Der Archivar

Die Luft war feucht und roch muffig nach dem faulenden Stroh, das auf dem Boden der steinernen Zelle lag. Es war sehr dunkel und so kalt, dass sie ihren Atem als regelmäßige Folge grauer Dampfwölkchen vor dem Gesicht hätte erkennen können, hätte sie etwas gesehen. Die schweren Eisenringe, mit denen ihr rechtes Hand- und ihr linkes Fußgelenk an der Wand festgekettet waren, hatten ihre Haut längst wund gescheuert, sodass jede noch so vorsichtige Bewegung Wellen von Schmerz durch ihren Körper toben ließ, und sie hatte entsetzlichen Durst. Seit man sie hier hereingebracht hatte - vor vielen, vielen Stunden -, hatte sie weder etwas zu essen noch etwas zu trinken bekommen. Die Tür hatte sich kein einziges Mal wieder geöffnet, nachdem sie das Geräusch des großen Schlüssels gehört hatte, der sich in dem altmodischen Schloss drehte. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Niemand schien sich für sie zu interessieren.

Nichts von alledem berührte Leonie wirklich. Die Dunkelheit, die sie umgab, hatte sich auch in ihrem Inneren eingenistet. Es war eine Dunkelheit, die allumfassend war, die nicht nur ihre Gedanken und ihre Seele verschlungen hatte, sondern tiefer ging. Es war das Gefühl, besiegt zu sein, ein für alle Mal und endgültig. So wie vorhin, als sie zusammen mit den anderen im Wagen auf dem Rückweg zu ihrem Elternhaus gewesen war, nur ungleich stärker, lähmender und auf eine schwer in Worte zu kleidende Weise quälender. Es war Leonie gleich, was mit ihr geschah. Seit die Krieger des Archivars sie gepackt und hier heruntergeschleppt hatten, hatte sie nicht einen einzigen Gedanken an ihr Schicksal verschwendet. Wozu auch? Es war vorbei. Sie hatte den größten Kampf ihres Lebens gekämpft und verloren, und das Allerschlimmste daran war vielleicht, dass sie selbst das erst begriffen hatte, als es längst zu spät war.

Das Einzige, was sie wirklich fühlte, war Verbitterung. Sie war so naiv gewesen! Wie hatte sie sich auch nur eine einzige Sekunde lang einbilden können, es mit einem Geschöpf wie dem Archivar aufnehmen zu können, einem Wesen, dessen Essenz Bosheit und Tücke waren und das unendlich viel Zeit gehabt hatte, sich auf diesen Moment vorzubereiten?

Auf der anderen Seite der massiven Eisentür, die ihr Gefängnis verschloss, erscholl für einen Moment Lärm: Hastige Schritte und ein dumpfes Poltern und Krachen, etwas wie grunzende Schreie und vielleicht ein Schlag, dem ein dumpfes Stöhnen folgte. Leonie schrak für einen Moment aus dem dumpfen Brüten hoch, in das sie versunken war. Plötzlich spürte sie, wie kalt es hier drinnen war, wie sehr ihre Fesseln schmerzten und wie hungrig und durstig sie war. Instinktiv bewegte sie sich, aber das Ergebnis war nur eine Woge neuen Schmerzes, die durch ihren Körper schoss. Dennoch bäumte sie sich in einem Anfall fast kindlichen Trotzes noch stärker gegen ihre Fesseln auf und stieß einen kleinen, gequälten Schrei aus, als der brennende Schmerz, der von den aufgeschürften Stellen an ihren Hand- und Fußgelenken ausging, nur noch schlimmer wurde.

Der Lärm draußen auf dem Gang nahm für einen Moment noch zu und brach dann schlagartig ab, um einer umfassenden Stille Platz zu machen. Das Geräusch eines Schlüssels erklang, der in einem uralten, hörbar seit langer Zeit nicht mehr benutzten Schloss gedreht wurde, dann erschien ein senkrechter Streifen aus grellem Licht, der rasch breiter wurde und sich in das hell erleuchtete Rechteck einer offen stehenden Tür verwandelte. Leonie presste für einen Moment die Lider aufeinander, als das grelle Licht in ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen schmerzte, aber dann zwang sie sich, in das hell erleuchtete Rechteck zu sehen. Unter der Tür war eine große, nur als scharf abgegrenzter, schwarzer Umriss erkennbare Gestalt erschienen. Sie hatte keine Hörner, Klauenhände oder irgendwelche Waffen, und doch erschreckte ihr Anblick Leonie mehr, als es der jedes Ungeheuers gekonnt hätte.

Einige Sekunden lang stand der Archivar einfach nur da und starrte sie aus seinen schrecklichen, unsichtbaren Augen an, dann wich er zurück und an seiner Stelle wuselten drei oder vier Scriptoren herein. Eine der kleinen Kreaturen trug eine Fackel, deren flackerndes rotes Licht den Bewegungen der kindsgroßen, in schwarze Mäntel gehüllten Gestalten etwas seltsam Unwirkliches verlieh. Der Fackelträger blieb unter der Tür stehen, während die anderen rasch auf Leonie zuschritten und sich an den beiden Eisenringen zu schaffen machten, die sie an die Wand fesselten. Sie gingen dabei alles andere als sanft vor, sodass Leonie vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen, aber es dauerte nur einen Moment, bis sie frei war.

