Verraten!

Der Wagen wartete vor dem Restaurant. Beide Türen auf der Fahrerseite standen offen und ragten ein gutes Stück weit auf die Fahrbahn hinaus, sodass die vorüberfahrenden Autos in weitem Bogen ausweichen mussten und zum Teil auf die Gegenfahrbahn gerieten; dennoch hupte niemand, es gab keine bösen Blicke, keine wütenden Kommentare oder gar Beschimpfungen. Die Autofahrer wichen dem Hindernis diszipliniert und ruhig aus und auch die Passanten auf dem Bürgersteig schenkten der Szenerie höchstens einen irritierten Blick, wenn überhaupt.

Wenigstens hatte Frank seine Pistole eingesteckt, bevor sie das Restaurant verließen, aber Leonie ahnte, dass er sie blitzschnell ziehen würde, wenn es darauf ankam.

»Ein bisschen Beeilung, wenn ich bitten darf!«, raunzte er, als sie sich dem Wagen näherten und Wohlgemut unsicher stehen blieb. »Wir werden erwartet und es ist unhöflich, zu spät zu kommen.« Er wies mit einer ärgerlichen Kopfbewegung auf die Fahrertür und sah Wohlgemut dann noch unwilliger an. »Sie fahren!«

Wohlgemut wurde ein bisschen blass um die Nase herum. »Aber ich kann doch gar nicht...«, begann er, wurde aber von Frank sofort und in rüdem Ton wieder unterbrochen: »Dann wird es Zeit, dass du es lernst, Opa!«

Er versetzte Wohlgemut einen recht unsanften Stoß zwischen die Schulterblätter, der diesen ungeschickt auf die Straße und auf den Wagen zustolpern ließ. Noch eine Winzigkeit mehr, dachte Leonie entsetzt, und Wohlgemut wäre gefallen; offensichtlich hatte Frank vergessen, dass er es nicht mit seinesgleichen, sondern mit einem hochbetagten Mann zu hatte. Allerdings schien sie die Einzige zu sein, der Franks unmögliches Verhalten auffiel. Er versetzte Wohlgemut noch einen weiteren Stoß, als der Professor für seinen Geschmack zu langsam ging, und Wohlgemut stolperte nun tatsächlich gegen die offene Tür und fand erst im allerletzten Moment daran Halt, aber niemand nahm auch nur Notiz davon. Die wenigen Passanten, die überhaupt in ihre Richtung blickten, wirkten bestenfalls verwirrt, als wäre es ihnen nicht möglich, dem Gesehenen irgendeinen Sinn abzugewinnen. Leonie konnte nicht einmal sagen, was sie mehr erschreckte: Franks Rohheit oder die völlige Teilnahmslosigkeit der Leute, die sie beobachteten.

Frank fuchtelte ungeduldig mit seiner nun wieder gezogenen Pistole herum und dirigierte Fröhlich, Leonie und ihre Großmutter auf die Rückbank des geräumigen Wagens, ehe er selbst auf die andere Seite des Fahrzeugs eilte und auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

»Los!«, befahl er unwillig.

Wohlgemuts Blick irrte fast hilflos über die Armaturen der schweren Limousine. Frank verdrehte die Augen, drückte auf einen Knopf und der starke Elektromotor des Wagens erwachte mit einem kaum hörbaren Surren zum Leben. »Einfach nur Gas geben und lenken«, sagte er. »Alles andere macht der Wagen von selbst.«

»Und... wohin?«, fragte Wohlgemut hilflos. Seine Hände zitterten fast so stark wie seine Stimme, als er das Lenkrad ergriff.

»Zurück«, blaffte Frank. »Ich habe doch gesagt, wir werden erwartet.«

»Sie wissen ja nicht, was Sie da tun«, sagte Fröhlich leise.

Frank lachte böse. »Wenn euer Freund auch dabei wäre, dieser rabiate Pfaffe, dann könnte ich mich wirklich vergessen«, sagte er, wobei er sich demonstrativ mit der freien Hand das Kinn rieb.

»Aber noch weiß ich, was ich tue. Ich kann allerdings nicht garantieren, wie lange das so bleiben wird!« Er wedelte ungeduldig mit der Pistole vor Wohlgemuts Gesicht herum. »Fahren Sie endlich los!«

Wohlgemut tat wirklich sein Bestes, aber das war leider nicht besonders gut. Einen normalen Benzinmotor hätte er vermutlich mindestens drei- oder viermal abgewürgt, bevor es ihm auch nur gelungen wäre, die Limousine auf die Straße zu bugsieren, aber auch so brach der Verkehr ringsum diesmal tatsächlich zusammen, als Wohlgemut den Wagen auf die Fahrbahn im wahrsten Sinne des Wortes hinauskriechen ließ. Das nach Leonies Erfahrungen bei solchen Anlässen übliche Hupkonzert, die bösen Blicke und das wütende Herumgefuchtele hinter Windschutzscheiben blieben aus - wie sollte es hier auch anders sein! -, aber Frank verdrehte gequält die Augen, und Leonie atmete erleichtert auf, als es Wohlgemut endlich geschafft hatte, den Wagen in den fließenden Verkehr einzufädeln, ohne eine Massenkarambolage zu verursachen. Wenigstens ließ Frank seinen Unmut nicht mehr länger an dem völlig eingeschüchterten Professor aus. Er hatte wohl eingesehen, dass Wohlgemuts Behauptung, er könne nicht Auto fahren, keine Lüge gewesen war.

»Und... wohin?«, fragte Wohlgemut nach einer Weile wieder.

»Zurück!«, antwortete Frank. Wohlgemut blickte ihn hilflos an und Frank verdrehte seufzend die Augen und sagte: »An der nächsten Kreuzung rechts.«

»Bitte, überlegen Sie noch einmal, was Sie tun«, sagte Fröhlich, zwar an Frank gewandt, aber nicht ohne Wohlgemut einen raschen, deutlich nervösen Blick zugeworfen zu haben. »Ich weiß ja nicht, wie viel von unserem Gespräch Sie belauscht haben...«

»Auf jeden Fall genug um zu wissen, dass ihr alle einen gehörigen Sprung in der Schüssel habt!«, unterbrach ihn Frank grob. Er lachte leise und abfällig. »Irgendjemand verändert also die Wirklichkeit, wie? Einfach so, indem er mit den Fingern schnippt und einen Zauberspruch murmelt, nehme ich an.«

»Anscheinend haben Sie doch nicht so genau zugehört, wie Sie zu glauben scheinen, junger Mann«, bemerkte Großmutter ruhig. »Nicht irgendjemand. Leonies Vater. Der Mann, zu dem Sie uns jetzt zurückbringen wollen. Und er tut es ganz bestimmt nicht, indem er mit den Fingern schnippt und dabei einen Zauberspruch murmelt, sondern weil er einen bestimmten Gegenstand in seine Gewalt gebracht hat, der ihm Macht über das Schicksal verleiht.«

Frank blickte sie irritiert an. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, aber Leonie war nicht einmal sicher, dass dieser nachdenkliche, fast erschrockene Ausdruck tatsächlich Großmutters Erklärung galt - die sie, nebenbei bemerkt, wohl auch nicht geglaubt hätte. Vielmehr war das nachdenkliche Stirnrunzeln in dem Moment auf seinem Gesicht erschienen, in dem Großmutter ihn junger Mann genannt hatte, und das auf eine Art, die er an diesem Abend schon einmal gehört hatte.

