Sie sah ihre Eltern erst zum Abendessen wieder, das nicht nur in angespannter, wortkarger Atmosphäre stattfand (was in letzter Zeit nichts Neues war), sondern auch gerade mal zehn Minuten dauerte, bis Leonie sich unter einem fadenscheinigen Vorwand zurückzog und wieder nach oben ging. Ihr Zimmer kam ihr so still und abweisend vor wie eine Gruft; und auch ebenso leer. Selbst der kleine Schuhkarton auf dem Schreibtisch war verwaist. Conan hatte sich den ganzen Tag über nicht blicken lassen, sodass Leonie schon angefangen hatte sich Sorgen um die Maus zu machen - oder es zumindest ernsthaft getan hätte, hätte sie am Morgen nicht mit eigenen Augen gesehen, dass ihr kleiner Freund ganz gut in der Lage war, sich seiner Haut zu wehren; genauer gesagt: seines Fells. Wenn sie sich um einen der vierbeinigen Bewohner des Hauses Sorgen machen musste, dann vermutlich eher um Mausetod.
Dennoch vermisste sie Conan. Die Anzahl der lebenden Wesen in ihrer Umgebung, denen sie wirklich vertrauen konnte, bewegte sich in letzter Zeit zu drastisch nach unten, als dass sie es sich hätte leisten können, auch nur noch einen einzigen Freund zu verlieren.
Sogar wenn es nur eine Maus war.
Mit dem Gedanken an Conan schlief sie ein, und da sie auch mit demselben Gedanken wieder aufwachte, merkte sie im ersten Moment nicht einmal, dass sie geschlafen hatte und schon gar nicht wie lange. Aber die Leuchtziffern des Digitalweckers behaupteten, dass es schon ein gutes Stück nach Mitternacht war.
Dafür spürte sie umso deutlicher, dass sie nicht von selbst erwacht war. Etwas hatte sie geweckt: ein Geräusch, nicht einmal sehr laut, aber so fehl am Platz, dass sie allein diese Disharmonie aus dem Schlaf gerissen hatte. Und es hielt immer noch an. Etwas wie ein Kratzen - vielleicht nicht ganz, aber dieser Vergleich schien es immer noch am besten zu treffen -, das von unten heraufdrang.
Leonie schwang die Beine aus dem Bett, setzte sich auf und lauschte einige Minuten mit angehaltenem Atem. Wie oft, wenn man versuchte, sich auf ein ganz bestimmtes Geräusch zu konzentrieren, schien es im ersten Moment eher leiser zu werden, aber es war eindeutig da und es gehörte ganz eindeutig nicht hierher. So vorsichtig wie möglich, um nicht ihrerseits ein verräterisches Geräusch zu machen, stand sie auf und schlich zur Tür, aber sie hatte gerade die halbe Strecke zurückgelegt, als sie ein weiteres Geräusch hörte, diesmal vom Fenster her. Alarmiert drehte sie sich um und stieß einen kleinen erschrockenen Schrei aus.
Vor dem Fenster hockte eine buckelige, schwarze Gestalt, die sie aus glühenden Augen anstarrte.
Dann verging der erste Augenblick des Schreckens. Die glühenden Augen erloschen und da war auch kein buckeliges Monster mehr. Der Schatten blieb, aber es war jetzt nur noch der Umriss eines Menschen, der - beunruhigend genug - auf dem Garagendach draußen hockte, von dem aus man nur zu ihrem und dem Fenster des Zimmers gelangen konnte, das ihr kleiner Bruder vor seinem Tod bewohnt hatte und das ihre Mutter vor ein paar Jahren schweren Herzens leer geräumt hatte. Der Schemen saß vor ihrem Fenster und sah zu ihr herein. Seltsamerweise hatte sie überhaupt keine Angst.
Das Geräusch wiederholte sich, und als Leonie jetzt genauer hinsah, war seine Ursache auch ganz deutlich: Die Gestalt draußen klopfte mit den Fingern leise gegen ihre Scheibe und begehrte auf diese Art offensichtlich Einlass.
Unter normalen Umständen hätte Leonie den Teufel getan, jemanden, der vom Garagendach gegen ihre Fensterscheibe klopfte - noch dazu mitten in der Nacht! -, hereinzulassen. Aber sie empfand keinerlei Angst, sondern war sich im Gegenteil ganz sicher, dass sie von dem Schatten dort draußen nichts zu befürchten hatte. Ihre Schritte stockten nicht einmal, als sie zum Fenster ging und es öffnete. Der Schatten glitt mit einer fließenden Bewegung zu ihr herein und sprang zu Boden, ohne auch nur das mindeste Geräusch zu verursachen. Gleichzeitig hob er die Arme, um die schwarze Kapuze zurückzustreifen, die sein Gesicht bisher verborgen hatte.
»Maus!«, rief Leonie überrascht. »Was tust du denn hier?«
»Ich bin gekommen, um Euch zu warnen, edles Fräulein«, antwortete der magere Junge. Selbst in dem praktisch nicht vorhandenen Licht hier drinnen konnte Leonie die Angst erkennen, die seine Augen erfüllte. »Bitte schlagt mich nicht. Ich bin nicht hier, um Euch etwas zuleide zu tun oder zu stehlen.« Er hob schützend die Hände vors Gesicht und wäre ganz bestimmt ein paar Schritte vor ihr zurückgewichen, hätte er nicht sowieso schon mit dem Rücken an der Wand gestanden.
»Dann hättest du wohl auch kaum angeklopft, oder?«, fragte Leonie. »Nimm die Hände runter. Ich habe nicht die Absicht, dich zu schlagen. Was soll das heißen: mich zu warnen? Wovor?«
Maus nahm die Hände zwar herunter, aber nicht ganz, und die Angst verschwand auch nicht aus seinen Augen. »Ihr müsst gehen, edles Fräulein«, stieß er hervor. »Rasch, bevor die anderen hier sind. Ich fürchte, sie könnten Euch sehr wohl etwas zuleide tun.«
»Welche anderen?«, fragte Leonie. »Und hör mit diesem dämlichen edles Fräulein auf! Mein Name ist Leonie. Also: Von welchen anderen sprichst du?«
Maus schluckte ein paarmal, um seine Angst niederzukämpfen, bevor er antwortete. »Meister Bernhard, Maria, Thomas und seine Schwester Luise.«
Die drei letzten Namen sagten Leonie nichts, aber sie nahm an, dass Maus von der kompletten Gauklertruppe sprach, die sie im Burgkeller und danach in der Scheune getroffen hatte. »Sie sind unterwegs hierher?«, vergewisserte sie sich. »Aber warum?«
»Das weiß ich nicht, ed... Leonie.« Leonie konnte hören, wie schwer es dem Jungen fiel, ihren Namen auszusprechen. »Die fremde Dame hat mit Meister Bernhard gesprochen, nicht mit mir. Sie hat ihm einen Auftrag gegeben. Ich weiß nicht welchen, aber es geht um Euren Vater. Und etwas, das sich in seinem Besitz befindet.«
»Das Buch!«, rief Leonie erschrocken.
