Geheimnisse

Doktor Steiner, der ihr Hausarzt und seit vielen Jahren ein guter Freund der Familie war, kam innerhalb einer Viertelstunde. Da sie nicht wussten, wie schwer Mutter verletzt war, hatten sie sie nicht ins Schlafzimmer im ersten Stock gebracht, sondern sie mit vereinten Kräften ins Wohnzimmer getragen und dort auf die Couch gelegt. Natürlich hatte Leonies Vater sofort einen Krankenwagen rufen wollen, doch er hatte kaum nach dem Telefonhörer gegriffen, da wachte Mutter auf und flehte so inständig darum, es nicht zu tun, dass Vater schließlich nachgab und es dabei bewenden ließ, Doktor Steiner zu alarmieren. Leonie bekam nicht mit, was er zu ihm sagte, aber er musste es wohl ziemlich dringend gemacht haben, denn Steiner tauchte in rekordverdächtigen fünfzehn Minuten auf, obwohl seine Praxis nahezu am anderen Ende der Stadt lag und er um diese Zeit eigentlich dort die ersten Patienten empfangen sollte. Leonie verstand auch nicht, warum sich ihr Vater überhaupt auf die Bitte ihrer Mutter eingelassen hatte. Man musste kein Arzt sein um zu erkennen, in welchem Zustand sie sich befand.

Während sie auf den Arzt warteten, hatte Vater ein Handtuch angefeuchtet und versucht, den schlimmsten Schmutz von ihrem Gesicht zu entfernen.

Was darunter zum Vorschein kam, gab ihnen allerdings auch nicht unbedingt neuen Mut. Mutters Gesicht war mit Schrammen und Risswunden übersät, von denen einige so aussahen, als wären sie schon halbwegs verschorft, obwohl das natürlich nicht sein konnte. Aber auch ihre Wangen waren eingefallen, und Leonie hätte geschworen, dass sie mindestens zehn Pfund an Gewicht verloren hatte, wenn nicht sogar mehr, wäre das nicht ebenfalls völlig unmöglich gewesen. Ihre Hände waren rissig und so zerschunden, als hätte sie versucht, sich damit durch massiven Fels zu graben, und die meisten ihrer Fingernägel waren abgebrochen und entzündet.

Als Steiner kam, scheuchte er Vater und Leonie kurzerhand aus dem Raum. Vater protestierte, aber Proteste haben einen Arzt noch nie davon abgehalten, seine Arbeit zu tun, und so fanden sie sich nur eine Minute später in der Küche wieder. Leonie setzte kommentarlos Wasser auf, um einen Tee zu kochen, und Vater nahm ebenso kommentarlos am Küchentisch Platz und starrte schweigend nach draußen auf den Terrassentisch und die schmiedeeisernen Stühle. Als Leonie den benommenen Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte, war sie froh, nicht zu wissen, was hinter seiner Stirn vorging.

»Vielleicht sollten wir Doktor Fröhlich anrufen«, meinte sie zögernd.

Ihr Vater sah nicht einmal in ihre Richtung, als er antwortete. »Ich werde mich um diesen so genannten Rechtsberater kümmern, keine Sorge. Sobald ich weiß, was mit deiner Mutter ist.« Und damit war das Gespräch zu Ende. Als Doktor Steiner aus dem Wohnzimmer kam, sprang Vater auf. »Wie geht es ihr? Kann ich zu ihr?«

»Gut und nein«, antwortete Steiner und ergriff Vater, der schon halb an ihm vorbeigeeilt war, am Arm, um ihn zurückzuhalten. »Sie schläft jetzt. Ich habe ihr eine Spritze gegeben, also mach dir keine Sorgen und beruhige dich erst einmal.«

»Aber was ist denn passiert?«, fragte Vater. »Was fehlt Anna?«

Steiner maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Abgesehen von jeder Menge Hautabschürfungen und Prellungen, einem gestauchten Handgelenk und etwas, das wie ein ziemlich großer Spinnenbiss aussieht?«, fragte er. »Vollkommene Entkräftung und gefährliche Dehydrierung.« Sein Blick wurde noch ernster. »Was ist hier passiert, Klaus?«

»Was soll das bedeuten?«, fragte Leonie.

Steiner wandte sich kurz in ihre Richtung. »Um es einfach auszudrücken: Deine Mutter hat seit mindestens einer Woche so gut wie nichts gegessen und sie stand kurz davor, zu verdursten.«

»Eine Woche?«, entfuhr es Leonie. Aber das war doch vollkommen ausgeschlossen!

»Ich kann nur das sagen, was ich als Arzt sehe«, antwortete Steiner. »Ich glaube euch - aber dann erzählt mir, was hier passiert ist! Verdammt, Klaus, Anna ist nicht nur meine Patientin, sondern auch eine gute Freundin! Ich habe ein Recht, zu erfahren, was ihr zugestoßen ist.«

»Ja«, gab Vater zu. »Aber ich kann es dir trotzdem nicht sagen. Du musst mir einfach vertrauen.«

»So, muss ich das?« Steiner sah regelrecht wütend aus, doch statt zu explodieren, seufzte er nur tief und wirkte in der nächsten Sekunde plötzlich viel mehr traurig als erzürnt. »Ja, dann muss ich das wohl. Aber ich gehe davon aus, dass du mir alles erzählst, sobald du es kannst.«

»Das verspreche ich«, sagte Vater.

»Gut.« Steiner sah auf die Uhr. »Ich muss zurück in meine Praxis, aber ich komme heute Nachmittag wieder. Nach der Spritze, die ich ihr gegeben habe, wird sie ein paar Stunden schlafen. Wenn sie aufwacht, musst du dafür sorgen, dass sie liegen bleibt. Und sie soll möglichst viel trinken.« Er griff nach seiner Tasche, nickte Leonie zum Abschied noch einmal zu und ging. Vater brachte ihn nicht zur Tür, sondern sah ihm nur hinterher und griff dann wieder nach seiner Tasse. Seine Hände zitterten.

