Der Scriptor

Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Leonie hatte längst aufgehört, die Schritte zu zählen, die sie zurücklegte, genauso wie sie aufgehört hatte, die Anzahl der Türen zu schätzen, an denen sie vorüberkam. In Wahrheit dauerte es nicht einmal annähernd so lange, wie es ihr vorkam, doch sie hatte das Gefühl, Stunden unterwegs zu sein, als es vor ihr endlich wieder hell wurde. Sie war keinen weiteren Kapuzenmännchen begegnet und auch keinem von ihren größeren Vettern. Leonie war sehr froh darüber. Sie glaubte nicht, dass ihre lächerliche Verkleidung einem auch nur etwas genaueren Hinsehen standgehalten hätte. Die schwarze Kutte reichte ihr nicht einmal ganz bis zu den Knöcheln, und sie war überhaupt nicht sicher, ob die Kapuze ihr Gesicht ausreichend verbarg.

Leonie hatte es nicht gewagt, noch eine weitere Tür zu öffnen, obwohl sie vor Neugier beinahe platzte. Keine Tür sah aus wie die andere, obwohl sie sich gleichzeitig alle irgendwie zu ähneln schienen. Das Einzige, auf das sie überall stieß, waren die fremdartigen goldenen Schriftzeichen. Nur einmal erhaschte sie einen Blick auf einen Raum, dessen Tür nicht ganz geschlossen war. Er schien vollkommen leer zu sein, aber etwas warnte sie so intensiv davor, ihn zu betreten, dass sie es nicht wagte, auch nur einen Fuß durch die Tür zu setzen, sondern rasch weiterging. Und endlich wich das Licht nicht mehr vor ihr zurück. Der leuchtende graugrüne Nebel begann sich zu verdichten und nahm Gestalt an. Vor ihr lag ein weiterer ummauerter Durchgang, und Leonies Schritte wurden automatisch langsamer. Sie wappnete sich innerlich dagegen, wieder in einen bodenlosen Abgrund zu blicken.

Diese Befürchtung erwies sich als nicht ganz unberechtigt, wurde aber auch nicht hundertprozentig erfüllt. Diesmal trat sie nicht auf eine schmale Treppenstufe hinaus, sondern auf eine - allerdings auch nicht sehr viel breitere - Galerie, die von einem gerade mal oberschenkelstarken steinernen Geländer begrenzt wurde und in beide Richtungen verlief, so weit der Blick reichte. Der Balkon wies eine leichte Krümmung auf, sodass Leonie annahm, dass er sich um einen gewaltigen kreisrunden Raum erstreckte. Wie groß er genau war, konnte sie nicht sagen, denn die gegenüberliegende Wand lag in so weiter Entfernung, dass sie nur noch zu erahnen war. Sowohl darüber als auch darunter erstreckten sich weitere kreisrunde Galerien. Es mussten Dutzende sein, wenn nicht mehr. Und noch ungleich größer war die Anzahl der Türen, die auf diese Galerien hinausführten.

Leonie trat mit klopfendem Herzen an die steinerne Brüstung und beugte sich vor. Sie konnte tatsächlich einen Boden erkennen, aber er lag so tief unter ihr, dass sie nur verschwommene Schemen sah; und einen vagen Eindruck von wuselnder Bewegung hatte.

Ihr Ziel lag irgendwo dort unten. Das Gefühl, das sie hierher geleitet hatte, war wieder da und es war sogar stärker geworden. Leonie war nach wie vor nicht mehr vollkommen sicher, dass es tatsächlich die Gegenwart ihrer Eltern war, die sie spürte (um ehrlich zu sein, wurden die Zweifel sogar immer stärker), aber was sollte es sonst sein?

So oder so: Sie musste dort hinunter.

Leonie sah sich unbehaglich um. Die Galerie verlor sich in beiden Richtungen in grüngrauer Unendlichkeit, aber ihre Augen hatten sich mittlerweile an das schummrige Licht gewöhnt. In einiger Entfernung schien eine Treppe zum nächstunteren Stockwerk hinabzuführen und von dort aus - wenn auch um ein gutes Stück versetzt - die nächste weiter nach unten. Viel langsamer, als es nötig gewesen wäre, ging sie zu der Treppe. Als sie noch einmal zögerte und sich in die Richtung umdrehte, aus der sie gekommen war, musste sie sich selbst eingestehen, dass sie jetzt wohl endgültig die Orientierung verloren hatte.

