Sie war nicht überrascht, als sie am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang aufwachte (was um diese Jahreszeit deutlich vor sechs bedeutete!) und feststellte, dass sie keineswegs die Erste war: Aus dem Erdgeschoss drang Musik herauf, was ziemlich ungewöhnlich war. Ihre Eltern liebten beide Musik, aber sie waren auch beide der Auffassung, dass gute Musik etwas viel zu Kostbares war, um sie als bloße Berieselung einzusetzen, und Musik, die man nur einschaltete, um sich berieseln zu lassen, es nicht wert war, gehört zu werden. Seichte Musik aus dem Radio - noch dazu um diese Uhrzeit -, das hatte sie im Haus ihrer Eltern noch nie erlebt, solange sie sich erinnern konnte. Das war seltsam, fast so seltsam wie der verrückte Traum, den sie in der vergangenen Nacht gehabt hatte und in dem sie ein Einbrecherquartett in ihrer Wohnung...
Es war kein Traum gewesen!
Die Erkenntnis traf Leonie mit solcher Wucht, dass sie sich viel zu hastig aufsetzte und ihr fast augenblicklich schwindelig wurde. Mit einem unbehaglichen Stöhnen sank sie wieder zurück. Aber dieses Schwindelgefühl änderte nichts daran, dass es kein Traum gewesen war. Maus, Meister Bernhard und die anderen, die unheimlichen Männer der Stadtgarde - all das war wahr! Wenn sie noch Zweifel gehabt hätte, dann hätte das taube Gefühl in ihrem Kiefer sie vermutlich beseitigt. Und wenn nicht das, dann der Anblick ihres Bauches: Leonie setzte sich ein zweites Mal und diesmal sehr viel vorsichtiger auf, zog ihr Nachthemd hoch und stellte ohne große Überraschung fest, dass ihr gesamter Bauch im Grunde ein einziger blauer Fleck war. Während sie die Beine aus dem Bett schwang und vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen aufstand, nahm sie sich vor, sämtliche Jackie-Chan-Kassetten in den Mülleimer zu werfen und die von Bruce Lee und Chuck Norris gleich hinterher.
Noch immer ein wenig schlaftrunken wankte sie zur Tür, machte aber auf halbem Wege noch einmal kehrt und ging zum Schreibtisch zurück. Der bunt beklebte Pappkarton stand unverändert da, und als Leonie sich darüber beugte, sah sie Conan friedlich schlafend auf seinem zusammengefalteten Taschentuch liegen. Die winzige Schramme auf seiner Nase, die von seinem Zusammenstoß mit Mausetod kündete, war immer noch deutlich zu sehen.
»Falls du vielleicht das dringende Bedürfnis verspürst, mir etwas zu sagen, dann wäre jetzt der richtige Moment dazu«, meinte sie.
Die Maus öffnete ein Auge, blinzelte zu ihr hoch und drehte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, und Leonie gab es auf. Plötzlich kam sie sich albern vor, mit einer Maus zu reden. Sie schüttelte den Kopf, lachte leise über ihre Naivität und schlurfte ins Bad. Das kalte Wasser, das sie sich ins Gesicht schöpfte, vertrieb zwar die Müdigkeit, aber nicht den dumpfen Druck auf ihren Gedanken.
Vielleicht nicht einmal wirklich die Müdigkeit, denn als Leonie aufsah und in den Spiegel blickte, da starrte ihr ein hohlwangiges, bleiches Gespenst entgegen, unter dessen Augen tiefe dunkle Ringe lagen. Sie war sehr blass, aber ihre Haut war nicht weiß, sondern eher grau. Das einzig Strahlende an ihrer Erscheinung schien die silberne Kette zu sein, die sie um den Hals trug; und die kleine Piercing-Nadel, die anstelle eines Anhängers daran baumelte.
»Wo bist du, Großmutter?«, murmelte sie, während sie die Hand um den silbernen Anhänger schloss. »Warum hilfst du mir nicht? Warum sagst du mir nicht, was ich tun soll?«
Aber nichts geschah. Weder leuchtete der Anhänger in einem inneren magischen Licht auf, noch verwandelte sich ihr Spiegelbild in das Antlitz ihrer Großmutter. Vielleicht hatten die wenigen Male, die Großmutter den Abgrund zwischen dem Jenseits und ihr überbrückt hatte, all ihre Kraft aufgezehrt.
Vielleicht verlor sie aber auch einfach nur den Verstand.
Leonie ging in ihr Zimmer zurück - Conan schlief immer noch -, zog sich an und ging dann nach unten. Nur wenige Tage nach Beginn der Sommerferien erschien es ihr geradezu verbrecherisch, zu einer so gotteslästerlichen Zeit wie dieser aufzustehen, aber sie war einerseits hundemüde, zugleich aber auch von einer kribbelnden Unruhe erfüllt, die es ihr sowieso unmöglich machen würde, noch einmal einzuschlafen. Außerdem gab es ungefähr dreihundertundachtundvierzig Millionen Fragen, die sie ihrem Vater stellen wollte.
