Gefangen

Leonies Herz begann mit jedem Schritt heftiger zu klopfen, den die unheimliche Erscheinung näher kam. Auf den ersten Blick ähnelte sie nach wie vor den Scriptoren und ihren kleineren und größeren Brüdern, den Schusterjungen und Schriftführern, aber zugleich war sie auch so vollkommen anders, wie es nur möglich war. Und das Unheimlichste überhaupt war, dass man den Unterschied nicht in Worte fassen konnte, denn er war nicht greifbar. Was Leonie schon beim bloßen Anblick der düsteren Gestalt die Kehle zuschnürte, das war nicht, was sie sah. Das eigentlich Schlimme war, was sie spürte. Die Gestalt war von einer so intensiven Aura des Fremden und der Kälte umgeben, dass selbst das Licht vor ihr zurückzuschrecken schien.

Die schwarz gekleideten Dienerkreaturen traten respektvoll zur Seite, und auch Leonie und Theresa wichen ganz instinktiv einen Schritt vom Gitter zurück, als der Archivar sich der Tür näherte. Ein leises Klicken erscholl, als das Schloss aufsprang, dann schwang die Tür wie von Geisterhand bewegt nach innen. Etwas wie eine Woge totaler Finsternis schien zusammen mit dem Archivar hereinzukommen, und als er dicht vor ihr stehen blieb, da war es Leonie, als streife ein eisiger Hauch ihre Seele und ließe etwas darin erstarren. Automatisch wollte sie weiter vor der finsteren Gestalt zurückweichen, doch sie konnte es nicht. Ihr Herz hämmerte mittlerweile wie verrückt, und sie zitterte vor Angst am ganzen Leib, aber zugleich lähmte sie die Nähe des Archivars auch vollkommen.

Theresa, die direkt neben ihr stand, erging es nicht anders. Obwohl Leonie sie nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, sah sie doch, dass alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Ihre Hände und Knie zitterten, und der Ausdruck in ihren Augen war etwas, das schlimmer war als Todesangst.

Die Kälte, die von ihrer Seele Besitz ergriffen hatte, steigerte sich noch, als der Archivar den Kopf drehte und sie nun direkt anstarrte. Mit einer Tapferkeit, von der Leonie selbst vielleicht am allerwenigsten wusste, woher sie sie nahm, zwang sie sich, seinem Blick standzuhalten, aber es verging nur ein kurzer Moment, bis sie ihren eigenen Mut schon wieder bitter bereute.

Sie war dem Archivar nahe genug, um das Gesicht unter der schwarzen Kapuze erkennen zu können, oder hätte es eigentlich sein müssen - wäre unter der Kapuze irgendetwas anderes gewesen als Schwärze!

Aber darunter war nichts. Höchstens Dunkelheit, die die Gestalt angenommen und die sich zu etwas zusammengeballt hatte, das düsterer war als nur die reine Abwesenheit von Licht und leerer als das bloße Nicht-Vorhandensein stofflicher Materie. Vielleicht gab es dort etwas, aber es war so fremdartig und feindselig, dass es ihren menschlichen Sinnen nicht möglich war, es zu erfassen.

»Sieh... ihn nicht... an.«, sagte Theresa mühsam.

Wie gern hätte Leonie ihren Rat befolgt, aber es war zu spät. Der Blick dieser unsichtbaren Augen hielt den ihren so unerbittlich gefangen wie eine eiserne Fessel die Handgelenke eines Kindes, und er machte nicht bei ihrem Gesicht oder ihren Augen Halt, sondern drang tiefer, erkundete mühelos ihre Gedanken und wühlte sich weiter hinein in ihre Seele, entblößte ihre intimsten Geheimnisse und verborgensten Gedanken und offenbarte Leonie Dinge über sich, über ihre Wünsche und Ängste, die sie bisher selbst noch nicht gewusst hatte; und vielleicht niemals hatte wissen wollen.

Es war das Entsetzlichste, was sie jemals erlebt hatte. Hatte sie vorhin vor nichts auf der Welt mehr Angst gehabt als vor den Folterinstrumenten und vielleicht noch den schrecklichen Klauen der Aufseher, so begriff sie nun, dass es Vorgänge gab, die schlimmer waren als jede noch so grausame Folter und entsetzlicher als jede körperliche Qual. Der Blick des Archivars zerrte ihre geheimsten Gedanken ans Tageslicht und nahm ihr zugleich ihre Menschlichkeit, verwandelte sie von einem fühlenden freien Individuum in ein... Ding, mit dem er nach Belieben verfahren konnte.