»Richtig«, sagte er gedehnt. »Wo ist überhaupt die Vierte im Bunde?«

»Welche Vierte?«, fragte Großmutter.

»Ihre Kollegin«, erwiderte Frank unsicher. »Ihre Tochter, schätze ich. Oder eher Ihre Enkelin. Na, die eben, die am See aus der Kutsche gestiegen ist.«

»Da war niemand außer uns«, antwortete Großmutter. »Und Vater Gutfried natürlich.«

»Blödsinn!«, antwortete Frank überzeugt - zumindest versuchte er überzeugt zu klingen. Aber völlig gelang es ihm nicht. Er hörte sich ein bisschen unsicher an, und der Blick, mit dem er Großmutters Gesicht taxierte, sah deutlich mehr als nur ein bisschen unsicher aus. Er schien noch etwas sagen zu wollen, sog aber nur erschrocken die Luft ein und versteifte sich für eine Sekunde auf seinem Platz, als Wohlgemut beim Abbiegen beinahe einen Fußgänger überfahren hätte, der nicht schnell genug aus dem Weg sprang. Mit zusammengekniffenen Augenlidern wartete er, bis der Professor wieder halbwegs Gewalt über den Wagen hatte, und fuhr erst dann und in hörbar beherrschterem Tonfall fort: »Was soll dieser ganze Unsinn?«

»Sie wissen, dass es kein Unsinn ist«, sagte Großmutter. »Sie haben die Ungeheuer doch gesehen, die hinter Leonie her waren. Waren die auch nur... Unsinn?«

Frank schwieg unbehaglich. Er rettete sich schließlich damit, scheinbar konzentriert Wohlgemuts unzulänglichen Versuchen zu folgen, den Wagen über die Straße zu chauffieren, ohne dabei eine Spur aus zertrümmerten Fahrzeugen und niedergewalzten Fußgängern zu hinterlassen. Leonie konnte sein Gesicht nur noch im Innenspiegel beobachten, aber sie sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

»Dort vorn wieder rechts«, befahl Frank, »und dann die nächste links. Danach geht es nur noch geradeaus.« Er fuhr sich demonstrativ mit dem Handrücken über die Stirn und atmete hörbar auf. »Mit ein bisschen Glück kommen wir sogar lebend an.«

»Nur werden wir es nicht mehr allzu lange bleiben«, fügte Fröhlich hinzu.

Frank schenkte ihm einen bösen Blick über den Spiegel hinweg, schwieg aber beharrlich weiter und auch Fröhlich sagte nichts mehr. Für die nächsten fünf oder zehn Minuten fuhren sie in verbissenem Schweigen dahin. Leonies Gedanken drehten sich immer schneller im Kreis. Ihr war buchstäblich zum Heulen zumute. Nach allem, was sie geschafft, nach allen Gefahren, die sie überwunden hatte, allen Feinden und Fallen, denen sie entkommen war, sollte es nun so enden? Das war einfach nicht fair!

»Was glauben Sie, was mit uns geschieht, wenn Sie uns abgeliefert haben?« Fröhlich war offensichtlich nicht bereit, so einfach aufzugeben. Frank drehte den Kopf und warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, aber der Notar fuhr ungerührt fort: »Und auch mit Ihnen?«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Frank. »Seien Sie jetzt still.«

»Warum?«, fragte Fröhlich. »Sie haben doch nicht etwa Angst vor der Antwort?«

Frank blickte ihn noch wütender an, sagte aber nichts. Leonie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Vielleicht war er ja nicht mehr ganz so sehr von seinen eigenen Worten überzeugt. Schließlich - ohne dass einer von ihnen noch irgendetwas hätte sagen müssen - fragte er, leise und in fast widerwilligem Ton: »Und was erwarten Sie jetzt von mir?«

»Nichts, als dass Sie einfach Ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen«, antwortete Großmutter. »Denken Sie einfach noch einmal an alles, was Sie gesehen und gehört haben. Und dann bilden Sie sich ein Urteil.«

»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe«, murmelte Frank leise, unsicher und fast mehr an sich selbst als an sie gewandt. »Das alles ist...« Er hob hilflos die Schultern. »Total verrückt.«

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Großmutter. Dann gab sie sich einen Ruck, tippte Wohlgemut leicht mit der Hand auf die Schulter und deutete gleichzeitig mit der anderen zum Straßenrand. »Halten Sie bitte dort vorne an, Professor.«

»Nichts da!«, protestierte Frank. »Wir fahren weiter, und zwar zügig!«

Er gestikulierte drohend mit seiner Waffen, um seinen Befehl zu unterstreichen, und Wohlgemut nickte nervös - was ihn allerdings nicht daran hinderte, den Fuß vom Gas zu nehmen und den Wagen gehorsam am Straßenrand ausrollen zu lassen. Frank ächzte, ließ Wohlgemut aber unbehelligt und drehte sich stattdessen im Sitz herum, um Großmutter einen ärgerlichen Blick zuzuwerfen. »Was soll das?«

Großmutter lächelte müde. Sie sah nicht sehr glücklich aus. In ihren Augen war ein Ausdruck, als koste sie das, was sie nun tun musste, nicht nur große Kraft, sondern auch noch größere Überwindung, und als hätte sie beinahe ein wenig Angst davor. Ohne Franks Frage zu beantworten, hob sie beide Hände vor das Gesicht und ließ sie einige Sekunden dort.

Obwohl Leonie geahnt hatte, was kam, erschrak sie so sehr, dass sie einen kleinen, spitzen Schrei ausstieß. Frank schrie nicht. Er starrte Großmutter nur an und seine Augen quollen vor Unglauben und Entsetzen schier aus den Höhlen. Das Gesicht, in das er sah, als Großmutter die Hände wieder herunternahm, war nicht mehr das einer uralten Frau, sondern das Gesicht Theresas.