»Ich weiß es nicht«, wiederholte Maus. »Aber ich habe gehört, wie Meister Bernhard über Euch gesprochen hat.«
»Über mich? Was hat er gesagt?«
»Er ist ein schlechter Mensch«, fuhr Maus fort, ohne ihre Frage zu beantworten. »Die edle Dame hat gesagt, dass Euch und den Euren nichts geschehen darf, aber ich kenne Meister Bernhard. Habt Ihr nicht bemerkt, wie er Euch angesehen hat, als Ihr bei uns in der Scheune wart?«
Leonie verneinte, aber Maus nickte nur noch heftiger. »Er will das Gold der fremden Dame nehmen, aber er nimmt sich auch sonst alles, was er haben will. Ich habe das schon erlebt. Schon oft.«
»Und du?«, fragte Leonie. »Was hast du damit zu tun?«
»Nichts«, erwiderte Maus hastig, dann, ohne sie anzusehen, verbesserte er sich: »Ich... soll Euer Schloss auskundschaften. Und ich... ich kann Türen öffnen.« Er klang verlegen, aber zugleich schwang auch ein hörbarer Stolz in seiner Stimme mit. »Es gibt kein Schloss, das ich nicht öffnen kann.«
»Du meinst, eure kleine Zirkusnummer ist nur Tarnung?«, sagte Leonie stirnrunzelnd. »In Wahrheit seid ihr nichts anderes als eine Bande von Dieben und Einbrechern? Und du gehörst dazu?«
»Aber ich muss es tun«, verteidigte sich Maus. »Meister Bernhard schlägt mich, wenn ich mich weigere. Ich bin klein genug, um durch jedes Fenster zu passen. Nur deshalb hat er mich überhaupt bei sich aufgenommen.«
»Maria ist also gar nicht deine Mutter?« Maus schüttelte den Kopf, und Leonie fuhr fort: »Und wieso bleibst du bei ihnen, wenn er dich zwingt, krumme Dinger zu drehen, und du zum Lohn auch noch Prügel bekommst?«
»Aber wo soll ich denn hin?«, fragte Maus. »Niemand gibt einem Bettler wie mir etwas. Ich würde verhungern oder in den Kerker geworfen.« Er schüttelte hastig den Kopf, als Leonie etwas sagen wollte. »Dazu ist jetzt wirklich keine Zeit. Ihr müsst Euch in Sicherheit bringen, bevor die anderen hier sind!«
»Weglaufen und meine Eltern im Stich lassen?« Leonie schüttelte heftig den Kopf. »Bestimmt nicht!«
»Aber was wollt Ihr denn tun?«
»Na was wohl?«, fragte Leonie. »Ich rufe die Polizei. Dein Meister Bernhard und seine Freunde werden sich wundern.« Sie trat an den Schreibtisch, hob den Hörer ab und wählte die ersten beiden Ziffern der Notrufnummer, bevor ihr auffiel, dass der Apparat stumm blieb. Abermals hängte sie ein, versuchte es noch einmal und sogar noch ein drittes Mal, bevor sie enttäuscht auflegte.
»Tot«, seufzte sie.
Maus sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein. »Wer ist tot?«
»Niemand«, antwortete Leonie. »Die Leitung, Dummkopf. Hör endlich mit dem Theater auf. Wir sind hier nicht im Burgkeller.«
Maus verstummte gehorsam, sah aber zugleich so erschrocken und verstört aus, dass Leonie ihre groben Worte augenblicklich schon wieder bereute. Vielleicht hatte der arme Junge ja tatsächlich noch nie im Leben ein Telefon gesehen. Auch wenn das eigentlich nur bedeuten konnte, dass...
Leonie verscheuchte den Gedanken. Im Augenblick hatte sie ganz andere Sorgen. Dass das Telefon genau in diesem Moment ausfiel, konnte einfach kein Zufall sein. Aber so leicht gedachte sie sich auch nicht kalt stellen zu lassen.
»Wo wollt Ihr hin?«, fragte Maus erschrocken, als sie herumfuhr und zur Tür eilte.
»Vaters Handy«, antwortete Leonie grimmig. »Er lässt es immer in der Jackentasche unten in der Garderobe. Wollen doch mal sehen, ob sie die Funkverbindung auch durchgeschnitten haben.«
»Aber das dürft Ihr nicht!«, keuchte Maus. Mit einer Quirligkeit, die Leonie nie und nimmer erwartet hätte, sprang er hinter ihr her, packte sie am Arm und versuchte sie zurückzuhalten, aber er hatte seinen Spitznamen offensichtlich nicht umsonst. Leonie zerrte ihn einfach hinter sich her, riss mit der anderen Hand die Tür auf...
... und schlug einen halben Salto rückwärts, der sie auf das Bett schleuderte, als etwas mit furchtbarer Wucht ihr Gesicht traf.
Für einen Moment sah sie buchstäblich Sterne. Sie schmeckte Blut und hörte für zwei oder drei Sekunden nichts als das Hämmern ihres Herzens und das Rauschen ihres Blutes in den Ohren, und gleichzeitig spürte sie, wie sich unter ihren Gedanken ein bodenloser schwarzer Abgrund auftat, in den sie hineinzustürzen drohte. Nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es ihr, nicht das Bewusstsein zu verlieren und die Augen zu öffnen.
Vielleicht war das gar keine so gute Idee. Das Erste, was sie sah, als sich die wirbelnden Schleier vor ihren Augen lichteten, war ein schmutziges Gesicht mit einem struppigen, schwarzen Vollbart, das kaum eine Handbreit über ihrem schwebte. Meister Bernhard kniete so über ihr, dass er ihre Arme mit den Knien auf das Bett nagelte, und hatte den rechten Arm gehoben, um sie noch einmal zu schlagen, sollte sie sich zur Wehr setzen. Leonie hatte allerdings nicht vor, etwas derart Dummes zu tun. Ihr dröhnte immer noch der Schädel von der ersten Ohrfeige, die Bernhard ihr versetzt hatte.