Hinter ihr lagen mindestens zwei Dutzend Türen, die auf die Galerie hinausgingen, und alle sahen vollkommen gleich aus, und die Tunnel, in die sie führten, waren ebenfalls absolut identisch.

Leonie erschrak nicht einmal mehr wirklich. Wäre sie ehrlich zu sich selbst gewesen, dann hätte sie sich schon vor Stunden eingestehen müssen, dass sie längst die Orientierung verloren hatte; schon draußen im runden Treppenschacht, durch den sie heruntergekommen war. Sie konnte einfach nur darauf vertrauen, dass sie das unheimliche Gefühl, das sie bis hierher geführt hatte, auch wieder hinausbringen würde. Jetzt gab es jedenfalls nur noch eine Richtung: nach unten. Sie machte sich entschlossen auf den Weg.

Er war länger, als sie erwartet hatte. Die Galerien lagen jeweils etwa fünf oder sechs Meter untereinander, aber sie musste ein gutes Dutzend Treppen überwinden, bis sie dem Boden auch nur nahe genug gekommen war, um Einzelheiten zu erkennen.

Unter ihr erstreckte sich ein wahrhaft gigantischer Saal mit schwarzweiß gefliestem Boden. So weit ihr Blick reichte, waren dort niedrige, schräge Pulte Reihe um Reihe, an denen Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln standen, die mit altertümlichen Federn in großformatige Bücher schrieben - Bücher, die dem ähnelten, das Leonie unter dem Arm trug. Ein dunkles, an- und abschwellendes Raunen und Murmeln lag über der unheimlichen Szenerie wie das Geräusch ferner Meeresbrandung, aber auf schwer zu beschreibende Weise bedrohlicher. Andere, viel kleinere Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln flitzten emsig zwischen den Stehpulten hin und her, trugen Pergamentrollen und Papierstapel, füllten Tintenfässer auf und tauschen abgenutzte Federn aus, und manchmal mühten sich auch zwei oder drei von ihnen zugleich mit einem der großen Bücher ab, offensichtlich wenn es voll geschrieben war, oder brachten einen leeren Band zu einem der Stehpulte.

Das Ganze sah aus wie der größte Schreibsaal der Weltgeschichte, nur dass es hier keine Computer oder elektrischen Schreibmaschinen gab, sondern altmodische Stehpulte, an denen kindsgroße Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln standen. Leonie konnte die Gesichter unter den spitzen Kapuzen nicht erkennen (sie war nicht böse darüber), aber sie vermutete, dass sie dem Scriptors ähnelten, der hoffentlich immer noch oben im Schrank eingesperrt war und tief und fest schlief. Und auch von ihrem Wesen her schienen sich die Kapuzenmänner nicht sonderlich voneinander zu unterscheiden. Als einer der Knirpse offensichtlich nicht schnell genug beim Auffüllen eines leeren Tintenfasses war, spießte ihn Scriptors Kollege kurzerhand mit seinem Federkiel auf und schrieb mit seinem Blut weiter.

Leonie nahm entschlossen die letzte Treppe in Angriff. Bisher war sie keinem der Kapuzenträger direkt begegnet, aber sie begann doch Hoffnung zu schöpfen, dass ihre Verkleidung bestehen würde. Die Schreiber schienen so auf ihre Arbeit konzentriert zu sein, dass sie praktisch keine Notiz von dem nahmen, was um sie herum vorging.

Sie verstärkte den Griff um ihr Buch, senkte den Kopf gerade weit genug, dass es nicht auffiel, und marschierte mit energischen Schritten los. Ihr Ziel lag auf der anderen Seite der Halle, das war alles, was sie wusste.

Ihre Hoffnung schien sich tatsächlich zu erfüllen. Zwar blickte der eine oder andere von Scriptors Kollegen flüchtig auf, als sie an ihm vorüberging, aber niemand sah auch nur ein zweites Mal in ihre Richtung. Die schwarz vermummten Gestalten waren voll und ganz mit ihren Schreibarbeiten beschäftigt.