»Eine Woche?« Leonie blickte fassungslos in die Richtung, in die Steiner verschwunden war, und wandte sich dann wieder ihrem Vater zu. »Aber das ist doch völlig unmöglich. Doktor Steiner muss sich irren!«

»Eigentlich ist er ein sehr guter Arzt«, meinte Vater nachdenklich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so sehr danebenliegt.«

»Aber das ist unmöglich!«, protestierte Leonie. »Sie war nicht einmal zwei Stunden weg.«

»Nachdem sie durch eine Tür gegangen ist, die gar nicht da war.« Vater schüttelte müde den Kopf. Er sah sie immer noch nicht an, sondern blickte auf die Terrasse hinaus. Leonie folgte seinem Blick und ein kalter Schauer rann ihr den Rücken hinab, als ihr klar wurde, dass er den Stuhl anstarrte, auf dem ihre Großmutter immer gesessen hatte. Mittlerweile war sie nicht mehr sicher, dass es nur Einbildung gewesen war, als sie genau auf diesem Stuhl den Geist ihrer Großmutter gesehen hatte. Noch vor ein paar Stunden hatte sie sich mit Erfolg einreden können, dass sie nur auf einen bösen Streich hereingefallen war, den ihre eigenen Nerven ihr spielten - schließlich gab es keine Geister. Oder?

Aber nach dem, was sie gerade unten erlebt hatte...

»Da... da ist noch etwas«, begann sie zögernd.

Einen Herzschlag lang starrte ihr Vater weiter ins Leere, sodass sie schon glaubte, er hätte sie gar nicht gehört, doch dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und wandte sich ihr zu. »Ja?«

»Ich weiß, es klingt ziemlich komisch«, erklärte sie unsicher, »glaubst du an Geister?«

Unter normalen Umständen hätte ihr Vater jetzt bestenfalls milde gelächelt, aber nun maß er sie mit einem langen und sehr nachdenklichen Blick, und bevor er antwortete, wandte er noch einmal den Kopf und sah zu Großmutters Stuhl am Terrassentisch hin. Leonie fuhr ein weiterer, noch eisigerer Schauder über den Rücken.

»Ich weiß nicht mehr, was ich noch glaube«, murmelte er. »Das Ganze ist ein Albtraum.« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, verbarg das Gesicht in den Händen und seufzte tief. Für eine ganze Weile blieb er einfach nur so sitzen, dann nahm er die Hände herunter und stand auf.

»Ich sehe nach Mutter. Versuch ein bisschen zu schlafen. Du kannst im Moment sowieso nichts tun.«

Als er ging, wäre ihm Leonie am liebsten nachgelaufen. Sie fühlte sich allein gelassen, nicht nur von ihrem Vater und in diesem Augenblick, sondern vom Schicksal und überhaupt. Aber er hatte natürlich Recht: Sie konnte im Moment rein gar nichts tun, und wahrscheinlich wollte er auch mit Mutter allein sein, selbst wenn sie nach der Spritze, die Steiner ihr gegeben hatte, tief und fest schlief. Sie sollte das respektieren.

Leonie kramte noch eine Zeit lang ziellos in der Küche herum, aber nachdem sie den Tisch das dritte Mal aufgeräumt und die Herdplatten zum fünften Mal poliert hatte, schloss sie die Terrassentür und machte sich auf den Weg nach oben in ihr Zimmer. Sie musste dabei am Wohnzimmer vorbei, ob sie wollte oder nicht, und da die Tür offen stand, warf sie ganz automatisch einen Blick hinein. Ihre Mutter lag auf der Couch und schlief, genau wie Steiner vorausgesagt hatte, aber von ihrem Vater war nichts zu sehen. Der Fernseher lief ohne Ton und zeigte Bilder von der Flugzeugkatastrophe, als gäbe es kein anderes Programm mehr.

Sie wollte schon hineingehen und das Gerät ausschalten - die Bilder weckten fürchterliche Erinnerungen in ihr, und sollte Mutter zwischendurch doch wach werden, würde es ihr ganz bestimmt genauso ergehen -, setzte aber dann stattdessen ihren Weg nach oben fort.

Irgendetwas polterte. Leonie erstarrte und lauschte. Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber es war eindeutig, aus welcher Richtung es gekommen war: vom Ende des Flures, wo Großmutters Zimmer lag. Selbst im Halbdunkel des Korridors konnte sie erkennen, dass die Tür nur angelehnt war.

Ihr Herz begann zu klopfen. Großmutters Zimmer war abgeschlossen gewesen, als sie das Haus verlassen hatten, das wusste sie ganz genau. Nun stand die Tür offen und jemand (oder etwas? Der bloße Gedanke ließ sie frösteln) war im Zimmer.

Obwohl ihre Furcht mit jedem Schritt größer wurde, ging sie weiter, blieb schließlich vor der Tür stehen und lauschte angestrengt. Sie meinte, Geräusche aus dem Zimmer zu hören, aber sie war nicht sicher, ob es sich nicht nur um das Hämmern ihres eigenen Herzens handelte. Zögernd legte sie die flache Hand gegen die Tür, drückte sie unendlich behutsam weiter auf und spähte durch den entstandenen Spalt.

Jemand war in Großmutters Zimmer, aber es war nicht ihr Geist und auch keines der anderen Monster, mit denen Leonie ihre außer Rand und Band geratene Fantasie gequält hatte, sondern ihr Vater. Er stand mit dem Rücken zur Tür an einem der Bücherregale, die jeden freien Quadratzentimeter der Wände bedeckten, und riss scheinbar wahllos Bücher von den Brettern. Bei den meisten warf er nur einen flüchtigen Blick auf den Titel, manche klappte er auf, um hastig darin zu blättern, und danach landeten sie ausnahmslos auf dem Fußboden. Wenn man bedachte, dass er seit allerhöchstem zehn Minuten hier drin sein konnte, dann hatte er schon ein beachtliches Chaos angerichtet, denn er stand mittlerweile fast wadenhoch in einem Berg von Büchern und Papier.

Leonie machte die Tür ganz auf und trat ein. Ihr Vater fuhr zusammen, drehte sich hastig um und sah für einen Moment wie der sprichwörtliche ertappte Sünder aus. »Was... was machst du denn hier?«, stammelte er.

»Ich habe Geräusche gehört«, antwortete Leonie. Sie sah demonstrativ auf das Chaos hinab, das ihr Vater angerichtet hatte. »Was suchst du?«

»Ein Buch«, antwortete ihr Vater.

