»Hier?« Irgendwie hatte Leonie das Kunststück fertig gebracht, ihren Gesichtsausdruck auf ein bloßes missbilligendes Stirnrunzeln zu reduzieren - das ihre Großmutter wahrscheinlich nicht einmal bemerkte, denn sie stand seit einer geschlagenen Minute da, starrte auf die Fassade des altehrwürdigen Gebäudes, und auf ihrem Gesicht hatte sich ein Ausdruck ausgebreitet, den Leonie nur noch als Verzückung bezeichnen konnte; auch wenn sie diese Begeisterung beim besten Willen nicht verstand. Was sie anging, erfüllte sie der Anblick mit einem Gefühl, das verdächtig nahe an blankes Entsetzen heranreichte.
Leonie räusperte sich. »Hier?«, fragte sie wieder, und diesmal gelang es ihr nicht nur, die Frage mit vollkommen ausdrucksloser Miene zu stellen, sondern sogar den leicht hysterischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.
Nicht dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Leonie war - zu Recht - stolz auf ihre schauspielerische Leistung, die Großmutter aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Sie stand immer noch wie zur Salzsäule erstarrt da, blickte auf die gewaltige Sandsteinfassade dieses jahrhundertealten Monstrums von Haus und schien alle Mühe zu haben, nicht vor lauter Begeisterung die Fassung zu verlieren.
Und zumindest das, dachte Leonie mit einer Mischung aus Resignation und immer noch schwelendem Entsetzen, war etwas, das sie im Moment durchaus gemeinsam hatten: Auch sie selbst stand kurz davor, die Fassung zu verlieren und möglicherweise etwas sehr Dummes zu tun.
Wenn auch aus vollkommen anderen Gründen...
Leonie hob die Hand, um die juckende Stelle am Kinn zu kratzen, und ließ den Arm dann wieder sinken, ohne die Bewegung zu Ende geführt zu haben. Die Stelle, wo sie das Piercing am Morgen entfernt haue, juckte nicht nur wie wild, sie tat auch verteufelt weh - und sie war keineswegs sicher, ob sie den kleinen Chromstift so ohne weiteres wieder einsetzen konnte. Und das Allerschlimmste war: Großmutter wusste das Opfer, das Leonie für sie gebracht hatte, nicht einmal zu würdigen.
»Ja, ja, hier«, sagte Großmutter plötzlich. Leonie blinzelte und brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, dass das die Antwort auf die Frage war, die sie vor einer guten Minute - zweimal! - gestellt hatte. Anscheinend schlug der Anblick des gewaltigen Bibliotheksgebäudes die alte Frau so sehr in seinen Bann, dass sie sich nur mit Mühe auf das konzentrieren konnte, was um sie herum vorging. »Damit hast du nicht gerechnet, wie? Die Überraschung ist mir gelungen, nicht wahr? Sag schon.«
Leonie schluckte ein paarmal, nicht nur um den bitteren Speichel loszuwerden, der sich immer wieder dort sammelte, wo vor ein paar Stunden noch das Piercing gewesen war, sondern vor allem um nicht auszusprechen, was ihr wirklich auf der Zunge lag. Sie lächelte gequält. »Stimmt«, antwortete sie. »Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«
Das war nicht einmal gelogen.
Großmutters Gesicht hellte sich auf. Mit deutlicher Anstrengung riss sie sich vom Anblick des riesigen Gebäudes los und wandte sich Leonie zu. Ihre Augen schienen von innen heraus zu leuchten, als sie zu ihrer Enkelin hochsah - und das im buchstäblichen Sinne des Wortes. Leonie - fünfzehn, sportlich, eine gute Schülerin und (nach eigener Einschätzung) verdammt gut aussehend - war alles andere als hoch gewachsen, aber ihre Großmutter reichte ihr trotzdem nur bis zum Kinn.
»Und das Beste kommt erst noch!«, sagte Großmutter. »Die eigentliche Überraschung steht dir erst noch bevor. Wart’s nur ab!«
»So, so«, machte Leonie. Sie lächelte - wenigstens hoffte sie, dass ihre Großmutter das gequälte Verziehen der Lippen, zu dem sie sich durchrang, als Lächeln auffassen würde.
»Du wirst sehen«, versprach Großmutter nochmals. »Komm!« Sie ging los und Leonie erlebte eine weitere Überraschung. Sie kannte ihre Großmutter als zwar agile, aber dennoch alte Frau, die sich eher vorsichtig bewegte, um nicht zu sagen: betulich. Jetzt aber eilte sie mit kleinen trippelnden Schritten so schnell voraus, dass Leonie im ersten Moment Mühe hatte, überhaupt mitzukommen, als gäbe ihr der Anblick des uralten Gemäuers etwas von der Kraft zurück, die ihr die vielen Jahrzehnte abverlangt hatten, die auf ihren schmalen Schultern lasteten.
Leonie runzelte die Stirn, ein wenig verwundert über ihre eigenen Gedanken. Trotzdem beeilte sie sich weiterzugehen, um mit ihrer Großmutter Schritt zu halten. Auf der Mitte der breiten Freitreppe, die zu dem beeindruckenden, von mehr als mannshohen steinernen Säulen flankierten Eingang des Bibliotheksgebäudes hinaufführte, holte sie sie ein, konnte aber trotzdem nicht wirklich langsamer werden. Ihre Großmutter legte ein Tempo vor, das sie immer mehr in Erstaunen versetzte. Noch vor einer knappen Stunde, als sie in den Bus gestiegen waren, hatte Großmutter ihr liebe Not gehabt, die beiden Stufen hinaufzukommen, jetzt schien sie mit jedem Schritt, den sie sich dem Eingang näherten, an Kraft und Schnelligkeit zu gewinnen.
Vielleicht war es ja die Kraft der Erinnerung, überlegte Leonie. Sie selbst hatte mit Büchern nie viel am Hut gehabt - wozu auch in einer Welt, in der es Fernseher, Notebooks, Gameboys, Walkmans und MP3-Player gab? -, aber Großmutter war zeit ihres Lebens von Büchern umgeben gewesen. Sie hatte (großer Gott: vor mehr als sechzig Jahren!) eine Lehre als Buchhändlerin abgeschlossen und niemals in einem anderen Beruf gearbeitet. Die kleine Buchhandlung am Stadtrand, von der Leonies Eltern lebten und die sie eines Tages übernehmen sollte, hatte sie vor nahezu einem halben Jahrhundert gegründet, und obwohl sie mittlerweile die achtzig weit überschritten hatte, stand sie auch jetzt noch dann und wann im Laden; und sei es nur, um ein Schwätzchen mit einem Kunden zu halten.
Wobei sie beim Thema war, dachte Leonie mit einem lautlosen, aber inbrünstigen Seufzer. Buchhändler. Ihre Eltern erwarteten allen Ernstes, dass sie eine Lehre als Buchhändlerin machte und den elterlichen Laden übernahm! Dass ihre Großmutter, die eine alte Frau war und mehr in der Vergangenheit lebte als in der Gegenwart, davon träumte, sie als ihre einzige Enkelin sollte den Familienbetrieb in der dritten Generation weiterführen, das konnte Leonie ja noch halbwegs nachvollziehen. Aber ihre Eltern? Sie konnten doch nicht im Ernst annehmen, dass ein modernes, aufgeschlossenes junges Mädchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, den Rest seines Lebens in einem muffigen, kleinen Laden zu verbringen, in den sich an manchen Tagen nur ein einziger Kunde verirrte und in dem es nichts anderes als Bücher gab! Noch dazu eine ganz besondere Art von Büchern. Nicht etwa spannende Thriller und Fantasy-Romane von Stephen King, Grisham oder Rowling, sondern uralte Schwarten - Goethe, Kleist, Shakespeare und der ganze Kram, der keinem anderen Zweck diente, als unschuldige Schüler damit zu quälen.