»Aber das... das ist doch...«, stammelte er.

»Ich tue das nicht gern, glauben Sie mir«, sagte Theresa sanft, »aber ich fürchte, es ist der einzige Weg, um Sie davon zu überzeugen, dass wir die Wahrheit sagen.«

Leonie war nicht sicher, dass Frank die Worte überhaupt verstanden hatte. Er starrte das plötzlich wieder jung gewordene, strahlend schöne Gesicht vor sich weiter an und begann dann am ganzen Leib zu zittern. »Das ist doch unmöglich«, flüsterte er. »Ich... ich muss den Verstand verloren haben!«

»Ich wünschte fast, es wäre so«, seufzte Theresa. »Es wäre für uns alle besser.«

»Aber...«, stammelte Frank. Er sah so hilflos aus, dass er Leonie beinahe Leid tat.

»Jetzt ist weder die Zeit noch die Gelegenheit, Ihnen alles zu erklären«, fuhr Theresa fort. Sie warf einen raschen, nervösen Blick aus dem Fenster, und in ihrer Stimme war plötzlich ein ängstlicher Unterton. »Sie müssen mir einfach glauben, dass Sie Leonie nicht zurückbringen dürfen! Nicht nur für sie, sondern für uns alle. Diese Ungeheuer, die Sie gesehen haben - sie könnten bald die ganze Welt beherrschen. Und das wäre nicht einmal das Schlimmste.«

Franks Gesichtsausdruck wirkte nun beinahe gequält. Er blickte wieder auf die Waffe in seiner Hand, aber Leonie war fast sicher, dass er nun daran dachte, wie wenig sie ihm gegen die Krieger des Archivars geholfen hatte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als hätte er körperliche Schmerzen, und schließlich senkte er die Pistole nicht nur, sondern drückte den Sicherungshebel nach oben und steckte die Waffe unter seinen Gürtel.

Leonie atmete vorsichtig auf. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.

Frank sah hoch, blickte zuerst Fröhlich, dann ein wenig länger Großmutter - besser gesagt Theresa - und schließlich noch länger Leonie an. »Ihr behauptet also, das alles hier wäre nicht real?«

Leonie wollte antworten, doch Großmutter (Theresa!) kam ihr zuvor: »Nein«, sagte sie mit einem heftigen Kopfschütteln.

»Niemand würde so etwas behaupten. Das wäre Unsinn. Diese Welt hier ist nur zu real, das ist ja gerade das Problem.«

»Aha«, machte Frank. Er sah hilfloser aus als jemals zuvor, obwohl Leonie das noch vor einer Sekunde gar nicht für möglich gehalten hätte.

»Das Buch gibt seinem Besitzer nicht die Macht, Illusionen zu erzeugen«, erklärte Theresa. »Wäre es so, dann hätten wir nichts zu befürchten. Niemand kann auf die Dauer eine ganze Welt täuschen, ganz egal, wie geschickt er es auch anstellt.« Sie wiederholte ihr Kopfschütteln, und der Blick, mit dem sie den jungen Leibwächter ansah, wurde fast hypnotisch. »Das Buch gibt seinem Besitzer die Macht, die Wirklichkeit zu verändern.«

»Ja, das klingt logisch«, meinte Frank. Er lachte ganz leise, aber es klang fast hysterisch.

»Ich weiß, wie sich das anhört«, beharrte Theresa. »Ich an Ihrer Stelle würde wahrscheinlich auch kein Wort davon glauben. Aber es ist so. Ich habe keine Ahnung, wie ich es Ihnen beweisen soll, ich kann Sie nur bitten mir zu glauben.«

Vielleicht für drei Sekunden, die sich aber zu einer Ewigkeit dehnten, wurde es sehr still im Wagen. Schließlich fragte Frank »Und wie soll das funktionieren?«

»Was ist Wirklichkeit?«, fragte Fröhlich an Theresas Stelle. Er ließ eine dramatische Pause verstreichen und beantwortete seine Frage dann selbst: »Es gibt sogar eine wissenschaftliche Erklärung für den Begriff Gegenwart, wussten Sie das?«

Frank schüttelte den Kopf und Fröhlich fuhr fort: »Rein physiologisch betrachtet, ist die Zeitspanne, die wir als Gegenwart definieren, genau drei Sekunden lang.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Danach speichert unser Gehirn das Erlebte als Erinnerung ab.«

»Wie interessant«, sagte Frank und zog eine Grimasse. »Und?«

»Was ich damit sagen will«, erklärte Fröhlich, »ist, dass im Grunde unser gesamtes Leben nur aus Erinnerungen besteht. Manche sind frisch, weil sie erst einige Augenblicke zurückliegen, manche fast vergessen und manche sogar ganz. Und trotzdem: Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Macht, die Erinnerungen der Menschen zu ändern. Aller Menschen.« Ein dünnes, humorloses Lächeln erschien auf seinen Lippen und er machte eine angedeutete Handbewegung. »Sie haben da eine Packung Zigaretten in der rechten Hosentasche, habe ich Recht?«

»Woher wissen Sie das?«, entfuhr es Frank. Er sah nicht wirklich erschrocken aus, aber doch ein wenig ertappt.

»Weil Sie sie immer bei sich haben«, antwortete Fröhlich. »Dabei rauchen Sie gar nicht. Schon lange nicht mehr. Sie haben nur das Gefühl, Sie müssten sie bei sich haben, nicht wahr?«

Frank sagte nichts dazu, aber das Entsetzen in seinem Blick machte Leonie klar, wie nahe Fröhlich mit seiner Vermutung der Wahrheit gekommen sein musste.

»Können Sie sich erinnern, wann Sie mit diesem Laster aufgehört haben?«, fragte Fröhlich.