»Da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen, wie?«, fauchte Bernhard. »Wozu bist du eigentlich zu gebrauchen, du nichtsnutziger Bengel? Wirst nicht einmal mit einem Mädchen fertig!«
Die Worte galten Maus, der ebenfalls zu Boden gestürzt war und sich gerade wieder benommen in die Höhe arbeitete. Leonie drehte den Kopf in seine Richtung (der einzige Körperteil, den sie im Moment überhaupt bewegen konnte) und sagte so verächtlich, wie es ihr nur möglich war: »Mit dir kleiner Ratte rechne ich noch ab, verlass dich drauf!«
Bernhard schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, wenn auch nicht so hart wie zuvor. »Schweig!«, zischte er.
Leonie schwieg. Offensichtlich gehörte Bernhard zu den Menschen, denen es Spaß machte, andere zu schlagen, und sie hatte keine besondere Lust, ihm auch noch einen Vorwand dazu zu liefern. Zugleich hatte sie aber auch das verwirrende Gefühl, durchaus mit ihm fertig werden zu können. Meister Bernhard war mindestens doppelt so schwer wie sie, und sie hätte Maus’ Erklärung nicht gebraucht, um zu wissen, dass er jede Menge Erfahrung in Schlägereien hatte. Trotzdem hatte sie keine allzu große Angst vor ihm. Sie wusste mit einem Mal sogar, was sie tun musste, um sich nicht nur aus dieser scheinbar ausweglosen Lage zu befreien, sondern ihm auch eine wirklich böse Überraschung zu bereiten. Dabei hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie geprügelt und verachtete Gewalt zutiefst.
Dann wurde ihr plötzlich klar, woher dieses Wissen stammte: In einer der zahllosen Identitäten, die ihr Vater in seinem Versuch erschaffen hatte, sich eine perfekte Tochter zu basteln, hatte sie mehrere Jahre lang koreanische Kampfkunst geübt und es dabei zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Ihr Vater hatte dieses Kapitel im Buch des Schicksals ebenso wieder gelöscht wie etliche andere, unzulängliche Versuche, die Wirklichkeit zu verändern, aber sie erinnerte sich jetzt an jede einzelne dieser verschiedenen Realitäten; und damit auch an den ersten Dan im Taekwondo, den sie erworben hatte. Ihr fielen auf Anhieb ein halbes Dutzend Möglichkeiten ein, Meister Bernhard das Leben schwer zu machen, obwohl er auf ihr kniete. Aber sie verzichtete darauf. Vielleicht war es ja klüger, wenn sie nicht alle ihre Trümpfe auf einmal ausspielte.
Meister Bernhard deutete ihr Schweigen offensichtlich falsch, denn er funkelte sie nur noch einen Moment lang drohend an und schwang sich dann von ihr herunter, wobei er sein ganzes Körpergewicht mit den Knien abstützte; wahrscheinlich ganz und gar nicht zufällig. Leonie keuchte vor Schmerz, aber sie blieb trotzdem noch einen Herzschlag lang liegen und richtete sich auch dann nur sehr langsam und umständlich wieder auf.
Bernhard hatte sich mittlerweile Maus zugewandt und versetzte ihm einen derben Stoß, der ihn um ein Haar erneut zu Boden geschleudert hätte. »Jetzt steh hier nicht nutzlos rum und halt Maulaffen feil«, fuhr er ihn an. »Geh nach unten und tu das, wofür ich dich bezahle!«
Maus fand sein Gleichgewicht mit Mühe wieder und fuhr hastig zur Tür herum, aber nicht ohne Leonie zuvor einen raschen dankbaren Blick zugeworfen zu haben. Leonie bezweifelte aber, dass ihre kleine Lüge ihm viel nutzen würde. So wie sie Bernhard einschätzte, würde er ihn trotzdem grün und blau schlagen, einfach nur, weil es ihm Freude bereitete.
»Was... was wollen Sie von mir?«, fragte Leonie mit perfekt gespielter Angst in der Stimme.
»Nicht das, wonach mir im Augenblick eigentlich der Sinn stünde, edles Fräulein«, antwortete Bernhard hämisch. »Oh, verzeiht - Ihr legt ja keinen Wert auf solche Förmlichkeiten. Steh auf.« Leonie gehorchte hastig, wich einen halben Schritt vor ihm zurück und verlagerte gleichzeitig ihr Körpergewicht auf das linke Bein; nur für den Fall, dass es sich Bernhard doch noch anders überlegen und zudringlich werden würde. Bernhard musterte sie jedoch nur noch einen Atemzug lang gierig, dann deutete er mit einer befehlenden Geste zur Tür.
»Geh! Und keine Dummheiten! Ich kann schneller laufen als Maus.«
Leonie verließ gehorsam das Zimmer und ging die Treppe hinunter, dicht von Bernhard gefolgt. Im ganzen Haus brannte Licht und sie hörte Geräusche und aufgeregte Stimmen aus dem Arbeitszimmer.
Auch dieser Raum war hell erleuchtet, und als Leonie ihn halb betrat und halb von Bernhard hineingestoßen wurde, bot sich ihr ein Anblick, der eine Flamme aus roter Wut in ihr emporlodern ließ. Ihre Mutter hockte mit angezogenen Knien auf dem Boden und sah angstvoll zu einer der beiden Frauen hoch, die sich drohend über ihr aufgebaut hatte. Bücher, Aktenordner und Papiere lagen überall in wirrer Unordnung herum, und die zweite Frau war damit beschäftigt, auch noch den Rest aus den Regalen zu reißen und alles zu durchwühlen. Der zweite Mann aus Bernhards Truppe hatte ein großes Messer gezückt und hielt ihren Vater damit in Schach. Offenbar hatte die Szene schon eine handgreifliche Vorgeschichte gehabt, denn Vaters Gesicht war leicht angeschwollen, und er presste ein Taschentuch unter seine Nase, das fast vollkommen mit dunkelrotem Blut vollgesogen war.
Bernhard beförderte sie mit einem unsanften Stoß in die gleiche Ecke, in der ihre Mutter saß. Es gelang Leonie mit einiger Mühe, sich auf den Beinen zu halten, und die Frau, die ihre Mutter bewachte, machte eine drohende Geste. Offenbar war sie der Meinung, sie beide gleichzeitig in Schach halten zu können. Leonie freute sich schon auf den Moment, in dem sie ihren Irrtum begreifen würde. Aber noch war es nicht so weit. Statt sich auf sie zu stürzen, spielte Leonie perfekt die Verängstigte und presste sich eng mit dem Rücken gegen die Wand.
»Beeil dich, Luise«, rief die Frau, die Leonie und Mutter bewachte. »Wir haben nicht alle Zeit der Welt!«
»Aber hier ist nichts!«, fauchte die ältere der beiden Frauen und fegte mit einer einzigen wütenden Handbewegung auch noch die letzten Bücher vom Regal. »Wo ist das Gold? Euer Silber und das wertvolle Besteck? Der Schmuck?«
»So etwas haben wir nicht«, sagte Leonie.