Nein, für Leonie stand fest, dass sie dieses großzügige Ansinnen ihrer Eltern ausschlagen würde. Auch wenn Mutters Augen bei der Nachricht ihres bevorstehenden Praktikums so geleuchtet hatten wie in längst vergangenen Zeiten, als ihr kleiner Bruder noch gelebt hatte, der im Alter von zwei Jahren gestorben war. Sie war überhaupt nur mit hierher gekommen, um ihrer Großmutter einen Gefallen zu tun. Selbst das bedauerte sie mittlerweile - spätestens seit dem Moment, in dem sie sich das Piercing aus der Unterlippe gezogen hatte und ihr dabei Tränen in die Augen geschossen waren -, aber nun war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Leonie seufzte erneut, und diesmal sogar hörbar. Na schön: Sie würde eben gute Miene zum bösen Spiel machen und den Rest dieses verlorenen Nachmittags auch noch durchstehen. Auch wenn sie beim besten Willen nicht wusste wie.
Als sie das Gebäude betraten, wurde es spürbar kühler und Leonie sah überrascht hoch, als sie das Brummen einer Klimaanlage vernahm; nach der brütenden Sommerhitze draußen eine reine Wohltat, mit der sie in einem altehrwürdigen Gebäude wie diesem zuallerletzt gerechnet hätte.
Überhaupt sah es hier eigentlich nicht so aus, wie sie sich eine jahrhundertealte Bibliothek vorgestellt hatte. Der Raum erinnerte sie eher an das Foyer eines Mittelklassehotels aus den Fünfzigerjahren, nur dass er sehr viel größer war. Der Boden war mit schwarzweißen, hoffnungslos verkratzten Kacheln bedeckt, und überall standen schmucklose, rechteckige Tische mit zerschrammten Resopalplatten und dazu passende billige Kunststoffstühle, die aussahen, als wären sie nur zu dem einzigen Zweck entworfen worden, möglichst unbequem zu sein; an zwei oder drei Tischen saßen sogar Leute, die in Büchern lasen oder in Zeitschriften blätterten, die meisten aber waren leer. Es roch auch nicht nach alten Büchern oder Staub, sondern nach Putzmittel. Die dem Eingang gegenüberliegende Wand bestand aus einer beeindruckenden Reihe deckenhoher Milchglastüren, bewacht von einem noch beeindruckenderen Tresen, der das Gefühl, sich in einem heruntergekommenen Hotel zu befinden, noch verstärkte. Ein grauhaariger Mann, der tatsächlich so etwas wie eine Livree trug, stand dahinter und wachte mit Argusaugen darüber, dass niemand die heilige Ruhe des Lesesaales störte.
Großmutter steuerte mit energischen Schritten auf diesen Tresen zu, was offensichtlich das Missfallen des Livreeträgers erweckte, denn auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der mindestens so finster war wie Leonies Gedanken. Dann aber hellten sich seine Züge ganz plötzlich auf und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Aber das ist doch... Frau Kammer!«
Die beiden letzten Worte hatte er fast geschrien, jetzt kam er mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten um seinen Tresen herum, eilte auf Großmutter zu und schloss sie so stürmisch in die Arme, dass er sie fast von den Füßen gerissen hätte.
»Frau Kammer!«, rief er immer wieder. »Das ist ja eine Überraschung! Dass wir uns nach so langer Zeit noch einmal wiedersehen!« Plötzlich schien ihm sein eigenes Benehmen peinlich zu werden. Er ließ Großmutter los und trat fast hastig einen Schritt zurück. »Das... das ist ja wirklich eine Überraschung«, wiederholte er und räusperte sich ein paarmal. »Womit kann ich Ihnen dienen, meine Gnädigste?«
Meine Gnädigste!, dachte Leonie. Wo war sie hier bloß gelandet?
»Ich würde mich ja liebend gerne mit Ihnen über alte Zeiten austauschen, Albert«, sagte Großmutter lächelnd, »aber zumindest im Moment passt es schlecht. Wir haben nämlich einen Termin bei Herrn Professor Wohlgemut, und ich fürchte, wir sind schon jetzt zu spät dran.«
»Ich verstehe.« Albert verschwand mit schnellen Schritten hinter seinem Tresen und drückte einen Knopf. Ein Summen erklang und eine der Milchglastüren hinter ihm sprang einen Spaltbreit auf.
»Wir finden sicher noch Gelegenheit, in aller Ruhe über alte Zeiten zu plaudern.« Er wies mit einer einladenden Handbewegung auf die offen stehende Tür. »Sie kennen ja den Weg. Ich melde Sie schon mal beim Herrn Professor an.«
Großmutter bedankte sich mit einem Kopfnicken (und einem Lächeln, das sie für einen Moment zwanzig Jahre jünger aussehen ließ) und ging auf die offene Tür zu. Leonie beeilte sich ihr zu folgen, bevor Albert vielleicht auf die Idee kam, irgendwelche selbst erlebten Geschichten aus dem Dreißigjährigen Krieg zu erzählen. Der alte Mann mochte ja ganz nett sein - immerhin war er mit ihrer Großmutter befreundet und Leonie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Großmutter Freunde hatte, die nicht nett waren -, aber sie amüsierte sich trotzdem einen Moment lang bei der Vorstellung, was Albert wohl über die reizende junge Dame sagen würde, wenn er sie in ihrem normalen Outfit sah: schwarz gefärbtes Haar, hautenge pechschwarze Klamotten, ein (selbstverständlich umgedrehtes) silbernes Kreuz an einer Kette um den Hals, mit gepiercter Unterlippe, schwarz lackierten Fingernägeln und einem Discman am Gürtel. Vermutlich würde er sie dann nicht mehr ganz so reizend finden.
»Professor Wohlgemut wird dir gefallen«, bemerkte Großmutter, nachdem sie die Tür durchschritten hatten und einen langen, nur matt erhellten Gang mit weiß getünchten Wänden hinuntergingen, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Auch hier sah es nicht aus wie in einer Bibliothek, fand Leonie, allerdings auch nicht mehr wie in einem Fünfziger-Jahre-Hotel, eher schon wie in einem hundertfünfzig Jahre alten Krankenhaus. »Er ist ein wirklich guter Freund von mir.«
Großmutter steuerte eine Gittertür ganz am Ende des Flures an, hinter der eine altmodische Liftkabine mit verspiegelten Wänden lag. »Er ist ein sehr netter Mann.« Sie blinzelte Leonie zu. »Und kaum älter als ich. Nicht einmal ganz zehn Jahre, glaube ich.«
»Aha«, sagte Leonie. Bedeutete das, dass sie sich jetzt auch noch selbst erlebte Geschichten von der Schlacht im Teutoburger Wald anhören musste?