Auch wenn sie, ehrlich gesagt, nicht damit rechnete, auch nur eine einzige Antwort zu bekommen.
Während sie die Treppe hinunterging, fiel ihr erneut die Musik auf - irgendein seichter Popsong, den sie selbst niemals freiwillig gehört hätte -, aber als sie im Erdgeschoss angelangt war, wurde ihr klar, dass diese laute Musik kein Zufall war, vielmehr war sie bewusst eingeschaltet worden, um eine Art akustischen Schutzschild zu bilden. Was immer hier unten vorgegangen oder gesprochen worden war - sie hätte keine Chance gehabt, irgendetwas davon oben in ihrem Zimmer mitzubekommen.
Als sie die letzte Stufe erreichte, erregte eine Bewegung, die sie nur aus den Augenwinkeln sah, ihre Aufmerksamkeit. Leonie drehte mit einem Ruck den Kopf und sah gerade noch einen verschwommenen Schemen hinter dem bunten Tiffany-Glas der Haustür verschwinden. Das gefärbte Glas machte es schwer, Einzelheiten zu erkennen, aber Leonie hatte dennoch einen flüchtigen Eindruck von etwas beige und rot Gestreiftem und einem raschen Aufblitzen von Blau.
War das ein Krankenwagen gewesen? Leonie blickte die nun wieder leere Tür noch einen Moment nachdenklich an, dann zuckte sie mit den Schultern und setzte ihren Weg fort. Trotz der Musik konnte sie jetzt gedämpfte Stimmen vernehmen. Wahrscheinlich saßen ihre Eltern auf der rundum verglasten Terrasse und frühstückten - auch wenn sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum sie das zu einer so unmöglichen Uhrzeit tun sollten. Sie durchquerte rasch die Küche und trat auf die Terrasse hinaus.
Es waren nicht ihre Eltern.
Zumindest waren sie es nur zur Hälfte.
Ihr Vater saß auf seinem Lieblingsstuhl und trug trotz der frühen Stunde bereits Anzug und Krawatte. In der linken Hand hielt er ein Glas mit einer goldgelben Flüssigkeit, von der Leonie einfach wusste, dass sie alkoholischer Natur war (morgens um sechs?!), die andere war damit beschäftigt, eine fette graue Perserkatze zu streicheln, die es sich auf seinem Schoß bequem gemacht hatte und alles in ihrer Macht Stehende tat, um die Musik niederzuschnurren. Und wenn Leonie jemals einen Ausdruck von Erschrecken auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt auf dem ihres Vaters.
»Was... was machst du denn hier?«, keuchte er, ohne sich mit einer überflüssigen Formalität wie einem Guten Morgen aufzuhalten. Auch noch das letzte bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Leonie und wandte sich dem zweiten Gast auf der Terrasse zu. Auf dem Stuhl, der normalerweise ihrer Mutter vorbehalten war, saß nun ein grauhaariger Mann Anfang fünfzig, der Leonie auf unheimliche Weise bekannt vorkam, ohne dass sie genau sagen konnte woher. Sein Gesicht war kantig, hart, und wenn seine Augen jemals imstande gewesen waren, irgendein anderes Gefühl als Misstrauen und Verachtung auszudrücken, so musste das lange her sein.
Ihr Vater setzte zu einer Antwort an, doch Leonie kam ihm zuvor. »Wir haben Besuch?«
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie der Grauhaarige ganz leicht zusammenzuckte, während ihr Vater erneut und eindeutig mehr als nur ganz leicht zusammenfuhr. Er sah aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. »Das ist Herr...«, begann er.
»Hendrik«, fiel ihm der Grauhaarige lächelnd ins Wort. Er wandte sich Leonie zu. »Ich lege keinen Wert auf Förmlichkeiten. Du vielleicht?«
Leonie schüttelte ganz automatisch den Kopf, aber ihre Verwirrung stieg eher noch. Und dann, schlagartig, erkannte sie den grauhaarigen Mann. Der elegante Anzug, das Seidenhemd und die teure Krawatte hatten sie verwirrt, aber es war gerade diese Kleidung, die sie die Wahrheit plötzlich erkennen ließ - und sei es nur, weil ihr mit einem Mal klar wurde, wie unwohl er sich in diesem ungewohnten Aufzug fühlte. Ihr Gegenüber war niemand anderer als der Hauptmann der Stadtgarde.
»Und wieso...?«, begann sie, nur um sofort von ihrem Vater unterbrochen zu werden: »Hendrik wird jetzt für eine Weile bei uns wohnen, Leonie. Das erleichtert ihm seine Aufgabe.«
»Seine Aufgabe?«, wiederholte Leonie.
»Das klingt jetzt ein bisschen offizieller, als es ist«, mischte sich Hendrik lächelnd ein. »Dein Vater hat mich gebeten, ein bisschen auf dich aufzupassen, das ist alles.«
Leonie starrte den Mann geschlagene zehn Sekunden lang an, dann brachte sie es auf den Punkt. »Sie sind unser neuer Bodyguard?«
»Nur für ein paar Tage«, sagte Vater rasch. »Eine Woche oder allerhöchstens zwei.«
»Oder drei oder vier?«, fragte Leonie. »Und wenn wir schon einmal dabei sind: warum nicht einen Monat oder zwei?«
»Nur so lange, wie es die Situation erfordert«, erwiderte ihr Vater. Hendrik schwieg, aber man musste kein Meister im Mienenlesen sein, um zu erkennen, was er von Leonies aufmüpfigem Ton hielt.
