Aus der Viertelstunde wurden zwanzig Minuten, dann fünfundzwanzig und schließlich eine halbe Stunde, aber ihr Vater kam nicht zurück und auch Leonie ging nicht nach oben, wie sie es sich vorgenommen hatte. Sie fasste sich in Geduld. Neben vielen anderen war das schon immer eine ihrer großen Stärken gewesen, aber heute wurde sie wirklich auf eine harte Probe gestellt. Alles war so rätselhaft, so erschreckend. Und mit jeder Sekunde, die sie darüber nachdachte, schien sich ihre Verwirrung nur noch zu steigern. Nichts von all dem, was sie seit heute Morgen erlebt und gehört hatte, schien irgendeinen Sinn zu ergeben.
Endlich hörte sie das Geräusch der Schlafzimmertür und atmete innerlich auf - allerdings nur für einen Moment. Sie hörte die Schritte, auf die sie schon so lange gewartet hatte, aber auch die Stimmen ihrer Eltern, und sie klangen nicht so, als wären sie heruntergekommen, um in aller Ruhe mit ihr zu reden.
Oder um genauer zu sein: Sie stritten sich so heftig, wie Leonie es eigentlich noch nie erlebt hatte. Sie erstarrte und fragte sich, wie sie reagieren sollte, wenn ihre Eltern hereinkamen und sich vor ihren Augen weiterstritten; vielleicht gar mit ihr, oder - noch schlimmer - um sie.
Sie brauchte die Frage nicht zu beantworten. Ihre Eltern kamen zwar die Treppe herunter, aber nicht ins Wohnzimmer. Stattdessen hörte sie nach wenigen Sekunden die Tür zu Vaters Arbeitszimmer zufallen und den Klang ihrer Stimmen abschneiden. Leonie hatte es versucht, doch es war ihr nicht gelungen, zu hören, worum es bei der Auseinandersetzung ging. Aber sie war sicher, ein paarmal ihren Namen gehört zu haben. Es ging also eindeutig um sie. Anscheinend waren sich ihre Eltern doch nicht so einig darüber, ihr die Wahrheit sagen zu wollen, wie Vater behauptet hatte. Und damit war das Maß voll. Wenn Leonie irgendetwas hasste, dann wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Was immer hier vorging, es hatte eindeutig mit ihr zu tun, und sie hatte einfach ein Recht darauf, endlich die Wahrheit zu erfahren! Mit energischen Schritten ging sie den Flur hinab und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Ich bitte dich, tu das nicht!« Mutters Stimme drang nur gedämpft durch das dicke Holz der Tür, aber es war etwas in ihrem Klang, das Leonie mitten in der Bewegung innehalten ließ. Sie zögerte noch einen Moment, doch dann ließ sie sich vor der Tür in die Hocke sinken und versuchte durch das Schlüsselloch zu spähen. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich unverzüglich. Es war nicht ihre Art, ihre Eltern zu belauschen - schon gar nicht in einem Moment wie diesem -, aber dort drinnen ging etwas vor, das sie betraf und vielleicht wichtiger war, als sie jetzt ahnte.
Durch das Schlüsselloch konnte sie nur einen winzigen Ausschnitt des Zimmers sehen: eine Ecke des Schreibtisches, einen Schatten, der vielleicht ein Stuhlbein war, und den Safe, vor dem ihr Vater vorhin gekniet hatte. Ihre Eltern konnte sie nicht sehen, wohl aber ihre Schatten, die sich in hektischer Bewegung zu befinden schienen. Leonie nahm an, dass ihr Vater unruhig im Zimmer auf und ab ging, wie immer wenn er nervös war oder besonders aufgeregt.
Da die Tür sehr massiv war, konnte sie die Stimmen ihrer Eltern nicht besonders gut verstehen, zumal sie beide äußerst erregt waren, und zwar alles andere als leise, aber dafür durcheinander redeten. Leonie verstand nur Bruchstücke, sodass sie darauf angewiesen war, sich den Rest mehr oder weniger zusammenzureimen.
»Dann sag mir... tun soll«, sagte ihr Vater gerade. »Dieser Leichner... gefährlich.«
»Aber vielleicht hat er ja Recht«, antwortete Mutter erregt. »Wir hätten... nicht... dürfen.«
»Wir haben es aber!« Ihr Vater kam um seinen Schreibtisch herum und blieb vor dem Tresor stehen. »Mir gefällt das auch nicht, aber wir haben... andere Wahl gehabt.«
Leonie hatte ein unheimliches Gefühl von Déjà-vu, das umso absurder war, als sie einen solchen Streit zwischen ihren Eltern noch nie erlebt hatte, nicht einmal ansatzweise - und dennoch erinnerte sie sich daran. Nicht genau an diese Szene, aber an etwas Ähnliches.
Aber wie konnte sie sich an etwas erinnern, was nie geschehen war?
»Und wenn wir es nun noch schlimmer machen?«, fragte Mutter. »So wie das letzte Mal - und das davor?«
»Das kannst du ja wohl kaum vergleichen. Ein solcher Fehler wird mir bestimmt nicht noch einmal passieren. Außerdem sind die äußeren Umstände vollkommen anders.«
»Mir ist er passiert«, antwortete Leonies Mutter. »Und ich wusste, was ich tat. Oder ich dachte es wenigstens.«
»Dann hilf mir!«, verlangte Vater. »Du hast Recht - wir müssen vorsichtig sein. Aber wenn wir alles bedenken, dann schaffen wir es auch. Verdammt, hast du nicht selbst gesagt, dass du Leonie dieses Schicksal ersparen willst?«
»Ja, nur... doch nicht so. Vielleicht haben wir gar keine andere Wahl.«
»Unsinn!«, widersprach ihr Vater. Er lachte leise, aber es klang eher verächtlich als amüsiert. »Warst du es nicht, die mir immer wieder gepredigt hat, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden?«
»Natürlich, aber dann sollten wir Leonie dieses Recht auch zugestehen, meinst du nicht?«
»Und wie? Was glaubst du denn, welche Chancen sie noch hat, wenn sie diesen Leuten in die Hände fällt?« Ihr Vater schüttelte heftig den Kopf, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ sich wieder vor dem Safe in die Hocke sinken. »Mir gefällt die Sache genauso wenig wie dir, Anna. Aber wir haben sie nun einmal angefangen und wir können nicht mehr zurück«, fuhr er fort, während er den Schlüssel ins Schlüsselloch schob und dann die schwere Stahltür ächzend aufzog. »Es sei denn, das Schicksal deiner Tochter ist dir egal.«
»Das ist nicht fair«, sagte Mutter.
»Das sind diese verdammten Hexen zu uns auch nicht!«
Leonie versuchte vergeblich zu erkennen, was ihr Vater aus dem Tresor nahm, doch der winzige Ausschnitt des Zimmers, den sie durch das Schlüsselloch erkennen konnte, reichte dazu einfach nicht aus. Sie begriff nur, dass es sehr schwer sein musste, denn ihr Vater richtete sich mit deutlicher Mühe wieder auf. Irgendetwas wurde mit einem dumpfen Geräusch auf den Schreibtisch abgeladen.