Das Einzige, wozu sie ihre neu gewonnene Freiheit allerdings im ersten Augenblick nutzen konnte, war, mit einem schmerzerfüllten Seufzen zusammenzubrechen. Sie musste doch länger in dieser unbequemen Stellung an die Wand gefesselt dagestanden haben, als ihr bisher selbst bewusst gewesen war, denn ihre Beine verwehrten ihr einfach den Dienst. Sie wäre zu Boden gestürzt, hätten die beiden Scriptoren sie nicht im letzten Moment aufgefangen.

Die Scriptoren wären allerdings keine Scriptoren gewesen, hätten sie die Gelegenheit nicht genutzt, sie ein bisschen zu kneifen und zu zwicken, sodass Leonie vor Schmerz schon wieder die Luft zwischen den Zähnen einsog und sich mit einer ganz instinktiven Bewegung zu befreien versuchte.

»Lass das!«, keifte einer der Scriptoren. »Das nutzt dir sowieso nichts.«

Die beiden Knirpse zerrten sie grob auf die Füße und einer von ihnen versetzte Leonie einen Stoß, der sie in Richtung Tür stolpern und beinahe hinfallen ließ.

»Stell dich nicht so an!«, giftete er. »Das hier ist noch gar nichts gegen das, was dich erwartet.« Er lachte meckernd, sah Leonie aufmerksam ins Gesicht, wie um sich davon zu überzeugen, dass seine Drohung auch entsprechend angekommen war, und wirkte dann ein bisschen enttäuscht. Leonie nahm seine Drohung durchaus ernst, aber sie hatte einfach keine Kraft mehr, wirklich zu erschrecken. Es war, als wäre etwas in ihr bereits gestorben. Alles, was man ihr antun konnte, hatte man ihr bereits angetan.

Obwohl es nicht nötig war, ergriffen die beiden Scriptoren sie grob an den Armen und zerrten sie auf den Gang hinaus. Während sie unsanft davongeschleift wurde, versuchte Leonie sich zu orientieren, aber viel zu sehen gab es nicht. Der Gang unterschied sich nicht von den unzähligen anderen Stollen und Korridoren, die sie hier unten schon kennen gelernt hatte: düstere Wände aus grob vermauerten Ziegelsteinen, in deren Fugen sich Schimmel und Moder eingenistet hatten, eine gewölbte Decke und überall niedrige Türen aus rostigem, schwarzem Eisen, in die winzige vergitterte Gucklöcher eingelassen waren. Er schien endlos zu sein. Sowohl vor als auch hinter ihr verlor er sich in dunstig-grüner Weite, in der manchmal die vage Andeutung einer Bewegung zu erkennen war und aus der dann und wann unheimliche, hallende Laute an ihr Ohr drangen. Von dem Archivar selbst war nichts mehr zu sehen, aber Leonie glaubte seine Anwesenheit zu spüren, als wäre er unsichtbar überall um sie herum und starrte sie aus seinen schrecklichen, alles durchdringenden Augen an.

»Wohin bringt ihr mich?«, murmelte sie.

Einer der Scriptoren lachte hässlich. »Nur Geduld«, höhnte er. »Du landest schon noch früh genug im Leimtopf. Aber vorher haben wir noch eine kleine Überraschung für dich.«

»Wir sind ja keine Unmenschen«, kicherte der andere Scriptor. »Da wartet jemand auf dich. So etwas wie eine... Familienzusammenführung, gewissermaßen.«

Leonie ersparte es sich, eine weitere Frage zu stellen, die die Scriptoren ohnehin gar nicht oder nur mit einer neuen Gehässigkeit beantwortet hätten. Sie versuchte ihre Schritte ein wenig zu beschleunigen, damit die beiden kleinen Quälgeister nicht mehr ganz so derb an ihren Armen zerren mussten, erreichte damit aber nur, dass die Scriptoren ihrerseits schneller gingen und sich nichts änderte; abgesehen davon, dass ihr das Gehen nun noch mehr Mühe bereitete.

Glücklicherweise war der Weg nicht mehr allzu weit. Sie passierten vielleicht noch ein Dutzend der geschlossenen Eisentüren, dann hielten die Scriptoren vor einer Zelle an. Einer von ihnen kramte einen gewaltigen Schlüsselbund unter seinem Mantel hervor, an dem sich sicherlich dreißig oder vierzig vollkommen gleich aussehende Schlüssel befanden, pickte mit unglaublicher Zielgenauigkeit den richtigen heraus und schob ihn ins Schloss. Leonie registrierte, dass er ihn mindestens vier- oder fünfmal herumdrehte, bevor die Tür mit einem Klacken aufsprang.