»Welche Situation?«, fragte Leonie. Als ob sie das nicht wüsste.
Ihr Vater antwortete nicht direkt darauf, sondern gewann ein paar Sekunden Aufschub, indem er einen weiteren Schluck aus seinem Glas nahm. Seine Hand zitterte dabei so stark, dass die Eiswürfel darin klingelten, und Leonie fiel erneut auf, wie blass und übernächtigt er aussah. Sie hatte sich getäuscht: Ihr Vater trank nicht schon Alkohol, sondern immer noch. Er hatte in dieser Nacht kein Auge zugetan. Im Stillen tat sie ihm Abbitte für alles, was sie gerade gedacht hatte (nun ja: für das meiste). Immerhin hatte er am vergangenen Abend mit Mühe und Not einen Mordanschlag überlebt, und er war schließlich nicht James Bond, der so etwas routinemäßig täglich vor dem Frühstück erledigte. Die meisten an seiner Stelle wären wahrscheinlich glatt ausgeflippt, statt nur Trost in einem Glas Cognac zu suchen.
Leonie wunderte sich im Nachhinein sogar ein wenig, dass sie selbst die Aufregung so gut weggesteckt hatte. Vielleicht kam ihr ja ihre Jugend zugute. Trotz allem war die Geschichte für sie vor allem eines gewesen: ein großes, aufregendes Abenteuer. Bis zu dem Moment, in dem Bernhard sie niedergeschlagen hatte, war sie nicht wirklich auf den Gedanken gekommen, sie könnte in Gefahr sein. Aber danach... Leonie lief schon bei der bloßen Erinnerung ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Männer der Stadtgarde auch nur fünf Minuten später aufgetaucht wären.
»Wo ist eigentlich Mutter«, fragte sie - im Grunde nur, um das Thema zu wechseln und sich selbst auf andere Gedanken zu bringen. »Schläft sie noch?«
Es war eine ganz harmlose Frage, aber ihr Vater fuhr so heftig zusammen, dass er ein paar Tropfen von seinem Getränk verschüttete und Mausetod mit einem beleidigten Maunzen von seinem Schoß hüpfte und sich trollte, um sich irgendwo das Fell zu putzen.
»Was?«, fragte er.
»Wo ist Mutter?«, wiederholte Leonie. Ihr Vater hatte sie ganz genau verstanden. Er stellte diese Frage nur, um Zeit zu gewinnen. Plötzlich fiel ihr etwas ein, was sie gerade draußen auf dem Flur beobachtet hatte. Sie hatte ihm keinerlei Bedeutung zugemessen, aber nun... »Der Krankenwagen«, murmelte sie. »Das war ein Krankenwagen gerade, habe ich Recht?« Sie richtete sich kerzengerade auf. »Was ist passiert?«
Ihr Vater unterbrach sie mit einer raschen beruhigenden Handbewegung, aber er wandte sich an Hendrik, nicht an sie, als er weitersprach. »Würden Sie uns vielleicht einen Moment allein lassen, Hendrik?«, bat er.
»Selbstverständlich.« Der grauhaarige Bodyguard stand mit einer fließenden Bewegung auf. »Ich wollte ohnehin das Grundstück in Augenschein nehmen. Dieser große Garten gefällt mir nicht. Zwischen all diesen Büschen könnte sich eine ganze Armee verstecken und ich würde es nicht einmal merken.«
Vater sah ihm nach, bis er die große Schiebetür zum Garten geöffnet hatte und verschwunden war. »Der Mann ist ein echter Profi. Ein beruhigendes Gefühl, so jemanden in der Nähe zu haben.«
Leonie fand, dass es eher ein beunruhigendes Gefühl war, so jemanden wie ihn auch nur zu brauchen. »Was ist mit Mutter?«, fragte sie.
»Deiner Mutter fehlt nichts.« Vater sah sie nicht an. »Es war alles ein bisschen viel für sie.«
»Der Krankenwagen«, beharrte Leonie.
»Ihr fehlt nichts«, beteuerte Vater. »Ich halte es nur für besser, wenn sie sich eine Weile... erholt.« Er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen, als sie widersprechen wollte. »Es ist besser so, glaub mir. Du hast gestern Abend selbst erlebt, was passiert ist.«
»Du meinst...« Leonie brach erschrocken ab. »Aber sie haben Bernhard und seine Bande doch mitgenommen!«
»Und?« Vater schnaubte. »Das waren doch nur Handlanger. Austauschbare Werkzeuge, die schnell ersetzt sind.«
»Was hat das alles mit Mutter zu tun?«, wollte Leonie wissen. »Wieso ist sie mit dem Krankenwagen weggebracht worden? Sag mir die Wahrheit!«
Das Aufleuchten einer roten Lampe über der Tür bewahrte ihren Vater davor, antworten zu müssen. Er schrak zusammen und stand in der gleichen Bewegung auf.