Dann kam ihr Vater zurück und Leonies Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er direkt und sehr schnell auf die Tür zuging. In der nächsten Sekunde würde er sie öffnen und seine Tochter auf der anderen Seite auf Knien vorfinden und den Rest konnte er sich ohne Zweifel sehr leicht zusammenreimen.
Statt jedoch die Tür zu öffnen, schob er nur den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal um.
Leonie saß wie versteinert da. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Das war knapp gewesen! Allein die Vorstellung, wie ihr Vater reagiert hätte, wenn er sie beim Lauschen am Schlüsselloch erwischt hätte, jagte ihr einen eisigen Schauer nach dem anderen über den Rücken.
Sie hätte erleichtert sein sollen, aber sie war es nicht. Jedenfalls nicht länger als für eine oder zwei Sekunden. Dann gewann ihre Entschlossenheit wieder die Oberhand. Sie musste wissen, was in diesem Zimmer vorging, und es war ihr mittlerweile völlig gleich, ob ihr Vater nun wütend wurde oder nicht. Für einen Moment spielte sie sogar mit dem Gedanken, kurzerhand mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern und Einlass zu verlangen.
Aber nur wirklich nur für einen Moment. Nach dem, was sie gerade belauscht hatte, war sie ziemlich sicher, dass ihr Vater ihr nur wieder eine neue Ausrede auftischen würde. Und selbst, wenn nicht: Sie konnte einfach nicht sicher sein, ob er ihr die Wahrheit sagte oder nicht.
Es gab jedoch einen anderen Weg, das herauszufinden. Leonie trat von der Tür zurück, eilte in die Küche und von dort aus in den Garten. Nach kaum einer Minute hatte sie das Haus umkreist und näherte sich dem Fenster von Vaters Arbeitszimmer. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber wie sie gehofft hatte, nicht ganz geschlossen. Durch die fingerbreiten Ritzen konnte sie bequem hindurchschauen, und da drinnen Licht brannte und der Garten fast vollständig dunkel dalag, bestand auch kaum die Gefahr, dass sie entdeckt wurde. Sie konnte durch das dicke Glas zwar nicht mehr hören, was drinnen besprochen wurde, dafür aber umso besser sehen.
Ihr Vater saß am Schreibtisch, der fast vollkommen von einem sehr großen, aufgeschlagenen Buch in Beschlag genommen wurde; Leonie erinnerte sich, es früher an diesem Tag im Safe gesehen zu haben, nur war es ihr da nicht so riesig vorgekommen. In der rechten Hand hielt er den schwarz-goldenen Füllhalter, dessen Kappe er abgeschraubt hatte, um nervös mit der linken Hand damit zu spielen. Leonies Mutter stand schräg hinter ihm, und obwohl Leonie ihr Gesicht nicht erkennen konnte, war es doch unübersehbar, wie verkrampft und angespannt sie war. Was war an diesem Buch so besonders, dass es ihrer Mutter solche Angst einzujagen schien?
Leonie wechselte ihre Position, ohne dadurch mehr erkennen zu können. Die Seiten des Buches waren eng mit einer tiefschwarzen Schrift bedeckt, die Leonie zu regelmäßig erschien, um eine Handschrift sein zu können. Es musste sich entweder um ein Meisterwerk der Kalligraphie oder ein Stück, das wirklich aus den Anfängen der Buchdruckerei stammte, handeln. So oder so - der Band musste einen immensen Wert haben. Vielleicht war das der Grund, warum ihre Mutter so stocksteif dastand, als hätte sie einen Speer verschluckt, und ihr Vater immer wieder zögerte, den Stift anzusetzen. Auch wenn ihr Vater nicht aus einer tausend Jahre alten Buchhändlerfamilie stammte, so hatte er Bücher doch im Laufe seines Lebens schätzen und lieben gelernt. In einem so uralten, wertvollen Buch auch nur ein Komma hinzuzufügen oder zu entfernen, das musste auch für ihn schon beinahe an Gotteslästerung grenzen.
Trotzdem setzte er in genau diesem Moment den Stift an. Leonie sträubten sich schier die Haare, als er eine Zeile in dem Buch durchstrich und dann etwas mit winzigen, sehr präzisen Buchstaben darüber zu schreiben begann. Aber es war doch nicht möglich, dass...
Der Gedanke war zu bizarr, um ihn auch nur zu Ende zu denken. Ihre Eltern hatten einen gewissen Ruf in der Branche. Ihre Bücher waren berühmt und hatten auf Auktionen schon enorme Preise erzielt, und speziell Mutter verdiente einen guten Teil ihres Lebensunterhaltes damit, Gutachten über die Echtheit und den Zustand wertvoller antiquarischer Bücher zu erstellen. Leonie weigerte sich einfach zu glauben, dass sie... Bücher fälschen sollten!
Irgendwo hinter ihr bewegte sich etwas. Leonie konnte nicht sagen, ob es eine Spiegelung in der Fensterscheibe war, die sie unbewusst wahrgenommen hatte, oder vielleicht ein verdächtiges Geräusch - aber plötzlich hatte sie ein so intensives Gefühl, angestarrt zu werden, dass sie erschrocken herumfuhr und versuchte, die Dunkelheit hinter sich mit Blicken zu durchdringen.
Sie brauchte nicht lange zu suchen. Die Gestalt stand am anderen Ende des Gartens, und obwohl sie nur ein flacher schwarzer Umriss zwischen anderen flachen schwarzen Umrissen war und sich absolut nicht rührte, bemerkte Leonie sie auf Anhieb.
Sie wusste sogar, wer es war.
Einen Moment lang war Leonie hin- und hergerissen. Sie musste herausfinden, was in dem Zimmer hinter ihr vorging, und sei es nur, um diesen absurden Verdacht aus der Welt zu schaffen, der sich in ihren Gedanken eingenistet hatte, aber sie spürte auch immer intensiver, wie sie angestarrt und beobachtet (oder belauert?) wurde. Sie war ihretwegen gekommen.
Sie warf noch einen Blick durch das Fenster - ihr Vater hatte mittlerweile ein kleines Fläschchen aus dem Schreibtisch genommen, aus dem er vorsichtig ein paar Tröpfchen einer farblosen Flüssigkeit auf die Buchseiten tropfte. Großer Gott, dachte Leonie, er war dabei, das Buch zu verändern!
Dann drehte sie sich endgültig um und ging mit schnellen Schritten auf die schattenhafte Gestalt zu, die immer noch reglos am anderen Ende des Gartens stand und zu ihr herübersah.