»Wenn du mir sagst, welches, kann ich dir bestimmt helfen«, sagte Leonie. Das entsprach der Wahrheit. Von allen hier im Haus kannte sie sich wohl am besten in Großmutters privater Bibliothek aus - und ihr war auch klar, dass es Großmutter wahrscheinlich das Herz gebrochen hätte, hätte sie gesehen, wie Vater mit ihren Büchern umging. Ihre Großmutter war Buchhändlerin mit Leib und Seele gewesen; vor allem aber mit Seele. Mutter hatte diese Eigenschaft ebenso geerbt wie Leonie, aber für ihren Vater waren Bücher bestenfalls Dinge, die man mit Gewinn weiterverkaufen konnte, wenn man sich halbwegs geschickt anstellte. Dennoch sollte er wissen, wie wertvoll die Bücher zum Teil waren, mit denen er jetzt so achtlos umging.

»Das würde ich ja ganz gerne, wenn ich wüsste, wonach ich eigentlich suche«, erklärte ihr Vater.

Leonie verstand das noch weniger als alles andere; aber als ihr jetzt richtig bewusst wurde, wie grob ihr Vater mit Großmutters wertvollen Büchern umging, runzelte sie missbilligend die Stirn. Etliche waren geknickt und eingerissen, und mindestens bei einem Buch war der Einband gebrochen, was einem Totalschaden gleichkam. Abgesehen davon, dass die Bücher rein materiell einen gewissen Wert darstellten, hatten sie für Großmutter noch sehr viel mehr bedeutet. Sie waren ihre Freunde gewesen und ein Leben lang die treuesten Begleiter, die man sich nur wünschen konnte.

»Sag mir Bescheid, wenn du fertig bist«, sagte sie. »Ich räume dann hier auf.«

Aus irgendeinem Grund schien dieser Vorschlag Vaters Raserei zu steigern. Seine Brauen zogen sich zu einem spitzen Dreieck zusammen und in seinen Augen blitzte ein regelrechtes Gewitter. »Tu das«, sagte er gepresst. »Und jetzt sieh noch einmal nach deiner Mutter und danach geh auf dein Zimmer!«

Wenn Leonie jemals einen Rauswurf erlebt hatte, dann jetzt. Sie war allerdings mehr verstört als zornig - eine solche Behandlung war sie von ihren Eltern nun wirklich nicht gewöhnt. Sie schluckte die patzige Entgegnung, die ihr (auch ganz gegen ihre Art) auf der Zunge lag, hinunter, konnte es sich aber nicht verkneifen, sich provozierend langsam umzudrehen, bevor sie das Zimmer verließ.

Wie Vater von ihr verlangt hatte, sah sie noch einmal nach ihrer Mutter - sie schlief - und schlich anschließend hinauf. Der Anblick ihres Zimmers erinnerte sie wieder an das Chaos, das Vater unten in Großmutters Zimmer angerichtet hatte und vermutlich gerade jetzt noch weiter vergrößerte. Abgesehen von der kleinen Stereoanlage, dem Fernseher und der modernen Einrichtung ähnelten sich Großmutters Zimmer und ihres wie ein Ei dem anderen: Auch Leonies Zimmer quoll nur so über von Büchern. Sie standen dicht an dicht auf Regalen, die jedes freie Fleckchen an den Wänden bedeckten. In Leonies Leben spielten Bücher eine große Rolle, wenn auch sicher keine so gewaltige wie in dem ihrer Großmutter. Trotzdem hätte sie sich ein Leben ohne Bücher einfach nicht vorstellen können. Sie mochte Filme, Fernsehen und bis zu einem gewissen Grad auch Computerspiele, aber das wirkliche Abenteuer und die spannendsten Geschichten fanden natürlich nur in Büchern statt. Und das würde sich nach Leonies fester Überzeugung auch nicht ändern, ganz egal, was für raffinierte Computerspiele und aufwändige Spielfilme in Zukunft auch produziert werden mochten.

Bei ihrem Vater war das etwas ganz anderes. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn Bücher nicht interessierten. Seiner Meinung nach bot das richtige Leben mehr als genug Herausforderungen und Abenteuer, als dass man sie auch noch zwischen den Seiten eines Buches suchen musste. Umso weniger konnte Leonie sich nun erklären, was er eigentlich unten in Großmutters Bibliothek suchte.

Sie hörte ein leises Rascheln und diesmal dauerte es einen Moment, bis sie herausfand, aus welcher Richtung das Geräusch kam: aus dem offenen Schuhkarton, den sie am vergangenen Abend für ihren uneingeladenen pelzigen Gast aufgestellt hatte.

Er war wieder da.

Leonie wusste nicht, ob sie ärgerlich werden oder lächeln sollte, als sie in den Karton sah und die winzige Maus erblickte, die es sich darin gemütlich gemacht hatte - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Karton war jetzt nicht mehr leer. Die Maus hatte eines von Leonies guten seidenen Taschentüchern in eine Ecke geknüllt, wo es ein regelrechtes kleines Bett bildete, und auf der anderen Seite ein halbes Dutzend Kekse und zwei Zuckerwürfel aufgestapelt; nicht einfach hingelegt, sondern tatsächlich zu zwei ordentlichen Stapeln aufgeschichtet. Davor lag der umgedrehte Schraubverschluss einer Cola-Flasche. Er war leer, aber die Bedeutung dieses Arrangements war klar: Offensichtlich erwartete die Maus, dass sie ihn mit Wasser füllte.

Leonie betrachtete das sorgsame Arrangement mit einiger Verblüffung. Ihr war schon längst klar geworden, dass es sich bei dem kleinen Nager nicht um eine x-beliebige Maus handelte, sondern um ein dressiertes Tier, das vermutlich irgendwo ausgebüxt und erst auf rätselhaftem Weg in die Zentralbibliothek und dann zu ihr gelangt war - aber allmählich kam ihr der Verdacht, dass dieses Tier reif für das Guinness-Buch der Rekorde war.