Maria ballte drohend die Faust und tat so, als wollte sie sie schlagen. »Lüg mich nicht an, Kleine!«, zischte sie drohend. »Wer ein solches Schloss bewohnt, der hat auch Schätze. Wenn du dein hübsches Gesicht behalten willst, dann solltest du uns lieber verraten, wo ihr sie versteckt.«
»Hör auf damit, Maria«, schnauzte Bernhard. »Du rührst sie nicht an, hörst du?«
Die Frau schenkte ihm ein verächtliches Lächeln, ließ den Arm aber gehorsam wieder sinken. »Keine Sorge. Ich würde nichts beschädigen, was du vielleicht noch brauchst.«
Bernhard quittierte die Bemerkung mit einem bösen Blick und wandte sich dann an Maus. »Worauf wartest du?«, fragte er mit einer herrischen Geste auf den Safe. »Tu deine Arbeit. Oder muss ich erst nachhelfen?«
Maus wandte sich gehorsam um und ging vor dem Geldschrank in die Hocke. Leonie konnte sein Gesicht nur von der Seite her sehen, obwohl er die Kapuze zurückgeschlagen hatte, aber sie sah trotzdem den verwirrten, fast schon hilflosen Ausdruck darauf. Er hatte einen Bund mit zahllosen unterschiedlichen Dietrichen unter dem Umhang hervorgezogen, aber der Anblick unterstrich seine Hilflosigkeit nur noch.
»Was ist?«, raunzte Bernhard. »Worauf wartest du?«
»Ich... ich habe so etwas noch nie gesehen«, murmelte Maus.
»Was soll das heißen?«, herrschte Bernhard ihn an. »Hast du dich nicht damit gebrüstet, jedes Schloss aufzubekommen?«
»Aber da ist überhaupt kein Schloss!«, verteidigte sich Maus. »Seht doch selbst! Da ist ja nicht einmal ein Schlüsselloch!«
Leonie konnte nur noch mit einiger Mühe ein schadenfrohes Grinsen unterdrücken. Maus hatte ganz offensichtlich noch nie im Leben einen Safe gesehen; und schon gar kein Zahlenschloss. Bernhard verfluchte ihn lauthals, stieß ihn mit einer groben Bewegung beiseite und beugte sich vor, um die Tresortür einer genaueren Musterung zu unterziehen.
»Was ist denn das für ein Teufelsding?«, knurrte er. Dann richtete er sich wütende auf und wandte sich an Leonies Vater. »Wie funktioniert diese Vorrichtung? Wo ist das Schloss?«
»Es gibt kein Schloss«, antwortete Vater ruhig. »Jedenfalls keines, das Ihr aufmachen könntet.«
»Dann brechen wir ihn eben auf!«
»Viel Spaß!«, wünschte ihm Vater.
Bernhards Miene verdüsterte sich noch weiter, aber er sagte nichts mehr, sondern fuhr wieder zu dem Geldschrank herum und maß den massiven, mehr als einen Meter messenden Stahlwürfel mit finsteren Blicken. »Dann wirst du ihn eben für uns aufmachen«, entschied er.
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Vater.
Bernhard lachte leise. »Das glaube ich nicht. Und solltet Ihr Euch entscheiden, den Helden spielen zu wollen, Meister Kammer, dann lasst Euch gesagt sein, dass Thomas hier ein wahrer Meister der Überredungskunst ist. Vor allem zusammen mit seinem Freund, dem Messer.«
Vater antwortete nicht, sondern starrte ihn nur trotzig an.
»Oder - und noch viel besser - wir bitten ihn und seinen Freund, sich ein wenig mit Eurer Tochter zu unterhalten«, schlug Bernhard vor. »Maria - bring sie her!«
Leonie fühlte sich grob am Arm gepackt und herumgezerrt. Ihr Vater wollte aufspringen, wurde aber von Thomas so derb zurückgestoßen, dass sein Sessel ächzte, und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Leonie versuchte nicht sich loszureißen, sondern zerrte Maria ganz im Gegenteil mit einem plötzlichen Ruck zu sich heran, wirbelte herum und verlagerte gleichzeitig ihr Gewicht. Und Maria schien wie durch Zauberei den Boden unter den Füßen zu verlieren, segelte mit einem erschrockenen Kreischen durch die Luft und prallte gegen Luise, die sie mit sich zu Boden riss. Thomas fluchte, fuhr herum und riss sein Messer in die Höhe, aber genau darauf hatte Leonie gehofft. Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, trat sie ihm mit solcher Wucht gegen das Handgelenk, dass das Messer in hohem Bogen davonflog. Thomas prallte zurück, umklammerte sein Gelenk und begann vor Wut und Schmerz zu schreien und Leonie wandte sich ihrem letzten verbliebenen Gegner zu. Der gesamte Angriff hatte nicht einmal zwei Sekunden gedauert, und Bernhard stand einfach da, glotzte sie mit offenem Mund an und versuchte vergeblich zu begreifen, was geschehen war.
Leonie gedachte nicht, ihm Zeit dafür zu geben. Der Anlauf war vielleicht ein bisschen kurz, aber sie stieß sich dafür mit umso größerer Kraft ab, ließ einen spitzen Kampfschrei hören und flog fast waagerecht auf Bernhard zu.
Es war ein Tritt wie aus dem Lehrbuch: Ihr linker Fuß traf Bernhards Brust, und nur einen Sekundenbruchteil später kollidierte ihr rechter Fuß mit so schrecklicher Wucht mit Bernhards Unterkiefer, dass sie meinte, seine Zähne brechen zu hören. Noch während der Gaukler zurücktaumelte, prallte Leonie auf dem Boden auf, kam mit einer eleganten Rolle wieder auf die Füße und setzte ihm nach. Nicht dass sie es wirklich für notwendig hielt. Der Sprungtritt musste Bernhard wie einen Baum umgefällt haben.
Jedenfalls hätte er es sollen.
Unglückseligerweise stand Meister Bernhard nach wie vor fest auf beiden Füßen. Sein Mund blutete und auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Schmerz, völliger Fassungslosigkeit und Wut, aber er weigerte sich, einfach umzufallen.