Leonies Schritte wurden langsamer, je mehr sie sich dem Schatten näherte, und sie spürte, wie etwas wie Angst in ihr emporzukriechen begann. Zum allerersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie möglicherweise in Gefahr war - oder sich, um genau zu sein, gerade in diesem Moment in sie begab. Bisher war sie vor allem erschrocken über die fast unheimliche Veränderung gewesen, die mit ihrem Vater vonstatten gegangen war - aber vielleicht gab es ja auch einen Grund, aus dem er sich so benahm. Bisher hatte sie alles, was Mutter und er gesagt hatten, durch den Filter der Wut gehört, die die Erkenntnis in ihr ausgelöst hatte, in einem offensichtlich sehr wichtigen Punkt von ihren eigenen Eltern belogen worden zu sein.
Aber es gab immer zwei Seiten. Was, wenn ihre Eltern wirklich einen Grund für ihr sonderbares Benehmen hatten? Zum Beispiel den, dass sie sie, Leonie, in Gefahr wähnten - und was, wenn sie möglicherweise sogar Recht damit hatten?
All diese Überlegungen hinderten Leonie allerdings nicht daran, weiterzugehen, und nachdem sie noch ein knappes Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, wurde aus dem Schatten ein Körper, der schließlich auch ein Gesicht bekam. Sie hatte sich nicht getäuscht.
»Ich wusste, dass du kommst«, sagte Theresa.
»Das war reiner Zufall«, behauptete Leonie. Die Wahrheit war, dass sie diese - einseitige - Verabredung mit der jungen Frau schlichtweg vergessen hatte.
»Es gibt keine Zufälle«, antwortete Theresa. »Jedenfalls sind sie nicht das, was die meisten Menschen dafür halten.«
Leonie verdrehte innerlich die Augen. Von kryptischen Andeutungen und Orakeln hatte sie im Moment weiß Gott die Nase voll. Sie zog es vor, gar nicht darauf einzugehen. »Was wollen Sie?«
Theresa runzelte flüchtig die Stirn, als sie Leonies scharfen Ton bemerkte, aber gleich darauf lächelte sie wieder. »Du«, sagte sie. »Es wäre mir lieber, wenn du nicht Sie zu mir sagst. So viel älter bin ich ja nun auch nicht.«
Leonie schwieg. Sie fragte sich, wie Theresa eigentlich hereingekommen war. Das komplette Grundstück war von einem fast zwei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben, der in gefährlichen Spitzen endete, und Theresa trug einen jener engen Röcke, in denen man kaum richtig laufen konnte, geschweige denn über einen Zaun klettern!
»Also gut.« Theresa zuckte resigniert die Schultern, als ihr klar wurde, dass sie keine Antwort bekommen würde. Sie wirkte auf eine unbestimmte Art enttäuscht, als hätte sie sich von diesem Gespräch etwas erwartet, von dem sie nun allmählich begriff, dass sie es nicht bekommen würde. »Wir müssen dringend miteinander reden.«
»Ja«, antwortete Leonie feindselig. »Aber ich will die Wahrheit wissen.«
»Die Wahrheit?« Theresa runzelte die Stirn. »Wieso glaubst du denn...« Sie nickte. »Ich verstehe. Dein Vater hat mit dir gesprochen. Was hat er über uns gesagt?«
»Es war gar nicht nötig, etwas zu sagen«, erwiderte Leonie. »Du hast heute Morgen gesagt, Großmutter hätte viel über mich erzählt. Ich frage mich nur wie. Sie hat das Haus in den letzten Jahren praktisch nicht mehr verlassen.«
»So einfach ist das nicht zu erklären, Leonie«, antwortete Theresa.
Leonies Gesicht verfinsterte sich. »Weißt du, wie oft ich das heute schon gehört habe?«
»Vielleicht, weil es die Wahrheit ist?«, schlug Theresa vor. Sie machte eine Handbewegung, die Leonie davon abhielt, zu antworten. »Aber du hast selbstverständlich Recht. Komm - gehen wir ein Stück. Ich finde, so redet es sich besser.«
Leonie war ganz und gar nicht nach einem Spaziergang zumute, aber Theresa hatte sich bereits umgedreht und ging los. Sie konnte ihr nur folgen oder wieder ins Haus zurückkehren. Sie folgte ihr.
»Dein Name ist Leonie, nicht wahr?«, begann Theresa. »Eigentlich Leonida, aber das kannst du nicht leiden, und außerdem passt ein so altmodischer Name wirklich nicht mehr in unsere Zeit.«
Leonie sah sie verwirrt von der Seite an. Was sollte dieser Unsinn jetzt schon wieder? Sie nickte.
»Und genau wie deine Mutter und deine Großmutter«, fuhr Theresa fort. »Mit zweitem Namen heißen die beiden ebenfalls Leonida.« Sie legte eine kleine, genau bemessene Pause ein. »Und wie ich.«
»Du? Ich denke, du heißt...«
»Theresa Leonida«, unterbrach Theresa. »Wir heißen alle Leonida, jede von uns. Seit es den Archivar gibt, heißen wir alle Leonida.« Sie lachte leise. »Natürlich haben die meisten von uns noch einen Zweitnamen, manche sogar einen dritten. Es wäre sonst ein bisschen verwirrend, sich zu unterhalten.«
»Und die Männer heißen alle Leon, nehme ich an?«
Theresa nahm den beißenden Spott in Leonies Stimme gar nicht zur Kenntnis. »Es gibt keine Männer«, antwortete sie. »Es sind alles nur Frauen. Die Gabe wird nur von der Mutter auf die Tochter weitervererbt. Niemals auf einen Sohn.«
»Ich verstehe«, sagte Leonie. »Und einmal im Jahr trefft ihr euch um Mitternacht und fliegt um den Blocksberg?«
»Nein«, antwortete Theresa. »Das sind die Hexen. Ein Konkurrenzverein, den wir nicht besonders schätzen.«
Um ein Haar wäre Leonie sogar auf sie hereingefallen. Theresa verzog nicht eine Miene - nur in ihren Augen glomm ein verräterisches Glitzern auf.
»Ha, ha, ha«, machte Leonie. »Sehr witzig.«
Theresa blieb stehen. »Wieso witzig? Hat dein Vater dich etwa nicht davor gewarnt, dich mit uns Hexen einzulassen?«
»Hast du uns belauscht?«, fragte Leonie. Ihr Misstrauen war wieder da.
»Das war nicht notwendig«, erklärte Theresa. »Ich weiß, wie dein Vater über uns denkt.«
»Und?«, fragte Leonie spitz. »Hat er vielleicht Recht damit?«
»Ich glaube, du kennst die Antwort auf diese Frage«, sagte Theresa.