»Das Ganze hier gefällt dir nicht, habe ich Recht?«, fragte Großmutter, als sie die Liftkabine betreten hatten und darauf warteten, dass sich das altmodische Gefährt in Bewegung setzte. Leonie wollte widersprechen, aber Großmutter hob rasch die Hand. »Oh, mach mir nichts vor. Ich weiß sehr wohl, dass du nur mitgekommen bist, um mir einen Gefallen zu tun.« Sie lächelte. »Das ist schon in Ordnung, wie ihr jungen Leute heute sagt. Ich erwarte nicht, dass du dich auf irgendetwas einlässt, was du nicht wirklich willst. Tu mir nur einen Gefallen und sieh dir an, was wir dir zeigen. Ist das in Ordnung?«
Leonie sagte gar nichts, sondern starrte ihre Großmutter nur verdattert - und mit einem heftigen schlechten Gewissen - an, aber Großmutter schien ihr Schweigen als Zustimmung zu werten, denn nach ein paar Sekunden nickte sie und drückte den Knopf für die dritte und zugleich oberste Etage, und der an drei Seiten verspiegelte Eisenkäfig setzte sich schnaubend und wackelnd in Bewegung. Durch das Gitter, das die Tür bildete, konnte Leonie die anderen Etagen sehen, an denen sie vorüberglitten. Sie unterschieden sich nicht vom Erdgeschoss: lange, weiß gestrichene Flure mit zahlreichen Türen, sonst nichts. Und sie sah kein einziges Buch.
Die Kabine hielt an und Großmutter trat als Erste hinaus und wandte sich nach links. »Da hinten ist das Büro des Professors. Er wird uns herumführen und dir alles zeigen.«
»Hast du früher hier gearbeitet?«, erkundigte sich Leonie.
»Weil ich mich hier auskenne und wegen Albert und dem Professor?« Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf. »O nein, ich war immer nur eine kleine Buchhändlerin mit einem noch kleineren Laden, in den sich kaum noch Kunden verirren. Aber wenn man sein Leben mit Büchern verbringt und noch dazu das große Glück hat, in dieser Stadt zu wohnen, dann kann man gar nicht anders, als die Zentralbibliothek kennen zu lernen.«
Sie hatten eine gewaltige zweiflügelige Tür erreicht, die mindestens drei Meter hoch war und aussah, als wöge sie eine Tonne. Großmutter machte auch keine Anstalten, sie zu öffnen, sondern drückte einen Klingelknopf, der an der Wand daneben angebracht war. »Ich finde es einen wunderschönen Gedanken, dass etwas, das ein Mensch vor über hundert Jahren niedergeschrieben hat, noch immer da ist. Der Mensch selbst ist schon lange verschwunden, und vielleicht sogar schon vergessen, aber seine Gedanken sind immer noch da. Bücher sind Boten aus der Vergangenheit, weißt du? Botschaften aus der Vergangenheit für die Menschen der Zukunft. Wie kleine Zeitmaschinen.« Sie sah Leonie Beifall heischend an. »Das müsste dir doch gefallen. Das sind doch die Geschichten, die ihr jungen Leute heutzutage lest, oder? Wie nennt ihr sie doch gleich? Zukunftsromane?«
»Science-Fiction«, antwortete Leonie. »Aber Science-Fiction ist out. Heute ist Fantasy angesagt.«
»Fantasie, so.« Großmutter sprach es irgendwie so aus, dass man die deutsche Schreibweise hörte. »Früher nannte man es Märchen, glaube ich. Aber das Wort gefällt mir auch.«
Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau, der man die Sekretärin so deutlich ansah, als hätte sie sich ihre Berufsbezeichnung auf die Stirn tätowieren lassen, blickte Großmutter fragend an. Leonie lächelte ganz automatisch, aber sie war auch ein ganz kleines bisschen verwirrt: Abgesehen von dem Altersunterschied (der gute sechzig Jahre betragen musste) hätte die junge Frau eine Schwester ihrer Großmutter sein können.
»Guten Tag«, begann Großmutter. »Der Herr Professor erwartet uns.«
»Professor Wohl...« Das Gesicht der Sekretärin hellte sich auf. »Sie müssen Frau Kammer sein. Ja, der Herr Professor hat mich informiert.« Sie trat einen halben Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Sie einen Moment hereinkommen, erkläre ich Ihnen den Weg.«
Großmutter gehorchte, aber als Leonie ihr folgen und ebenfalls durch die Tür treten wollte, machte die dunkelhaarige junge Frau eine knappe, aber sehr entschiedene Bewegung. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Aber Unbefugten ist das Betreten der Verwaltungsräume streng verboten.«
»Was soll denn der Unsinn?«, murrte Leonie. »Haben Sie Angst, dass ich...«
Sie verstummte, als sie einen mahnenden Blick aus Großmutters Augen auffing. Wäre sie allein gewesen, hätte sie dieser eingebildeten Tussi gehörig die Meinung gesagt, aber sie wollte Großmutter nicht in Verlegenheit bringen. So beließ sie es bei einem Achselzucken und einem trotzigen Blick und trat wieder zurück. Die Tür wurde geschlossen und Leonie sah sich gelangweilt um. Sie hoffte, dass es nicht zu lange dauerte. Andererseits - dieser Tag war sowieso im Eimer. Was machten da schon ein paar Minuten?
Auf der anderen Seite der schweren Tür ertönte ein dumpfes Poltern, dann etwas, das beinahe wie ein Schrei klang, und schließlich wieder etwas wie ein Poltern. Leonie starrte die Tür alarmiert an - doch noch bevor sie auch nur Gelegenheit hatte, wirklich zu erschrecken, ging die Tür wieder auf und ihre Großmutter kam heraus.
»Was war los?«, fragte Leonie.
»Nichts«, antwortete Großmutter. Sie strich sich eine Strähne ihres dünnen grauen Haares zurück, die ihr in die Stirn gerutscht war, und fuhr in der gleichen Bewegung glättend über ihre Kleidung. Sie wirkte ein bisschen zerrupft, fand Leonie. Sie fragte sich, was in dem Raum hinter der geschlossenen Tür passiert war. Als Großmutter die Tür hinter sich ins Schloss zog, ohne dass die Sekretärin ihr folgte oder sie sie auch nur zu Gesicht bekommen hatten, kleidete sie ihre Frage in weitere Worte.
»Nichts«, wiederholte ihre Großmutter, allerdings in so ruppig-unwilligem Ton, dass Leonie nur erstaunt die Augen aufriss und es vorzog, die Frage nicht noch einmal zu stellen. So kannte sie ihre Großmutter gar nicht.
Großmutter wandte sich um und bedeutete Leonie mit einer entsprechenden Handbewegung, ihr zu folgen. Sie ging den Flur in umgekehrter Richtung zurück, am Lift vorbei und durch mehrere Türen, und mit jeder Tür, die sie durchschritten, konnte sie ein bisschen besser verstehen, was Großmutter gerade gemeint hatte, als sie von einer Zeitmaschine sprach. Es war tatsächlich wie eine kleine Zeitreise, denn sie bewegten sich eindeutig mit jedem Schritt ein winziges Stückchen weiter in die Vergangenheit. Die Türen wurden älter und hatten jetzt schwere, kunstvoll geschmiedete Griffe und Beschläge aus Messing, die ausgetretenen Bodendielen, über die sie gingen, knirschten unter ihren Füßen, und unter den Decken hingen keine Neonröhren mehr, sondern schimmernde Kristalllüster; und dann öffnete Großmutter eine letzte Tür und der Schritt hindurch schien endgültig der in ein lange zurückliegendes Jahrhundert zu sein.