Die Zelle dahinter war so winzig und dunkel wie die, in der sie bis eben noch gewesen war. Ein Schwall feuchtkalter, verbraucht riechender Luft schlug ihr entgegen, und sie hörte ein gedämpftes Rascheln, als bewege sich etwas in der Dunkelheit jenseits der Tür. Möglicherweise war da auch ein Schatten, aber sie war nicht ganz sicher.

»Nur keine Hemmungen«, kicherte einer ihrer gnomenhaften Begleiter. Der andere machte eine auffordernde Handbewegung und deutete eine spöttische Verbeugung an, wobei er sich gleichzeitig rückwärts gehend auf die Tür zubewegte wie ein Höfling, der eine Prinzessin zu ihrem Bräutigam geleitet hatte. Leonie machte einen einzelnen, zögernden Schritt in die Zelle hinein und blieb wieder stehen. Das Rascheln wiederholte sich und wurde nun von einem leisen Klirren begleitet, das sie an das Geräusch erinnerte, das ihre eigenen Ketten verursachten, wenn sie versucht hatte sich zu bewegen. Ihre Augen gewöhnten sich schneller an die Dunkelheit hier drinnen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie konnte immer noch keine Einzelheiten sehen, erkannte aber zumindest einen zusammengekauerten Schatten vor der gegenüberliegenden Wand. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

»Du bist ein ungezogenes Mädchen, weißt du das eigentlich?«, höhnte einer der Scriptoren von der Tür her. »Willst du deine liebe Verwandte nicht in die Arme schließen und gebührend begrüßen, nach so langer Zeit?«

Leonie warf dem hässlichen Zwerg einen raschen, verwirrten Blick zu, als sich dieser kurzerhand umdrehte und seinem Kumpan auf den Gang hinaus folgte, und machte dann einen weiteren, noch zaghafteren Schritt in die Zelle hinein. Und dann schrie sie auf.

»Großmutter!«

Mit einem einzigen Satz war sie bei der zusammengesunkenen Gestalt, ließ sich auf die Knie fallen und breitete die Arme aus - doch dann erstarrte sie im allerletzten Moment wieder. Ihr Herz hämmerte so sehr, dass sie es bis in die Fingerspitzen fühlen konnte, und ihre Gedanken überschlugen sich. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie in das Gesicht ihrer Großmutter, und dennoch wagte sie es nicht, sie zu berühren. Es war ihre Großmutter, daran bestand nicht der geringste Zweifel, auch wenn sie sich auf schreckliche Weise verändert hatte.

Sie sah älter aus, als Leonie sie in Erinnerung hatte, ausgezehrt und unendlich müde. Ihr Haar hing ihr wirr in die Stirn und ihre Kleider bestanden nur noch aus schmutzigen Fetzen, die um ihre abgemagerten Glieder schlotterten. Genau wie Leonie selbst war auch sie mit schweren eisernen Ringen an die Wand gekettet, die jede Bewegung zu einer Tortur machen mussten, und genau wie sie schien sie jeden Lebenswillen und jedes bisschen Kraft verloren zu haben, denn obwohl in ihren trüb gewordenen Augen ein schwacher Funke von Wiedersehensfreude aufglomm, als sie Leonie erkannte, schaffte sie es nicht einmal mehr, den Kopf zu heben, und das Lächeln, das sie auf ihre ausgetrockneten, rissigen Lippen zwingen wollte, geriet zu einer Grimasse.

Aber war es wirklich ihre Großmutter? Für einen Moment loderte eine wilde Wiedersehensfreude in Leonie hoch. Sie wollte nichts mehr als ihre Großmutter - endlich! - in die Arme zu schließen. Aber sie wagte es nicht. Die Erinnerung an die grausame Täuschung, der sie schon einmal erlegen war, war einfach zu stark. Wer sagte ihr denn, dass es tatsächlich Großmutter war und nicht nur ein weiterer, grausamer Scherz, den sich der Archivar mit ihr erlaubte?

»Leonie«, murmelte Großmutter. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Also hat er dich am Ende auch noch bekommen.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Und ich hatte so gehofft, dass du meine Warnung erhältst.«

Es dauerte noch einen Moment, aber dann begriff Leonie, wie diese Worte gemeint waren. Und in der gleichen Sekunde wurde ihr auch klar, dass sie genau diese Zelle und dieses erbarmungswürdige Zerrbild dessen, was ihre Großmutter einmal gewesen war, nicht zum ersten Mal sah.

Es war noch nicht einmal lange her. Es war das Bild, das sie auf dem Fernsehschirm gesehen hatte, kurz bevor Frank und seine Männer das Haus stürmten und ihre Welt endgültig in Stücke brach. Und es war diese Erkenntnis, die Leonie endgültig davon überzeugte, diesmal nicht einem Trugbild zu erliegen, das der Archivar geschickt hatte um sie zu quälen.

Mit einem Aufschrei warf sie sich vor und schloss ihre Großmutter in die Arme.

