig und neunzig und zitterte schließlich dicht unter der Einhundert-Kilometer-Marke.

Die Droschke fiel nicht zurück.

»Das ist doch völlig unmöglich«, keuchte Leonie. Aber unmöglich oder nicht - das einspännige Fuhrwerk blieb an ihnen dran. Das schwarze Pferd, von dem es gezogen wurde, war in einen gleichmäßigen raschen Trab gefallen. Aber es galoppierte nicht einmal. Dennoch kam die Droschke langsam, aber beständig näher.

»Können Sie nicht schneller fahren?«, fragte sie unbehaglich.

»Kein Wagen fährt schneller als hundert«, antwortete Frank »Das ist überhaupt nicht erlaubt!«

Leonie zog es vor, nicht allzu intensiv über diese Antwort nachzudenken. Stattdessen drehte sie sich um und sah wieder zu der Droschke zurück Diesmal war sie ganz sicher: Der Wagen war näher gekommen.

»Anscheinend gilt das nicht für Einspänner«, murmelte sie.

Frank blieb ernst. »Du hast außer keulenschwingenden Ungeheuern nicht zufällig noch ein paar andere Freunde, mit denen irgendetwas nicht ganz koscher ist?«, fragte er.

Leonie antwortete nicht. Sie starrte mit klopfendem Herzen zu der Droschke zurück. Sie hatte weiter aufgeholt und eigentlich hätte sie längst den Fahrer auf dem Bock erkennen müssen. Sonderbarerweise konnte sie es nicht. Alles, was sie sah, war ein verschwommener Schatten.

»Verdammt!«, fluchte Frank. Er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad und versuchte das Gaspedal noch weiter durchzutreten. Der Wagen wurde kein Stück schneller, aber die Droschke kam unerbittlich näher. Mittlerweile trennten sie allerhöchstem noch fünfzehn oder zwanzig Meter von dem schweren Geländewagen und die Distanz schmolz zusehends weiter zusammen. Der Kutscher war immer noch nicht zu erkennen.

»So!«, knurrte Frank »Das wollen wir doch mal sehen!«

Er schaltete zurück, riss plötzlich das Lenkrad herum und gab wieder Gas. Leonie schrie erschrocken auf, als der Wagen in nahezu rechtem Winkel von der Straße abbog und dann mit einem Knall die Bordsteinkante hinaufsprang. Eine sorgsam geschnittene Hecke fiel dem verchromten Stoßfänger ebenso zum Opfer wie die beiden pedantisch gestutzten Büsche dahinter, dann rammte der Wagen etwas, das widerstandsfähig genug war, Funken aus dem verchromten Stahl zu schlagen und den gesamten Wagen ein Stück zur Seite hüpfen zu lassen. Frank kurbelte fluchend am Lenkrad, bekam den Wagen wie durch ein Wunder wieder unter Kontrolle und gab erneut Gas. Unter den Rädern stoben Fontänen aus Gras und Erdreich hoch, als der Geländewagen in einen großen, völlig verlassen daliegenden Park hineinschoss.

Leonie warf einen hastigen Blick auf den Tachometer und bedauerte ihn sofort. Noch vor ein paar Sekunden waren ihr hundert Stundenkilometer erbärmlich langsam vorgekommen. Wenn man in diesem Tempo zwischen dicht stehenden Bäumen hindurchraste und durch Gebüsch und Sträucher brach, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte - von einem nichts ahnenden Kaninchen bis zu einem ausgewachsenen Felsbrocken -, sah die Sache allerdings schon etwas anders aus.

»Wollen doch mal sehen, ob er das auch kann«, sagte Frank grimmig. Er sah in den Rückspiegel, riss die Augen auf und erbleichte.

Er konnte.

Der Einspänner war noch immer hinter ihnen und schien sogar weiter aufgeholt zu haben. Anders als der Geländewagen walzte er Sträucher und Gebüsch allerdings nicht nieder, sondern schien auf unheimliche Weise geradewegs durch jedes Hindernis hindurchzugleiten, so als wäre er nicht mehr als ein flüchtiger Schemen.