»Was ist denn das?«, fragte Leonie überrascht.
»Der Bewegungsmelder«, antwortete ihr Vater. »Jemand hat das Grundstück betreten. Besuch. Aber um diese Zeit?«
»Seit wann haben wir eine Alarmanlage?«, wunderte sich Leonie.
»Schon eine ganze Weile«, antwortete Vater. »Ich hatte nur gehofft, dass wir sie nicht brauchen würden. Deswegen habe ich sie nie eingeschaltet. Bleib hier.« Er verschwand im Haus, aber bevor er es tat, glitt seine rechte Hand in die Jackentasche. Leonie hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung von dem, was er darin trug.
Natürlich blieb sie nicht sitzen, sondern folgte ihrem Vater so schnell, dass sie ihn bereits einholte, noch bevor er die Haustür erreichte. Er reagierte mit einem wenig begeisterten Blick, sagte aber nichts, sondern streckte die Linke nach der Türklinke aus. Seine andere Hand blieb weiter in der Jackentasche.
Vor der bernsteinfarbenen Glasscheibe hob sich die Silhouette einer schlanken Frau ab. Gerade als sie die Hand nach der Klingel ausstrecken wollte, riss ihr Vater die Tür auf, und nicht nur Leonie fuhr überrascht zusammen.
»Theresa!«, grollte Vater. »Was suchen Sie denn hier?«
»Ja, ich... ich freue mich auch, dich zu sehen«, antwortete Theresa stockend. »Das meine ich ernst.«
»Was wollen Sie?«, fragte Vater. »Hier aufzutauchen, ist ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit!«
»Ich... ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst«, erwiderte Theresa unsicher. »Aber ich muss mit dir reden... mit euch. Darf ich reinkommen?«
»Nein«, antwortete Vater grob. »Sie sollten gehen, bevor ich die Polizei rufe und Sie verhaften lassen. Ich frage mich sowieso, warum ich das nicht gleich tue.«
Theresa rang mühsam um Fassung. »Ich kann dich ja verstehen«, sagte sie. Leonie hörte ein Geräusch hinter sich, wandte den Kopf und erblickte Hendrik, der den Hausflur betreten hatte. Er war stehen geblieben, sah aber sehr aufmerksam aus. Auch Theresa hatte den elegant gekleideten Bodyguard entdeckt und verstummte für einen Moment, fuhr aber dann schneller und mit leicht schriller Stimme fort: »Ich habe gehört, was gestern Nacht hier passiert ist. Es tut mir wirklich Leid. Ich wollte das nicht. Das musst du mir glauben! Sie sollten nur das Buch holen, sonst nichts.«
»Sie geben es also zu?« Vater schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist ungeheuerlich! Sie hetzen uns ein Killerkommando auf den Hals und haben dann auch noch die Unverfrorenheit, hier aufzutauchen und um Verständnis zu bitten?! Nennen Sie mir einen einzigen vernünftigen Grund, warum ich nicht sofort die Polizei rufen soll!«
»Ich habe doch gesagt: Es tut mir Leid«, rief Theresa.
»Leid?!«, fauchte Vater. Hendrik kam näher und verschränkte die Arme vor der Brust, während er hinter Leonie und ihrem Vater Aufstellung nahm. Er sagte kein Wort, aber er war die personifizierte Drohung. »Leid?«, fragte Vater noch einmal. Seine Stimme überschlug sich fast. »Meine Frau hatte einen Nervenzusammenbruch und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Meine Tochter wurde zusammengeschlagen und Ihr Rollkommando hat das halbe Haus in Trümmer gelegt - und es tut Ihnen Leid?«
»So sollte es nicht enden«, beteuerte Theresa. »Aber du musst aufhören, das Buch zu missbrauchen. Du weißt nicht, welchen Schaden du anrichtest!«
»Im Moment hätte ich gute Lust, eine ganz andere Art von Schaden anzurichten«, knurrte Vater. Er schien noch mehr sagen zu wollen, drehte sich dann aber auf dem Absatz um und wandte sich an Hendrik. »Kümmern Sie sich bitte um meine Tochter. Ich komme gleich nach.« Und bevor Leonie auch nur begriff, was er damit meinte, trat er zu Theresa hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
»He!«, protestierte Leonie. »Was soll denn das?«
Hendrik lachte. »Ich glaube, dein Vater wollte dir auf diese Weise sagen, dass er allein mit dieser Frau reden möchte - ich darf doch du sagen?«
»Solange Sie nicht wieder mit diesem Ehrwürdiges-Fräulein-Blödsinn anfangen«, sagte Leonie. Hendrik zog überrascht die Augenbrauen hoch und Leonie fügte mit einem flüchtigen Lächeln hinzu: »Ich bin nicht blind.«
Sie wandte sich wieder zur Tür. Theresa und ihr Vater hatten sich ein paar Schritte entfernt. Sie konnte nicht hören, was sie miteinander redeten, aber beide hatten heftig zu gestikulieren begonnen. »Vielleicht sollten wir die beiden nicht allein lassen«, sagte sie leise.