Lange spürte sie nichts anderes als Erleichterung und unendliche Freude darüber, ihre geliebte Großmutter wiederzusehen. Sie lebte! Hätte sie noch einen weiteren Beweis gebraucht, dass sie es wirklich war und kein diabolischer Doppelgänger, hätte ihr diese Umarmung endgültige Gewissheit gegeben: In dem Moment, in dem sie sie berührte, spürte sie, dass es ihre Großmutter war.

Leonie hätte sicher noch länger so dagesessen und ihre Großmutter an sich gedrückt, hätte diese nicht plötzlich ein leises Seufzen von sich gegeben, das ihr klar machte, dass ihr die stürmische Begrüßung vermutlich Schmerzen bereitete, zumindest aber den Atem raubte. Hastig ließ Leonie sie los, kroch auf den Knien ein kleines Stück zurück und stammelte: »Entschuldige. Ich... ich wollte dir nicht...«

»Ist schon gut.« Großmutter lächelte, auch wenn ihre Kraft nicht mehr ausreichte, dieses Lächeln irgendwo anders als in ihren Augen Gestalt annehmen zu lassen. »Ich bin so erleichtert, dass du hier bist.« Sie stutzte, deutete ein Kopfschütteln an und verbesserte sich hastig: »Natürlich nicht, dass du hier bist. Aber dich lebendig zu sehen.«

»Aber was ist denn nur passiert?«, murmelte Leonie verständnislos. »Wie kommst du hierher? Wieso...« Sie sprach nicht weiter, sondern biss sich fast schuldbewusst auf die Lippen, aber ihre Großmutter führte die Frage an ihrer Stelle zu Ende.

»Wieso ich noch lebe?«

»Nein! Ich meine natürlich...« Wieder versagte Leonie die Stimme. Ihre Gedanken drehten sich so ziellos im Kreis, dass ihr beinahe schwindelig davon wurde.

»Es ist eine lange Geschichte«, sagte Großmutter. »Ich war so dumm. Es tut mir so unendlich Leid, Leonie. Alles, was ich dir und deiner Mutter und deinem Vater angetan habe... ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen.«

»Du?«

Diesmal antwortete Großmutter nicht gleich, sondern versuchte sich etwas bequemer hinzusetzen, was aber von den eng anliegenden eisernen Fesseln verhindert wurde. Immerhin gelang es ihr, den Kopf gegen den rauen Stein hinter sich sinken zu lassen und für einen Moment die Augen zu schließen. Leonie brach fast das Herz, als sie sah, wie krank, erschöpft und mitgenommen ihre Großmutter wirklich aussah. Bevor diese ganze schreckliche Geschichte ihren Anfang genommen hatte, war Leonie immer voller Bewunderung darüber gewesen, wie kraftvoll und jung ihre Großmutter trotz ihrer mehr als achtzig Jahre noch wirkte. Die Frau, in deren Gesicht sie nun blickte, sah aus, als wäre sie mindestens hundert und von einer langen, schweren Krankheit gezeichnet. Ihr Gesicht war so eingefallen, dass die Knochen scharf durch die Haut stachen, und ihr Haar war dünn geworden und begann hier und da in Strähnen auszufallen. Selbst ohne die schweren Eisenketten, die sie an die Wand fesselten, hätte sie ihr Gefängnis kaum verlassen, ja vielleicht nicht einmal aufstehen können. Als sie nach Sekunden, die Leonie wie eine Ewigkeit vorkamen, die Lider hob, da waren ihre Augen von einem Schmerz erfüllt, dessen bloßer Anblick Leonie auch beinahe die Tränen in die Augen steigen ließ.

»Es tut mir so unendlich Leid«, murmelte sie. »Kannst du mir verzeihen?«

»Aber was denn nur?«, wunderte sich Leonie. Sie verstand nicht, wovon Großmutter überhaupt sprach.

»Es ist alles meine Schuld«, sagte Großmutter, nicht zum ersten Mal, aber nun in sonderbar bitterem und zugleich fast ausdruckslosem Ton. »Ich hätte es besser wissen müssen. Ich war eine dumme alte Frau, die gedacht hat, dass ihr nichts mehr passieren kann. Dabei hätte ich wissen müssen, dass Hochmut vielleicht die schlimmste aller Sünden ist. Zumindest aber die dümmste.«

»Hochmut?«

Großmutter nickte. »Es war nicht das erste Mal, weißt du? Er hat schon einmal versucht, mich zu überlisten, und es wäre ihm beinahe gelungen.«

»Der Archivar?«, fragte Leonie.