Leonie war noch nie hier gewesen, aber ihr war sofort klar, dass das der große Saal sein musste, von dem Großmutter erzählt hatte - wobei die Betonung eindeutig auf dem Wort groß lag.
Sie war niemals in einem größeren Raum gewesen und sie hatte niemals mehr Bücher an einem Ort versammelt gesehen. Leonie schätzte, dass der Saal mindestens dreißig, wenn nicht vierzig oder mehr Meter lang war, gute fünfzehn Meter breit und dort, wo sich die Decke zu einem kunstvoll aus farbigem Glas gestalteten Kuppeldach emporschwang, mindestens zehn Meter hoch, wenn nicht mehr. In einer fast schon erschreckend großen Anzahl gläserner Vitrinen waren besonders kostbare Bücher und Handschriften ausgestellt, aber eine schier unvorstellbare Menge von Büchern - Zehn-, wenn nicht Hunderttausende! - war in endlosen Reihen von Regalen untergebracht, die jeden Zentimeter der Wände beanspruchten und sich bis unter die Decke hinaufzogen. Auf halber Höhe - in drei bis fünf Metern, schätzte Leonie - lief eine Galerie mit einem kunstvoll geschnitzten Holzgeländer entlang und auch dort standen Bücher, Bücher, Bücher.
»Na?«, fragte Großmutter. Ihre Augen leuchteten. »Habe ich zu viel versprochen?«
Leonie schüttelte wortlos den Kopf und den ehrfürchtigen Ausdruck, der sich dabei auf ihrem Gesicht breit machte, musste sie dieses Mal nicht einmal schauspielern. Sie war beeindruckt, und das weit mehr, als sie sich selbst erklären konnte. Es war ja keineswegs so, als wäre sie das erste Mal in einer Bibliothek. Dass sie Discman und MP3-Player gedruckten Büchern vorzog, änderte nichts daran, dass sie praktisch in einer Buchhandlung aufgewachsen war und schon mehr als eine wirklich große Bibliothek gesehen hatte.
Aber das hier war... anders.
Leonie konnte den Unterschied gar nicht richtig in Worte fassen, aber er war da und er war einfach zu deutlich, um ihn mit einem bloßen Achselzucken abzutun.
Es begann mit dem Geruch. Es roch nach Büchern, aber eben nicht nur. Da war noch mehr; etwas, von dem Leonie ganz genau wusste, dass sie es noch nie zuvor gerochen hatte, und das ihr trotzdem auf fast schon gespenstische Weise vertraut war. Vor allem aber verstand sie plötzlich ganz genau, was ihre Großmutter vorhin hatte sagen wollen. Sie spürte plötzlich, dass all diese Bücher rings um sie herum viel mehr als nur eine gewaltige Masse bedruckten Papiers waren. Leonie weigerte sich selbst jetzt noch in Gedanken, das Wort zu benutzen, aber im Grunde wusste sie sehr wohl, was es war, das sie für einen Moment wie erstarrt innehalten und erschauern ließ: Ehrfurcht.
»Da hinten ist der Professor!« Großmutters Stimme riss Leonie zurück in die Wirklichkeit, aber etwas von dem sonderbaren Gefühl, das sie für einen Moment überkommen hatte, blieb.
Nur dass es ihr jetzt fast ein bisschen unheimlich war.
Leonie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, während sie ihrer Großmutter folgte, die lächelnd einem Mann entgegenging, bei dem es sich einfach um den Professor handeln musste: Er sah aus, als wäre er mindestens fünfhundert Jahre alt, und war auf eine Weise gekleidet, die an jedem anderen Platz der Welt einfach nur lächerlich gewirkt hätte, nur eben hier nicht. Er trug braune Cordhosen und ein abgewetztes, beigefarbenes Samtjackett, dessen Ellbogen und Manschetten mit kleinen Lederflicken verstärkt waren, eine altmodische Fliege und eine gewaltige Hornbrille, deren Gläser dicker zu sein schienen als die Böden von Cola-Flaschen. Er war fast kahlköpfig, aber die wenigen Haare, die er noch hatte, hatte er sich lang wachsen lassen und zu einem albernen Pferdeschwanz zusammengebunden, der kaum so dick wie ein Babyfinger war. Wäre Leonie nicht viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich über ihre eigenen Gedanken zu wundern, dann wäre sie bei seinem Anblick wahrscheinlich in schallendes Gelächter ausgebrochen.
So allerdings hatte sie Mühe, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie verstand einfach nicht, was mit ihr los war. Seit sie dieses sonderbare Gebäude betreten hatte, wandelten ihre Gedanken auf Pfaden, die ihr so unbekannt und vor allem unverständlich waren wie die einer Fremden.
Wohlgemut hatte Großmutter mittlerweile ebenfalls entdeckt und eilte ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Leonie hörte nicht hin, aber man konnte gar nicht übersehen, dass die beiden sich wie gute alte Freunde begrüßten. Danach wandte sich Wohlgemut an sie.
»Du musst Leonida sein. Deine Großmutter hat mir sehr viel von dir erzählt, aber ich glaube, das wäre gar nicht nötig gewesen. Weißt du, dass du ganz genauso aussiehst wie sie in deinem Alter?«
Leonie verzog das Gesicht. Sie hasste es, wenn sie mit dem Namen angesprochen wurde, der in ihrer Geburtsurkunde stand. Sie hasste auch ihre Eltern dafür, sie auf diesen Namen getauft zu haben. Wenigstens manchmal.
»Leonie«, entgegnete sie, während sie widerstrebend Wohlgemuts ausgestreckte Hand ergriff und sie schüttelte. »Meine Freunde nennen mich Leonie.«
»Freunde?« Wohlgemut verzog die Lippen zu einem hässlichen Grinsen. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass eine so hässliche, kleine Schlampe wie du Freunde hat?«
Leonie riss ungläubig die Augen auf. »Wie?!«, krächzte sie.
»Ich sagte: Leonie ist auch ein hübscher Name und wahrscheinlich passt er besser in die heutige Zeit«, antwortete Wohlgemut.
»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Leonie. Wohlgemut wollte seine Hand zurückziehen, aber sie ließ nicht los, sondern verstärkte ihren Griff im Gegenteil noch ein bisschen. Sie war kräftig für ihr Alter - und erst recht für ein Mädchen; die mindestens drei Stunden wöchentlich im Fitness-Studio hatten nicht nur ihrer Figur gut getan. »Ich meine das, was Sie vorher gesagt haben.«
»Dass du aussiehst wie deine Großmutter vor siebzig Jahren? Das ist die Wahrheit.«
»Nein, nicht das«, beharrte Leonie. Wohlgemut blinzelte, und wenn Leonie jemals einen Ausdruck von echtem Unverständnis auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt auf seinem. Auch ihre Großmutter blickte sie verstört und fast ein bisschen erschrocken an und plötzlich meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Hastig ließ sie Wohlgemuts Hand los.