Doch was nicht war, konnte ja noch kommen. Leonie sprang ihn an, versetzte ihm zwei harte Schläge mit den Handballen gegen die Brust, die ihm die Luft aus den Lungen trieben, und ließ einen harten Tritt gegen sein Knie folgen. Bernhard grunzte vor Schmerz - und versetzte ihr einen Schlag mit dem Handrücken, der sie quer durch das Zimmer und gegen ein Bücherregal schleuderte, das unter ihrem Aufprall in Stücke brach. Unter einem Hagel aus Büchern, losen Blättern und Holzsplittern brach sie zusammen und kämpfte ein zweites Mal innerhalb weniger Minuten gegen die Bewusstlosigkeit, die sie in ihre schwarze Umarmung schließen wollte.
Diesmal war es Bernhard, der sie ins Bewusstsein zurückriss - und zwar buchstäblich. Mit einem brutalen Ruck zerrte er sie in die Höhe, stieß sie gegen die Wand und versetzte ihr drei Ohrfeigen, die sich anfühlten, als würde ihr die Haut in Streifen von den Wangen gerissen. Ganz instinktiv versuchte sich Leonie zu wehren. Sie spürte, wie ihre Fingernägel durch Bernhards Gesicht schrammten und tiefe Furchen darin hinterließen.
Bernhard boxte sie in den Magen. Es war kein leichter Schlag, nicht nur ein bloßer Reflex als Antwort auf ihre Kratzattacke, sondern ein brutaler, mit aller Macht geführter Hieb, der mit grausamer Wucht in ihrem Leib explodierte; und der Schmerz war das Entsetzlichste, was sie jemals erlebt hatte.
Sie war noch nie geschlagen worden, nicht so. Ihre Beine gaben einfach unter ihr nach, sie fiel auf die Knie, krümmte sich und wäre nach vorne gestürzt, hätte Bernhard nicht die Hand in ihr Haar gekrallt und ihren Kopf zurückgerissen. Leonie konnte sich nicht wehren. Sie konnte nicht einmal mehr schreien, obwohl der Schmerz immer schlimmer wurde statt abzunehmen, denn der Hieb hatte ihr zugleich die Möglichkeit genommen, zu atmen. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie bekam keine Luft. Alles rings um sie herum begann durcheinander zu stürzen. Geräusche, Bilder und Empfindungen schossen ineinander, und sie übergab sich nur deshalb nicht sofort auf Bernhards Schuhe, weil ihre Innereien dafür viel zu verkrampft waren. Und die Atemnot wurde immer qualvoller. Leonie begriff, dass sie ernsthaft in Gefahr war, zu ersticken.
Mit einem Mal schien irgendetwas in ihr zu zerbrechen. Der Schmerz war beinahe noch schlimmer als alles, was sie zuvor erlebt hatte, aber jetzt konnte sie wenigstens wieder atmen. Leonie rang mit einem schrecklichen rasselnden Laut nach Luft und fiel schwer vornüber aufs Gesicht, als Bernhard endlich ihr Haar losließ. Als sie auf die Seite rollte und sich krümmte, versetzte er ihr noch einen Fußtritt gegen die Oberschenkel, aber das spürte sie kaum noch.
Leonie konnte hinterher nicht sagen, wie lange es gedauert hatte. Irgendwann konnte sie wieder Luft holen, ohne dass es sich anfühlte, als versuchte sie Rasierklingen zu atmen, und nicht lange danach begann auch der Schmerz in ihren Eingeweiden ganz allmählich nachzulassen. Sie ließ noch eine kurze Weile verstreichen, aber schließlich öffnete sie behutsam die Augen und versuchte mit zusammengebissenen Zähnen sich hochzustemmen. Anscheinend war doch mehr Zeit verstrichen, als sie geglaubt hatte: Ihre Mutter saß zwar immer noch zusammengekauert in der Ecke und starrte mit leerem Blick vor sich hin, aber ihr Vater hockte vor dem Safe und drehte mit fliegenden Fingern am Zahlenrad. Thomas lehnte mit verzerrtem Gesicht daneben an der Wand, umklammerte sein geprelltes Handgelenk und starrte sie hasserfüllt an.
Auch Bernhard war nicht entgangen, dass Leonie den Kampf gegen die Ohnmacht gewonnen hatte. »Pass auf sie auf«, raunzte er Maus an. »Vielleicht bist du ja jetzt in der Lage, ihrer Herr zu werden.«
Maus war mit zwei, drei schnellen Schritten neben ihr und ließ sich in die Hocke sinken. Sein Blick war voller Sorge und Mitleid, aber es spiegelte sich auch etwas darin, das Leonie für Bewunderung gehalten hätte, wäre ihr auch nur der mindeste Grund für ein solches Gefühl eingefallen.
»Geht es?«, fragte er besorgt.
»Ich habe mich schon schlechter gefühlt«, gab Leonie gepresst zurück. Selbst das Sprechen tat ihr weh. »Ich weiß nur nicht mehr wann.«
Maus blinzelte verständnislos. Sein Sinn für Sarkasmus schien nicht sonderlich ausgeprägt zu sein. Leonie fiel erst jetzt auf, als sie sein Gesicht so nahe vor ihrem sah, dass er eine frische, noch nicht einmal ganz verkrustete Schramme auf dem Nasenrücken hatte.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er nun in eindeutig bewunderndem Ton. »Wie hast du das gemacht?«
»Was?«, fragte Leonie. »Mich verprügeln lassen?«
»So zu kämpfen!«, antwortete Maus. »Ich habe niemals ein Mädchen so kämpfen sehen, oder eine Frau. Nicht einmal Maria, und die hat schon so manchen Mann windelweich geprügelt!«
»Gar kein Problem«, antwortete Leonie gepresst. »Ein paar Jahre Training, ein Videorekorder und jede Menge Jackie-Chan-Filme.« Sie versuchte aufzustehen, aber irgendetwas in ihrem Leib zog sich zu einem Ball aus reinem Schmerz zusammen und sie sank mit einem Keuchen zurück. »Aber anscheinend noch nicht genug.«
Die Safetür glitt mit einem seufzenden Laut auf, und Bernhard versetzte ihrem Vater einen Stoß, der ihn in seiner unsicheren hockenden Position aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden warf. Ohne ihn weiter zu beachten, beugte sich Bernhard vor und riss das Buch aus dem Safe.
»Das ist es!«, rief er triumphierend. Er warf Thomas das Buch zu, doch dessen geprelltes Handgelenk versagte ihm den Dienst. Er fing es zwar auf, ließ es aber augenblicklich wieder fallen, und der schwere Band donnerte mit solcher Wucht auf seine dünnen Stoffschuhe, dass er am nächsten Morgen garantiert blaue Zehen haben würde. Wäre Leonie in der Verfassung gewesen, zu lachen, hätte sie es getan.