»Ich war damals nicht viel älter als du heute«, bestätigte Großmutter. Ihre Stimme wurde noch leiser und ihr Blick schien auf eine unendlich lange zurückliegende Vergangenheit gerichtet. Leonie war nicht einmal sicher, dass Großmutter tatsächlich noch mit ihr sprach. Vielleicht waren die Erinnerungen, die ihre eigenen Worte heraufbeschworen hatten, einfach so übermächtig, dass sie sie aussprechen musste, um nicht daran zu zerbrechen. »Meine Mutter - deine Urgroßmutter - ist früh gestorben. Viel zu früh. Ich hatte kaum Zeit, sie wirklich kennen zu lernen, und noch viel weniger, zu begreifen, was die Gabe wirklich bedeutet, die sie mir hinterlassen hatte. Er hat das gewusst. Und er hat seine Chance erkannt und versucht sie zu nutzen.«

»Der Archivar«, sagte Leonie noch einmal. Als ihre Großmutter nickte, fragte sie: »Was ist passiert?«

»Es ist eine lange und schlimme Geschichte, mein Kind«, antwortete Großmutter. »Jetzt ist nicht der Moment, sie zu erzählen, und ich fürchte, uns würde auch nicht genügend Zeit dafür bleiben. Ich war damals noch viel mehr ein Kind, als du es heute bist. Viel naiver und gutgläubiger. Und auch viel dümmer, wie mir heute klar ist. Um ein Haar hätte er sein Ziel erreicht, und hätten die anderen Hüterinnen und viele gute Freunde und Freundinnen nicht alles riskiert um mir zu helfen, dann hätte er schon damals die Macht über das Archiv an sich gerissen. Wir konnten seinen Angriff abwehren, doch um einen schrecklichen Preis.«

Sie schwieg wieder einige Sekunden lang traurig. Leonie wartete darauf, zu erfahren, wie dieser Preis ausgesehen hatte - und vor allem, wie es Großmutter und den anderen am Ende gelungen war, den Angriff des Archivars zurückzuschlagen -, aber die Zeit verging, die Sekunden reihten sich aneinander und wurden schließlich zu einer Minute, dann seufzte ihre Großmutter tief und ihr Blick kehrte aus den Abgründen einer längst begraben gehofften Vergangenheit zurück in die Gegenwart und suchte den Leonies. »Seither haben weder ich noch eine der anderen jemals wieder etwas von ihm gehört. Fast ein ganzes Menschenleben lang hat er sich im Verborgenen gehalten, aber nun ist mir klar, dass genau dies sein Plan war. Uns in Sicherheit zu wiegen. Uns glauben zu lassen, er wäre endgültig besiegt und keine Gefahr mehr. Und dieser Plan ist aufgegangen. Durch meine Schuld.«

»Aber wieso denn nur?«

»Weil ich es gewusst habe«, antwortete Großmutter. Leonie spürte, wie schwer es der alten Frau fiel, diese fünf simplen Worte auszusprechen. Sie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Leonies Blick standzuhalten, sondern starrte auf den mit faulem Stroh bedeckten Boden. »Erinnerst du dich an jenen Morgen, an dem wir zusammen zur Zentralbibliothek gefahren sind?«

»Natürlich«, antwortete Leonie. Wie sollte sie diesen Tag vergessen haben?

»Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, Leonie«, fuhr Großmutter fort. »Ich habe dir gesagt, dass wir dorthin gehen, um dir eine Stelle als Praktikantin zu besorgen, und das war die Wahrheit - aber längst nicht die ganze. Ich hatte schon seit einer Weile gespürt, dass sich seine Macht wieder regte. Am Anfang wollte ich es nicht wahrhaben und hielt es für die albernen Ängste einer alt und nervös gewordenen Frau. Ich war so dumm! Ich hätte die anderen warnen, Jüngere um Hilfe bitten müssen. Aber ich hatte ihn schon einmal besiegt und ein ganzes Leben in Ruhe und Frieden hatten mich leichtsinnig und überheblich werden lassen. Ich bin an diesem Morgen zusammen mit dir zu Wohlgemut gefahren, um ihm von meinen Befürchtungen zu erzählen. Er ist einer der wenigen, die mir damals geholfen haben und heute noch am Leben sind.« Sie lachte bitter. »Ich dachte, er und ich wären gemeinsam stark und...«, sie betonte das Wort auf sonderbare Art, »weise genug, um dir alles erzählen und dich auf das vorbereiten zu können, was vielleicht käme. Ich Närrin!«

»Aber du hast nichts gesagt«, wunderte sich Leonie. Ihr wurde zu spät klar, dass diese Worte durchaus als Vorwurf aufgefasst werden konnten, zumal ihre Großmutter sichtlich zusammenfuhr und die dünnen, knochig gewordenen Hände zu ringen begann.

»Wie konnte ich auch?«, murmelte ihre Großmutter. »Ich habe ihn nie erreicht.«

»Wen?«

»Wohlgemut«, antwortete Großmutter.