»Ich... Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich muss wohl... irgendetwas falsch verstanden haben.« Nein, verdammt, das hatte sie nicht. Sie hatte ganz genau gehört, was er gesagt hatte, und sie hatte sich auch sein hässliches Grinsen nicht eingebildet. Sie war doch nicht verrückt! Aber Wohlgemut blickte sie nur weiter vollkommen verständnislos an, und auch Großmutter hatte sich noch nicht wieder ganz gefangen. Was ging hier vor?
»Ja, das mhm... scheint mir auch so«, sagte Wohlgemut unsicher. Er wich einen Schritt vor Leonie zurück und begann seine rechte Hand mit der linken zu kneten und Leonies schlechtes Gewissen verstärkte sich. Dieser Mann musste die neunzig lange hinter sich haben. Vermutlich hatte sie ihm sehr wehgetan, und was immer er auch zu ihr gesagt hatte oder nicht - so etwas stand ihr einfach nicht zu!
»Entschuldigung«, sagte sie noch einmal. »Es tut mir Leid.«
»Schon gut.« Wohlgemut machte eine großmütige Geste mit der - unversehrten linken - Hand und zwang sich zu einem leicht gequälten Lächeln, während Großmutter, die anscheinend erst jetzt überhaupt begriff, was ihre Enkelin getan hatte, plötzlich aussah, als würde sie vor Scham am liebsten im Boden versinken.
»Du willst also in die Fußstapfen deiner Großmutter und deiner Eltern treten und ebenfalls Buchhändlerin werden.« Wohlgemuts Versuch, das Thema zu wechseln, wirkte ebenso gezwungen wie ihr eigenes Lächeln in diesem Augenblick. »Das freut mich aufrichtig, Leonie. Dass Kinder eine so alte Familientradition fortführen, kommt heute leider nur noch selten vor.«
Nach dem, was gerade passiert war, wagte es Leonie einfach nicht, ihm zu widersprechen, aber das änderte nichts daran, dass der Professor so weit am Ziel vorbeigeschossen war, wie es überhaupt nur ging. Leonie hätte ohne nachzudenken hundert Berufe nennen können, die sie lieber ergreifen würde, oder auch tausend.
»Ganz so weit sind wir noch nicht«, sprang ihre Großmutter ihr bei. »Im Moment geht es nur um ein Praktikum von zwei Wochen.«
»Und da haben Sie natürlich an die Zentralbibliothek gedacht, meine Liebe.« Wohlgemut lächelte geschmeichelt. »Eine sehr kluge Entscheidung. Wir nehmen zwar eigentlich seit Jahren keine Praktikanten mehr auf, aber in diesem Fall kann ich sicher eine Ausnahme machen.« Er wandte sich direkt an Leonie. »Falls die junge Dame überhaupt Interesse hat, heißt das.«
Leonie machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Kopfschütteln, einem Nicken und einem Achselzucken angesiedelt war und deren eigentliche Bedeutung sich Wohlgemut selbst aussuchen konnte.
»Na, wir werden uns schon vertragen«, drohte er. »Und wenn nicht, dann prügeln wir dir eben so lange Verstand in dein kleines Spatzenhirn, bis du begreifst, was wir von dir wollen.«
Leonie ächzte. Also gut, offenbar war sie es, die verrückt wurde.
»Vielleicht beginnen wir mit einem kleinen Rundgang durch die Bibliothek«, schlug Wohlgemut vor. Leonies verstörte Reaktion war ihm natürlich nicht entgangen, aber anscheinend verstand er sie so wenig wie ihre Frage von vorhin. »Möglicherweise änderst du deine Meinung ja noch, wenn du erst einmal alles gesehen hast.«
»Es lohnt sich wirklich«, versprach Großmutter. »Professor Wohlgemuts Führungen waren früher legendär, aber seit ein paar Jahren veranstaltet er sie nur noch für ganz ausgesuchte Gäste.«
Und wie sich zeigte, war das keineswegs übertrieben. Es fiel Leonie am Anfang verständlicherweise schwer, Wohlgemuts Erklärungen und Ausführungen zu folgen, aber nach und nach schlugen sie seine Worte doch in ihren Bann und schließlich vergaß sie sogar den unheimlichen Zwischenfall. Was Wohlgemut erzählte, war einfach zu interessant - selbst für jemanden, der Bücher normalerweise nur dazu benutzte, Fliegen zu erschlagen oder sie hoch genug aufzustapeln, damit man sie als Leiter benutzen konnte, um an die CDs auf dem obersten Regalbrett heranzukommen.
Sie erfuhr, dass die Bibliothek offiziell schon seit mehr als dreihundert Jahren existierte, in Wirklichkeit aber sehr viel älter sein musste. Niemand wusste genau, wann die ersten Mönche angefangen hatten, uralte Handschriften und Pergamente in den Mauern des Klosters zu sammeln, das früher einmal an dieser Stelle gestanden hatte, aber die Vermutungen reichten von fünfhundert Jahren bis zurück in eine Zeit, in der noch keltische Druiden über dieses Land geherrscht hatten. Seit dem siebzehnten Jahrhundert jedenfalls war das die Zentralbibliothek des ganzen Landes.
»Und wie viele Bücher haben Sie hier?«, fragte Leonie, als Wohlgemut - nach einer geschlagenen Stunde! - am Ende seines Vortrags angelangt war. Sie befanden sich auf einer der Galerien, die auf halber Höhe um den gesamten Raum herumführten, und Leonie hatte die Frage im Grunde nur gestellt, um Wohlgemuts endlosen Redefluss wenigstens für einen Moment zu unterbrechen. Was er zu erzählen hatte, war wirklich interessant, aber es war einfach zu viel. Leonie schwirrte der Kopf von all den Zahlen und Daten, mit denen der Professor sie zugeschüttet hatte.
»So ungefähr zweihunderttausend«, antwortete Wohlgemut stolz.
»Das ist eine Menge«, sagte Leonie automatisch, dann stutzte sie. »Äh... Moment. Großmutter hat erzählt, dass hier seit hundert Jahren ein Exemplar jedes Buches aufbewahrt wird, das im Land erscheint.«
»Seit hundertfünfzehn, um genau zu sein«, verbesserte sie Wohlgemut und blinzelte ihr zu. »Und auch jeder einzelnen Zeitschrift. Und jetzt wunderst du dich, weil es doch eigentlich viel mehr sein müssten in all der Zeit.« Er nickte heftig, um seine eigene Feststellung zu bestätigen. »Die zweihunderttausend sind natürlich nur die Exemplare, die wir hier oben aufbewahren, im historischen Teil der Bibliothek: alte Handschriften, unersetzliche Originale und sehr seltene Ausgaben. Alles andere lagern wir unten im Zentralarchiv im Keller.«
»Das muss aber ein wirklich großer Keller sein«, bemerkte Leonie. »Ich meine: Es müssen doch ein paar Millionen Bücher sein!«
»Viele Millionen sogar«, bestätigte Wohlgemut. Er lächelte geheimnisvoll. »Aber es ist auch ein wirklich großer Keller. Ich zeige ihn dir später einmal. Für heute sollten wir uns auf den historischen Teil konzentrieren, meine ich. Wir haben ja später Zeit genug und hier oben gibt es noch eine Menge interessanter Dinge. Dabei fällt mir ein...«, er wandte sich zu Großmutter um, »... erinnern Sie sich noch an die Handschrift von Walther von der Vogelweide, nach der ich so lange gesucht habe, meine Liebe?«
»Mehr als zehn Jahre, wenn ich mich richtig erinnere«, antwortete Großmutter. »Sagen Sie nicht, Sie haben sie bekommen?«
»Vor zwei Monaten«, bestätigte Wohlgemut. Er strahlte wie ein undichtes Atomkraftwerk. »Wollen Sie sie sehen?«
»Was für eine Frage!«, rief Großmutter.