»Dummkopf!«, schimpfte Bernhard. »Gib Acht! Dieses Buch ist wertvoll. Sollen wir unserer Auftraggeberin etwa beschädigte Ware übergeben?« Er sah aus verärgert blitzenden Augen zu, wie Thomas hastig in die Hocke ging und das schwere Buch mit einiger Mühe aufhob, dann beugte er sich abermals vor und sah in den Safe. Er nahm die zwei Aktenordner heraus, die Vater darin aufbewahrte, klappte sie auf und warf sie nach einem kurzen Blick achtlos zu Boden. Zu Leonies nicht geringer Verblüffung verfuhr er mit dem ansehnlichen Stapel Bargeld, das er als Nächstes aus dem Safe nahm, genauso. Er blätterte die Scheine nur rasch durch und ließ sie dann einfach fallen. Jetzt befand sich nur noch Vaters Pistole in dem Tresor.
Genau das hatte ihnen jetzt noch gefehlt, dachte Leonie sarkastisch. Dass dieser Irre auch noch eine Waffe hatte - noch dazu eine geladene Pistole!
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nahm Bernhard die Waffe aus dem Geldschrank, drehte sie gute dreißig Sekunden lang nachdenklich in der Hand...
... und ließ sie dann mit einem Achselzucken ebenfalls fallen!
»Tand!«, schnaubte er. »Wertloses Spielzeug! Wo habt Ihr Eure anderen Schätze? Niemand baut einen solchen Schrank aus Eisen, nur um ein Buch und wertloses Spielzeug darin aufzubewahren.« Die Frage galt Leonies Vater, der sich halb auf einen Arm aufgerichtet hatte, es aber nicht wagte, aufzustehen.
»Mehr haben wir nicht«, antwortete er.
»Wer soll das glauben?«, fragte Bernhard.
»Glaub doch, was du willst«, entgegnete Vater trotzig. »Und wenn ihr das ganze Haus auseinander nehmt, ihr werdet nicht mehr finden.«
»Lügst du auch nicht?«, fragte Bernhard. Er sah Leonies Vater einen Atemzug lang misstrauisch an und beantwortete dann seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln. »Nein, du lügst nicht. Ein Mann, der starr vor Angst zusieht, wie seine Tochter geschlagen wird, der lügt nicht, wenn er vor mir auf den Knien liegt. Ihr habt wohl nichts anderes mehr.« Er seufzte. »Dann haben wir ein Problem.«
»Ihr habt doch, weshalb ihr gekommen seid«, rief Vater. »Also nehmt dieses verdammte Buch und geht!«
»Das reicht aber nicht«, sagte Bernhard. »Das Buch ist nicht für uns. Wir werden für unsere Arbeit bezahlt, aber nicht sehr gut. Und wir hatten Unkosten. Wenn Euch also nichts anderes einfällt, um uns zu entschädigen, werden wir wohl Eure hübsche Tochter mitnehmen müssen, fürchte ich. Und Euer Weib wohl auch!«
»Ihr habt versprochen, dass ihr nichts geschieht!«, mischte sich Maus ein.
Bernhard maß ihn mit einem hämischen Blick. »Nur keine Sorge. Thomas und ich lassen dir noch genug übrig, damit auch einer wie du seinen Spaß hat.«
»Wenn du meine Tochter auch nur anrührst, bringe ich dich um«, schrie Vater. »Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«
»Oh, oh«, sagte Bernhard. »Da wird mir ja gleich angst und bange.« Er trat Leonies Vater ohne Warnung ins Gesicht. Vater kippte nach hinten, schlug die Hände vors Gesicht und unterdrückte mit hörbarer Mühe einen Schmerzensschrei. Zwischen seinen Fingern sickerte helles Blut hervor.
Leonie warf sich mit einer verzweifelten Bewegung nach vorne, doch sie hatte Bernhard abermals unterschätzt. Er fegte sie mit einer fast nachlässigen Geste zur Seite. Leonie rollte hilflos über den Teppich, aber diesmal wenigstens, ohne sich nennenswert wehzutun. Als sie unsanft gegen die Wand knallte, sich auf den Rücken drehte und den Kopf hob, bemerkte sie etwas, das ihr im ersten Moment so unglaublich erschien, dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie vielleicht doch das Bewusstsein verloren hatte und sich das alles nur zusammenfantasierte: Sie war kaum einen halben Meter neben der Pistole zu liegen gekommen, die Bernhard fallen gelassen hatte. Nahe genug, um sie mit einer raschen Bewegung zu ergreifen. Es gab nichts mehr daran zu rütteln: Entweder hatten Bernhard und seine Begleiter ihre Gehirne an der Garderobe abgegeben, bevor sie zu dieser Diebestour aufgebrochen waren - oder sie hatten noch nie zuvor eine Schusswaffe gesehen! Leonie konnte in diesem Moment nicht einmal sagen, welcher Erklärung sie den Vorzug geben sollte.
Es spielte auch keine Rolle. Eine rasche Bewegung reichte und die Geschichte wäre vorbei.
Leonie verlagerte vorsichtig ihr Körpergewicht und wollte sich gerade auf die Waffe zubewegen, als sie einen Blick ihres Vaters auffing. Er schien zu ahnen, was sie vorhatte, und signalisierte ihr mit fast verzweifelten Blicken, es nicht zu tun.
Aber warum nicht?, gab Leonie auf die gleiche lautlose Art zurück, doch die Möglichkeiten der wortlosen Kommunikation waren damit auch praktisch schon erschöpft. Ihr Vater konnte ihr kaum eine zufriedenstellende Auskunft nur mit Blicken geben.
Es war auch gar nicht notwendig. Leonie brauchte nur eine Sekunde, bis ihr klar wurde, warum ihr Vater so entsetzt darauf reagiert hatte, dass sie nach der Pistole greifen wollte. Sie würde sich und ihren Eltern damit keinen Gefallen tun. Sie hatte es ja gerade selbst gedacht: Meister Bernhard hatte nicht die geringste Ahnung, was eine moderne Feuerwaffe war. Sie hätte ihn mit einem ausgewachsenen Schiffsgeschütz bedrohen können, und er hätte nicht einmal begriffen, dass er in Gefahr war. Die einzige Möglichkeit, ihm das klar zu machen, war, die Pistole auch zu benutzen. Und Leonie wusste, dass sie dazu nicht fähig war. Nicht einmal jetzt.
»Also gut, genug Zeit vertrödelt.« Bernhard klatschte in die Hände. »Bindet sie. Wir nehmen sie mit. Alle drei. Vielleicht findet sich ja jemand, der ein Lösegeld für diesen sonderbaren Edelmann ohne Schätze bezahlt.«
Leonie wurde von einer der beiden Frauen grob auf die Füße gerissen, die ihr gleich darauf die Handgelenke so eng auf dem Rücken zusammenband, dass ihr der Schmerz schon wieder Tränen in die Augen trieb. Die andere Frau verfuhr auf ähnliche Weise mit ihrer Mutter, während sich Bernhard um ihren Vater selbst kümmerte. Nach kaum einer Minute waren sie alle drei gefesselt, und Maria versetzte ihr einen groben Stoß, der sie auf die Tür zustolpern ließ.