Sie ging ins Bad, ließ wenige Tropfen Wasser in die improvisierte Trinkschale laufen und trug sie zurück. Die Milch hatte die Maus vorhin verschmäht, aber an dem Wasser tat sie sich sofort und ausgiebig gütlich. Als sie den Flaschendeckel zur Gänze geleert hatte, versetzte sie ihm mit der Nase einen kleinen Stups in Leonies Richtung und sah auffordernd zu ihr hoch.

»Auch noch anspruchsvoll, wie?«, fragte Leonie. »Und was wird das, wenn es fertig ist? Ich meine: Hast du vielleicht noch zwei Koffer vor der Tür stehen, die ich raufholen soll?«

Die Maus schüttelte den Kopf.

»Auch gut«, sagte Leonie. Sie hatte beschlossen, sich einfach über nichts mehr zu wundern, was mit dieser merkwürdigen Maus zu tun hatte. Vermutlich existierte sie gar nicht, sondern war nur eine Ausgeburt ihrer eigenen Fantasie. »Dann kann ich davon ausgehen, dass du gerade hier eingezogen bist?«

Die Maus nickte, was auch sonst?

»Also gut, meinetwegen«, seufzte Leonie. »Aber bild dir nicht ein, dass du jetzt deine gesamte Verwandtschaft nachholen kannst. Ich gewähre dir Asyl, aber sonst niemandem, ist das klar?«

Diesmal grinste die Maus eindeutig.

Leonie füllte den Flaschendeckel neu auf, stellte ihn in die Kiste zurück und nahm dann das Taschentuch aus dem Schuhkarton. Nicht dass sie es brauchte. In Zeiten von Kleenex und Tempotaschentüchern benutzte niemand mehr seidene Taschentücher, allein schon aus hygienischen Gründen, aber es gehörte zu einem Set, das sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte, und sie hing daran. Außerdem war es einfach zu schade, um als Unterlage für einen struppigen Mäusehintern zu dienen.

Sie faltete es sorgsam zusammen, legte es neben dem Schuhkarton auf den Schreibtisch und ging zum Wäschekorb, um eine Socke zu holen. Die Maus sah ihr aufmerksam zu. Als Leonie fertig war und einen Schritt zurücktrat, flog die Socke in hohem Bogen über den Rand des Schuhkartons. Eine Sekunde später hüpfte die Maus hinterher, krallte sich das Taschentuch und trug es in ihr Birkenstock-Fertighaus zurück. Leonies Unterkiefer klappte herunter.

Mehr belustigt als verärgert tauschte sie die so unterschiedlichen Mäusebetten wieder aus, mit dem gleichen Ergebnis. Dieses Spiel wiederholte sich noch drei- oder viermal und am Ende war es Leonie, die aufgab, nicht die Maus.

»Also gut«, meinte sie resigniert. »Du hast gewonnen. Aber ich warne dich: Ein Fleck oder gar ein Riss, und ich benutze ein Stück Mäusefell, um ihn zu stopfen!«

Die Maus fuhr vollkommen unbeeindruckt fort, das seidene Taschentuch zurechtzuknuffen und -zuschieben, bis es tatsächlich ein richtiges kleines Bett bildete. Nein, diese Maus gehörte nicht ins Guinness-Buch der Rekorde, dachte Leonie. Sie gehörte ins Fernsehen, mindestens.

»Du hast mich verstanden«, sagte sie, während sie sich bereits umdrehte und zur Tür ging. »Mach keinen Unsinn, solange ich weg bin. Wenn dir langweilig wird, schmeiß dir ein Video ein, aber dreh den Fernseher nicht zu laut auf.«

Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Anscheinend war ihre Mutter doch wieder aufgewacht, und Leonie beschleunigte ihre Schritte, um zu ihr zu kommen.

Sie erlebte eine Überraschung. Ihre Mutter schlief noch immer. Die Stimme, die sie gehört hatte, war die ihres Vaters, der mit dem Rücken zur Tür dastand und telefonierte. »Also gut, in einer Stunde dann«, sagte er gerade. »Wenn Sie pünktlich kommen, warte ich an der Tür auf Sie, dann müssen Sie nicht klingeln.« Er hängte ein, drehte sich um und fuhr wieder einmal wie ertappt zusammen, als er Leonie erblickte. Wenigstens fragte er sie diesmal nicht, was sie hier zu suchen hatte.

»Wie geht es ihr?« Leonie machte eine Kopfbewegung zu ihrer Mutter hin.

»Sie schläft.« Ihr Vater warf einen raschen schuldbewussten Blick auf das Telefon, als er antwortete. »Aber ich glaube, sie wacht allmählich auf.«

Leonie trat vorsichtig an die Couch heran, auf der ihre Mutter schlief. Vater, oder vielleicht auch Doktor Steiner, hatten ihr das zerrissene Kleid aus- und ein sauberes Nachthemd angezogen und auch den ärgsten Schmutz aus ihrem Haar gekämmt, aber das schien den erbärmlichen Zustand, in dem sie sich befand, eher noch zu betonen. Jetzt, mit einigem Abstand und nicht mehr von der nackten Angst um das Leben ihrer Mutter erfüllt, bemerkte sie mit schmerzhafter Deutlichkeit, wie blass und eingefallen ihr Gesicht wirklich war. Sie hatte sich nicht getäuscht: Ihre Mutter hatte von gestern auf heute so viel an Gewicht verloren, dass sie regelrecht ausgemergelt wirkte. Die Wangenknochen stachen wie helle Narben durch ihre Haut und unter ihren Augen lagen tiefe, fast schwarze Ringe. Ihre Lippen waren rissig und hier und da klebte verschorftes Blut.

»Aber wie ist das nur möglich«, murmelte sie zum wiederholten Male. »Sie war doch nur ein paar Stunden weg.«

Ihr Vater hob nur die Schultern. Was sollte er auch sagen, wenn nicht einmal Doktor Steiner eine Antwort wusste?

»Du könntest mir einen Gefallen tun«, meinte Vater plötzlich. »Ich habe gerade mit Doktor Steiner telefoniert. Er möchte, dass sie noch ein bestimmtes Medikament bekommt, das er in seiner Praxis hat. Er kann nicht weg und ich möchte Anna nicht allein lassen. Vielleicht bist du so lieb und fährst hin, um es abzuholen?«

»Und wie?«, fragte Leonie. Steiners Praxis lag am anderen Ende der Stadt.