Leonie sank wimmernd auf die Knie, schlug beide Hände vors Gesicht und presste die Augenlider zusammen, aber es nutzte nichts. Der Blick der unheimlichen Augen durchdrang das Hindernis so mühelos, wie er ihren Willen überwunden hatte, und das Wühlen und Suchen in ihrer Seele hielt nicht nur an, sondern steigerte sich noch. Leonie schrie; zumindest versuchte sie es, auch wenn alles, was über ihre Lippen kam, nichts als ein trockenes, halb ersticktes Schluchzen war. Schließlich fiel sie auf die Seite, schlang die Arme um den Leib und krümmte sich wie unter Krämpfen.

Vermutlich dauerte es in Wahrheit nicht mehr als wenige Augenblicke; schon weil kein menschliches Wesen diese entsetzliche Qual länger als wenige Atemzüge ertragen hätte, ohne daran zu zerbrechen. Leonie jedoch kam es vor wie eine Ewigkeit.

Irgendwann aber hörte es - endlich - auf. Leonie wimmerte noch einmal und dann verlor sie zwar nicht das Bewusstsein, doch sie glitt in einen Zustand zwischen Wachsein und Ohnmacht, in dem sie die Dinge rings um sich herum nur noch wie durch einen zarten Schleier aus Watte wahrnahm, der alle Geräusche und Farben dämpfte, gnädigerweise aber auch die Erinnerung an die unvorstellbare Qual, die sie durchlitten hatte.

Immerhin begriff sie noch, dass ihr grässliches Erlebnis wohl nur sehr kurz gedauert hatte, denn während sie zurücksank, erwachte Theresa mit einem spitzen Schrei aus ihrer Erstarrung. »Lass sie in Ruhe, du Ungeheuer!«, schrie sie, riss die Fäuste in die Höhe und warf sich auf den Archivar.

Sie erreichte ihn nie. Der Archivar wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte sie an und aus Theresas Schrei wurde ein gequältes Stöhnen. Wie von einem unsichtbaren Fausthieb getroffen, flog sie zurück, prallte gegen die Gitterstäbe auf der anderen Seite des Käfigs und sank schluchzend daran hinab. Ihre Arme und Beine zuckten, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten.

»Nein!«, schrie Leonie. Sie war nahe daran gewesen, endgültig das Bewusstsein zu verlieren, aber die pure Angst um Theresa gab ihr noch einmal die Kraft, die grauen und schwarzen Schleier zu zerreißen, die ihre Gedanken einlullen wollten. Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung drehte sie sich um, schaffte es irgendwie, sich auf Hände und Knie hochzustemmen und streckte fast flehend die Hand nach der hoch gewachsenen Gestalt in Schwarz aus.

»Nein«, wimmerte sie. »Bitte! Hör auf! Lass sie in Ruhe! Was immer du von mir willst, ich gebe es dir!«

Noch eine endlose, grauenhafte Sekunde lang hielt Theresas Schluchzen und Zittern an, aber dann ließ der schreckliche Blick des Archivars sie endlich los und Theresa sank mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung in sich zusammen.

Leonie kroch zu ihr hinüber, hob sie hoch, soweit es ihr möglich war, und schloss sie in die Arme. Theresa war nur noch halb bei Bewusstsein und stöhnte leise; trotzdem schien sie Leonies Berührung zumindest zu spüren, denn sie erwiderte ihre Umarmung nicht nur, sondern klammerte sich plötzlich mit solcher Kraft an sie, dass Leonie kaum noch atmen konnte. Sie begann haltlos zu schluchzen. Leonie drückte sie sanft an sich und strich ihr mit der linken Hand übers Haar. Sie fühlte sich elend und erbärmlich und so hilflos, dass es beinahe körperlich wehtat.

Aber in diesem Moment geschah etwas sehr Seltsames: Obgleich es Leonie war, die Theresa schützend an sich drückte, und Theresa, die zitternd in ihren Armen lag und deren warme Tränen ihren Hals benetzten, war es doch zugleich Theresa, die ihr Trost spendete, und nicht umgekehrt. Vielleicht stammten die neue Kraft und Zuversicht, die sie plötzlich durchströmten, einfach aus dem Gefühl, dass da ein Mensch war, für den sie etwas tun konnte, und sei es nur die Winzigkeit, ihn tröstend in die Arme zu schließen, aber sie waren da und gaben ihr sogar den Mut, den Kopf zu heben und dem Blick der unsichtbaren, schrecklichen Augen des Archivars standzuhalten.

Das unheimliche Wesen streckte die Hand aus.

DAS BUCH.