»Ich...« Frank schüttelte hilflos den Kopf. »Manchmal passiert so etwas«, sagte Großmutter. »Die Erinnerung eines Menschen zu ändern kann eine Kettenreaktion in Gang setzen.«

»Wieso denn das?«

»Nehmen Sie das, was Sie gerade selbst getan haben«, erklärte Theresa. »Sie haben den Herrn Professor ziemlich unsanft auf die Straße hinausgeschoben. Etliche Menschen haben es beobachtet. Manche davon werden sich ihre Gedanken gemacht und mit anderen darüber gesprochen haben. Sie erzählen es vielleicht zu Hause ihren Männern oder Frauen und diese wiederum erzählen es im Büro oder im Supermarkt weiter. Jemand ist nur kurz stehen geblieben, um Ihnen zuzusehen und sich zu wundern, und befindet sich deshalb, sagen wir eine halbe Stunde später, nicht genau an der Stelle, an der er gewesen wäre, hätte er seinen Weg im gleichen Tempo fortgesetzt. Wer weiß - vielleicht stürzt ein Dachziegel herunter und erschlägt ihn, nur weil er eine halbe Sekunde später an der betreffenden Stelle ankommt. Damit wäre nicht nur sein Leben zu Ende, sondern es würde auch Auswirkungen auf das Leben seiner Familie, seiner Freunde, seiner Arbeitskollegen haben... auf alles. Und nun stellen Sie sich vor, jemand besitzt die Macht, genau diese Szene zu ändern. Sie stoßen den Herrn Professor nicht so grob auf die Straße. Niemand muss ihm ausweichen und niemand hat etwas zu erzählen. Der Dachziegel verfehlt sein Opfer und er bleibt am Leben. Was aber, wenn genau dieser Mensch irgendwann selbst einen Unfall verursacht, bei dem ein anderer ums Leben kommt? Oder eine gewaltige Katastrophe mit Hunderten von Opfern?«

»Das ist...«, murmelte Frank.

»Es ist unglaublich gefährlich, an der Wirklichkeit herumzupfuschen«, unterbrach ihn Fröhlich. Er seufzte. »Und genau das hat Leonies Vater getan. Und er ist noch lange nicht damit fertig.«

»Das ist ziemlich verrückt«, meinte Frank. »Ich kann das nicht glauben.«

»Bitte, versuchen Sie es!«, sagte Theresa. »Wenn Sie uns nicht glauben, dann glauben Sie Leonie. Warum sollte sie Sie belügen, wenn es doch um ihren eigenen Vater geht?«

Lange, endlos lange, wie es Leonie vorkam, sah Frank sie nur an. Der Zweifel in seinem Blick war unübersehbar. Er hockte verkrümmt auf seinem Sitz, als hätte er Schmerzen, und seine Hände zitterten immer noch ganz leicht. Sie konnte sehen, wie sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen, und schließlich presste er für einige Sekunden die Augenlider aufeinander, atmete hörbar ein und kam zu einem Entschluss.

»Und?«, fragte Leonie.

»Das ist vollkommen verrückt«, sagte Frank zum wiederholten Mal. »Ich glaube euch kein Wort!«

»Aber...!«, entfuhr es Leonie.

»Genug jetzt!« Frank zog die Pistole wieder aus dem Hosenbund hervor und deutete damit hektisch in Wohlgemuts Richtung. »Fahren Sie weiter!«

»Und wenn ich mich weigere?«, erkundigte sich Wohlgemut. »Was würden Sie dann tun? Mich erschießen?« Er lachte leise. »Machen Sie sich nicht lächerlich, junger Mann. Sie sind kein Mörder.«

Eine geschlagene Sekunde lang starrte Frank den Professor fassungslos an, dann riss er plötzlich die Wagentür auf, stürmte um das Auto herum und öffnete die Tür neben Wohlgemut, bevor einer von ihnen auch nur richtig begriff, was er vorhatte. »Rutschen Sie rüber!«, befahl er.

Wohlgemut gehorchte, zumal Frank seinen Worten durch ein drohendes Gestikulieren mit der Waffe weiteren Nachdruck verlieh. Umständlich kletterte er auf den Beifahrersitz und Frank steckte die Pistole endgültig weg, setzte sich hinter das Steuer und warf die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass der gesamte Wagen erzitterte. Praktisch in der gleichen Bewegung startete er den Motor und fuhr los. »Kommt bloß nicht auf irgendwelche verrückten Ideen«, sagte er. »Ich habe keine Hemmungen, auch einen alten Mann zu schlagen, wenn es sein muss.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, murmelte Theresa.

»Frank, bitte!«, flehte Leonie.

»Ich will jetzt nichts mehr hören!«, schnitt ihr Frank das Wort ab. »Von niemandem!«

Leonie setzte dennoch dazu an, etwas zu sagen, aber Theresa berührte sie nur sacht am Arm und schüttelte dann stumm und traurig den Kopf. Vermutlich hatte sie Recht. Vielleicht war Frank einfach zu verwirrt und erschrocken, um ihr überhaupt glauben zu können. »Und was sollen wir jetzt tun?«, flüsterte sie.

Theresa deutete ein Achselzucken an. »Nichts«, gab sie ebenso leise zurück Und vermutlich hatte sie auch damit Recht, dachte Leonie. Aber alles in ihr sträubte sich einfach dagegen, das zu akzeptieren. Nach allem, was passiert war, durfte es nicht so enden! Für einen Moment wurde ihre Verzweiflung so groß, dass sie allen Ernstes mit dem Gedanken spielte, Frank einfach ins Lenkrad zu fallen und darauf zu vertrauen, dass es ihnen zu viert schon irgendwie gelingen würde, ihn zu überwältigen. Aber sie verwarf diese Idee fast ebenso rasch wieder, wie sie gekommen war. Selbst zu viert waren sie Frank nicht gewachsen, und die Gefahr, einen Unfall zu verursachen, bei dem sie allesamt zu Schaden oder möglicherweise ums Leben kommen konnten, war einfach zu groß.

Niedergeschlagen ließ sie sich im Sitz zurücksinken und schloss die Augen. Das bittere Gefühl, verloren zu haben, machte sich in ihr breit. Es war nicht das erste Mal. Seit diese ganze unheimliche Geschichte begonnen hatte, war sie oft genug in einer Situation gewesen, die ihr ausweglos erschienen war, und hatte mehr als einmal gedacht, dass es vorbei wäre. Und doch war es diesmal anders. Dem Gefühl, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden, hatte sich eines der Endgültigkeit hinzugesellt, das mit jedem Augenblick stärker wurde. Es gab nichts mehr, was sie noch tun konnten. Selbst wenn es ihnen durch ein Wunder gelänge, Frank zu überwältigen und irgendwie aus diesem Wagen zu entkommen - wohin sollten sie gehen? Was sollten sie noch tun? Die Antwort war so einfach wie niederschmetternd: nichts.

Der Wagen bewegte sich fast lautlos die gleiche Straße hinab, die sie auch heraufgekommen waren, aber es gab einen Unterschied: Auf dem Hinweg waren sie allein gewesen, das einzige Fahrzeug auf der Straße, und die Häuser hatten dunkel und wie verlassen dagelegen, jetzt aber brannte überall Licht. Die Straße war voller Menschen und anderer Automobile und überall rings um sie herum war einfach nur Leben - ihr Vater lernte ganz offensichtlich dazu. Was noch vor kurzem wie eine schlechte, computeranimierte Kopie der Wirklichkeit ausgesehen hatte, näherte sich ihr nun an, und zwar so schnell, dass der Unterschied kaum noch sichtbar war, nicht einmal dann, wenn man danach suchte. Vielleicht war es das, was sie die ganze Zeit über gespürt hatte und was ihr die Kraft nahm, sich abermals gegen das vermeintlich Unausweichliche aufzulehnen: Ihr Kampf war sinnlos geworden, denn er war längst entschieden. Diese neue Wirklichkeit - ob gut oder schlecht - hatte ihren Platz längst eingenommen. Und sie würde ihn behalten.