»Ich denke, dein Vater kann sich ganz gut selbst seiner Haut wehren«, erwiderte Hendrik, aber Leonie schüttelte den Kopf.
»Ich mache mir eher Sorgen um Theresa«, erklärte sie. »Mein Vater hat sich verändert, wissen Sie? Er war früher ein sehr friedlicher Mensch, aber seit ein paar Tagen...«
»Er steht unter großem Druck«, antwortete Hendrik. »Du musst ihn verstehen. Ich erlebe so etwas öfter.«
»Als professioneller Bodyguard?«, fragte Leonie. Sie sah, dass Hendrik mit diesem Wort nichts anfangen konnte und verbesserte sich: »Leibwächter.«
»Die Leute neigen dazu, die Gefahr zu überschätzen«, bemerkte Hendrik schulterzuckend. »So etwas wie gestern Nacht wird sich nicht wiederholen, das verspreche ich dir.«
»Haben Sie wenigstens eine Waffe?«, fragte Leonie.
Hendrik verneinte. »Die brauche ich nicht. Waffen sind gefährlich. Auch für den, der sie besitzt. Aber mach dir keine Sorgen. Meine Männer und ich passen schon auf deinen Vater auf. Ihm wird nichts geschehen.«
»Nur auf meinen Vater?«, hakte Leonie nach. »Nicht auf mich?«
Hendrik wirkte für einen Moment ertappt. »Ich... ich meine natürlich: auf euch«, sagte er hastig.
Aber das hatte er nicht gemeint. Die Bemerkung war ihm herausgerutscht, ohne dass er es gewollt hatte, und er bedauerte sie zutiefst, das spürte Leonie genau. Sie wollte erneut nachhaken, doch Hendrik kam ihr zuvor. »Die Sache mit dem Jungen gestern Abend...«
»Ich habe ihn absichtlich laufen lassen«, fiel ihm Leonie ins Wort. »Und?«, fügte sie herausfordernd hinzu. »Verpetzen Sie mich jetzt bei meinem Vater?«
»Eigentlich wollte ich nur wissen, warum du das getan hast«, antwortete Hendrik.
»Sie haben es gemerkt?«
»Was sagtest du gerade selbst?«, fragte Hendrik lächelnd. »Ich bin nicht blind. Aber keine Sorge. Ich habe deinem Vater nichts gesagt und ich werde ihm auch nichts sagen. Aber warum hast du es getan? Diese Leute hätten euch umgebracht.«
»Maus hat nichts damit zu tun.«
»Maus? Ist das sein Name?«, wollte Hendrik wissen.
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Leonie. »Aber sie haben ihn so genannt. Und er hat nichts damit zu schaffen.«
»Immerhin war er dabei«, gab Hendrik zu bedenken.
»Stimmt! Und vorher ist er über das Dach in mein Zimmer eingedrungen, um mich zu warnen. Deshalb habe ich ihn laufen lassen.«
»Ich bin nicht sicher, dass du ihm damit einen Gefallen getan hast«, sagte Hendrik, aber zugleich erschien auch ein sehr warmes, ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht. »Du magst diesen Jungen.«
»Quatsch«, entgegnete Leonie. »Ich kenne ihn ja gar nicht.«
Hendrik lächelte nur, und weiter kamen sie auch nicht, denn die Tür wurde aufgerissen und Leonies Vater kam zurück. »Diese impertinente Person!«, schimpfte er. »Sie wagt es, nach all dem nicht nur, hierher zu kommen, sondern untersteht sich auch noch, mir Vorwürfe zu machen!«
»Soll ich sie von meinen Männern beschatten lassen?«, fragte Hendrik. Leonies Vater überlegte einen Moment, dann nickte er. »Warum eigentlich nicht? Wenigstens für eine Weile. Ich traue ihr und ihren sauberen Freunden alles zu. Veranlassen Sie das Nötige.«
Hendrik entfernte sich gehorsam und Vater schien darauf zu warten, dass auch Leonie ging - aber sie dachte ja gar nicht daran.
»Was war denn das gerade für eine Geschichte?«, fragte sie. »Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch?«
»Sie hatte einen Schock«, antwortete Vater. »Du hast sie doch selbst gesehen, oder?«
»Wenn es so schlimm war, warum hast du dann nicht gestern Abend schon einen Arzt gerufen?«, wollte Leonie wissen. »Hier stimmt doch was nicht! Ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen!«
Ihr Vater schwieg einen Moment, aber dann seufzte er und machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Nicken und einem resignierten Achselzucken lag. »Also gut, du hast ja Recht. Ich hätte es dir schon viel eher sagen sollen, aber ich habe gehofft, dass es sich von selbst wieder bessert.«
»Dass sich was bessert?«, fragte Leonie.
Wieder druckste ihr Vater einige Sekunden herum, bevor er antwortete. »Deine Mutter hat... schon seit einer ganzen Weile Probleme«, sagte er zögernd. »Begonnen hat es schon viel früher. Vor ungefähr zehn Jahren.«
»Als...«, Leonie brach ab und schluckte trocken.