»Ich gebe dir Geld für ein Taxi.« Vaters Blick irrte erneut zum Telefon. »Zieh dich um und ich rufe inzwischen einen Wagen.«

Leonie gehorchte auch jetzt, ohne zu widersprechen - aber sie glaubte ihrem Vater kein Wort. Seine Bitte klang zu sehr nach einem Vorwand, ausgedacht in genau dem Moment, in dem er ihn ausgesprochen hatte. Dazu noch dieses sonderbare Telefonat - warum legte er Wert darauf, dass der Besucher, den er erwartete, nicht klingelte? - und auch sein seltsames Benehmen vorhin in Großmutters Zimmer...

Es gab nur eine einzige Erklärung: Vater wollte sie aus dem Haus haben. Irgendetwas ging hier vor, von dem sie nichts wissen sollte. Aber Leonie dachte nicht daran, dieses Spielchen mitzumachen.

Sie eilte in ihr Zimmer hinauf, um Jacke und Schuhe anzuziehen, und war kein bisschen überrascht, dass ihr Vater das Taxi noch nicht bestellt hatte, als sie wieder unten war. Auf ihren Vorschlag, die knapp zwei Blocks zum Taxistand zu laufen, um Zeit zu sparen, ging er erst gar nicht ein, sondern trödelte noch gut zehn Minuten herum, bevor er endlich zum Hörer griff und das Taxi rief. Leonie rechnete in Gedanken nach und kam zu dem Ergebnis, das sie erwartet hatte: Jetzt, im morgendlichen Berufsverkehr, würde sie mindestens eine Dreiviertelstunde hin und noch einmal dieselbe Zeit zurück brauchen, was ihrem Vater hinlänglich Zeit gab, allein mit seinem geheimnisvollen Besucher zu reden.

Durch diese Rechnung würde sie ihm einen gründlichen Strich machen, zumal ihr Vater das Taxi für den Hin- und Rückweg im Voraus bezahlte. Sie stieg gehorsam ein, ließ den Fahrer aber schon an der nächsten Ecke wieder anhalten und gab ihm den Auftrag, allein zu Doktor Steiner zu fahren und das Medikament zu holen - was ihr Vater ebenso gut hätte tun können. Er hätte auch Steiner bitten können, ein Taxi zu schicken, was zudem schneller gegangen wäre und nur die Hälfte gekostet hätte. Leonie wunderte sich nicht mehr über die plumpe Ausrede, zu der ihr Vater Zuflucht gesucht hatte. Im Grunde gab es nur eine einzige Erklärung: Ihr Vater musste bei ihrem Anblick regelrecht in Panik geraten sein und hatte einfach das Erstbeste gesagt, was ihm in den Sinn gekommen war.

Sie stieg aus und nahm einen gehörigen Umweg in Kauf, um sich dem Haus so zu nähern, dass ihr Vater sie nicht sah, sollte er zufällig einen Blick aus dem Fenster werfen. Schräg gegenüber ihres Elternhauses und im Schutz eines blühenden Fliederbusches nahm sie Aufstellung und fasste sich in Geduld.

Sie musste nicht lange warten. Der Besucher kam früh - nicht einmal eine halbe Stunde, nachdem sie das Haus verlassen hatte. Und er reiste auf eine Art und Weise an, mit der Leonie nun wirklich nicht gerechnet hatte; um genau zu sein, hätte wohl niemand damit gerechnet, zumindest nicht seit dem Siegeszug des motorisierten Individualverkehrs.

Sie hatte sich die Zeit damit vertrieben, die Straße abwechselnd in beiden Richtungen zu beobachten. Sie wartete auf ein Taxi oder auch einen anderen Wagen. Er kam, aber er wäre vermutlich nie durch den TÜV gekommen und er war auch eindeutig untermotorisiert. Genau genommen hatte er zwei PS, die in Form von zwei nachtschwarzen Rappen vor eine altmodische zweirädrige Kutsche gespannt waren, wie man sie nur noch in alten Büchern sah oder allenfalls in Wildwestfilmen.

Leonie war so perplex, dass sie einen halben Schritt aus ihrer Deckung hinaustrat und die näher kommende Droschke anstarrte, ehe sie endlich auf die Idee kam, wieder hinter den Fliederbusch zurückzuweichen. Der Wagen näherte sich mit erstaunlichem Tempo, schwenkte schließlich nach rechts und hielt unmittelbar vor Leonies Elternhaus und nahe genug beim Fliederbusch, dass sie den Fahrer erkennen konnte. Es war kein Landarzt aus einem Wildwestfilm, sondern ein fast kahlköpfiger Notar, der ein Monokel im Auge und eine altmodische Pelerine trug.

Fröhlich stieg umständlich aus seinem bizarren Gefährt und näherte sich gemessenen Schrittes dem Haus. Auf halbem Wege wurde die Tür geöffnet und Leonies Vater trat heraus. Leonie war viel zu weit entfernt um zu hören, was er sagte, aber er wirkte nicht begeistert. Vermutlich ärgerte er sich darüber, dass Fröhlich zu früh kam, vielleicht auch über das antiquierte Fahrzeug, das nun nur unnötiges Aufsehen erregte. Er fuchtelte einen Moment lang unwillig mit beiden Händen in der Luft herum, als würde er Fliegen verscheuchen, dann winkte er Fröhlich ungeduldig herein und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Erstaunlicherweise gönnte er der zweirädrigen Droschke, die direkt vor seinem Haus abgestellt war, nicht einmal einen zweiten Blick.

Leonie wagte sich endlich aus ihrer Deckung heraus, lief über die Straße und rannte zur Rückseite des Grundstückes, so schnell sie nur konnte. Das Grundstück war alles andere als klein, ebenso wie der Garten, aber Leonie sputete sich und keine fünf Minuten nach Fröhlich und ihrem Vater betrat auch sie wieder das Haus; allerdings durch den Hintereingang.