»Was habt ihr mit uns vor?« Dieses Mal war die Angst in ihrer Stimme nicht gespielt.
Maria lachte hässlich. »Kannst du dir das nicht denken, du hübsches Kind?«, fragte sie. »Ach ja, ich vergaß: Ihr seid ja die Tochter eines Edelmannes und wahrscheinlich seid Ihr wohl behütet in diesem Palast aufgewachsen und habt vom richtigen Leben noch gar keine Ahnung. Aber ich verspreche dir, morgen früh wirst du sie haben.« Sie lachte hässlich und kniff Leonie schmerzhaft in den Hintern.
Fast hätte sie versucht sich loszureißen und es wäre ihr vielleicht auch gelungen - Leonie war sogar ziemlich sicher, es trotz ihrer auf dem Rücken zusammengebundenen Hände mit Maria aufnehmen zu können -, aber Maria war nicht allein und Bernhard hatte ihr gerade deutlich den Unterschied zwischen einer Trainingsstunde im Dojo und der Wirklichkeit vor Augen geführt.
Hintereinander näherten sie sich der Haustür - zuerst ihr Vater, dem Thomas nach wie vor drohend das Messer an die Kehle hielt, danach folgte ihre Mutter in Luises unbarmherzigem Griff, hinter ihr Leonie und Maria, und schließlich Bernhard selbst. Maus, der sich mit dem schweren Buch abschleppte, das annähernd so viel wiegen musste wie er selbst, bildete die Nachhut.
Leonies Vater erreichte die Tür und deutete mit einer entsprechenden Kopfbewegung auf die Klinke. Er selbst konnte sie ja schlecht herunterdrücken, denn auch seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Thomas stieß ihn grob zur Seite, wobei seine Messerklinge eine dünne Spur aus roten Tröpfchen auf Vaters Hals hinterließ, riss die Tür mit einer wütenden Bewegung auf - und die blutverschmierte Spitze einer Hellebarde drang so weit zwischen seinen Schulterblättern hervor, dass sie um ein Haar auch noch Leonies Mutter getroffen hätte. Thomas war plötzlich einfach verschwunden, als der Mann, der ihn niedergestochen hatte, die Hellebarde mit einem Ruck zurückriss, und an seiner Stelle tauchte eine hoch gewachsene Gestalt in Pluderhosen, gestreiftem Wams und Pickelhaube unter der Haustür auf. Hinter ihm drängten noch mindestens drei oder vier weitere Männer der Stadtgarde herein, die mit Hellebarden, Dolchen und Schwertern bewaffnet waren.
Luise schrie entsetzt auf und hob ganz instinktiv die Hand, um ihr Gesicht zu schützen, und einer der Soldaten musste die Bewegung wohl falsch gedeutet haben, denn er schleuderte ein Messer, das Luises hochgerissene Hand traf und glatt durchbohrte. Die dunkelhaarige Frau fiel mit einem Schrei zu Boden und Leonie warf sich blitzschnell zur Seite und trat gleichzeitig nach hinten. Maria ächzte vor Schmerz, als Leonies Fuß ihre Kniescheibe traf, und ließ ihre Hände los. Leonie verlor durch ihre eigene hastige Bewegung das Gleichgewicht und fiel, aber das machte keinen Unterschied, denn die Männer der Stadtgarde drangen weiterhin rücksichtslos ins Haus und hätten sie vermutlich ebenso über den Haufen gerannt, wie sie ihre Mutter niederrannten.
Nur einer von ihnen blieb zurück, um Luise mit seiner Hellebarde zu bedrohen, die anderen stürzten sich so schnell auf Bernhard, dass es nicht einmal zu einem richtigen Kampf kam. Ein kurzes Gerangel, zwei, drei dumpf hallende Schläge und Meister Bernhard sackte hilflos zu Boden. Auch Maria war niedergerungen worden, aber die Männer verzichteten wenigstens darauf, weiter auf sie einzuschlagen, sondern hielten sie ebenfalls nur mit ihren Waffen in Schach. Leonie sah sich mit klopfendem Herzen nach Maus um, konnte ihn aber in all dem Durcheinander nirgends entdecken.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass von ihren Gegnern keine Gefahr mehr ausging, halfen zwei der Männer Vater auf die Beine. Ein anderer war mit einem raschen Schritt bei Leonie, drehte sie wenig sanft herum und durchtrennte ihre Handfesseln. Noch während Leonie sich benommen aufsetzte, verfuhr er ebenso mit ihrer Mutter und benutzte dann die längsten Stücke der durchtrennten Stricke, um Luises Handgelenke aneinander zu binden. Auf ihre verletzte Hand nahm er dabei nicht die geringste Rücksicht, ebenso wenig wie auf die Schmerzenslaute, die die verwundete Frau ausstieß.
Leonie riss ihren Blick schaudernd von dieser Szene äußerster Brutalität los, kroch zu ihrer Mutter hinüber und schloss sie in die Arme. Ihre Mutter hing in ihren Armen wie eine Puppe, und als Leonie sich nach einem Moment von ihr löste und sie auf Armeslänge von sich weghielt, war ihr Gesicht ohne den geringsten Ausdruck. Ihre Augen waren vollkommen leer.
»Mutter?«, murmelte Leonie. »Was... was ist denn mit dir?«
»Sie hat einen Schock«, sagte ihr Vater. »Aber ich glaube nicht, dass sie ernsthaft verletzt ist. Ich kümmere mich gleich um sie.« Er winkte einen der Männer herbei. »Hauptmann! Lassen Sie den Verwundeten hereinbringen. Ich möchte nicht, dass ihn jemand sieht und dumme Fragen stellt.«
Der Mann gab zweien seiner Begleiter einen herrischen Wink, und Leonie blickte ihrer Mutter noch eine Sekunde lang mit klopfendem Herzen ins Gesicht, dann stand sie auf und wandte sich um.
»Was hast du vor?«, fragte ihr Vater.
Die Wahrheit war, dass sie nach Maus sehen wollte, der als Einziger nicht zu Boden gegangen war, aber von einem Mann der Stadtgarde mit einem groben Griff festgehalten wurde. Laut sagte sie jedoch: »Zum Telefon. Einen Krankenwagen rufen. Und die Polizei.«
»Nein«, widersprach ihr Vater.