Die Fahrt schien gleichzeitig endlos zu dauern wie in wenigen Augenblicken vorüber zu sein, was vielleicht daran lag, dass sie sich vor nichts mehr fürchtete als vor dem Moment, in dem sie nach Hause zurückkehren und ihrem Vater gegenübertreten würde. Leonie schrak wie aus einem üblen Traum hoch, als sie langsamer wurden und Frank den Wagen dann in die Ausfahrt lenkte, die zu ihrem Elternhaus führte. Der Anblick, der sich ihnen bot, war von schon fast erschreckender Normalität: Nichts deutete mehr auf die erbarmungslose Schlacht hin, die hier noch vor weniger als einer Stunde getobt hatte. Die Monster waren ebenso verschwunden wie ihre Gegner und jede andere Spur der Auseinandersetzung, bis hin zu dem zertrümmerten Wagen, aus dem Leonie gerade noch mit Mühe und Not entkommen war.

Frank fuhr bis unmittelbar vor die Tür, öffnete den Wagenschlag und riss ungläubig die Augen auf, als er das Garagentor sah, das sich ihren Blicken nun wieder vollkommen unversehrt darbot. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, wurde die Haustür geöffnet und zwei auf die Leonie schon bekannte Art gekleidete Männer (schwarze Anzüge, Sonnenbrille und Knopf im Ohr) traten mit raschen Schritten auf ihn zu. Einer begann mit leiser Stimme und aufgeregt gestikulierend auf Frank einzureden, der andere öffnete die Beifahrertür und forderte Wohlgemut mit einer ruppigen Geste auf auszusteigen. Nachdem der Professor der Aufforderung Folge geleistet hatte, riss er die hintere Tür auf und verlangte dasselbe von Fröhlich, Leonie und Theresa.

Hintereinander betraten sie das Haus. Auch hier drinnen waren keine Spuren des zurückliegenden Kampfes mehr zu entdecken, den Leonie zwar nicht gesehen, dafür aber umso deutlicher gehört hatte. Alles war ordentlich, sauber und so penibel aufgeräumt, wie es nur ging. Nur eines hatte sich verändert: Die getarnte Panzertür am Ende des langen Korridors stand offen und mit ihr der Weg ins Arbeitszimmer ihres Vaters.

Ein sonderbares Gefühl von Trauer überkam Leonie, während sie mit Schritten, die immer zögerlicher wurden, je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, darauf zuging. Im ersten Moment konnte sie es sich selbst nicht erklären, dann aber wurde ihr klar, dass es wohl die Erinnerung an das letzte Mal war, als sie in diesem Zimmer gewesen war. Der Moment lag erst wenige Tage zurück, ihr aber kam es vor, als wären es Monate, wenn nicht Jahre. Damals waren nicht nur sie und Vater in diesem Zimmer gewesen, sondern auch ihre Mutter, und die Erinnerung versetzte Leonie einen tiefen, schmerzhaften Stich in die Brust. Nicht einmal so sehr, weil sie so traurig war, sondern weil es das erste Mal seit Tagen war, dass sie sich überhaupt wieder an ihre Mutter erinnerte. Es musste wohl so sein, wie Großmutter gesagt hatte: Ihr Vater beherrschte das Buch nun beinahe perfekt. Obwohl sie sich noch an ihre Vergangenheit erinnern konnte, kamen ihr diese Erinnerungen mit jedem Moment unwirklicher und irrealer vor. Und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihr vollständig entschwanden.

Mit klopfendem Herzen trat sie durch die Tür und sah sich um. Der Anblick war beinahe enttäuschend; Leonie hätte selbst nicht sagen können, was sie erwartet hatte -, aber das Bild unterschied sich in nichts von dem, das sie seit Jahren kannte und in Erinnerung hatte - in jeder Erinnerung. Da war der übergroße Schreibtisch ihres Vaters, die schmalen Wandregale, auf denen sich Bücher mit Vasen und Schmuckgegenständen aus buntem Muranoglas um den Platz stritten, und gleich neben der Tür der wuchtige Tresor. Ihr Vater saß in einer lässig zurückgelehnten Haltung, die nicht wirklich über seine innere Anspannung hinwegzutäuschen vermochte, in dem großen Ledersessel hinter dem Schreibtisch und empfing sie mit einem Blick, bei dem es Leonie kalt über den Rücken lief. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, runzelte aber stattdessen dann mit gespielter Überraschung die Stirn, als er die beiden alten Männer und schließlich Theresa erblickte, die hinter ihr hereinkamen. »Du hast Besuch mitgebracht«, stellte er fest. »Wie nett.«

Leonie fand diese Bemerkung ebenso überflüssig wie albern. Von der Stelle aus, an der sie stand, konnte sie den kleinen Monitor auf dem Schreibtisch vor ihrem Vater zwar nicht einsehen, aber sie war ziemlich sicher, dass er das Bild des Eingangsbereichs und des Flures zeigte und ihr Vater also schon gewusst hatte, dass sie nicht allein kam, bevor sie auch nur dem Auto entstiegen waren.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte Theresa.

In den Augen ihres Vaters blitzte es ärgerlich auf, aber das war auch alles. Er beherrschte sich meisterhaft. Sowohl sein Lächeln als auch der freundliche Klang seiner Stimme waren durchaus überzeugend, als er antwortete: »Charmant wie immer, meine Liebe. Schade nur, dass Sie so uneinsichtig sind. Sie hätten sich und uns allen eine Menge Zeit und Mühe ersparen können, wenn Sie gleich zu mir gekommen wären.«

Theresa machte ein verächtliches Geräusch. »Wir sind hier nicht in einem schlechten Krimi. Sag uns einfach, was du von uns willst.«

Diesmal schien der Ausdruck leiser Verwirrung im Blick ihres Vaters echt zu sein, als er antwortete. »Ich? Nichts.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Theresa abfällig. »Deshalb hast du uns ja auch von deinen Bluthunden jagen lassen.«