Sie hörte Fröhlichs Stimme aus dem Wohnzimmer und sie klang alles andere als froh. »Ich hätte gedacht, dass Sie es mittlerweile begriffen haben«, sagte er gerade. »Was immer Sie tun, Sie können es nur schlimmer machen.«

»Wir haben nicht vor, irgendetwas zu verändern, Doktor Fröhlich«, antwortete ihr Vater. Leonie hörte, wie schwer es ihm fiel, einigermaßen ruhig zu bleiben. »Anna wollte den Schaden wieder gutmachen, mehr nicht.«

»Nichts anderes habe ich angenommen«, erwiderte Fröhlich. Er klang leicht beleidigt. »Aber niemand kann die Zeit zurückdrehen. Niemand darf es auch nur versuchen, verstehen Sie das denn nicht?«

»Ehrlich gesagt, nein.« Das war die Stimme von Leonies Mutter. Sie klang so schwach, wie sie vorhin ausgesehen hatte.

»Jedwede Veränderung ist eine Veränderung«, erklärte Fröhlich. »Sogar wenn man versucht, etwas einmal Verändertes wieder rückgängig zu machen. Jede noch so winzige Abweichung bedingt eine weitere und diese wiederum verursacht weitere und weitere. Und so geht es weiter, bis man am Ende eine Lawine auslöst, die alles verschlingen kann.«

»Das ist doch nur Theorie«, widersprach Vater. Leonie schlich auf Zehenspitzen näher an die Tür heran, aber nur gerade so weit, dass sie die Stimmen Fröhlichs und ihrer Eltern deutlicher hören konnte. »Niemand hat es jemals ausprobiert, oder?«

»Woher wollen Sie das wissen?« Sie konnte regelrecht hören, wie Fröhlich den Kopf schüttelte. »Vielleicht ist es noch nie geschehen, vielleicht schon unzählige Male. Wir werden es niemals erfahren. Ich kann Sie nur dringend warnen. Schon der Versuch könnte in einer Katastrophe enden. Heute Morgen ist Ihre Gattin beinahe ums Leben gekommen, reicht Ihnen das noch nicht?«

»Ich wusste nicht, was mich erwartet«, antwortete Mutter. »Das nächste Mal...«

»Es wird kein nächstes Mal geben«, unterbrach sie Fröhlich. »Ich verbiete es Ihnen. Verstehen Sie?«

»Sie sind wohl kaum in der Position, uns irgendetwas zu verbieten«, entgegnete Vater.

»Bitte, Klaus.« Leonie konnte hören, wie sich ihre Mutter weiter auf der Couch aufsetzte, und sie glaubte die versöhnliche Geste regelrecht zu sehen, mit der sie ihren Mann zu beruhigen versuchte.

»Bitte verzeihen Sie meinem Mann, Doktor Fröhlich«, sagte sie. »Er hat es nicht so gemeint. Aber Sie können nicht erwarten, dass wir einfach mit den Schultern zucken und so tun, als wäre nichts passiert. Nicht nach dieser entsetzlichen Katastrophe, die meine Mutter ausgelöst hat. Wir fühlen uns einfach verantwortlich dafür.«

»Was für ein Unsinn!«, widersprach Fröhlich. »Niemand kann sagen, ob sie nicht sowieso eingetreten oder sogar noch viel entsetzlicher geworden wäre. Unglücke kommen vor, so schrecklich es klingen mag, vor allem für die Betroffenen. Und selbst wenn es so wäre - es wäre doch nicht Ihre Schuld.«

»Vielleicht doch«, beharrte Mutter. »Ich... ich habe meiner Mutter schwere Vorwürfe gemacht. Sehr unfaire Vorwürfe. Hätte ich das nicht getan...« Leonie hörte ein Geräusch, als versuche ihre Mutter mit aller Kraft, ein Schluchzen zu unterdrücken. »Sie wäre niemals so weit gegangen.«

»Ich weiß«, sagte Fröhlich. »Ihre Frau Mutter hat mir davon erzählt. Aber Sie können nicht wissen, ob dieses schreckliche Unglück tatsächlich eine Folge dessen ist, was Theresa getan hat, oder vielleicht vom Schicksal sowieso vorgesehen war. Und selbst wenn alles so gewesen wäre, wie Sie glauben, könnten Sie nichts mehr daran ändern. Bitte glauben Sie mir das. Sie können bei dem Versuch ums Leben kommen, bestenfalls.«

»Wir haben Sie angerufen, weil wir gehofft haben, Sie könnten uns helfen«, sagte Leonies Vater feindselig. Leonie schlich mit klopfendem Herzen und wider besseres Wissen weiter, bis sie die Stelle erreichte, von der aus sie schon am vorletzten Abend Großmutter und ihre Eltern belauscht hatte. Diesmal war die Situation ein wenig anders. Sie konnte Fröhlich und ihre Eltern zwar in dem großen Wandspiegel erkennen, doch diesmal war es hier draußen taghell und der Trick funktionierte nun auch umgekehrt. Wenn jemand dort drinnen einen zufälligen Blick in den Spiegel warf, musste er sie einfach sehen. Leonie machte sich so klein wie möglich und beschloss, einfach auf ihr Glück zu vertrauen.

»Aber das will ich doch«, antwortete Fröhlich. Leonie konnte ihn jetzt sehen. Er stand hoch aufgerichtet vor dem Fernseher, der wieder lief und erneut Bilder der zerstörten Landebahn und brennender Wrackteile in den Raum projizierte. Er musste sich umgezogen haben, denn statt der altmodischen Pelerine trug er nun einen schlichten, aber durchaus modischen schwarzen Mantel. »Ich will nichts lieber als das. Nur fürchte ich, dass der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann, eben der ist, nichts zu tun.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Selbst wenn es möglich wäre - Sie können es nicht.«

»Ach?« Leonies Vater trat in den schmalen Ausschnitt des Zimmers, den der Spiegel zeigte, und baute sich herausfordernd vor Fröhlich auf. »Und wieso nicht?«

»Weil ich sie nicht habe«, sagte Mutter leise, bevor Fröhlich antworten konnte.

»Was?«, schnappte Vater. Leonie hatte ihn selten so aufgeregt gesehen und so wütend.