»Ich verstehe es trotzdem nicht«, meinte Leonie. »Wenn du...« Sie verbesserte sich. »Wenn ihr wirklich etwas mit Großmutter zu tun hattet, warum hat sie mir dann nie etwas von euch erzählt?«
»Das war ein Fehler, ich weiß«, gestand Theresa. »Ein schwerer Fehler. Aber was hätten wir tun sollen? Deine Eltern wollten nicht, dass du uns kennen lernst, und deine Großmutter hat diesen Wunsch respektiert, auch wenn es ihr schwer gefallen ist. Wir hatten nicht das Recht, uns darüber hinwegzusetzen.«
»Woher nehmt ihr euch dann jetzt das Recht, euch über ihren letzten Willen hinwegzusetzen?«, fragte Leonie.
Theresa schwieg einen Moment. Sie ging weiter, während sie antwortete: »Bist du sicher, dass es wirklich ihr eigener Entschluss war?«
»Natürlich nicht«, entgegnete Leonie böse. »Mein Vater hat ihr die Daumenschrauben angelegt und so lange zugedreht, bis sie unterschrieben hat. Erkundige dich bei den Nachbarn. Sie haben bestimmt die Schreie gehört.«
Diesmal blieb Theresa ernst. »Es gibt andere Wege, das zu erreichen, was man will.«
»Willst du behaupten, Vater hätte das Testament gefälscht?«, schnappte Leonie. Sie schrie fast, aber ihrer Stimme fehlte die wirkliche Überzeugung. Sie musste an ihren Vater denken, der in diesem Moment am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer saß und eine geheimnisvolle Flüssigkeit auf die Seiten eines noch geheimnisvolleren Buches träufelte.
»Jedenfalls nicht so, wie du vielleicht jetzt noch glaubst«, antwortete Theresa - was genau genommen keine Antwort war.
»Was soll das heißen?«, fragte Leonie scharf. »Was soll das Ganze überhaupt? Willst du mich gegen meine Eltern aufbringen?«
»Das würde mir wohl kaum gelingen«, stellte Theresa fest.
»Und ich will es auch gar nicht. Ich habe nichts gegen deinen Vater oder deine Mutter, ganz im Gegenteil. Ich bin sicher, dass sie in bester Absicht handeln. Das ist ja gerade das Schlimme.«
»Wieso?«
»Weil man Menschen, die wirklich von dem überzeugt sind, was sie tun, kaum eines Besseren belehren kann«, erklärte Theresa. »Ich habe es versucht, immer wieder versucht - und die anderen auch.«
»Welche anderen?«, wollte Leonie wissen. »Was, zum Teufel, seid ihr eigentlich für ein komischer Verein? So eine Art Sekte?«
»Dein Vater würde uns vermutlich so bezeichnen«, sagte Theresa ernst. »Auch wenn es ganz falsch ist. Wir sind...« Sie suchte sekundenlang vergeblich nach Worten, dann fragte sie unvermittelt: »Glaubst du an das Schicksal?«
Leonie verstand die Frage nicht und sie sagte es auch. »So etwas wie Vorbestimmung?«
»Nein, nein«, meinte Theresa hastig. »Ich meine: Glaubst du, dass es so etwas wie eine... eine Macht gibt, die über unser Schicksal wacht?«
»Ich glaube, das nennt man auch Gott«, sagte Leonie.
»Davon rede ich nicht.« Theresa seufzte. »Es ist nicht einfach, das mit ein paar Worten auszudrücken, weißt du? Ich habe ein Leben lang gebraucht, um es zu begreifen, und ganz verstanden habe ich es bis heute nicht.«
»Da haben wir ja schon etwas gemeinsam«, sagte Leonie.
Theresa lächelte flüchtig. »Versuchen wir es anders: Was würdest du tun, wenn du die Macht hättest, die Wirklichkeit zu verändern?«
»Sind wir jetzt in der Abteilung Science-Fiction und Fantasy angekommen?«, fragte Leonie.
»Wenn dir dieser Ausdruck lieber ist«, sagte Theresa schulterzuckend. »Aber beantworte bitte meine Frage: Was würdest du tun, wenn du die Macht hättest, die Wirklichkeit zu verändern? Nicht die Zukunft, aber das, was war.«
»Was war?«
»Sagen wir: Du siehst, wie ein Kinderwagen von einem Traktor überrollt wird, weil die Mutter vergessen hat, ihn sorgfältig abzustellen. So etwas ist schrecklich, aber es ist schon vorgekommen.«
»Und?«, fragte Leonie.
»Jetzt stell dir vor, du hättest die Möglichkeit, es ungeschehen zu machen.« Theresa hob die Hand, als Leonie sie unterbrechen wollte. »Nein, nur rein hypothetisch. Wenn du die Möglichkeit hättest, zurückzugehen und die Mutter zu warnen, damit sie besser auf den Kinderwagen Acht gibt, würdest du es tun?«
»Selbstverständlich«, sagte Leonie. »Aber so etwas ist ja nicht möglich.«
Theresa überging ihren Einwand. »Selbstverständlich würdest du es tun. Der Kinderwagen würde nicht losrollen und der Traktor würde ihn nicht überfahren. Das Kind würde überleben und Alois Schicklgruber würde zu einem Mann heranwachsen.«
»Alois wer?«, fragte Leonie.
»Du kennst ihn«, behauptete Theresa. »Nicht persönlich, aber du hast in der Schule von ihm gehört, da bin ich sicher. Bekannt war er allerdings unter dem Namen ADOLF HITLER.«
»Was... was soll denn dieser Quatsch?«, fragte Leonie.
»Es war nur ein Beispiel«, antwortete Theresa. »Zugegeben, kein besonders originelles, aber möglich wäre es schon.«
»Wenn es möglich wäre, in die Zeit zurückzureisen«, bestätigte Leonie, schüttelte aber schon den Kopf, während sie die Worte aussprach. »Aber das ist wissenschaftlich unmöglich.«
»Wissenschaftlich.« Theresa betonte das Wort auf eine sehr sonderbare Art. »Die meisten Menschen überschätzen die Wissenschaft, weißt du? Sie ist im Grunde gar nichts. Sie beschreibt die Dinge nur so, wie sie sind. Soweit wir sie verstehen, heißt das. Oder sie zu verstehen glauben.«
»Was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte Leonie.
»Was wäre, wenn es einen Ort gäbe, an dem das Schicksal gewissermaßen aufgezeichnet würde?«, fragte Theresa. »Jede Kleinigkeit. Jede winzige Entscheidung, die du fällst, und wenn sie dir noch so unwichtig oder banal vorkommt. Jede Sekunde in jedem Leben jedes einzelnen Menschen, so eine Art... Archiv.«
»Das wäre... aber ein ziemlich großes Archiv«, antwortete Leonie stockend. Allmählich wurde ihr ein wenig mulmig zumute. Was Theresa erzählte, klang so absurd, dass sie eigentlich darüber hätte lachen sollen, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Es machte ihr Angst.