»Aber das kann nicht stimmen!«, protestierte Leonie. »Wir waren doch zusammen...« Sie brach ab, als ihre Großmutter den Blick hob und sie nun doch ansah. Was sie in ihren Augen las, das schnürte ihr die Kehle zu, und ein neuer, eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. »Wir sind doch zusammen in die Bibliothek gegangen«, murmelte sie. »Und du hast mich Wohlgemut vorgestellt.«

»Nein«, sagte Großmutter traurig. »Das habe ich nicht.« Sie hob die freie Hand, als Leonie etwas sagen wollte, und fuhr mit noch immer zitternder, nun aber wieder deutlich gefassterer Stimme fort: »Das war nicht ich, mit der du zusammen bei Wohlgemut warst, Leonie. Er lauerte mir auf, als ich Wohlgemuts Büro betrat.«

Im allerersten Moment verstand Leonie nicht, wovon ihre Großmutter überhaupt sprach, dann aber erinnerte sie sich an die kurze Szene, der sie bisher keinerlei Bedeutung zugemessen hatte. Ihre Großmutter war allein in das Zimmer hinter der großen Doppeltür getreten, nachdem die Sekretärin sie dazu aufgefordert hatte, und sie hatte tatsächlich sonderbare Laute daraus hervordringen hören, die sie damals nur verwirrt hatten. Jetzt, im Nachhinein und mit dem Wissen, das sie nun hatte, wurde ihr klar, dass es sehr wohl die Geräusche eines Kampfes gewesen sein konnten.

»Aber du bist doch herausgekommen und mit mir zu Wohlgemut gegangen«, murmelte sie hilflos. Natürlich glaubte sie ihrer Großmutter. Mehr noch: Sie wusste, dass es so und nicht anders gewesen war, aber die Vorstellung war einfach so entsetzlich, dass sie gar nicht anders konnte, als sich noch einmal, für einen allerletzten Moment, gegen die Erkenntnis zu sträuben.

»Ein Trugbild, das der Archivar geschickt hat«, erklärte ihre Großmutter. »Seine Kreaturen haben mich überwältigt und davongeschleppt. Ich habe versucht mich zu wehren, aber sie waren viel zu stark. Seitdem bin ich hier. Ich weiß nicht, was weiter geschehen ist. Ich habe versucht dich zu warnen, aber ich war nicht stark genug.«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte Leonie mit leiser, tränenerstickter Stimme. »Ich habe dich gehört. Aber ich habe nicht verstanden, was du mir sagen wolltest.« Sie gab ein Geräusch von sich, von dem sie selbst nicht genau sagen konnte, ob es ein bitteres Lachen oder ein mühsam unterdrücktes Schluchzen war. »Vielleicht bin ich doch nicht so viel klüger als du.«

»Mach dir keine Vorwürfe, Leonie.« Ihre Großmutter hob die Hand und streichelte ihr sanft über die Wange. Ihre Haut fühlte sich heiß, trocken und auf schaudern machende Art krank an.

»Wenn jemanden die Schuld trifft, dann mich. Ich habe seine Tücke und Verschlagenheit unterschätzt und das ist ein unverzeihlicher Fehler.«

Leonie wollte etwas dazu sagen, doch dann schoss ihr plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf: »Der Archivar hat behauptet, er wäre mir in deiner Gestalt erschienen, nur eben jünger - aber wie kann er Theresa gewesen sein, wenn er und Theresa im Archiv gleichzeitig auftauchten?«

Großmutter schüttelte traurig den Kopf: »Manchmal wird er dir wohl selbst als Theresa erschienen sein, manchmal aber auch nur eines seiner Geschöpfe geschickt haben.«

Leonie fuhr zur Tür herum; einen flüchtigen Moment lang hatte sie geglaubt, dort eine schwarze, schattenhafte Gestalt zu sehen, die hoch aufgerichtet im Gang stand und jede ihrer Regungen verfolgte. Aber sie musste sich getäuscht haben; dort war niemand. Und dennoch konnte sie sich des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, von unsichtbaren Augen angestarrt zu werden, die unter einer schwarzen Kapuze verborgen waren.

»Hab keine Angst«, sagte ihre Großmutter hastig. Auch sie sah zur Tür hin, aber in ihren Augen waren nur Verbitterung und dumpfer Zorn zu lesen, nicht die mindeste Spur von Angst. »Er wird uns nichts tun. Jetzt noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil er seinen Triumph genießen will«, antwortete Großmutter. »Du darfst ihn nicht fürchten, Leonie. Ich weiß, das ist viel verlangt, aber du musst deine Furcht bekämpfen. Angst und Leid sind sein Lebenselixier. Er braucht es um zu existieren, so wie wir Luft, Sonnenlicht und Nahrung. In einer Welt ohne Furcht und ohne Leid könnte er nicht überleben.«

Es dauerte nur einen ganz kurzen Moment, bis Leonie der offensichtliche Fehler in diesen Worten auffiel. »Das ist verrückt. Ganz genau diese Welt wollte Vater doch erschaffen!«

Ihre Großmutter blinzelte - und Leonie begriff, dass sie gar nicht verstehen konnte, was sie ihr hatte sagen wollen. Mit wenigen Worten erzählte sie ihrer Großmutter, wie Vater das Buch in seine Gewalt gebracht und was er damit getan hatte. Großmutter hörte schweigend zu, und von all den Reaktionen, die Leonie erwartet hatte, erfolgte keine einzige. Sie wirkte weder erschrocken noch zornig oder gar entsetzt. Als Leonie ihren Bericht beendet hatte, schüttelte sie nur traurig den Kopf und seufzte.