»Die Gabe«, meinte Fröhlich. »Ich fürchte, Ihre Gattin hat Recht.«

»Mutter hat es mir erklärt«, fügte Leonies Mutter hinzu. »Manchmal überspringt sie eine Generation. Ich wollte es nicht wahrhaben, doch ich fürchte, es ist so. Mutter hatte sie und Leonie wird sie eines Tages auch entdecken, aber ich habe sie nicht.«

»Fängt das jetzt wieder an?«, knurrte Vater. »Haben wir nicht endgültig genug von diesem Unsinn?«

»Ich fürchte, es ist kein Unsinn«, sagte Fröhlich sanft. »Ihre Tochter beginnt es bereits zu spüren. Sie sieht die Dinge so, wie sie sind. Ich fürchte sogar, dass sich die Täuschung nicht mehr allzu lange wird aufrechterhalten lassen.«

»Sie meinen, die Gabe ist in ihr ebenso stark wie in Mutter?«, fragte Leonies Mutter.

»O nein.« Fröhlich schüttelte so heftig den Kopf, dass das Monokel aus seinem Auge rutschte. Er fing es auf und beförderte es an seinen Platz zurück, bevor er fortfuhr: »Sie ist ungleich stärker in ihr. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Hüterin getroffen zu haben, die eine solch intensive Aura gehabt hätte wie sie.«

»Aura! Macht! Hüterin!« Vater machte eine wütende Handbewegung. »Ich habe allmählich genug von diesem hirnverbrannten Unsinn. Seit dreißig Jahren muss ich mir diesen Humbug anhören, aber jetzt reicht es!«

»Humbug?« Fröhlich seufzte enttäuscht. »Nach allem, was Sie erlebt haben, können Sie nicht wirklich so denken.«

»Ich kann und ich werde«, blaffte Vater. »Und ich werde vor allem nicht dulden, dass Sie unsere Tochter mit diesem Irrsinn infizieren!«

»Klaus!«, sagte Mutter scharf, aber ihr Mann fuhr herum und brachte sie mit einer zornigen Geste zum Schweigen.

»Nein!« Er schrie fast. »Es ist genug! Solange ich mich erinnern kann, habe ich mir diesen Unsinn anhören müssen, aber jetzt ist es genug! Dieser verdammte Aberglaube hat das Leben deiner Mutter ruiniert und zum Teil auch deines. Ich werde nicht zulassen, dass Leonie euch auch noch...«

»Was wirst du nicht zulassen?« Leonie trat mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür und sah ihren Vater so fest an, wie sie konnte. Sehr fest war es eigentlich nicht. Trotzdem wiederholte sie ihre Frage noch einmal, und jetzt direkt an ihren Vater gewandt und eine Spur lauter. »Was ist mit mir? Was wirst du nicht zulassen?«

»Du hast gelauscht?«, fragte ihre Mutter. Sie klang bestürzt.

»Also?«, fragte Leonie.

»Nichts«, sagte ihr Vater. »Das braucht dich nicht zu interessieren. Dieser Unsinn hat jetzt ein Ende, und zwar ein für alle Mal.«

»Ich fürchte, so einfach ist das nicht«, warf Fröhlich ein.

»O doch, das ist es«, blaffte Vater. »Und ich will jetzt auch nichts mehr davon hören. Jedenfalls nicht von Ihnen.« Er machte eine herrische Handbewegung in Richtung der Tür. »Sie gehen jetzt besser.«

»Bitte!« Mit einem Mal wirkte Dr. Fröhlich fast verzweifelt. »Wenn ich...«

»Jetzt!«, schrie ihn Leonies Vater an.

Fröhlich hielt seinem Zorn noch einen Moment lang stand, doch dann schüttelte er seufzend den Kopf und wandte sich noch einmal an Leonies Mutter. »Ich bitte Sie inständig, tun Sie nichts, was Sie später bedauern würden.« In Vaters Richtung, aber schon im Hinausgehen begriffen, fügte er hinzu: »Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie Hilfe benötigen.«

»Ich schicke Ihnen eine Brieftaube«, versprach Vater böse. »Oder eine magische Botschaft, falls ich gerade einen Zauberspiegel zur Hand habe.«

Fröhlich sagte nichts mehr, sondern beließ es bei einem letzten, bedauernden Kopfschütteln und verließ endgültig das Zimmer. Leonie machte einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und sah ihm nach, bis er die Haustür hinter sich geschlossen hatte und in Richtung seines altmodischen schwarzen Mercedes davongegangen war.

»Das war wirklich nicht sehr höflich von dir«, sagte Mutter leise.

»Ich hatte auch nicht vor, höflich zu sein«, antwortete Vater grob. »Aber wenn es dich beruhigt: Ich habe mich zurückgehalten, weil Leonie dabei war. Wieso eigentlich?«

Die letzte Frage galt Leonie, aber es dauerte einen Moment, bis sie das überhaupt begriff. Mit einiger Mühe riss sie sich vom Anblick der geschlossenen Haustür los und sah ihrem Vater ins Gesicht. Der gefährliche Moment, in dem sich sein Zorn auf sie zu entladen drohte, war noch immer nicht ganz vorbei, das spürte sie. Aber der Gedanke weckte auch ihren Trotz.

»Ich wollte eben wissen, was hier los ist«, sagte sie. »Ihr verheimlicht mir etwas, habe ich Recht? Es hat etwas mit Großmutter zu tun und mit mir und... und mit dieser seltsamen Tür unten im Keller. Was hat das alles zu bedeuten?«

Sie konnte sehen, wie ihr Vater Luft holte, um sie in ihre Schranken zu weisen, aber ihre Mutter kam ihm zuvor. »Wir wissen es nicht, Leonie. Ich würde es dir sagen, wenn wir es wüssten, aber wir wissen es nicht. Das ist die Wahrheit.«

Nein, dachte Leonie, das war es nicht. Es war gelogen, das spürte sie so deutlich, als wäre das Wort Lüge in roten Leuchtbuchstaben auf die Stirn ihrer Mutter tätowiert. Die Erkenntnis schockierte sie regelrecht. Solange sie denken konnte, hatten ihre Eltern sie niemals belogen, höchstens die Wahrheit manchmal ein wenig in Watte verpackt, um sie ihr schonender beizubringen. Aber sie hatten sie niemals dreist und derb angelogen. Und sie hatten auch niemals wirkliche Geheimnisse vor ihr gehabt. Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, hatte sich das geändert.

Wie so vieles.