»Ja«, bestätigte Theresa ernst. »Das wäre es.«
»Aber das ist doch Unsinn«, murmelte Leonie. »Selbst wenn es so etwas gäbe...«
»... trügen die, die Zugang dazu hätten, eine ungeheure Verantwortung«, unterbrach sie Theresa. »Ja.«
Wie um ihre Worte passend zu untermalen, wurde es plötzlich spürbar kälter. Wind kam auf und spielte raschelnd mit den Blättern der Bäume, aber für Leonie hörte es sich an wie das Umblättern von uralten Pergamentseiten. Sie schüttelte den Gedanken mit Mühe ab, wenigstens versuchte sie es, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen. So verrückt die Geschichte war, die Theresa ihr da aufgetischt hatte, schien sie doch irgendetwas in Leonie zu berühren. Wie gerade eben glaubte sie sich plötzlich an etwas zu erinnern, von dem sie andererseits ganz sicher war, es niemals erlebt zu haben. Das Gefühl war unheimlich und beängstigend.
Der Wind frischte noch weiter auf und Leonie zog die dünne Strickjacke enger um die Schultern. Sie hätte auf ihre Eltern hören und nicht hinausgehen sollen. So heiß es in den vergangenen Tagen auch gewesen war, so rasch - und tief - waren die Temperaturen heute gefallen. Sie war jetzt bestimmt seit einer halben Stunde hier draußen und lief Gefahr, sich eine handfeste Erkältung einzuhandeln. Gerade für die ersten Tage der Sommerferien war das wirklich keine gute Idee, aber sie hätte es drinnen im Haus einfach nicht mehr ausgehalten. Der große Schmerz, auf den sie gewartet hatte, war bisher zwar nicht gekommen, dafür hatte sich eine Art stummer Verzweiflung in ihr ausgebreitet, die beinahe schlimmer war. Seit Großmutters Tod war das Haus auf eine Art leer, die sie mit Worten nicht richtig beschreiben konnte, aber die zu ertragen sie kaum imstande war. Ihre Mutter hatte zwar gesagt, das würde vergehen, aber Leonie bezweifelte es. Wunden mochten irgendwann verheilen, aber wie konnte etwas heilen, das einfach nicht mehr da war?
Die Terrassentür des Hauses ging auf und ein dreieckiger, gelber Keil aus Helligkeit fiel in den Garten hinaus. Leonie erkannte den Umriss ihrer Mutter, die unter der Tür erschienen war und in ihre Richtung sah. Wahrscheinlich begann sie sich allmählich Sorgen um sie zu machen.
Der Gedanke ließ ein flüchtiges Lächeln auf ihren Lippen erscheinen. Ihre Mutter machte sich immer und ununterbrochen Sorgen, und meistens um sie. Leonie glaubte ihr missbilligendes Stirnrunzeln regelrecht zu spüren, während sie zu ihr hinsah. Ihr gefiel es schon bei Tageslicht nicht, wenn Leonie so weit in den Garten ging. Buschwerk und Bäume waren hier so verwildert, dass sie einen regelrechten kleinen Dschungel bildeten, und der zwei Meter hohe Lattenzaun, der hier einmal gestanden hatte, war im vorletzten Jahr demselben Feuer zum Opfer gefallen wie das Nachbarhaus samt der Familie, die darin gelebt hatte. Seitdem war der Garten praktisch offen, und jeder, der über das Ruinengrundstück kam, konnte ungehindert eindringen. Leonie konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand die Mühe machen würde, hier einzubrechen. Ihre Eltern waren nicht arm, aber man sah dem Haus mit dem angebauten kleinen Ladenlokal dennoch schon von weitem an, dass es hier nicht viel zu holen gab. Trotzdem setzte sie sich mit raschen Schritten in Bewegung. Es hatte keinen Zweck, ihre Mutter noch weiter zu beunruhigen, schon gar nicht an einem Tag wie diesem.
»Alles wieder in Ordnung?«, fragte Mutter, als Leonie an ihr vorbei in die Küche trat. Sie nickte. Nichts war in Ordnung, aber sie wusste, wie die Frage gemeint gewesen war.
»Sicher«, sagte sie.
»Dann komm essen. Wir warten schon.« Mutters Stimme war leise, fast nur ein Flüstern, und ihr Gesicht war so bleich, als hätte sie gerade eine wochenlange schwere Krankheit hinter sich.
In gewissem Sinne hatte sie das auch. Sie hatte ihre Mutter ebenso geliebt wie Leonie ihre Mutter liebte, und während Großmutter die letzten Wochen fast ausnahmslos schlafend zugebracht und von ihrem Sterben wahrscheinlich gar nichts mehr gemerkt hatte, hatte Mutter stellvertretend für sie gelitten. Am Schluss war es so schlimm geworden, dass Vater und sie sich ernsthafte Sorgen um sie gemacht hatten. Leonie hatte dieses Geheimnis tief in sich vergraben und würde es niemals verraten, aber sie hatte gespürt, dass ihr Vater innerlich aufgeatmet hatte, als Großmutter schließlich starb; nicht weil er sie nicht auch geliebt hätte, sondern weil er fürchtete, dass seine Frau ebenfalls in Gefahr war, wenn es noch lange dauerte.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Der Tisch war beinahe festlich gedeckt. Kerzen brannten und Mutter hatte das gute Geschirr aus dem Schrank geholt. Leonie empfand diesen festlichen Rahmen im ersten Moment als ziemlich unpassend; sie hatten an diesem Morgen ihre Großmutter beerdigt und das war nun wirklich kein Grund zum Feiern, aber ihr wurde auch fast im gleichen Moment klar, dass ihre Mutter das einfach hatte tun müssen; es war ihre Art, mit der Trauer fertig zu werden.
Leonie nahm Platz und sie aßen in vollkommenem Schweigen. Niemand hatte wirklichen Appetit, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, schmeckte es nicht einmal besonders. Ihre Mutter hatte eine Menge Qualitäten, aber eine gute Köchin zu sein, gehörte nicht unbedingt dazu. Dennoch aßen sie alle auf, und anschließend zog sich ihr Vater in sein Arbeitszimmer zurück, während Leonie nach oben ging.
Sie hielt es genau zehn Sekunden lang aus. Alles in ihrem Zimmer erinnerte sie an Großmutter. Die Möbel, die Tapeten, die zahlreichen Bücher, die kleine Stereoanlage, die Großmutter sich von ihrer schmalen Rente abgespart und ihr vergangenes Weihnachten geschenkt hatte...
Leonie verließ das Zimmer fast fluchtartig wieder. Sie hätte hinuntergehen und mit ihrer Mutter reden können, oder auch mit ihrem Vater, aber sie spürte, dass sie in diesem Moment keine Hilfe von ihnen erwarten konnte. Nein - wenn es in diesem Haus einen Ort gab, an dem sie so etwas wie Trost finden konnte, dann war es das Zimmer, in dem ihre Großmutter die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Vater hatte sie zwar gebeten, hier drinnen nichts anzurühren, bis Großmutters Angelegenheiten geregelt waren (was immer er damit gemeint haben mochte), aber er würde ihr schon nicht den Kopf abreißen.