Leonies Vater runzelte die Stirn. »Ich kann mich täuschen«, sagte er gedehnt und in übertrieben verwundertem Ton, »aber ich hatte den Eindruck, dass Sie und Ihre... Freunde es waren, die Leonie entführt haben. Ich habe Frank lediglich gebeten Leonie zurückzubringen. Sicher zurückzubringen.«

»Vielleicht verstehen wir ja unter dem Wort sicher etwas grundsätzlich Verschiedenes.«

Vaters Blick verdüsterte sich, und für einen Moment presste er die Hand so fest auf die blank polierte Tischplatte, dass die Knöchel weiß durch seine Haut stachen. Aber er beherrschte seinen Zorn auch diesmal, schenkte Theresa nur einen letzten, eisigen Blick und wandte sich dann an Leonie. »Bist du in Ordnung?«

»Ich schon«, erwiderte Leonie. »Nur der Rest der Welt nicht.«

Auch darauf antwortete ihr Vater nicht. Er sah nur Theresa erneut (und deutlich ärgerlicher) an, dann stand er mit einem Ruck auf, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich vor dem Safe in die Hocke sinken. Leonie fiel erst jetzt auf, dass der massige Würfel aus Metall das Einzige hier drinnen war, das sich wirklich verändert hatte. Größe und Form waren ungefähr gleich geblieben, doch statt eines schwarz lackierten Stahlschranks mit einem altmodischen Zahlenschloss stand nun ein chromblitzender Würfel neben der Tür, der überhaupt kein Schloss zu haben schien, auch keine Tastatur oder irgendeinen anderen Mechanismus um ihn zu öffnen. Ihr Vater entriegelte die Tür, indem er für eine knappe Sekunde die gespreizten Finger der linken Hand darauf drückte. »Macht euch keine falschen Hoffnungen«, sagte er, »das Ding reagiert nicht nur auf meine Fingerabdrücke. Es würde euch nichts nutzen, mir die Hand abzuschlagen und sie dagegenzupressen.«

Leonie spürte ein kurzes, eisiges Frösteln. Natürlich waren diese Worte nicht ernst gemeint, das hörte sie allein schon an Vaters Tonfall - aber eigentlich waren geschmacklose Scherze wie dieser nie seine Art gewesen. Einen kurzen Moment lang schien er vergeblich darauf zu warten, dass irgendjemand etwas dazu sagte, dann deutete er ein Achselzucken an, richtete sich aus der Hocke auf und die Safetür schwang mit einem lautlosen Summen nach außen. Der überraschend kleine Innenraum dahinter war vollkommen leer bis auf ein großes, in uraltes grobes Leder gebundenes Buch. Theresa sog scharf die Luft ein, als Leonies Vater sich vorbeugte um es herauszunehmen, und als Leonie selbst kurz aufsah und in ihre Augen blickte, da erkannte sie darin einen Ausdruck, der an Gier grenzte. Aber sie musste sich wohl getäuscht haben.

Ihren Vater jedenfalls schien Theresas Blick eher zu amüsieren, denn er lächelte flüchtig, während er sich umwandte, das Buch zum Schreibtisch trug und es in der Mitte aufgeschlagen auf das blank polierte Holz legte.

»Und deshalb also diese ganze Aufregung?«, fragte er spöttisch. »Nur wegen eines alten, vergammelten Buches.«

Theresa sog abermals scharf die Luft ein und machte einen halben Schritt auf den Schreibtisch zu, blieb aber sofort wieder stehen, als Frank warnend die Hand hob. Der unheimliche Ausdruck in ihren Augen war stärker geworden. Wenn es keine Gier war, dann etwas anderes, für das Leonie zwar die Worte fehlten, das ihr aber fast ebensolche Angst machte. Sie kannte Theresa (ihre Großmutter!) lange genug um zu wissen, dass ihr solche Gefühle eigentlich vollkommen fremd waren, aber andererseits: Sie hatte sie auch noch nie einer Situation wie dieser erlebt, bei der es um nichts Geringeres als um das Schicksal der ganzen Welt ging! Sie wandte sich wieder ihrem Vater zu.

»Bitte!«, versuchte sie es ein letztes Mal. »Du darfst das nicht tun!«

Vater sah sie einen Moment lang sehr ernst an, dann schüttelte er bedächtig den Kopf und sagte leise: »Ich bin es müde, immer wieder die gleichen Gespräche zu führen, Leonie.«

»Sie haben nicht einmal das Recht dazu!«, sagte Fröhlich erregt. »Von Rechts wegen gehört Ihnen das Buch nicht. Ihre Tochter...«

»... wird bekommen, was ihr zusteht, sobald sie alt genug dazu ist«, fiel ihm Leonies Vater ins Wort.

»Und wann soll das sein?«

»Wenn sie reif dafür ist«, antwortete Vater ernst. »Sie erwarten doch nicht, dass ich eine solche Macht in die Hand eines Kindes lege?« Er warf Leonie einen raschen, Verzeihung heischenden Blick zu. »Entschuldige.«

»Dann... dann ist das alles wahr?«, murmelte Frank. Er blickte verstört von einem zum anderen und dazwischen immer wieder auf das aufgeschlagene Buch, dessen Seiten mit einer winzig kleinen, gestochen scharfen Handschrift bedeckt waren. »Sie... Sie können... die Wirklichkeit verändern? Damit?«

Leonies Vater sah Frank an, als würde er sich dessen Gegenwart erst in diesem Moment bewusst. Kurz blitzte so etwas wie Ärger in seinen Augen auf und Leonie war vollkommen sicher, dass er Frank hinauswerfen oder mit einer rüden Bemerkung abfertigen würde. Dann aber schüttelte er fast traurig den Kopf und legte die rechte Hand mit gespreizten Fingern behutsam auf die vergilbten Seiten des Buches. »Ich weiß nicht, was Ihnen die junge Dame da oder ihre beiden Begleiter erzählt haben, aber was immer es ist, Sie sollten kein vorschnelles Urteil fällen. Haben Sie sich noch nie gewünscht, die Welt zu einem besseren Ort machen zu können? Einem Ort ohne Kriege und Hunger, ohne Ungerechtigkeit und Verbrechen?«

»Aber das ist sie doch längst«, antwortete Frank verwirrt. »Diese Zeiten sind...«

»... längst vorbei?«, unterbrach ihn Vater mit einem dünnen Lächeln und einem Kopfschütteln. »Vielleicht nicht ganz so lange, wie Sie zu glauben scheinen.« Er schenkte Leonie einen viel sagenden Blick, dann erlosch sein Lächeln wie abgeschaltet und er klappte das Buch zu. »Genug«, sagte er. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Frank. Ich werde mich dafür erkenntlich zeigen. Aber nun müssen wir uns um unsere Gäste kümmern.«

»Und was soll das heißen?«, fragte Theresa. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Buch. »Willst du deinen Stift zücken und dafür sorgen, dass es uns niemals gegeben hat?«

»Ich frage mich wirklich, warum Sie mir immerzu solche schrecklichen Dinge unterstellen, junge Dame.« Vater klang verletzt. »Einmal davon abgesehen, dass es viel zu kompliziert wäre, würde ich so etwas nie tun.«

»So wie bei deiner Frau, nicht?«, fragte Theresa böse.