Vater nickte. »Ja. Kurz nachdem dein kleiner Bruder gestorben ist. Ich glaube, sie ist nie ganz darüber hinweggekommen. Und jetzt... nachdem all diese schrecklichen Sachen passiert sind.« Vater starrte einen Moment lang ins Leere, bevor er weitersprach. »Sie ist stiller geworden, das ist dir doch bestimmt auch schon selbst aufgefallen.«
Leonie nickte. »Und?«
»Die Ärzte haben eine Menge hochkomplizierter Bezeichnungen dafür«, fuhr Vater fort. »Aber wir haben es früher einfach Depressionen genannt. Ich hatte gehofft, dass es sich irgendwann einmal bessert, aber das war nicht der Fall. Ganz im Gegenteil: Es ist immer schlimmer geworden. Die Geschichte heute Nacht war zu viel für sie. Deshalb habe ich mich entschlossen, sie für eine Weile in die Obhut von Menschen zu geben, die sich besser um sie kümmern können als ich.«
Leonie dachte noch einmal an den Krankenwagen, aber es vergingen trotzdem weitere drei oder vier Sekunden, bevor sie wirklich begriff, was die Worte ihres Vaters bedeuteten. »Du... hast sie... in die Klapsmühle einweisen lassen?«, keuchte sie.
»Das Wort Sanatorium wäre mir lieber«, sagte ihr Vater ruhig.
»Du hast sie einfach... abgeschoben?«, murmelte Leonie ungläubig.
»Ich kann hier nichts mehr für sie tun«, verteidigte sich Vater. »Es ist das beste Sanatorium im ganzen Land. Dort kann man sich viel besser um sie kümmern.«
»Aha«, meinte Leonie bitter. »Und wo kann man sich viel besser um mich kümmern?«
Vaters Gesicht verdüsterte sich. »Hat Hendrik etwa...?«
»Nein«, unterbrach ihn Leonie. »Aber stell dir vor, ich bin ganz von selbst draufgekommen.«
»Es ist besser so«, erklärte ihr Vater. »Verdammt, Leonie, glaubst du denn, es fällt mir leicht, mich von meiner Familie zu trennen? Bestimmt nicht! Aber du hast doch selbst erlebt, was heute Nacht passiert ist! Und diese Leute werden nicht aufhören, ganz egal, wie scheinheilig diese Theresa auch tut! Verstehst du nicht, was hier vorgeht?«
»Nein!«, antwortete Leonie ehrlich.
»Diese Verrückten wollen mit Gewalt erreichen, dass das Buch in deinen Besitz übergeht«, sagte ihr Vater. »Sie wissen, dass ich das freiwillig nicht zulassen würde - aber es gibt einen anderen Weg, um das zu erreichen.«
»Und welchen?«
»Du könntest es erben«, antwortete Vater. »Wenn deiner Mutter und mir etwas zustoßen würde, dann würdest du es ganz automatisch erben.«
Leonie wirkte schockiert. »Du glaubst, sie... sie würden versuchen euch umzubringen?«, murmelte sie ungläubig.
»Ich traue es ihnen auf jeden Fall zu«, erklärte Vater grimmig. »Vor allem nach heute Nacht.« Er schüttelte heftig den Kopf, um jeden möglichen Widerspruch von vornherein im Keim zu ersticken. »Ich kann kein Risiko eingehen. Bis die Sache ausgestanden ist, möchte ich, dass du an einem Ort bist, wo sie dich nicht finden.«
»Und... wann?«, fragte Leonie mit leiser bebender Stimme.
»Heute«, sagte Vater. Er sah auf die Uhr. »Dein Zug geht in knapp zwei Stunden. Es ist bereits alles arrangiert. Geh bitte nach oben und pack deine Sachen zusammen. Hendrik bringt dich zum Bahnhof.«
Die zwei Stunden Frist, die ihr Vater ihr gewährt hatte, hätten Leonie normalerweise nicht einmal gereicht, um sich auch nur zu überlegen, welche Sachen sie einpacken sollte und worauf sie in nächster Zeit getrost verzichten konnte - und wie auch? Sie wusste weder wohin sie ins Exil geschickt wurde, noch wie lange ihr unfreiwilliger Aufenthalt in Wo-auch-immer dauern würde. Die Frage stellte sich jedoch gar nicht. Als Leonie in ihr Zimmer hinaufkam, fand sie zu ihrer nicht geringen Überraschung drei nagelneue und allem Anschein nach bereits fix und fertig gepackte Koffer auf ihrem Bett vor. Ebenso verwirrt wie neugierig machte sie einen davon auf und erlebte eine zweite, noch größere Überraschung: Der Koffer war ordentlich gepackt, aber die Kleider darin waren ihr ebenso fremd wie der Koffer selbst, und genauso neu. Nacheinander öffnete sie auch noch die beiden anderen Koffer und sichtete ihren Inhalt. Die Kleider hatten genau ihre Größe und entsprachen auch genau ihrem Geschmack. Jedes einzelne Teil war neu - und es waren ziemlich viele: ein gutes Dutzend T-Shirts, ebenso viele Blusen und Pullover, Jeans, ein halbes Dutzend Röcke, ein paar Schuhe und, und, und - auf jeden Fall entschieden zu viele, um der Behauptung ihres Vaters, es handele sich nur um ein paar Tage, auch nur einen Rest von Glaubwürdigkeit zu lassen.