Es war seit gut drei Wochen das erste Mal, dass sie wieder hierher kam. Als ihre Großmutter noch im Haus gewesen war, da war kein Tag vergangen, an dem Leonie nicht mindestens zwei- oder dreimal in dieses Zimmer gekommen war, aber nun kam ihr der Raum sonderbar fremd und ungastlich vor; als wäre mit seiner Bewohnerin etwas verschwunden, dessen Abwesenheit die Atmosphäre im Raum zu einer anderen, abweisenden, fast schon feindseligen machte.
Sie ging weiter, ohne im Grunde selbst zu wissen warum, und blieb schließlich vor dem kleinen Sekretär stehen, der das einzige Fleckchen Wand beanspruchte, das nicht von überquellenden Bücherregalen eingenommen wurde. Leonie kannte jedes einzelne Buch, das auf den Brettern stand, und die meisten hatte sie sogar gelesen. Über den Sekretär aber wusste sie so gut wie nichts. Solange sich Leonie erinnern konnte, hatte Großmutter seinen Inhalt wie einen Schatz gehütet. Er war immer abgeschlossen gewesen und den Schlüssel hatte sie stets bei sich getragen, in buchstäblich jeder Sekunde. Ein sehr sonderbarer Schlüssel zudem: Er sah gar nicht aus wie ein richtiger Schlüssel, sondern eher wie eine drei oder vier Zentimeter lange silberne Nadel, mit einer winzigen Kugel an jedem Ende. Es war Leonie immer ein Rätsel gewesen, wie das Schloss, in das dieser Schlüssel passte, funktionieren sollte. Aber es funktionierte.
Und jetzt lag genau dieser sonderbare Schlüssel auf der ansonsten vollkommen leeren Arbeitsplatte des Sekretärs. Das war sehr seltsam. Noch vor drei Tagen, bei ihrem letzten Besuch im Krankenhaus, hatte sie ihn an der gleichen Kette bemerkt, an der ihre Großmutter ihn zeit ihres Lebens getragen hatte. Hätten ihre Eltern ihn zusammen mit dem persönlichen Besitz Großmutters vom Krankenhauspersonal ausgehändigt bekommen, wie es in einem solchen Fall wohl allgemein üblich war, hätte ihr Vater ihn ganz bestimmt nicht so achtlos hier liegen lassen. Schließlich wussten ihre Eltern, wie kostbar der Inhalt des Sekretärs für Großmutter gewesen war. Ihr Vater hatte sogar mehr als nur einmal darüber gewitzelt.
Leonie streckte zögernd die Hand nach dem Schlüssel aus, aber es dauerte noch eine geraume Weile, bis sie den Mut aufbrachte, ihn auch wirklich zu nehmen und in das messingbeschlagene Schloss einzuführen. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, doch das brauchte sie auch nicht. Leonie spürte keinen Widerstand, aber der Schlüssel war kaum im Schloss, da sprang es mit einem hörbaren Klicken auf und die Klappe des Sekretärs fiel so schnell herunter, dass Leonie sie gerade noch rechtzeitig auffangen konnte. Dahinter kamen mehrere, mit Papierumschlägen und anderen Schreibutensilien voll gestopfte Fächer zum Vorschein, aber auch ein Regalbrett, auf dem zwei völlig unterschiedliche Bücher lagen.
Das eine war eine schwere, in kostbar geprägtes Leder gebundene Bibel, bei dem anderen schien es sich um ein Fotoalbum zu handeln. Leonie betrachtete die Bücher mit jener Art von Scheu, die einen oft beim Anblick altvertrauter Dinge überkommt, deren Besitzer gerade verstorben ist. Vielleicht konnten ja auch Dinge trauern, nicht nur Menschen. Aber sie hatte sonderbarerweise keine Scheu, danach zu greifen. Zeit ihres Lebens hatte Großmutter den Inhalt dieses Sekretärs gehütet wie ihren Augapfel, aber nun, da sie nicht mehr da war, hätte sie bestimmt nichts dagegen gehabt, dass Leonie ihn sah, das wusste sie einfach.
Sie überlegte kurz und nahm dann als Erstes die Bibel heraus. Sie war so schwer, dass sie beide Hände dazu brauchte, und noch viel älter, als sie angenommen hatte. Als sie sie aufschlug, stellte sie fest, dass sie nicht gedruckt war, sondern handgeschrieben und überaus kunstvoll illustriert. Leonie war beeindruckt. Dieses Buch war möglicherweise mehr wert als das gesamte Inventar der Buchhandlung. Kein Wunder, dass Großmutter es so sorgsam gehütet hatte.
Aber es war nicht nur wertvoll, aus irgendeinem Grund machte es Leonie auch Angst. Sie blätterte es vorsichtig durch, wenn auch ihre Hände immer heftiger zitterten, je weiter sie ans Ende kam, und schließlich musste sie sich beinahe dazu zwingen, die letzten Seiten umzuschlagen. Wie sie erwartet hatte, handelte es sich nicht nur einfach um eine Bibel, sondern um eine Art Familienchronik mitsamt einem weit verzweigten Stammbaum. Leonie fand mit einem einzigen Blick den Namen ihrer Großmutter und folgte ihm drei oder vier Generationen in die Vergangenheit. Der Stammbaum reichte noch sehr viel weiter zurück, aber Leonies Interesse an Ahnenforschung hielt sich in Grenzen - sie musste wirklich nicht wissen, wer ihre Vorfahren vor dreihundert Jahren gewesen waren, oder vor fünfhundert.
Was sie auf dem ersten Stück des Stammbaumes entdeckte, das war nun wirklich seltsam genug.
Es begann mit den Namen. Wer immer diesen Stammbaum aufgezeichnet hatte, hatte sich nicht die Mühe gemacht, auch nur einen einzigen ihrer männlichen Vorfahren einzutragen. Sie las ihren eigenen Namen, den ihrer Mutter, ihrer Großmutter und deren Mutter, Groß- und Urgroßmutter, aber sie entdeckte weder ihren Vater noch ihren Großvater, noch irgendeinen anderen ihrer männlichen Vorfahren. Vielleicht noch sonderbarer war der Umstand, dass es in ihrer Familie offensichtlich seit mindestens fünfhundert Jahren Tradition war, mit Zweitnamen Leonida zu heißen. Es gab noch eine Besonderheit, aber deren Bedeutung wurde ihr nicht klar: Neben einigen der Namen stand ein winziges Kreuz. Nur neben sehr wenigen - aber der ihrer Mutter gehörte dazu. Obwohl Leonie nicht wusste warum, beunruhigte sie diese Entdeckung.