»Und du?«, wandte sich Wohlgemut an Leonie.
Walther von der Vogelweide? Leonie verspürte einen kurzen, aber heftigen Anfall blanken Entsetzens. »Nicht... unbedingt«, antwortete sie vorsichtig. »Haben Sie vielleicht etwas von King da? Oder Clive Barker oder Jason Dark?«
Wohlgemut wirkte jetzt für einen Moment so hilflos, dass er Leonie beinahe Leid tat, aber nur beinahe. »Unten im Zentralarchiv sicher«, meinte er schließlich. »Aber hier...«
»Schon gut«, sagte Leonie. »Geht ihr nur ruhig zu eurer Handschrift. Ich warte so lange. Es gibt hier ja genug interessante Dinge, die ich mir ansehen kann. Bücher zum Beispiel.«
»Wunderbar!« Wohlgemut rieb sich ganz begeistert die Hände. »Kommen Sie, meine Liebe, kommen Sie. Ich freue mich schon seit Monaten darauf, Ihnen dieses Prachtexemplar zeigen zu können!«
Er hielt Großmutter den Arm hin und sie hakte sich bei ihm unter - ganz perfekter Gentleman und feine Lady gingen sie über die Galerie davon und die Treppe hinunter und Leonie blieb allein zurück. Zunächst war sie fast erleichtert, endlich einen Moment Ruhe zu haben, aber schon nach wenigen Minuten kam es ihr als eine gar nicht mehr so gute Idee vor, ganz allein hier zurückgeblieben zu sein, nur in Gesellschaft von Büchern. Sie kannte ihre Großmutter. Wenn sie erst einmal anfing, sich für ein bestimmtes Buch zu interessieren - oder gar für eine so kostbare Handschrift wie die, von der der Professor geschwärmt hatte! -, dann konnte es gut sein, dass sie alles andere um sich herum einfach vergaß; einschließlich ihrer Enkeltochter. Wenn sie Pech hatte, dann würde sie eine Stunde hier oben warten, oder auch zwei.
Aber das hatte sie sich schließlich selbst eingebrockt.
Leonie seufzte tief, drehte sich um und ließ ihren Blick über die Rücken der dicht an dicht stehenden Bücher schweifen. Einige davon waren so alt, dass die Schrift längst verblichen und unleserlich geworden war, und Leonie argwöhnte, dass das bei dem einen oder anderen Band nicht nur auf das Äußere zutraf.
Sie drehte sich weiter und hielt inne, als ihr Blick auf einen Riss zwischen zwei der schweren handgeschnitzten Bücherregale fiel. Eigentlich war es gar kein Riss, sondern ein Spalt von gut zwei Fingern Breite, und als Leonie näher trat, spürte sie, wie ihr ein kühler Lufthauch entgegenkam. Zögernd legte sie die Hand darauf und das gesamte Regal bewegte sich knirschend ein Stück nach innen. Leonie machte einen erschrockenen Schritt zurück und hätte am liebsten über ihre eigene Reaktion gelacht. Der Riss war kein Riss, so wenig wie das Regal ein einfaches Bücherregal war, vielmehr handelte es sich um eine Art Geheimtür, die in einen Raum dahinter zu führen schien, aus dem ein grauer, flackernder Lichtschein drang.
Urplötzlich war ihr Forscherdrang geweckt. Leonie sah sich noch einmal nach rechts und links um - nicht dass sie wirklich glaubte, etwas Verbotenes zu tun, aber so war es einfach spannender -, dann trat sie erneut an das Regal heran und drückte dagegen.
Angesichts des enormen Gewichtes, das die mindestens hundertfünfzig bis zweihundert Bücher auf die Regalbretter brachten, bewegte sich die Geheimtür überraschend leicht. Mit einem leisen, aber durchdringenden Quietschen schwang sie nach innen und Leonie trat mit klopfendem Herzen in den dahinter liegenden Raum.
Der voller Bücher war.
Leonie blieb geschlagene zehn Sekunden völlig reglos stehen und tat nichts anderes, als sich unbeschreiblich blöd vorzukommen. Was hatte sie denn erwartet in einer Bibliothek? Den Schatz der Nibelungen vielleicht? Sie schüttelte den Kopf, lächelte über ihre eigene Naivität und wollte sich umdrehen, um den Raum wieder zu verlassen, überlegte es sich dann aber anders und machte stattdessen einen weiteren Schritt hinein. Wenn sie schon einmal hier war, konnte sie sich ebenso gut auch noch ein bisschen umsehen.
Sie rechnete allerdings nicht ernsthaft damit, irgendetwas Außergewöhnliches zu entdecken. Wohlgemut hatte Worte wie kostbar, einzigartig und unersetzlich zwar äußerst verschwenderisch benutzt, aber sie glaubte nicht, dass die wirklich wertvollen Bücher in einer so staubigen Kammer aufbewahrt wurden. Ganz davon abgesehen, dass sie ein kostbares Buch selbst dann nicht erkennen würde, wenn es ihr vor die Füße fiele. Außerdem war es in der Kammer so dunkel, dass sie ohnehin nicht viel sehen konnte. Fast der gesamte vorhandene Platz wurde von bis unter die Decke reichenden Bücherregalen eingenommen, und die Scheiben des einzigen kleinen Fensters waren so verdreckt, dass das hereinfallende Licht zu einer Art grauer Nebel wurde, in dem sich die Umrisse der Dinge fortwährend auf schwer greifbare, aber beunruhigende Weise zu verändern schienen.
Nein, dachte Leonie schaudernd, das war gewiss nicht der Ort, um auf Großmutters Rückkehr zu warten.
Irgendetwas raschelte. Aus den Augenwinkeln sah Leonie einen Schemen vorbeihuschen, und für einen winzigen Moment glaubte sie, das Scharren kleiner, harter Krallen auf dem Fußboden zu hören. Leonie prallte ganz instinktiv einen Schritt zurück, und ein nicht kleiner Teil von ihr wollte nichts mehr, als auf der Stelle herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürmen.
Stattdessen blieb sie stehen, lauschte angestrengt und versuchte noch konzentrierter, die graue Dämmerung vor sich mit Blicken zu durchdringen. War das eine Maus gewesen?
Leonie hatte die kleinen Nager weder besonders in ihr Herz geschlossen noch hatte sie hysterische Angst vor ihnen, aber sie war schließlich in einer Buchhändlerfamilie groß geworden und so wusste sie, dass Mäuse sozusagen der Todfeind jedes Bibliothekars waren. Unvorstellbar, wenn sie ein wertvolles Original von Goethes Faust anknabberte oder sich gar ein Nest aus Walther von der Vogelweides unersetzlicher Handschrift baute!