Sie versuchte die drei Koffer wieder genauso ordentlich zu schließen, wie sie sie vorgefunden hatte (es blieb bei dem Versuch. Das Ergebnis war allerhöchstens mäßig), wandte sich um und prallte fast mit Hendrik zusammen, als sie ihr Zimmer verließ.
»Nicht so stürmisch«, sagte Hendrik lächelnd. »Wir haben ja noch ein wenig Zeit.«
Leonie setzte zu einer Antwort an, drehte aber dann stattdessen den Kopf und runzelte die Stirn, als sie das typische Motorengeräusch von Vaters Porsche hörte. »Was...?«
»Ich soll dir sagen, dass dein Vater dringend weg musste«, erklärte Hendrik.
»Jetzt?«, fragte Leonie ungläubig.
Hendrik hob die Schultern. »Ich hatte das Gefühl, dass er es wirklich ernst meinte. Es tut ihm Leid, dass er dich nicht selbst zum Bahnhof bringen oder wenigstens bis zu deiner Abreise bleiben konnte. Aber er wird versuchen zum Bahnhof zu kommen, um sich dort mit uns zu treffen. Und ich soll dir noch etwas von ihm geben.« Seine Hand glitt unter das Sakko des modern geschnittenen, hellblauen Sommeranzuges und kramte einen Moment lang dort herum, und erneut fiel Leonie auf, wie sonderbar unpassend das - zweifellos maßgeschneiderte - Kleidungsstück an ihm wirkte. Endlich förderte er einen dicken, gepolsterten Umschlag zutage, den er Leonie reichte. »Ich bringe dein Gepäck nach unten. Das Fahrzeug, das dein Vater bestellt hat, wird in einer halben Stunde hier sein.«
Er sagte Fahrzeug, nicht Taxi, dachte Leonie und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Etwas in ihr hatte längst begriffen, was das Ganze bedeutete, aber der Gedanke war so bizarr, dass sich ihr Verstand immer noch weigerte, die Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen. Während Hendrik in ihr Zimmer ging, um die Koffer zu holen, trat sie einen Schritt zur Seite und riss den Umschlag auf. Er enthielt ein modernes Handy und eine Kreditkarte, auf der Leonie zu ihrer eigenen Überraschung ihren eigenen Namen entdeckte, sowie eine einzelne Visitenkarte mit einer Adresse in Frankfurt und einer zusätzlich mit der Hand darunter geschriebenen Telefonnummer.
Leonie steckte die beiden Karten mit einem angedeuteten Achselzucken ein, klappte das Handy auf und staunte nicht schlecht, als sie sah, dass es sich tatsächlich um das allerneueste Modell handelte; einer jener kleinen Wunderapparate, die so viel Video-, Spiel- und Internetfunktionen hatten, dass sie kein normaler Mensch alle ausprobieren konnte. Sie aktivierte das Telefonbuch und stellte fest, dass sich schon ein gutes Dutzend Einträge darin befand: ihre Nummer hier zu Hause, die beiden Mobilfunk-Anschlüsse ihres Vaters, aber auch ein paar Nummern, die ihr gänzlich unbekannt waren.
Hendrik kam zurück. Obwohl er die drei schweren Koffer auf einmal trug, bewegte er sich lautlos wie eine Katze. Als er bei Leonie angekommen war, blieb er stehen und deutete mit dem Kopf auf das Handy: »Dein Vater lässt dir ausrichten, dass du im Notfall nur die Eins drücken musst.«
»Und dann?«
»Bin ich in spätestens einer Minute da«, antwortete Hendrik. »Oder einer meiner Männer. Aber wahrscheinlich werde ich es sein. Er hat mich persönlich für deine Sicherheit verantwortlich gemacht.«
»Und wenn ich keinen Wert darauflege?«
Hendriks Lächeln nach zu urteilen, war es ihr nicht gelungen, ihn zu beleidigen. Er hob die Schultern, ging weiter und sagte: »Ich mache nur meine Arbeit.«
Leonie sah ihm frustriert nach, kehrte aber dann noch einmal in ihr Zimmer zurück So vorausschauend ihr Vater - oder die mittelgroße Armee von Heinzelmännchen, die er zu beschäftigen schien - auch gewesen sein mochte, eines hatte er vergessen, sie jedoch nicht: Sie hatte eindeutig zu wenige Freunde, als dass sie es sich leisten konnte, einen von ihnen einfach in einem Schuhkarton auf dem Schreibtisch zurückzulassen.
Der Schuhkarton war noch da, aber Conan nicht. Auf dem zerknüllten Taschentuch waren noch die Umrisse des winzigen Mauskörpers zu sehen, aber er selbst war spurlos verschwunden.