Sie legte die Bibel beiseite und nahm das Fotoalbum aus dem Regal. Es war nicht so alt wie die Bibel, aber ebenfalls uralt. Zwischen den Seiten aus brüchig gewordener schwarzer Pappe befanden sich Trennblätter aus knisterndem Seidenpapier, in das ein kompliziertes Spinnwebmuster eingeprägt war. Die Bilder selbst waren ausnahmslos verblasste Schwarz-Weiß-Fotos, die zum Teil noch einen gezackten weißen Rand hatten, und allein die Motive verrieten, dass etliche Bilder aus den Anfängen der Fotografie stammten: Männer mit Frack und Zylinder, die gewaltige Vollbärte oder gezwirbelte Schnauzer trugen, Frauen in riesigen, weit ausladenden Kleidern und mit Turmfrisuren oder gestärkten Perücken, und kleine Jungen in Matrosenanzügen. Das Bild, das sie suchte, war nicht dabei.
»Was für ein Bild?«
Leonie fuhr so erschrocken zusammen, dass sie das Fotoalbum fallen ließ, und drehte sich hastig um. Ihr Vater war so leise unter der Tür erschienen, dass sie ihn nicht einmal gehört hatte. Sie versuchte vergebens in seinem Gesicht zu lesen, wie lange er schon dort stand und ob ihm gefiel, was er beobachtet hatte.
»Was... hast du gesagt?«, stotterte sie überrascht.
»Du hast gesagt, das Bild ist nicht dabei«, antwortete ihr Vater. »Welches Bild meinst du?«
Leonie konnte sich nun wirklich nicht erinnern, die Frage laut ausgesprochen zu haben, sie war sogar ziemlich sicher, es nicht getan zu haben. »Ich weiß nicht«, meinte sie. »Ich war nur... ein wenig erstaunt.«
»Erstaunt?« Ihr Vater löste sich von seinem Platz an der Tür, trat neben sie und beugte sich vor um zu sehen, was sie gefunden hatte. »Das ist ja auch ein ganz erstaunliches Buch, das du da gefunden hast.« Er blätterte in dem Fotoalbum, schloss es schließlich behutsam und wandte sich der Familienbibel zu. Obgleich er noch viel besser als Leonie wissen musste, was für einen Schatz er da in Händen hielt, schien ihm der Text völlig egal zu sein. Er blätterte die Seiten ungefähr so behutsam durch, wie er es mit einem Telefonbuch getan hätte, bis er die Seite mit dem Stammbaum gefunden hatte.
»Das ist wirklich erstaunlich«, murmelte er. »Und höchst interessant.«
»Sie heißen alle so wie ich«, sagte Leonie.
Vater hob die Schultern. »Muss wohl so eine Art uralter Familientradition sein. Aber das ist wirklich außergewöhnlich. Kein Wunder, dass deine Großmutter dieses Buch so sorgsam gehütet hat. Obwohl ein solches Prachtstück eigentlich in eine klimatisierte Vitrine gehört, nicht in ein altes Möbelstück, oder besser noch in einen Safe. Hast du eigentlich eine Ahnung, was dieses Buch wert ist?«
»Du willst es doch nicht etwa verkaufen?!«
»Natürlich nicht.« Vater sah sie beinahe empört an. »Ich finde nur, man sollte eine solche Kostbarkeit nicht einfach so herumliegen lassen.« Er klappte das Buch zu, zog die Hand aber nicht zurück, sondern ließ sie mit einer fast besitzergreifenden Geste auf dem Einband liegen.
»Ich finde, du solltest nicht hier sein«, sagte er plötzlich.
»Nicht hier? Aber das ist Großmutters Zimmer. Sie hatte nie etwas dagegen.«
»Und das habe ich auch nicht«, entgegnete Vater. »Doch vielleicht solltest du im Moment ein wenig Abstand nehmen. Ich weiß, wie gern du deine Großmutter gehabt hast, aber das Leben geht weiter, weißt du? Irgendwann muss man auch wieder aufhören zu trauern.«
»Nach drei Tagen?!«
Ihr Vater blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig, und das gefiel ihr genauso wenig wie alles andere, was seit seinem Eintreten geschehen war. Leonie setzte gerade dazu an, eine - wenn auch vorsichtig formulierte - Frage zu stellen, als es an der Haustür klingelte.
»Um diese Zeit?«, wunderte sich ihr Vater. Er blickte erst danach auf die Armbanduhr und er sah auch nicht wirklich verärgert aus, sondern schien ganz im Gegenteil erleichtert zu sein, das Gespräch mit ihr beenden zu können. Er bedeutete ihr mit einer hastigen Handbewegung, die Bücher wieder an ihren Platz zu legen, und verließ dann mit schnellen Schritten das Zimmer.
Leonie schloss die Bibel und das Fotoalbum wieder ein. Den sonderbaren Schlüssel legte sie jedoch nicht zurück auf den Tisch, sondern streifte sich die dünne Silberkette, an der er befestigt war, mit einer ebenso selbstverständlichen Bewegung über den Kopf, wie ihre Großmutter es getan hatte. Danach folgte sie ihrem Vater.
Sie hatte kaum eine halbe Minute gebraucht, und da sie beinahe rannte, hatte sie ihn eingeholt, als er gerade die Tür öffnete und der nächtliche Besucher von einem Schatten hinter der gesprungenen Milchglasscheibe zu einem grauhaarigen, ziemlich alten Mann in einem schwarzen Mantel wurde.
»Guten Abend, Herr Kammer.«
»Guten Abend«, antwortete Vater, dann zog er überrascht die Augenbrauen hoch. »Sie?«
Leonie runzelte die Stirn. Sie erkannte den Fremden im gleichen Moment wie ihr Vater, aber sie war mindestens ebenso überrascht wie er.
»Bruder Gutfried«, stellte sich der Grauhaarige überflüssigerweise vor. »Bitte entschuldigen Sie den nächtlichen Überfall, Herr Kammer. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber...«
»So lange ist es ja noch nicht her«, unterbrach ihn ihr Vater. Seine Stimme war um mehrere Grad kühler geworden. »Heute Morgen. Sie waren bei der Beerdigung.«
Und zwar als einziger Gast, fügte Leonie in Gedanken hinzu. Ihre Eltern und sie selbst stellten Großmutters gesamte noch lebende Verwandtschaft dar und Freunde hatte sie nie gehabt. Ebenso wenig, wie sie Mitglied in irgendeiner Kirche gewesen war. Ihr Vater hatte sich noch darüber gewundert, dass dennoch ein Geistlicher zur Beerdigung gekommen war.
»Ja«, sagte Gutfried. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, Ihnen mein Beileid auszusprechen.« Er wandte sich mit einem warmen Lächeln an Leonie. »Und dir natürlich auch, Leonie. Ich hoffe, deiner Mutter geht es mittlerweile wieder ein wenig besser?«
Leonie nickte wortlos. Bruder Gutfried kam ihr auf fast unheimliche Weise bekannt vor - obwohl sie ganz genau wusste, dass sie ihn nur ein einziges Mal, und auch da nur flüchtig, gesehen hatte.