»Ja, das hätte ich mir eigentlich denken können«, sagte sie, mit einem sonderbar milden Lächeln, das Leonie nun endgültig nicht mehr nachvollziehen konnte. »Dein Vater war schon immer ein unverbesserlicher Romantiker, aber leider nie sehr realistisch.«

Diese Beschreibung hatte wenig mit dem Mann gemein, den Leonie in den letzten Tagen erlebt hatte, sehr wohl aber eine Menge mit dem, an den sie sich aus einer längst vergangenen Zeit erinnerte. »Du bist gar nicht zornig auf ihn?«, erkundigte sie sich in leicht verwundertem Ton.

»Aber warum sollte ich?«, antwortete Großmutter. »Wenn ich, die ich mein Leben lang um die Macht des Archivars wusste und schon einmal mit ihm gekämpft habe, seiner Heimtücke nicht gewachsen war, wie könnte ich es dann von deinem Vater verlangen? Der Archivar ist kein Mensch, Leonie. Ich bin nicht einmal sicher, ob er ein lebendes Wesen in dem Sinn ist, in dem wir dieses Wort benutzen. Er ist so alt wie die Zeit, und er hat in all diesen Unendlichkeiten das Leid, den Schmerz, jeden hasserfüllten Gedanken, alle Bosheit und Heimtücke aufgesogen, die es auf dieser Welt gegeben hat. Wie kannst du erwarten, dass ein sterblicher Mensch seine Pläne durchschaut oder gar durchkreuzt?« Sie schüttelte abermals den Kopf und wiederholte: »Nein, ich bin deinem Vater nicht böse. Ganz im Gegenteil. Er ist vielleicht einer der gütigsten und sanftmütigsten Menschen, die ich jemals kennen gelernt habe, aber er ist ein Mensch. Niemand ist gegen die Verlockung gefeit, nicht einmal ein Heiliger wäre das. Wenn er wirklich geglaubt hat, es läge in seiner Hand, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann musste er dieser Verlockung einfach erliegen.«

Leonie war verwirrt. Sie hatte erwartet, dass ihre Großmutter zornig oder zumindest enttäuscht reagieren würde, wenn sie erfuhr, was geschehen war - dass ausgerechnet sie Vaters Handeln nun auch noch verteidigte, das war das Letzte, womit sie gerechnet hätte. Ganz kurz wandte sie den Kopf und sah wieder zur Tür hin. Noch immer war dort niemand zu sehen, und doch glaubte sie eine finstere Macht zu spüren, die höhnisch jeden ihrer noch so kleinen Schritte verfolgte.

»Erzähl mir, was geschehen ist«, bat Großmutter.

»Du weißt nichts?«

»Ich habe versucht dich zu warnen«, erwiderte Großmutter, »aber mehr konnte ich nicht tun. Ich bin hier, seit mich die Krieger des Archivars überwältigt haben.«

Leonie erschrak bis ins Mark. Obwohl es ihr viel länger vorkam, waren seit dem Morgen, an dem Großmutter und sie in die Zentralbibliothek gegangen waren, doch erst wenige Tage verstrichen. Für sie. Doch die Zeit gehorchte hier unten anderen Gesetzen. Wenige Tage oder Wochen in der richtigen Welt mussten Monate, wenn nicht Jahre im Reich des Archivars bedeuten. »Aber das heißt ja, dass du...« Ihre Stimme versagte, aber ihre Großmutter wusste auch so, was sie meinte. Sie nickte müde.

»Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin«, sagte sie. »Aber es war eine lange Zeit. Eine endlos lange Zeit. Ich glaube, das Einzige, was mir die Kraft gegeben hat, am Leben zu bleiben, war die Angst um dich und die Hoffnung, dich vielleicht doch noch warnen zu können.« Sie raffte sich zu einem aufmunternden Lächeln auf, als sie den Ausdruck von Schmerz auf Leonies Gesicht erkannte, und hob noch einmal die Hand, um ihre Wange zu berühren. »Also? Erzähl mir, was geschehen ist.«

Leonie war noch immer zutiefst erschüttert, aber schließlich kämpfte sie ihren Kummer nieder und begann mit leiser, sehr ruhiger Stimme von all den unheimlichen und erschreckenden Geschehnissen zu berichten, die sich seit jenem schicksalhaften Morgen zugetragen hatten. Sie brauchte lange dazu, aber ihre Großmutter unterbrach sie kein einziges Mal, auch wenn sich ihr Blick des Öfteren verdüsterte und mehr als einmal blankes Entsetzen oder auch Wut in ihren Augen aufleuchteten - vor allem, so schien es Leonie, jedes Mal dann, wenn sie von Wohlgemut, Dr. Fröhlich oder Vater Gutfried erzählte. Sie nahm sich vor, ihrer Großmutter eine entsprechende Frage zu stellen, hielt aber nicht in ihrem Bericht inne, sondern zwang sich ganz im Gegenteil sogar, sich an jede noch so winzige Kleinigkeit zu erinnern und nichts auszulassen. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie bestimmt eine Stunde brauchte, ehe sie endlich an dem Punkt angelangt war, an dem die Geschichte endete. Als sie von ihren Gefühlen zu berichten versuchte, die sie beim Anblick des Archivars empfunden hatte - vor allem in dem Moment, als er sich ihr offenbart hatte, begann ihre Stimme zu zittern und versagte ihr kurz darauf den Dienst.