»Das kann doch alles nicht wahr sein!«, brüllte Frank. »Ich...«

Urplötzlich brach sich das Scheinwerferlicht auf der Oberfläche eines kleinen Teichs, der wie aus dem Nichts vor ihnen auftauchte. Frank riss wie wild am Steuer und arbeitete gleichzeitig mit Bremse, Gaspedal und Kupplung, aber nichts von alledem vermochte das Unglück noch aufzuhalten. Wasser spritzte in einer doppelten Fontäne unter den Vorderrädern hoch und klatschte auf die Windschutzscheibe. Leonie fühlte, wie die Räder durchdrehten. Anstelle von Wasser spritzte plötzlich Schlamm unter den Rädern hoch, dann konnte sie spüren, wie der ganze Wagen ins Schleudern geriet und langsam, aber unerbittlich zu kippen begann. Sie schrie auf, ebenso wie Frank, klammerte sich instinktiv irgendwo fest und stieß mit einem schmerzerfüllten Ächzen die Luft aus, als sich der Wagen krachend auf die Seite legte. Eiskaltes Wasser strömte durch die beiden Türen auf ihrer Seite herein und ließ Leonie wie unter Peitschenhieben aufheulen.

Der Schock war so gewaltig, dass sie einen Moment lang ernsthaft in Gefahr war, das Bewusstsein zu verlieren. Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es ihr zwar, nicht in Ohnmacht zu fallen, aber sie lag wie gelähmt da und war vollkommen unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren, während das eiskalte Wasser rings um sie herum rasend schnell anstieg. Im buchstäblich allerletzten Moment spürte sie, wie eine starke Hand nach ihr tastete, rasch den Sicherheitsgurt löste und sie dann grob in die Höhe riss.

Leonies ohnehin bereits ansehnliche Sammlung von Schrammen und Prellungen bekam noch reichlich Zuwachs, als Frank sie aus dem umgestürzten Wagen zerrte und ans Ufer trug. Keuchend sank sie auf die Knie, krümmte sich und spuckte hustend und würgend Wasser aus.

Frank beugte sich zu ihr herab und setzte dazu an, etwas zu sagen, doch dann sog er stattdessen nur scharf die Luft ein und spannte sich. Leonie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie er wieder aufsprang und seine Pistole zog. Keine drei Meter von ihnen entfernt war die schwarze Kutsche zum Stehen gekommen.

»Nicht!«, sagte sie erschrocken.

Frank steckte seine Waffe nicht ein, sondern zielte ganz im Gegenteil nun mit beiden Händen auf den schemenhaft erkennbaren Kutscher. Aber wenigstens schoss er nicht sofort, sondern sah Leonie fragend und fast hoffnungsvoll an.

Leonie war allerdings froh, dass er die Frage, die ihm so deutlich auf den Lippen lag, nicht laut aussprach. Sie hätte sie kaum beantworten können.

Der Anblick der schwarzen Kutsche ließ ihr Herz bis zum Hals klopfen. Sie war auf ihre Art ebenso unheimlich und beängstigend, wie es die krallenbewehrten Ungeheuer gewesen waren, und trotzdem spürte sie tief in sich, dass sie keinen Grund hatte, sich zu fürchten. Sie hätte dieses Gefühl nicht erklären können, aber es war so stark, dass sie auch nicht den mindestens Zweifel daran hatte.

Frank machte zwei Schritte zurück und zur Seite, wodurch er nun direkt zwischen Leonie und der Kutsche stand. Die Pistole in seiner Hand zielte noch immer auf die verschwommene Gestalt auf dem Kutschbock, aber Leonie entging auch nicht, wie heftig er mittlerweile zitterte. Er hielt die Waffe nicht mit beiden Händen, weil er Angst gehabt hätte, aus drei Metern Entfernung daneben zu schießen, sondern weil er sie sonst womöglich fallen gelassen hätte. Trotzdem bewunderte Leonie seinen Mut. Jeder andere an seiner Stelle hätte die Pistole vermutlich schon längst weggeworfen und wäre schreiend davongelaufen.