Ein Schatten huschte über Vaters Gesicht. Eine Sekunde lang starrte er sie nur so wütend an, wie Leonie ihn selten zuvor gesehen hatte, dann schlug er das Buch mit einem Knall zu und stand in der gleichen Bewegung auf. »Das reicht!«, sagte er scharf. »Keinem von Ihnen wird etwas geschehen, das verspreche ich Ihnen. Aber ich verspreche Ihnen auch, dass ich dafür Sorge tragen werde, dass Sie nie wieder Gelegenheit haben, meiner Tochter auch nur nahe zu kommen.« Er drückte einen verborgenen Knopf unter der Schreibtischkante und fügte lauter und offenbar in Richtung eines versteckt angebrachten Mikrofons hinzu: »Hendrik! Sie können unsere Gäste jetzt wegbringen. Um meine Tochter kümmere ich mich selbst.«

Draußen auf dem Gang wurden Schritte laut, die rasch näher kamen. Leonie starrte ihren Vater an, dann Theresa und für einen winzigen, aber endlosen Moment noch einmal ihren Vater - und dann tat sie etwas, was sie selbst von allen Anwesenden vielleicht am meisten überraschte: Sie beugte sich blitzschnell vor, ergriff das Buch mit beiden Händen und riss es an sich.

»Leonie«, seufzte ihr Vater. »Was soll denn das?« Er machte zwei Schritte um den Schreibtisch herum und streckte die Hand aus, blieb aber wieder stehen, als Leonie das Buch wie einen kostbaren Schatz an die Brust presste und erschrocken vor ihm zurückwich. Er sah nicht wirklich ärgerlich aus, sondern vielmehr ein bisschen enttäuscht.

»Du hast kein Recht dazu!«, rief Leonie. »Verstehst du denn nicht, wie falsch das ist, was du tust?«

Ihr Vater seufzte erneut. »Leonie, bitte sei vernünftig! Zwing mich doch nicht, es dir mit Gewalt wegzunehmen.«

Leonie wich einen weiteren Schritt vor ihm zurück und drückte das Buch noch fester an sich. Ihr Vater machte einen halben Schritt, dann ließ er den Arm mit einem resignierten Laut sinken und wandte sich mit einem auffordernden Blick an Frank.

»Frank.«

Leonie versuchte noch weiter vor ihrem Vater zurückzuweichen, aber hinter ihr war jetzt nur noch das geschlossene Fenster. Sie presste sich so fest an das kalte Glas, dass sie Angst gehabt hätte, es zu zerbrechen, wäre es nicht eine Panzerglasscheibe gewesen. Ihr Blick irrte verzweifelt auf der Suche nach einem Fluchtweg umher. Aber es gab keinen. Der einzige Weg hier hinaus war die Tür, vor der Frank stand, und selbst wenn sie irgendwie an ihm vorbeigekommen wäre (was vollkommen unmöglich war), so hörte sie von draußen Hendriks Schritte, der in längstens drei oder vier Sekunden ebenfalls hier sein musste.

»Worauf warten Sie?«, fragte ihr Vater unwillig.

Die Worte galten Frank, der noch einen ganz kurzen Moment unschlüssig dastand - und sich dann umdrehte und die Tür schloss!

Leonies Vater blinzelte. Anscheinend verstand er nicht genau, was Frank tat, ebenso wenig wie Leonie selbst. »Was soll das?«, fragte er.

Statt einer Antwort legte Frank den Riegel vor, drehte sich um und zog seine Pistole.

Vater ächzte. »Sind Sie verrückt geworden? Sie sollen Leonie das Buch wegnehmen, nicht sie mit der Waffe...« Seine Stimme versagte und seine Augen weiteten sich ungläubig, als er sah, dass die Pistole in Franks Hand nicht auf Leonie deutete.

Sondern auf ihn.

»Sind... sind Sie komplett wahnsinnig geworden?«, murmelte er.

Frank fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Seine Hände begannen zu zittern, aber die Mündung der Pistole blieb unverrückbar auf Vaters Brust gerichtet. »Leonie«, sagte er.

Leonie rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur ebenso fassungslos wie ihr Vater an. Sie verstand womöglich noch weniger als er, was hier überhaupt vorging.

»Was soll das?«, fragte ihr Vater wieder. Er hatte seine Überraschung überwunden und machte eine energische Bewegung auf Frank zu, blieb aber sofort stehen, als dieser drohend mit der Pistole herumfuchtelte. »Sie... Sie schießen nicht auf mich«, behauptete er. Aber seine Stimme klang nicht so überzeugt, wie er es vielleicht selbst gern gehabt hätte. »Sie würden mich doch nicht umbringen, oder?«

»Nein«, antwortete Frank. »Aber ich hätte kein Problem damit, Ihnen ins Bein zu schießen, wenn es sein muss, oder in die Schulter.«

Leonies Blick wanderte immer verstörter von einem Gesicht zum anderen. Ihr Vater sah ebenso verwirrt und bestürzt aus wie Frank nervös, nur Theresas Gesicht wirkte auf sonderbare Weise gefasst, als überraschte sie das alles hier nicht im Geringsten. Leonie hingegen fühlte sich immer hilfloser. Sie presste das Buch weiter wie einen Schatz an sich, und sie hätte einfach nicht sagen können, was sie tun sollte. Ihre Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, aber die Verwirrung hinter ihrer Stirn wurde immer nur noch größer.