Leonie ließ sich in die Hocke sinken, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte unter die Regale zu spähen. Sie sah nichts anderes als Staub, der möglicherweise schon an den Fußlappen der Druidenpriester aus Wohlgemuts Vortrag geklebt hatte, aber das Licht reichte nicht, um die winzigen Pfotenabdrücke einer Maus zu erkennen, die es möglicherweise ja gab, möglicherweise aber auch nicht. Leonie war mittlerweile nicht mehr sicher, ob sie die Bewegung wirklich gesehen oder sich nur eingebildet hatte. Dieses ganze uralte Gemäuer übte anscheinend einen unguten Einfluss auf ihre Fantasie aus. Sie wollte sich gerade wieder aufrichten, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Leonie fuhr in der Hocke herum.
Und da war die Maus.
Sie hatte sich nicht etwa unter einem Regal verkrochen, sondern saß nicht mal einen Meter hinter ihr, hatte sich auf die Hinterläufe aufgerichtet und sog schnüffelnd die Luft ein. Ihre winzigen Schnurrhaare zitterten und in ihren rehbraunen Augen stand ein Ausdruck, den Leonie ohne den geringsten Zweifel als Neugier bezeichnet hätte, wäre ihr nicht zugleich auch bewusst gewesen, dass das vollkommen unmöglich war. Mäuse waren zu einer so komplexen Empfindung wie Neugier gar nicht fähig. Offensichtlich handelte es sich um eine sehr dumme Maus, weil sie einfach dasaß und sie ohne die geringste Scheu anblickte, statt das zu tun, was jede halbwegs vernünftige Maus beim Anblick eines Menschen tut: um ihr Leben zu rennen!
Darüber hinaus war es eine ausgesprochen hübsche Maus.
»Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt die Beine in die Hand nehmen und wegrennen«, sagte Leonie.
Die Maus legte den Kopf auf die Seite und blickte sie an, als hätte sie die Worte verstanden. Was natürlich ganz und gar ausgeschlossen war.
»Was ist los mit dir?«, fragte Leonie. »Bist du lebensmüde oder einfach nur dreist?«
Die Maus legte den Kopf auf die andere Seite und blickte sie weiter aus ihren winzigen Knopfaugen an. Allmählich wurde Leonie ein bisschen mulmig zumute. Um ehrlich zu sein: mehr als nur ein bisschen.
»Oder bist du einfach nur dumm?«, fragte Leonie. »Überleg dir lieber, was du tust - bevor ich mir überlege, was ich mit dir tue.«
Die Maus legte den Kopf erneut auf die andere Seite und runzelte nachdenklich die Stirn. Das hieß: Natürlich tat sie das nicht. Es sah nur so aus. Mäuse runzelten nicht die Stirn. Das konnten sie gar nicht. Es war nur Einbildung gewesen.
Trotzdem zitterten Leonies Finger ganz leicht, als sie die Hand ausstreckte, um die Maus zu verscheuchen.
Jedenfalls wollte sie das tun.
Unglückseligerweise ließ sich der winzige Nager von ihrem heftigen Herumgefuchtel nicht im Geringsten beeindrucken. Er zog zwar den Kopf ein, um nicht getroffen zu werden, aber das war auch schon alles.
Leonie riss ungläubig die Augen auf, erstarrte mitten in der Bewegung - und die Maus sprang mit einem Satz auf ihre ausgestreckte Hand und begann ohne die geringste Spur von Hast an ihrem Arm in die Höhe zu klettern! Leonie war so perplex, dass sie einfach wie gelähmt dahockte und nicht einmal zu atmen wagte, bis die Maus auf ihrer rechten Schulter angekommen war, wo sie sich wieder aufsetzte und reckte, um ihr Gesicht aus nächster Nähe zu beschnüffeln. Sie tat es sehr ausgiebig, bestimmt eine oder zwei Minuten lang, dann machte sie kehrt und trippelte in aller Seelenruhe den Weg zurück, den sie gekommen war, sprang wieder zu Boden und verschwand unter einem der Regale. Aber bevor sie das tat, hielt sie noch einmal kurz inne, blickte zu Leonie zurück und lächelte.
Leonie blinzelte, und als sie die Augen wieder aufschlug, war die Maus verschwunden. Ihr Herz raste, und sie merkte erst jetzt, dass sie am ganzen Leib zitterte. Für einen winzigen Moment drohte sie in Panik zu geraten. Sie wollte aufstehen, aber sie hatte mehrere Minuten in der Hocke verbracht und ihre Muskeln waren so verkrampft, dass sie drei Anläufe brauchte, bis es ihr gelang. Alles um sie herum schien sich zu drehen und ihre Panik verstärkte sich und drohte sie endgültig zu überwältigen.
Leonie zwang sich mit einer gewaltigen Willensanstrengung zur Ruhe, atmete tief ein und ballte die Hände zu Fäusten. Es gab keinen Grund, in Panik zu geraten. Sie hatte sich das alles nur eingebildet. Das war die einzig logische Erklärung. Falls es diese Maus überhaupt gegeben hatte, so hatte sie ganz bestimmt nicht die Stirn gerunzelt und ihr schon gar nicht zum Abschied zugelächelt! Nein - das Einzige hier, mit dem etwas nicht stimmte, das war sie selbst.
Seit sie diese unheimliche Bibliothek betreten hatte, schlug ihre Fantasie die wildesten Kapriolen, und Leonie begann sich allen Ernstes zu fragen, ob sie einen Grund hatte, sich Sorgen zu machen. Vielleicht war ihre Fantasie ja nicht einfach nur überreizt, sondern es lag tatsächlich an diesem Gebäude oder irgendetwas darin. Schließlich war Wohlgemut nicht müde geworden, immer und immer wieder zu betonen, wie alt viele der Bücher seien, die sie hier aufbewahrten. Wer konnte schon sagen, was für Bakterien, Keime, Sporen, Pilze oder Weiß-der-Geier-was seit Jahrhunderten in dem uralten Papier wuchsen und welche Wirkung sie auf die Gehirnchemie einer fünfzehnjährigen Freizeitpunkerin hatten?
Genau. Das war die Erklärung. Die einzig logische Erklärung.
Alles andere als überzeugt oder gar beruhigt ließ Leonie ihren Blick noch einmal durch den mit Schatten erfüllten Raum schweifen, dann wandte sie sich hastig um und trat wieder auf die Galerie hinaus.
Die Tür zu schließen erwies sich als weitaus schwieriger, als sie zu öffnen, denn es gab keinen Griff, an dem sie zufassen konnte. Sie zog vergebens an einem der Bretter, machte ein enttäuschtes Gesicht und besah sich die als Bücherregal getarnte Geheimtür dann etwas genauer. Die einzelnen Bretter waren nicht verdübelt, sondern lagen auf wuchtigen geschnitzten Knöpfen, die Tier- und Menschengesichter zeigten, und ein paar davon auch reine Fabelwesen. Leonie streckte die Hand aus, um eine der Schnitzereien zu ergreifen. Vielleicht konnte sie das Regal ja daran in seine ursprüngliche Position zurückziehen.
Als sie ihn fast berührt hatte, öffnete der hölzerne Kopf die Augen. Sein ohnehin schon nicht besonders hübsches Gesicht verzerrte sich zu einer abstoßend hasserfüllten Grimasse und Leonie erblickte ein Maul voller scharfer Zähne. »Hau ab!«, grollte eine tiefe, knarrende Stimme.
Das war eindeutig zu viel.