»Danke, ja«, antwortete Vater an ihrer Stelle. »Aber wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns, wie Sie sich sicher denken können. Und es ist spät. Ich will nicht unhöflich sein, aber vielleicht erklären Sie mir den Grund Ihres Besuches. Meine Schwiegermutter war nicht in der Kirche und wir sind es auch nicht.«
»Oh, das weiß ich«, erwiderte Gutfried. »Ich bin auch nicht hier, um Fragen religiöser Art mit Ihnen zu erörtern.«
»Sondern?«, fragte Vater. Er klang ein bisschen genervt, was Leonie überraschte. Sie kannte ihren Vater nur als sehr disziplinierten Menschen, der sich seine Launen niemals anmerken ließ - schon gar nicht Fremden gegenüber.
»Das ist nicht so einfach zu erklären«, antwortete Gutfried. »Die Angelegenheit ist... ein wenig delikat, aber ich fürchte, sie duldet auch keinen Aufschub.« Er druckste einen Moment herum. »Dürfte ich vielleicht hereinkommen?«
»Wenn es denn unbedingt sein muss.« Leonies Vater trat einen Schritt zurück, um Gutfried einzulassen, aber er machte keine Anstalten, ihn weiter ins Haus zu bitten. »Also?«
»Wie gesagt, die Angelegenheit ist ein wenig delikat«, wiederholte Gutfried. »Ich hätte Sie auch gewiss nicht an einem Tag wie heute damit belästigt, aber es ist leider ziemlich eilig.«
»Kommen Sie zur Sache«, antwortete Vater.
»Ich nehme an, Ihre Frau Schwiegermutter hat kein Testament hinterlassen?«, begann Gutfried.
»Testament?«, meinte Vater. »Was soll diese Frage? Erstens: nein. Und zweitens geht es Sie nichts an.«
»Oh, ich fürchte doch«, erwiderte der Geistliche. »Sie sind sicher, dass es kein Testament gibt?«
»Ja«, antwortete Vater. Er machte eine ärgerliche Geste. »Sehen Sie sich doch um. Was glauben Sie wohl, was es hier zu erben gibt?«
»Das kann ich nicht beurteilen«, antwortete Gutfried. »Ich fürchte auch, Sie haben mich falsch verstanden. Ich bin keineswegs hier, um Ihnen Ihr Erbe streitig zu machen.«
»Was soll dann diese Fragerei?«
Gutfried seufzte. »Es wäre mir wirklich lieber, wenn wir die Angelegenheit in Ruhe...«
»Mir nicht«, unterbrach ihn Vater. »Mir wäre es am liebsten, wenn wir dieses Gespräch möglichst rasch beenden könnten. Worum geht es?«
»Ich fürchte, es gibt da gewisse... Komplikationen, was die Erbfolge angeht«, sagte Gutfried. »Mir liegt ein Dokument vor, das Ihre Tochter...«, er deutete auf Leonie, »... zur Alleinerbin bestimmt.«
»Ein Dokument, so?« Vater wirkte zwar überrascht, aber nicht so sehr, wie Leonie erwartet hätte. Eher so, als hätte er insgeheim damit gerechnet. »Und was hat die Kirche damit zu tun?«
»Rein gar nichts«, gab Gutfried unumwunden zu. »Man hat mich nur gebeten, diese unangenehme Aufgabe zu übernehmen, um die ganze Angelegenheit... sagen wir... so wenig unschön wie möglich über die Bühne zu bringen. Die Leute, die mich geschickt haben, sind nicht an einer gerichtlichen Auseinandersetzung interessiert.«
»Ach«, schnappte Vater.
»Ich habe hier ein Dokument«, Gutfried griff unter seinen Mantel, »das mich autorisiert, Ihnen ein Angebot zu machen, das Sie interessieren dürfte.«
Er hielt Leonies Vater einen Umschlag hin, aber der schüttelte nur den Kopf.
»Wenn ich nicht ein so höflicher Mensch wäre«, sagte er wütend, »dann würde ich Ihnen jetzt erklären, wohin Sie sich Ihr Dokument stecken können, Bruder Gutfried. Dieser Wisch interessiert mich nicht. Und Ihre so genannten Auftraggeber auch nicht.«
»Aber Sie wissen doch gar nicht, worum...«, begann Gutfried, wurde aber auf der Stelle wieder unterbrochen.
»Nein. Und ich will es auch gar nicht wissen.« Vater reichte ihm den Umschlag ungeöffnet zurück. »Und jetzt gehen Sie bitte! Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns.«
Gutfried wirkte plötzlich sehr traurig. »Es tut mir wirklich sehr Leid«, seufzte er. »Aber Sie haben selbstverständlich Recht. Es war ein schlimmer Tag für uns alle. Vielleicht... denken Sie ja noch einmal in Ruhe über mein Angebot nach. Ich lasse Ihnen auf jeden Fall meine Karte hier, sodass Sie mich anrufen können.« Er steckte den Briefumschlag wieder ein und zog stattdessen eine Visitenkarte mit goldener Prägeschrift hervor. Seltsam - Leonie wusste, dass der Aufdruck goldfarben war, noch bevor er sie umgedreht hatte und sie die Schrift erkennen konnte.
Ihr Vater betrachtete die Karte feindselig, aber er nahm sie ebenso wenig entgegen wie den Brief. Gutfried stand einige Sekunden lang da und wirkte regelrecht verloren mit der Karte in seiner ausgestreckten Rechten, dann seufzte er erneut und noch tiefer, trat einen halben Schritt an Vater vorbei und legte die Visitenkarte auf den Garderobenschrank.
»Denken Sie darüber nach«, bat er im Hinausgehen. »Es gibt nur einen, der die Macht haben sollte, über das Schicksal zu bestimmen. Auf Wiedersehen.«
»Guten Abend«, sagte Vater kühl.
Gutfried warf ihm noch einen letzten, bedauernden Blick zu, aber schließlich wandte er sich endgültig um und ging. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, da hörte Leonie Schritte, und als sie sich umdrehte, erblickte sie ihre Mutter, die aus dem dunklen Wohnzimmer in den Flur heraustrat. Offensichtlich hatte sie die ganze Zeit über dort gestanden und gelauscht. Leonie erschrak, als sie den Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte.
»Was... was bedeutet das?«, fragte sie stockend. Ihre Stimme war nur ein zitterndes Flüstern.
Vater gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Das hast du doch gehört«, schnaubte er. »Einen schönen Gruß von deiner lieben Verwandtschaft!«
»Verwandtschaft?«, mischte sich Leonie ein. »Aber wieso Verwandtschaft? Ihr habt mir doch immer erzählt, dass wir keine lebenden Verwandten mehr haben.«
»Haben wir auch nicht«, antwortete Vater, und damit wandte er sich um und ging so schnell davon, dass es eigentlich schon eine Flucht war. Der Knall, mit dem er die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zuwarf, hallte durch das ganze Haus.