Ihr Vater hingegen schien seine Fassung mittlerweile vollends zurückgewonnen zu haben. Er ging nicht weiter auf Frank zu, und sei es nur aus Angst, dass der arme Bursche vielleicht aus lauter Nervosität auf ihn schoss, aber er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und zwang sogar so etwas wie ein abfälliges Lächeln auf seine Lippen. »Und jetzt?«, fragte er herausfordernd. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Frank. »Ich weiß nur, dass Ihre Tochter Recht hat. Dieses... Ding steht Ihnen nicht zu. Kein Mensch sollte eine solche Macht haben.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass Sie ein Philosoph sind«, antwortete Leonies Vater mit ätzendem Spott. Er schüttelte den Kopf. »Aber reden Sie ruhig. Wir haben Zeit. Die Tür ist ziemlich stabil. Ihre Kollegen werden eine Weile brauchen um sie aufzubekommen. Aber sie bekommen sie auf, mein Wort darauf.« Er wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, dann nahm er die Arme herunter und wandte sich Leonie zu. »Und du?«, fragte er. »Siehst du das auch so?«

Leonie hatte nicht die Kraft, zu antworten, so wenig wie sie die Kraft hatte, seinem Blick standzuhalten. Sie presste das Buch nur weiter an sich. Ihre Gedanken tobten immer noch wild hinter ihrer Stirn, und sie hätte in diesem Moment zehn Jahre ihres Lebens dafür gegeben, auch nur auf eine der tausend Fragen, die sie quälten, eine Antwort zu finden.

»Du beanspruchst das Buch also für dich?«, fuhr ihr Vater fort. »Nur zu. Nimm einen Stift und fang an.« Er lachte böse und deutete auf Theresa. »Deine Freundin hat mir vorgeworfen, ich wollte Gott spielen. Willst du jetzt dasselbe tun?« Er schüttelte heftig den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten. »Du weißt, dass du nicht damit umgehen kannst, Leonie. Du würdest nur Schaden damit anrichten.«

Und das Schlimmste war, dass er damit Recht hatte. Leonie gestand sich ein, noch nicht ein einziges Mal daran gedacht zu haben, was sie eigentlich mit dem Buch anfangen würde, sollte es tatsächlich irgendwie in ihren Besitz gelangen. Ihr Vater hatte Recht. Selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hatte - sie konnte Millionen und Abermillionen Veränderungen, die er bereits vorgenommen hatte, nicht rückgängig machen. Alles, was sie konnte, war noch mehr Schaden anrichten.

»Sei vernünftig, Leonie«, drängte ihr Vater. Er deutete auf Theresa, dann auf Frank. »Von deiner Freundin da habe ich nichts anderes erwartet und von diesem romantischen jungen Dummkopf auch nicht. Aber von dir erwarte ich mehr. Du weißt, dass ich Recht habe. Du kannst nichts mit dem Buch anfangen.«

Leonie nickte zögernd. »Das muss ich auch nicht«, antwortete sie. Plötzlich war alles ganz klar, und sie fragte sich, wieso sie nicht gleich auf die einzige mögliche Lösung gekommen war, die doch so deutlich auf der Hand lag.

»Was meinst du damit?«, fragte Vater misstrauisch.

Leonie antwortete nicht, sondern trat langsam auf Theresa zu. In den Augen der jungen Frau erschien ein überraschter Ausdruck, aber da war noch mehr. Etwas, das Leonie verwirrte und sogar alarmiert hätte, wäre sie nicht viel zu durcheinander gewesen, um an irgendetwas anderes zu denken als an das Buch in ihren Armen und die schreckliche Verantwortung, die sein Besitz bedeutete. »Ich gebe es dir zurück«, erklärte sie. »Es hat immer dir gehört und es soll dir auch weiter gehören. Ich will es nicht.«

Theresas Augen leuchteten auf und hinter Leonie sog ihr Vater scharf und fast entsetzt die Luft ein. »Was tust du da?!«, keuchte er. »Leonie!«

»Nimm es«, sagte Leonie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass das Buch in ihren Armen eine Tonne wog. »Nimm es zurück«, sagte sie noch einmal.

Theresa streckte die Arme nach dem Buch aus, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und sah sie sehr ernst und durchdringend an. »Bist du sicher?«, fragte sie, machte aber auch gleichzeitig eine rasche, abwehrende Handbewegung, als Leonie sofort antworten wollte. »Ich meine: Bist du wirklich sicher, dass du das auch willst? Du weißt, dass ich nicht das bin, was du im Moment in mir siehst.«

Natürlich war sie das nicht. Sie sah aus wie Theresa, sie sprach wie Theresa und bewegte sich wie Theresa, aber Leonie hatte schließlich mit eigenen Augen gesehen, wer sie wirklich war.

»Ich bin sicher«, antwortete sie. Wenn sie sich jemals über etwas völlig sicher gewesen war, dann in diesem Moment. Ihr Vater hatte vollkommen Recht, wenn auch auf eine gänzlich andere Weise, als er selbst annehmen mochte: Sie war dieser entsetzlichen Verantwortung nicht nur nicht gewachsen, sie wollte sie nicht. Um nichts in der Welt. »Nimm es!«, bat sie. »Ich will, dass es dir gehört.«

Hinter ihr ächzte ihr Vater in schierem Entsetzen. »Leonie! Ich flehe dich an! Du weißt ja nicht, was du tust!«

Aber sie hatte noch niemals etwas so genau gewusst wie jetzt. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, um ihren Entschluss zu bekräftigen, und streckte die Arme aus, in denen sie das Buch hielt. Theresa griff jedoch auch jetzt noch nicht danach, sondern sah sie abermals für eine endlose Sekunde lang durchdringend an und fragte dann mit leiser, sehr ernster Stimme: »Und es ist wirklich dein freier Entschluss? Du gibst mir das Buch und damit die Macht, es zu ändern?«

»Ja«, antwortete Leonie.

Theresa schloss für eine Sekunde die Augen. Ein Ausdruck unendlicher Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit, dann griff sie langsam, mit einer fast feierlichen Bewegung nach dem Buch, nahm es Leonie aus den Armen und presste es auf die gleiche Weise an sich wie Leonie zuvor, als wäre es der kostbarste Schatz der Welt, »Danke«, sagte sie.

Aber sie sagte es nicht mehr mit Theresas Stimme. Sie trat einen Schritt zurück, dann einen zweiten, bis sie genau zwischen Wohlgemut und Fröhlich stand, und ihre Gestalt begann auf unheimliche Weise zu... zerfließen. Ihre Umrisse wurden unscharf, flackerten, setzten sich neu zusammen, und es vergingen nur wenige Augenblicke, bis Leonie nicht mehr in Theresas vertrautes Gesicht blickte.

Aber auch nicht in das ihrer Großmutter.

Hinter ihr keuchte ihr Vater vor Entsetzen auf, und auch Leonie taumelte zurück, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen, und starrte die Gestalt, die zwei Schritte vor ihr stand und das Buch an sich drückte, aus hervorquellenden Augen an. Ihr Denken setzte für einen Moment aus, und ihr war, als würde sie innerlich zu Eis erstarren. Sie wusste, wem sie gegenüberstand, aber sie weigerte sich einfach es zu glauben.

»Ich danke dir«, sagte der Archivar.

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