Leonie schrie auf, schlug beide Hände vor den Mund und prallte entsetzt zurück; allerdings nur einen halben Schritt weit, dann prallte sie gegen ein Hindernis, das ein erschrockenes Keuchen ausstieß und unter ihrem Gewicht zu wanken begann. Zusammen mit Wohlgemut, der vergebens versuchte, sie festzuhalten und gleichzeitig die eigene Balance zu wahren, stürzte sie rücklings zu Boden und knallte so unsanft mit dem Hinterkopf auf die Dielen, dass sie Sterne sah.
»Großer Gott, Kind!«, ächzte Wohlgemut. »Ist dir etwas passiert?«
Wäre Leonie nicht halb betäubt und mit der anderen Hälfte ihres Bewusstseins am Rande eines hysterischen Schreikrampfes gewesen, sie hätte über diese Frage wahrscheinlich laut gelacht. Wohlgemut lag unter ihr. Seine Kraft reichte ganz offensichtlich nicht, sich unter dem Gewicht ihres Körpers herauszuarbeiten, und zu allem Überfluss spürte sie, dass sich ihre Ellbogen schmerzhaft in seine Rippen bohrten und ihm fast den Atem nahmen. Und er fragte sie, ob ihr etwas passiert sei?
Hastig krabbelte sie von ihm hinunter, richtete sich auf Hände und Knie auf und fuhr herum, um das auf so bizarre Weise zum Leben erwachte Holzgesicht anzustarren. Wohlgemut ächzte und sagte etwas, das sie nicht verstand und das sie im Moment auch gar nicht verstehen wollte. Mit heftig klopfendem Herzen und am ganzen Leibe wie Espenlaub zitternd blickte sie das lebendig gewordene Holzgesicht an.
Bloß, dass es nicht mehr lebendig war.
Die Schnitzerei, die nicht wirklich einen Menschen zeigte, sondern nur etwas Menschenähnliches - einen Troll oder Gnom oder was auch immer sich der Künstler dabei gedacht haben mochte -, war wieder ganz genau das, was sie auch die ganze Zeit über gewesen war: eine weit über hundert Jahre alte kunstvolle Schnitzerei. Das Holz war im Laufe unzähliger Jahre ausgetrocknet und gerissen und eines der spitzen Ohren war abgebrochen. Die groteske Skulptur hatte bestimmt nicht die Augen geöffnet und sie angegrinst. Und sie hatte auch garantiert nichts zu ihr gesagt!
Leonies Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Was war nur mit ihr los? War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Sie stellte sich diese Frage ganz ernsthaft, und die mögliche Antwort, die sie sich selbst gab, gefiel ihr nicht. Ihre Hände zitterten immer heftiger und ihr Herz schlug in ihrer Brust, als wollte es jeden Moment zerspringen.
»Kind, was war denn nur los?« Wohlgemut rappelte sich umständlich hoch, streckte die Arme aus, um auch ihr aufzuhelfen, aber Leonie nahm die Bewegung gar nicht zur Kenntnis. Sie starrte immer noch die Schnitzerei an. Ihre Augen, und vor allem ihr Verstand, sagten ihr wieder, dass sie sich nicht bewegte und das auch nicht getan hatte, aber es war so unglaublich realistisch gewesen.
»Hast du dich verletzt?«, fragte Wohlgemut. »Um Gottes willen, was ist denn nur passiert?«
Leonie versuchte zu antworten, aber sie brachte im ersten Moment keinen Ton heraus. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihr, ihren Blick von dem Dämonenkopf aus Holz loszureißen und sich zu Wohlgemut umzuwenden. Der Professor rang immer noch hilflos die Hände. Seine Brille war verbogen, was er aber gar nicht zu bemerken schien, und er war kreidebleich geworden und trat vor Aufregung unentwegt von einem Fuß auf den anderen. »Was hast du denn, Kind? Du hast geschrien!«
»Nichts«, antwortete Leonie. »Ich habe mich erschrocken, das ist alles.« Sie stand auf. »Ist Ihnen etwas passiert? Ich meine: Ich habe Sie doch nicht etwa verletzt, oder?«
Wohlgemut machte eine wegwerfende Handbewegung, und Leonie erkannte erst jetzt, dass auch er am ganzen Leib zitterte. »Das ist jetzt nicht von Belang«, erklärte er. Er sagte nicht: Nein. »Was war denn los? Du hast geschrien wie am Spieß.« Er wartete Leonies Antwort gar nicht ab, sondern trat mit einem raschen Schritt an ihr vorbei und maß die wieder geschlossene Geheimtür mit einem langen misstrauischen Blick. »Warst du etwa da drin?«
»Nicht absichtlich«, sagte Leonie rasch. »Ich habe mich nur dagegen gelehnt und...«
»Das macht überhaupt nichts«, unterbrach sie Wohlgemut - in einem Ton und mit einem Blick, der das genaue Gegenteil behauptete. »Dahinter ist nichts Geheimes. Wir bewahren die weniger wertvollen Bücher in diesen Kammern auf. Exemplare, die auf die Restaurierung warten, Dubletten und so weiter. Aber es ist nicht ungefährlich.« Sein Blick glitt wieder misstrauisch über das Regal. »In manchen dieser Alkoven liegt einfach nur Gerümpel. Man kann sich verletzten. Du hast dich erschreckt, sagst du? Wovor?«
Irgendetwas stimmte nicht, dachte Leonie. Wohlgemut sprach immer schneller. Bei den letzten Worten hatte er sich fast verhaspelt.
»Nein«, sagte sie ausweichend. Oder doch. Eine Maus, die mir zum Abschied zugelächelt hat, und eine Skulptur aus Holz, die mir fast die Finger abgebissen hätte. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Wohlgemut reagieren würde, wenn sie ihm das erzählte! Prima Idee! »Ein Schatten. Ich dachte, es wäre eine Spinne, aber ich muss mich wohl getäuscht haben.«
»Hast du Angst vor Spinnen?«, fragte Wohlgemut.
»Nicht mehr als andere auch.« Leonie seufzte tief. »Das war’s dann wohl mit dem Praktikum, nehme ich an?«
»Aber wie kommst du denn darauf?«, fragte Wohlgemut in einem Ton tiefster Überraschung. »Nur wegen dieses dummen, kleinen Unfalls? Ich bitte dich, Kind - so etwas kann doch jedem passieren.«
Leonie deutete auf die Geheimtür. »Aber ich...«
»Das macht überhaupt nichts«, fiel ihr Wohlgemut ins Wort. »Du solltest in Zukunft einfach nur aufpassen, wo du hingehst. Sobald du bei uns angefangen hast, führe ich dich noch einmal herum und zeige dir alles.«
»Oh«, machte Leonie. Sie hoffte, dass man ihr die Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerkte. »Na dann...«
Sie brach mitten im Satz ab. Während sie mit Wohlgemut geredet hatte, hatte sie sich halb umgedreht und bemerkt, dass der Professor und sie nicht alleine auf der Galerie standen. Großmutter war Wohlgemut offensichtlich gefolgt, aber sie war in drei oder vier Schritten Abstand stehen geblieben und hatte bis jetzt kein Wort gesprochen. Leonie war nicht einmal sicher, ob sie die ganze turbulente Szene überhaupt mitbekommen hatte. Sie stand wie gelähmt da und starrte aus vor Entsetzen fast aus den Höhlen quellenden Augen auf den geschnitzten Dämonenkopf und ihr Gesicht hatte jedes bisschen Farbe verloren.