»Was ist denn jetzt?«, fragte er nervös. »Weißt du, wer das ist, oder sollte ich anfangen mir Sorgen zu machen?«

Leonie stand auf und wollte an Frank vorbeigehen, aber er schüttelte nur heftig den Kopf und scheuchte sie mit einer unwilligen Geste zurück. »Nicht bevor ich nicht weiß, wer das ist.« Seine Stimme klang zu gleichen Teilen nervös wie auch sehr entschlossen. Leonie versuchte nicht noch einmal an ihm vorbeizugehen.

Er war auch nicht nötig. Der unheimliche Schatten auf dem Kutschbock gerann zu einem Körper, und nicht nur Leonie riss ungläubig die Augen auf, als sie einen grauhaarigen uralten Mann mit Soutane und weißem Priesterkragen erkannte.

»Vater Gutfried?«, murmelte sie ungläubig.

Frank ließ den Wagen für einen kurzen Moment aus den Augen, um ihr einen stirnrunzelnden Blick zuzuwerfen. »Ich denke, du weißt nicht, wer das ist?«

»Ich fürchte, das weiß sie auch nicht.«

Frank fuhr wie elektrisiert herum und hob seine Waffe noch ein bisschen höher, als die Tür des Wagens aufging und eine dunkelhaarige junge Frau in einem modisch geschnittenen Kostüm ausstieg. Ihr Gesicht kam Leonie vage bekannt vor, aber sie konnte einfach nicht sagen woher.

»Das ist doch so, nicht wahr, Leonie?«, fuhr Theresa fort.

»Ich...« Leonie brach hilflos ab. Theresa. Sie wusste plötzlich, dass sie Theresa gegenüberstand, aber sie wusste nicht einmal, woher sie es wusste.

»Immerhin scheint noch nicht alles verloren zu sein«, sagte Theresa. Sie wandte sich mit einem leicht verärgerten Blick an Frank. »Würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen und aufhören, mit diesem Ding vor meiner Nase herumzufuchteln, junger Mann?«, fragte sie.

Frank riss verblüfft die Augen auf, aber Leonie konnte nicht sagen, ob das nun an Theresas vermeintlicher Unverfrorenheit lag oder daran, dass sie ihn junger Mann genannt hatte. Frank war gut und gerne zehn Jahre älter als sie.

»Erst wenn ich weiß, was hier vor sich geht«, antwortete er grimmig. »Leonie! Was hat das zu bedeuten? Wer sind diese Leute?«

»Geben Sie sich keine Mühe«, seufzte Theresa. »Ich fürchte, sie kann Ihnen Ihre Fragen nicht beantworten. Dafür hat ihr Vater gesorgt.« Ohne der Pistole, die noch immer drohend auf ihr Gesicht gerichtet war, auch nur die geringste Beachtung zu schenken, kam sie näher und blieb erst unmittelbar vor Leonie stehen, um ihr ernst und nachdenklich in die Augen zu sehen. »Das ist doch so, oder?«

»Hä?«, machte Frank. Er ließ die Waffe sinken, aber Leonie hatte das sichere Gefühl, dass das aus reiner Verblüffung geschah, nicht weil er Theresa etwa plötzlich getraut hätte.

»Geben Sie sich keine Mühe, meine Liebe«, rief eine Stimme aus dem Inneren der Kutsche. »Wenn sie in der Lage wäre, diese Frage zu beantworten, dann müsste die Antwort zwangsläufig ein ganz klares ›Nein‹ sein.«

Eine zweite Gestalt kletterte deutlich umständlicher als Theresa aus dem Wagen und kurz darauf noch eine dritte. Es waren zwei hochbetagte, auf völlig unterschiedliche Weise elegant gekleidete Männer, die ebenso wie das antiquierte Gefährt, dem sie entstiegen, einem zurückliegenden Jahrhundert zu entstammen schienen.

»Professor Wohlgemut! Doktor Fröhlich«, rief Leonie überrascht. Auf Fröhlichs Gesicht erschien ein erfreuter Ausdruck, aber Wohlgemut wirkte eher noch besorgter.

»Ja«, meinte Theresa traurig. »Die ganze Truppe. Alles, was davon übrig ist.« Sie lächelte flüchtig. »Na, um ehrlich zu sein, alles, woraus sie je bestanden hat.«

»Also, ich will ja nicht aufdringlich erscheinen«, rief Frank. Sowohl Theresa als auch die anderen ignorierten ihn.