»Oh, du armes Kind«, bedauerte sie Großmutter. »Was musst du nur gelitten haben!«

»Gelitten?« Leonie riss die Augen auf. »Nein. Längst nicht genug, wenn du mich fragst. So dumm, wie ich war, kann ich gar nicht genug leiden, um dafür bestraft zu werden. Die ganze Zeit über habe ich gedacht, ich kämpfe gegen den Archivar. Aber er war ständig in meiner Nähe.«

Ihre Großmutter antwortete nicht gleich, sondern sah sie nur auf sonderbare Weise an. Dann fragte sie: »Und jetzt machst du dir Vorwürfe, weil du auf seine Lügen hereingefallen bist?«

»Ich verstehe nicht, wie ich so dumm sein konnte«, bestätigte Leonie.

»Was ich gerade über deinen Vater gesagt habe, Leonie«, fragte Großmutter, »hast du das verstanden? Dass er nur ein Mensch ist und der Verschlagenheit und Heimtücke des Archivars nicht gewachsen?«

Leonie nickte.

»Du verstehst also deinen Vater«, fuhr Großmutter fort. »Aber warum verstehst du dann nicht dich selbst? Wieso gilt für dich nicht, was für ihn gilt?« Sie schüttelte heftig den Kopf, als Leonie antworten wollte. »Dich trifft am allerwenigsten Schuld, Leonie.« Sie seufzte. »Vielleicht trifft niemanden die Schuld. Dieser Kampf ist so alt wie die Zeit und vielleicht musste er einmal enden.«

Die Mutlosigkeit in der Stimme ihrer Großmutter erschütterte Leonie. Bevor sie etwas sagte, wandte sie noch einmal den Kopf und sah zur Tür. Die Tür stand immer noch offen und von draußen drang nicht der mindeste Laut herein, aber Leonie wusste dennoch, dass es vollkommen sinnlos wäre, fliehen zu wollen. Müde wandte sie sich wieder ihrer Großmutter zu und fragte: »Und was tun wir jetzt?«

»Tun?« Leonie verstand zwar nicht warum, aber ihre Großmutter klang ehrlich verwirrt.

»Wir müssen etwas unternehmen«, antwortete sie. »Wir müssen...«

»Was?«, unterbrach sie Großmutter. »Ihm das Buch wieder wegnehmen?«

»Sicher!« Leonie nickte heftig.

»Aber hast du denn nicht verstanden, was ich dir die ganze Zeit zu erklären versucht habe?«, fragte ihre Großmutter. »Es gibt nichts mehr, was wir tun könnten.«

»Aber wir können doch nicht einfach aufgeben!«, protestierte Leonie. »Wir müssen das Buch wieder in unseren Besitz bringen! Wenn dieses... dieses Ding Macht über das Schicksal jedes einzelnen Menschen hat...«

»... dann wird die Welt zu einem anderen Ort werden als dem, den wir kennen«, unterbrach sie ihre Großmutter leise, traurig und in einem Ton, der etwas in Leonie berührte und sie schier zu Eis erstarren ließ. »Einem dunklen Ort. Vielleicht ist es gut, dass wir ihn nicht mehr erleben werden.«

»Du willst einfach so aufgeben?« Leonie weigerte sich zu glauben, dass ihre Großmutter dieser Meinung sein könnte. »Du hast es doch selber gesagt! Du hast ihn schon einmal besiegt! Und jetzt sind wir zu zweit!«

»Und doch gibt es nichts, was wir noch tun könnten«, beharrte ihre Großmutter. »Es ist das oberste Gesetz des Archivs, dass die Macht über das Buch nur vererbt oder aus freien Stück weitergegeben werden kann. Selbst wenn es uns gelänge, ihm das Buch mit Gewalt wegzunehmen, würde das nichts ändern. Er müsste es dir schon freiwillig zurückgeben.«

»Heißt das, dass... dass...« Leonies Stimme versagte endgültig. Sie war nicht einmal überrascht, denn im Grunde hatte sie längst gewusst, was ihre Großmutter ihr nun gesagt hatte. Aber es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine ganz andere, es auch zu akzeptieren. Und je schlimmer die Erkenntnis war, desto gewaltiger war dieser Unterschied.

»Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, Leonie«, sagte Großmutter. Sie streckte die Hand aus und berührte tröstend Leonies Gesicht. »Ich wünschte so sehr, ich könnte es. Ich gäbe mein Leben dafür. Aber es ist so. Der Kampf ist entschieden, Leonie. Wir haben verloren. Endgültig.«

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