»Conan?«, rief sie. »Wo bist du? Das ist deine letzte Chance! Das Taxi wartet!«
»Noch nicht ganz«, antwortete Hendriks Stimme hinter ihr. »Aber wir sollten uns trotzdem allmählich fertig machen.« Er sah sich mit übertrieben gerunzelter Stirn um. »Wer ist Conan?«
»Niemand«, erwiderte Leonie hastig. »Ich habe nichts gesagt. Sie müssen sich getäuscht haben.«
Bevor Hendrik Gelegenheit hatte, seinen Unglauben, der sich deutlich auf seinem Gesicht widerspiegelte, zu äußern, fuhr sie auf dem Absatz herum, stürmte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Ihre Koffer standen vor der Tür, aber Leonie wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und ging ins Arbeitszimmer.
Alle Spuren der vergangenen Nacht waren beseitigt. Bücher und Akten standen wieder ordentlich auf den Regalen, die Bilder hingen an ihren Plätzen, als hätte hier niemals ein Kampf stattgefunden, und selbst die zerbrochenen Gläser und Blumenvasen waren bereits ersetzt worden. Der einzige Unterschied zu sonst war der Tresor: Die schwere Stahltür stand offen und der Geldschrank war vollkommen leer.
»Brauchst du noch irgendetwas?«
Diesmal fuhr Leonie erschrocken zusammen, als sie Hendriks Stimme hinter sich hörte. »Nein«, sagte sie gepresst, zählte in Gedanken langsam bis drei und drehte sich dann betont gemächlich herum. »Aber Sie könnten mir einen großen Gefallen tun. Hören Sie bitte auf, sich ständig wie eine Katze anzuschleichen. Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt.«
»Ich werde mir kleine Glöckchen an die Hosenbeine nähen«, erklärte Hendrik grinsend. »Das Fahrzeug ist da.«
»Schön, dass Sie nicht Kutsche gesagt haben«, murmelte sie - wohlweislich aber so leise, dass Hendrik ihre Antwort nicht hören konnte. Keine zwei Minuten später saßen sie im Taxi und fuhren in Richtung Bahnhof.
Leonie hatte vorn auf dem Beifahrersitz Platz genommen, obwohl das dem Fahrer nicht zu gefallen schien. Aber auf diese Weise konnte sie Hendrik besser im Auge behalten, der wohl oder übel allein auf der breiten Rückbank des Mercedes saß. Der Anblick überraschte sie kein bisschen, aber er gab ihr zu denken. Sie hätte schon blind sein müssen, um nicht zu erkennen, wie unwohl sich Hendrik fühlte - nicht nur in dem hellblauen Anzug, sondern auch in diesem Wagen. Er saß stocksteif da wie ein Mensch, der all seine Willenskraft aufbringen musste, um sich seinen wahren Gemütszustand - nämlich nackte Angst - nicht anmerken zu lassen. Immer wieder sah er aus dem Fenster und zuckte dann sofort zurück und seine Hände zitterten leicht. Leonie riss ihren Blick mühsam vom Spiegel los und wandte sich an den Fahrer. »Biegen Sie da vorne links ab«, sagte sie.
»Das ist doch nicht der Weg zum Bahnhof!«, protestierte der Fahrer.
»Ich weiß«, erwiderte Leonie. »Aber ich möchte noch kurz zum Friedhof. Keine Sorge«, sagte sie an Hendrik gewandt, »der Zug geht erst in einer Stunde und mit dem Fahrzeug sind wir sehr viel früher dort.«
»Ich weiß«, antwortete Hendrik gepresst. Er vermied es jetzt krampfhaft, aus dem Fenster zu sehen. Seine Stirn war von einem Netz feiner Schweißtröpfchen überzogen.
Der Taxifahrer warf erst ihr, dann Hendrik einen irritierten Blick zu, setzte aber gehorsam den Blinker und bog an der nächsten Kreuzung links ab. Zwei Minuten später erreichten sie die Straße, an der der Friedhof lag, und Leonie bedeutete dem Fahrer, anzuhalten. Sie öffnete die Tür, stieg aus und blieb nach zwei Schritten wieder stehen. Sie konnte hören, wie die Autotür hinter ihr noch einmal aufging und Hendrik ausstieg. Er sagte nichts, sondern trat nur schweigend neben sie und schien darauf zu warten, dass sie von sich aus die Stille brach.
Leonie konnte gar nichts sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wusste nicht, warum sie der Anblick so schockierte; sie sah im Grunde nichts anderes als das, was sie ohnehin erwartet hatte. Oder befürchtet, je nachdem.
Vor ihr lag das Grundstück, auf dem sie am vergangenen Abend noch die Ruine einer niedergebrannten gotischen Kapelle gesehen hatte. Von den Trümmern war nichts mehr zu sehen. Vor Leonie erstreckte sich ein kleines gepflegtes Parkgrundstück mit Blumenrabatten, einer hölzernen Bank, auf der ein kleines Messingschildchen den Namen des großzügigen Spenders verkündete, und ein gutes halbes Dutzend mächtiger, mindestens hundert Jahre alter Bäume. Die Kapelle war verschwunden.
So spurlos, als hätte es sie nie gegeben.