»Du musst dich erinnern, Leonie!«, sagte Theresa in leisem, eindringlichem Ton.

Leonie wollte es ja. Sie versuchte mit aller Konzentration, die sie nur aufbringen konnte, die Mauer in ihrem Kopf niederzureißen, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Sie erinnerte sich an Theresas Namen, ebenso wie an die Namen der drei Männer, und sie wusste auch, dass Theresa und diese Männer eine sehr wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt hatten - aber das war auch alles. Wo ihre Erinnerungen sein sollten, war keineswegs ein schwarzes Loch. Sie erinnerte sich an ihr gesamtes Leben - so weit das möglich war -, doch nichts davon war echt. Ihr war, als betrachte sie ein perfektes Bild, das aber eben nicht mehr war als ein Bild, das jemand auf eine Wand gemalt hatte, hinter der sich ihr wirkliches Leben verbarg. Und sosehr sie es auch versuchte, gelang es ihr doch nicht, diese Mauer einzureißen.

»Also Entschuldigung«, mischte sich Frank ein. »Ich meine: Selbst wenn Sie der Meinung sein sollten, dass mich das alles hier nichts angeht, würde mich doch interessieren...«

»Junger Mann, bitte«, wies ihn Fröhlich zurecht. »Es ist wichtig.«

»Ah so«, sagte Frank geknickt. »Das konnte ich ja nicht ahnen.« Plötzlich schrie er: »Seid ihr allesamt verrückt geworden oder wollt ihr mich verarschen? Ich will jetzt auf der Stelle wissen, was hier los ist!«

»Frank, bitte«, meinte Leonie leise. »Ich kann es Ihnen auch nicht erklären, aber es ist alles in Ordnung. Das sind meine Freunde.«

»Obwohl du mir nicht sagen kannst, wer sie eigentlich sind«, vergewisserte sich Frank. »Geschweige denn, was sie von dir wollen.«

»Wir müssen mit Leonie sprechen«, erklärte Theresa. »Sie muss uns begleiten.«

»Ganz bestimmt nicht«, knurrte Frank.

Leonie sah, wie Vater Gutfried umständlich vom Kutschbock herabstieg und näher kam. Aber auch Frank war die Bewegung nicht entgangen. Er drehte sich um und fuchtelte drohend mit seiner Pistole.

Gutfried blieb stehen und hob übertrieben erschreckt die Arme. »Mein Sohn«, keuchte er. »Versündige dich nicht!«

»Nicht, wenn Sie mir keinen Grund dazu geben, Vater«, antwortete Frank höhnisch. Aber sein Lächeln erlosch so schnell, wie es gekommen war. »Ich will jetzt wissen, was hier los ist! Was seid ihr für Vögel?«

»Glauben Sie uns doch einfach, dass wir auf derselben Seite stehen«, antwortete Theresa. »Wir sind Leonies Freunde. Wir haben sie nur angehalten um sie zu warnen.«

Frank warf einen viel sagenden Blick auf den Geländewagen, der auf die Seite gestürzt im Wasser lag. »Das hätten Sie einfacher haben können«, sagte er säuerlich. »Leonies Vater bringt mich um, wenn er das sieht.«

»Das hat er gar nicht nötig«, erwiderte Theresa ernst. »Er würde einfach dafür sorgen, dass Sie niemals gelebt haben.«

Frank starrte sie an. »Wie?«

Etwas geschah. Diesmal spürte Leonie es ganz deutlich, vielleicht eine Sekunde, bevor die Wirklichkeit Wellen schlug und etwas wie eine zweite, veränderte Realität aus den Schatten hervorzubrechen und Gestalt anzunehmen versuchte. Die unheimliche Erscheinung verschwand so schnell, wie sie gekommen war, aber Leonie war nicht die Einzige, die sie bemerkt hatte.

»Er kommt!«, rief Fröhlich erschrocken.

»Wer?«, fragte Frank.

»Sie haben Recht«, sagte Theresa. »Er hat uns entdeckt.«

»Was?«, donnerte Frank.

»Wir müssen weg«, bestätigte Wohlgemut.

»Sofort«, fügte Vater Gutfried hinzu.