Es war keine Stimme, die sie hörte, und auch nicht das, was man sich unter Telepathie vorstellte. In Leonies Bewusstsein materialisierten sich nicht etwa die Gedanken des Archivars; was sie spürte, war unendlich fremder als alles, was sie jemals zuvor empfunden hatte. Sie wusste einfach, was der Archivar von ihr wollte, ohne sagen zu können, wieso oder woher.

»Aber ich... ich weiß doch nicht einmal, wovon du sprichst!«, wimmerte sie.

DAS BUCH.

»Meinst du etwa das Buch, das mein Vater wie einen Schatz hütet und das Theresa stehlen wollte?«, fragte Leonie. »Aber das habe ich doch gar nicht!«

DAS BUCH!, wiederholte der Archivar.

»Aber ich weiß doch nicht, welches Buch du meinst!«, wimmerte Leonie. »Bitte glaub mir! Du... du liest doch meine Gedanken! Außer Vaters Buch kenne ich nichts anderes, was du meinen könntest!«

DAS BUCH!, beharrte der Archivar. Seine lautlose Stimme war so kalt, und doch spürte Leonie, wie sich etwas darin veränderte, wie sie zorniger und zugleich fordernder wurde. Die Geduld des schrecklichen Wesens war erschöpft. Etwas Unvorstellbares würde geschehen, wenn sie ihm nicht gab, was es von ihr verlangte. Aber wie konnte sie ihm etwas geben, von dem sie nicht einmal wusste, was es war?

Irgendwo neben ihnen raschelte es. Der Archivar fuhr mit einem Ruck herum und auch Leonie drehte mühsam den Kopf in dieselbe Richtung.

Im ersten Moment hatte sie das verrückte Gefühl, Wind wäre aufgekommen. Das Stroh raschelte und bewegte sich wie von Geisterhand hin und her, bis sich eine Art Wirbel bildete, der sich immer schneller und schneller um sich selbst drehte. Dann, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, hörte es auf. Wie in einer lautlosen Explosion flogen nasses Stroh und Erdreich in alle Richtungen auseinander und plötzlich war die hölzerne Klappe wieder da. Einen Herzschlag später flog sie mit einem Knall auf und die spitze Kapuze eines Scriptors tauchte aus der Tiefe empor.

Ächzend schob sich der hässliche Gnom weiter nach oben, richtete sich umständlich auf und machte dann einen hastigen Schritt zur Seite, um einem zweiten Scriptor Platz zu machen, der hinter ihm die eiserne Leiter heraufgeklettert kam. Dann fuhr er erschrocken zusammen, als er sah, dass sich außer Leonie und Theresa noch jemand in der Zelle befand.

»He... He... Herr!«, stammelte er, während er zitternd vor Furcht vor dem Archivar auf die Knie fiel und das Haupt so weit beugte, dass sich seine spitze Nase fast in den Boden bohrte. Sein Kamerad tat es ihm nicht nur nach, sondern warf sich gleich der Länge nach auf den Boden und vergrub das Gesicht in dem fauligen Stroh. Die beiden Knirpse schlotterten so sehr vor Angst, dass Leonie allen Ernstes meinte, ihre Knochen (oder zumindest ihre Zähne) klappern zu hören.

Der Archivar starrte schweigend auf die beiden winzigen Gestalten hinab, aber sie mussten seinen Blick wohl ebenso spüren, wie es Leonie zuvor getan hatte, denn sie begannen noch heftiger zu bibbern, und es verging bestimmt eine halbe Minute, bis der zuerst aufgetauchte Scriptor auch nur den Mut fand, den Kopf zu heben und in das unsichtbare Gesicht seines Herrn und Meisters hinaufzusehen.

»Herr, es... es ist nicht... nicht unsere Schuld!«, stammelte er. »Bitte, das... das müsst Ihr mir glauben! Wir haben alles versucht, aber er... er war einfach zu schnell! Er ist gerannt wie der Teufel und... und er hat gekämpft wie zehn Männer! Er hat zwei Aufseher erschlagen, und mindestens ein Dutzend von uns. Nur wir zwei sind entkommen. Und ich fürchte...« Der Scriptor schluckte hörbar und atmete dann tief ein. »Ich fürchte, er ist entkommen«, stieß er schließlich hervor.

»Hendrik!«, flüsterte Theresa. »Ich... ich glaube, sie reden von Hendrik!«

Leonie nickte zwar, wandte den Blick aber nicht von den beiden unglückseligen Scriptoren ab. Der Archivar starrte sie eine weitere endlose Sekunde lang reglos an, machte dann eine fast beiläufige Handbewegung - und die beiden Scriptoren wurden wie von einer unsichtbaren Drachenpranke in Stücke gerissen.

Leonie schrie noch immer, als gleich ein halbes Dutzend Scriptoren sie an Armen und Beinen ergriff und davonschleifte.

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