»Was... was soll das heißen? Die beiden sind verletzt und...«
»Der Hauptmann und seine Männer werden sich um alles Nötige kümmern«, unterbrach sie ihr Vater. »Sie haben Erfahrung in solchen Dingen - nicht wahr, Hauptmann?«
»Selbstverständlich, Meister Kammer«, antwortete der Angesprochene.
»Keine Polizei«, sagte Vater. »Das würde nur zu unnötigen Komplikationen führen. Und am Ende würde es wahrscheinlich ausgehen wie das Hornberger Schießen. Ich denke, ich weiß auch so, wer hinter diesem Überfall steckt.«
»Aber wir brauchen dringend einen Arzt!«, protestierte Leonie.
Ihr Vater schüttelte beharrlich den Kopf. »Die Männer kennen sich auch in der Behandlung von Wunden aus. Genauso wie jeder Arzt.«
Nach dem, was Leonie gerade gesehen hatte, glaubte sie eher, dass sich die Männer der Stadtgarde weit besser im Zufügen von Wunden auskannten als in deren Behandlung, aber sie widersprach nicht mehr, und nach einem Moment wandte sich ihr Vater wieder an den Gardehauptmann. Sein Ton wurde merklich kühler.
»Warum hat das so lange gedauert, Hauptmann?«, fragte er. »Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen, ob Ihr überhaupt noch kommt. War die Nachricht, die ich Euch gesandt habe, nicht eindeutig genug?«
»Verzeiht, Meister Kammer«, antwortete der Mann mit einem angedeuteten Nicken. Er klang nicht wirklich beeindruckt oder gar verängstigt. »Wir sind gekommen, so schnell wir konnten. Es wird nicht noch einmal geschehen.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte Vater. »Aber jetzt geht, so schnell Ihr könnt. Und nehmt dieses diebische Gesindel mit. Behandelt sie gut und achtet darauf, dass ihnen nichts zustößt. Ich komme morgen bei Sonnenaufgang, um selbst mit ihnen zu sprechen.«
Der Hauptmann nickte, aber er rührte keinen Finger, um Vaters Befehl nachzukommen.
»Worauf wartet Ihr noch?«
»Verzeiht, Meister Kammer«, sagte der Hauptmann. »Meine Männer... Das Fuhrwerk, das Ihr uns geschickt habt - es macht ihnen Angst. Sie würden lieber zu Fuß zurückgehen.«
»Das kann ich sogar verstehen, aber das ist unmöglich«, antwortete Vater. »Nicht mit den Gefangenen und Euren Waffen. Ihr würdet nur Aufsehen erregen. Und das ist im Moment das Letzte, was ich gebrauchen kann.«
»Ganz, wie Ihr befehlt, Meister Kammer«, antwortete der Hauptmann, ohne eine Miene zu verziehen. Er winkte fast unmerklich mit der Hand und seine Männer zerrten Bernhard, die beiden Frauen und selbst den schwer verletzten Thomas grob auf die Beine.
»Wartet!« Leonie machte eine fast gebieterische Geste, und wie sie gehofft hatte, erstarrten die Männer für einen kurzen Moment. Leonie nutzte die Gelegenheit, mit zwei, drei raschen Schritten zu Maus zu gehen und ihn so derb an seiner Kutte zu packen, dass der Mann der Stadtgarde ihn erschrocken losließ. »Mit diesem kleinen Früchtchen habe ich noch ein ganz persönliches Hühnchen zu rupfen.«
»Leonie!«, sagte ihr Vater streng.
Leonie ignorierte ihn. Sie versuchte fast verzweifelt, Maus’ Blick zu fixieren, aber der Junge war so verängstigt, dass er seine Augen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er zitterte am ganzen Leib. Er sah hierhin und dorthin - überallhin, nur nicht in Leonies Gesicht.
»So, du wolltest mich also ganz für dich allein, wie, du kleine Ratte?« Sie packte so fest zu, dass es wehtun musste, aber das war vielleicht die einzige Möglichkeit, um Maus’ Aufmerksamkeit zu erwecken.
»Leonie, das ist nun wirklich nicht der richtige Moment!«, rief ihr Vater.
Leonie riss nur noch heftiger an Maus’ Arm, und endlich gelang es ihr, den Blick des Jungen aufzufangen und festzuhalten. »Du willst mir das richtige Leben zeigen?«, schrie sie ihn an. »Wenn ich mit dir fertig bin, dann weißt du selbst nicht mehr, ob du Männlein oder Weiblein bist, das verspreche ich dir!« Gleichzeitig versuchte sie, ihm mit den Augen ihren Plan zu erklären. Sie standen unmittelbar am Fuß der Treppe, die nach oben führte. Zwischen Maus und den rettenden Stufen war nur sie, sonst nichts.
»Leonie, jetzt reicht es aber!«, donnerte ihr Vater. »Hauptmann!«
Leonie spürte eine Bewegung hinter sich und nickte Maus verzweifelt zu und endlich begriff er - und jetzt verlor er wirklich keine Zeit mehr. Er riss sich mit einem Ruck los, versetzte ihr einen Stoß und war wie ein Wirbelwind herum, um die Treppe hinaufzurasen. Der Soldat, der ihn bisher bewacht hatte, stieß ein wütendes Knurren aus und setzte ihm nach, aber auch Leonie versuchte Maus zu folgen, und wie es der Zufall wollte, streckte sie im ungünstigsten aller nur erdenklichen Momente das Bein aus. Der Soldat stolperte über ihren Fuß und schlug der Länge nach auf der Treppe hin.
Zwei weitere Gardisten lösten sich von ihren Plätzen um ihm nachzueilen, aber Vater rief sie mit einem scharfen Befehl zurück.
»Lasst ihn«, sagte er. »Es lohnt nicht. Er ist nur ein Junge und harmlos ohne die anderen.«
Die Männer gehorchten widerstrebend, und Leonie versuchte mit aller Macht, ein erleichtertes Aufatmen zu unterdrücken, als das Klappern des Fensters in ihrem Zimmer zu ihnen herunterdrang.
»Geht jetzt, Hauptmann«, befahl Vater. »Nehmt Eure Männer und beeilt Euch. Wir haben noch eine Menge zu tun.« Er wartete, bis die Männer der Stadtgarde ihre Gefangenen genommen und das Haus verlassen hatten, dann ging er ins Arbeitszimmer zurück, hob das Buch auf, das Maus fallen gelassen hatte, und legte es behutsam wieder in den Safe. Aber während er es tat, streifte er Leonie mit einem Blick, der ihr klar machte, dass die Angelegenheit noch nicht vorbei war. Noch lange nicht.