»Ihr geht nirgendwohin«, knurrte Frank und wedelte drohend mit seiner Pistole. »Und schon gar nicht mit Leonie! Nur über meine Leiche!«

»Das wäre denn doch eine etwas zu drastische Maßnahme«, sagte Vater Gutfried. Er machte ein betrübtes Gesicht, seufzte und schlug zuerst das Kreuzzeichen und Frank dann die Faust mit solcher Gewalt unter das Kinn, dass Leonies Leibwächter lautlos die Augen verdrehte und dann nach hinten kippte.

»Aber was...?«, entfuhr es Leonie.

»Mach dir keine Sorgen um ihn«, unterbrach sie Theresa. »Ihm wird nichts geschehen. Man kann deinem Vater vieles nachsagen, aber nicht, dass er seine Wut an Unschuldigen auslässt.« Sie deutete mit einer plötzlich ungeduldigen Handbewegung auf die Karosse. Wohlgemut und Fröhlich waren bereits wieder eingestiegen, und auch Vater Gutfried schickte sich an, auf seinen Kutschbock zu steigen. Leonie erwartete halbwegs, dass er sich wieder in einen rauchigen Schatten zurückverwandeln würde, aber er blieb, was er war.

»Wir müssen fort, Leonie. Ich fürchte, dein Vater hat uns bereits entdeckt. Seine Männer werden jeden Moment hier sein.«

»Aber ich weiß doch gar nicht, was...«, begann Leonie, doch Theresa unterbrach sie auch jetzt wieder. »Wir müssen sofort verschwinden, Leonie, oder wir sind verloren. Ich werde all deine Fragen beantworten, aber erst wenn wir unterwegs sind.«

Leonie zögerte noch einen allerletzten Moment, doch dann gab sie sich einen Ruck und stieg hinter Theresa in den Wagen. Als sie die Tür hinter sich zuzog, fiel ihr Blick noch einmal auf Frank, der noch immer reglos und mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken lag. Sie spürte, dass Theresa die Wahrheit gesagt hatte, was ihren Vater anging. Er würde Frank nichts tun - und dennoch kam sie sich unendlich schäbig vor; als hätte sie den einzigen Freund verraten, der ihr noch geblieben war. Und sie hatte das schreckliche Gefühl, dass sie Frank niemals wiedersehen würde.

Der leichte Ruck, mit dem sich die Kalesche in Bewegung setzte, ließ Leonie unsanft auf die gesteppte Lederbank plumpsen. Sie fand mit einiger Mühe ihre Fassung wieder und grinste verlegen in die Runde. Doktor Fröhlich machte seinem Namen alle Ehre und lächelte zurück, aber der Ausdruck von Sorge in Wohlgemuts Blick schien sich eher noch zu verstärken.

»Du musst dich erinnern, Leonie«, drängte Theresa. »Bitte versuch es! Es ist unglaublich wichtig!«

Leonie versuchte es, aber das Ergebnis war eine eher noch größere Verwirrung. In ihrem Kopf purzelten die Gedanken und Bilder so wild durcheinander, dass ihr schwindelig wurde.

»Das hat keinen Sinn«, seufzte Wohlgemut. »Diesmal hat er ganze Arbeit geleistet.«

»Ich furchte, Sie haben Recht«, meinte Theresa. Sie sah sehr niedergeschlagen aus, fast verzweifelt. »Mir bleibt wohl keine andere Wahl.«

Keine andere Wahl? Leonie sah Theresa misstrauisch an. Sie wusste nicht, was diese Worte bedeuteten, aber was auch immer es war - es gefiel ihr nicht.

»Es tut mir Leid, Liebes«, sagte Theresa in mitfühlendem Ton. »Ich hätte dir das gerne erspart, aber es ist unendlich wichtig, dass du dich erinnerst - nicht nur für dich, sondern für uns alle.«

»Woran erinnern?«, fragte Leonie unsicher. »Und...?« Der Rest ihrer Frage ging in einem ungläubigen Keuchen unter, als sie Theresa ins Gesicht blickte.

Es war nicht mehr Theresa.

Auf der schmalen, ledergepolsterten Bank saß Leonies Großmutter.

Загрузка...