»Was wollte denn Fröhlich hier?«, fragte sie.

Wieder war es ihre Mutter, die antwortete. »Ich habe deinen Vater darum gebeten, ihn anzurufen. Ich dachte, er könnte uns vielleicht helfen.«

Und auch das war eine Lüge. Sie hatte eindeutig noch geschlafen, als Vater mit Fröhlich telefoniert hatte.

»Ihr verschweigt mir etwas«, meinte Leonie leise. Sie musste gegen die Tränen ankämpfen. »Ihr wisst, was das alles bedeutet, doch ihr wollt es mir nicht sagen. Habe ich Recht? Weil ihr Angst um mich habt. Aber das müsst ihr nicht. Ich kann die Wahrheit vertragen. Und ich habe ein Recht darauf, sie zu erfahren!«

»Mäßige deinen Ton, junge Dame«, sagte ihr Vater mahnend.

Doch Leonie mäßigte ihren Ton keineswegs, sondern wurde im Gegenteil noch lauter. »Es hat etwas mit Großmutter zu tun, und mit mir, nicht wahr? Was ist die Gabe?«

Ihre Mutter fuhr wie unter einem elektrischen Schlag zusammen und hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, ihrem Blick standzuhalten, aber ihr Vater sagte: »Zweite und letzte Warnung, Leonie. Hüte deine Zunge!«

Leonie hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie diese zweite und letzte Warnung ignorierte - so weit war es noch nie gekommen -, aber sie war durchaus bereit, es herauszufinden. Ohne ihren Vater auch nur eines Blickes zu würdigen, trat sie herausfordernd auf ihre Mutter zu. »Was ist die Gabe? Ich habe gehört, wie du mit Großmutter darüber gesprochen hast. Also sag jetzt bitte nicht, du weißt nicht, wovon ich rede!«

»Leonie!«, wies ihr Vater sie scharf zurecht.

»Nein, lass sie.« Mutter machte eine besänftigende Geste in seine Richtung. »Sie hat ja Recht. Irgendwann muss sie es erfahren.« Sie schwieg einen Moment, um neue Kraft zu sammeln, und Leonies schlechtes Gewissen meldete sich heftig, als ihr klar wurde, wie sehr dieses Gespräch ihre Mutter anstrengte.

»Du hast Recht«, sagte ihre Mutter nach einer Weile noch einmal. »Es hat etwas mit deiner Großmutter zu tun. Du hast sie sehr geliebt, nicht wahr?«

»Natürlich«, antwortete Leonie.

»So wie ich und dein Vater. Deine Großmutter war eine wunderbare Frau. Aber sie war auch... ein wenig sonderbar.«

»Sonderbar?«, wiederholte Leonie misstrauisch. Worauf wollte ihre Mutter hinaus?

»Sie hatte immer schon seltsame Ideen und eine etwas...«, sie zögerte und fuhr mit einem Achselzucken fort, »... andere Einstellung zum Leben als die meisten Menschen, auch als du und ich. In den letzten Jahren ist das immer stärker geworden.«

»Willst du damit sagen, dass Großmutter anfing senil zu werden?«, fragte Leonie empört.

Mutter überging diese Frage einfach. »Es hatte mit ihren Büchern zu tun«, fuhr sie fort. »Sie hat im Grunde nur für ihre Bücher gelebt, und ich glaube, sie hat es nie verwunden, dass ich nicht so geworden bin wie sie.«

»Und deshalb hat sie sich in den letzten Jahren ihres Lebens immer mehr darauf versteift, dass du ihr Erbe antreten sollst«, fügte Vater hinzu. »Sie hat geglaubt, dass es Menschen gibt, die mit Büchern reden können.«

»Reden?«, meinte Leonie verstört. »Was soll denn das heißen?«

»Ich fürchte, das wusste sie selbst nicht mehr so genau«, antwortete ihr Vater. Plötzlich wurde seine Stimme weich und jede Spur von Zorn verschwand aus seinem Gesicht. Er setzte sich neben Mutter auf die Couch, winkte Leonie heran und schloss sie sanft in die Arme, als sie neben ihm Platz nahm. »Du hast Recht, Leonie. Wir haben dir nicht die Wahrheit gesagt. Es gibt keinen Bruder in Kanada. Deine Großmutter war einverstanden, an einen Ort zu gehen, wo man sich besser um sie hätte kümmern können. Aber nur unter gewissen Bedingungen, auf die wir ihr zuliebe natürlich eingegangen sind.«

Leonie starrte ihren Vater entsetzt an. Versuchte er ihr etwa auf diese Weise klar zu machen, dass Großmutter reif für die Klapsmühle gewesen war?

»Aber das ist doch nicht wahr!«, protestierte Leonie. »Ich habe gehört, was Großmutter zu Fröhlich gesagt hat.«

»Wenn du mich fragst, dann ist dieser Fröhlich fast genauso verrückt«, sagte Vater und Leonie fuhr mit schriller, sich fast überschlagender Stimme fort: »Und ich habe mit Großmutter gesprochen! Zwei Mal! Sie hat mich gewarnt!«

»Wie meinst du das?«, fragte ihre Mutter alarmiert.

»In der Nacht!«, antwortete Leonie erregt. Noch bevor sie die Worte aussprach, spürte sie, dass es ein Fehler war, aber sie konnte einfach nicht mehr aufhören. »Ich habe sie im Spiegel gesehen, gestern Nacht. Und dann noch einmal, heute Morgen auf der Terrasse!«

»Aber das ist nicht möglich, Liebling«, meinte ihre Mutter sanft. »Ich weiß, man will es einfach nicht wahrhaben, weil es so wehtut. Aber sie ist tot. Du kannst nicht mit ihr gesprochen haben.«

»Es war ihr Geist«, behauptete Leonie. »Ich habe mit ihrem Geist gesprochen! Sie hat mich gewarnt! Sie hat gesagt, dass du es nicht tun darfst, weil sonst etwas Schreckliches geschieht!«

Ihre Eltern antworteten nicht. Das mussten sie auch nicht. Die Art, wie sie sie ansahen, verriet genug.

Leonie riss sich los, sprang auf und rannte so schnell in ihr Zimmer hinauf, wie sie nur konnte.

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