Leonie versuchte einen verstohlenen Blick in die aufgeschlagenen Bücher zu werfen. Es gelang ihr auch, aber viel schlauer war sie hinterher nicht. Die Federkiele der Kapuzenmänner huschten so schnell über das Papier, dass sie zu verschwimmen schienen, und füllten Seite um Seite mit akribischen, fast mikroskopisch kleinen Buchstaben; viel zu winzig, um sie aus einer Entfernung von mehr als einem Meter entziffern zu können.

Weiter und weiter ging sie zwischen den dicht an dicht aufgestellten Stehpulten hindurch. Sie hatte geahnt, dass der Saal riesig sein würde, aber er schien noch viel größer zu sein, als sie befürchtet hatte. Irgendwann gab es einen Moment, in dem sie die Wände in keiner Richtung mehr sehen konnte. Ihr Rücken hatte längst zu schmerzen begonnen und das Buch unter ihrem rechten Arm wurde immer schwerer. Erst nach einer halben Ewigkeit tauchte die gegenüberliegende Wand wieder vor ihr auf; in so weiter Entfernung, dass Leonie nur mit Mühe ein entsetztes Aufstöhnen unterdrücken konnte.

Auch auf dieser Seite erstreckten sich die Galerien ins Unendliche, aber es gab dennoch einen Unterschied zwischen ihnen und jener Galerie, über die Leonie den Schreibsaal betreten hatte: Die Anzahl der Kapuzenmännchen, die ihr entgegengekommen war, hatte langsam, aber beständig zugenommen, sodass sie mittlerweile durch einen regelrechten Strom handgroßer Gestalten watete, der zu ihren Füßen herumwuselte. Obwohl etliche von ihnen unter der Last der Papierstapel, Tintenfässer, Sandstreuer und anderer Schreibutensilien, die sie trugen, schwankten, berührten sie sie kein einziges Mal. Offensichtlich sorgte der schwarze Mantel, in den Leonie sich gehüllt hatte, für gehörigen Respekt. Leonie war es nur recht. Dass sie bisher nicht entdeckt worden war, glich ohnehin einem kleinen Wunder, aber es war schlechterdings unmöglich, dass ihre Tarnung einem direkten Zusammenprall standhielt. So gab sie sich auch ihrerseits alle Mühe, einem Zusammenstoß auszuweichen, aber ihr wurde schon nach wenigen Augenblicken klar, dass sie dadurch gerade Aufmerksamkeit erregte. Keiner der anderen Kapuzenmänner in ihrer Nähe nahm auch nur eine Spur Rücksicht auf seine kleineren Kopien. Wer nicht schnell genug auswich, fing sich einen Tritt ein, so einfach war das.

Endlich näherte sie sich der jenseitigen Wand des Schreibsaales und damit auch der Stelle, an der der Strom der Winzlinge seinen Ursprung hatte. Sie quollen aus buchstäblich Hunderten von Türen, hinter denen eng gewendelte Steintreppen steil in die Tiefe hinabführten. Die Ahnung, der Leonie noch immer folgte wie der Nadel eines unsichtbaren Kompasses, wurde an dieser Stelle etwas vage, aber sie ging einfach weiter. Möglicherweise führten ja alle diese Tunnel in die richtige Richtung.

Zuerst einmal führten sie alle nach unten und in ein wahres Labyrinth von Gängen und Stollen, die sich immer weiter verzweigten, kreuzten und aufteilten. Leonie kam an riesigen Katakomben vorbei, die bis unter die Decke mit Pergamentrollen voll gestopft waren, gewaltigen Sälen, die nichts anderes enthielten als Tinte: Tinte in gewaltigen Fässern, Tinte in Bottichen, Tinte in Karaffen und schließlich Tinte in kleinen irdenen Tintenfässchen, die von Hunderten Kapuzenmännchen an einem endlosen Tisch abgefüllt und sorgsam verkorkt wurden. Das hier unten musste wohl das Materiallager des Schreibsaales sein, dessen Größe entsprechend beeindruckend war. Aber sie war noch nicht am Ziel. Sie musste weiter nach unten, sehr viel weiter.

Allmählich wurde ihr warm unter dem gestohlenen Umhang, und der Fetzen stank so erbärmlich, dass ihr übel zu werden drohte. Darüber hinaus war ihr klar, dass Scriptor mittlerweile einfach wach geworden sein musste. Vermutlich war er jetzt schon auf dem Weg hierher und schrie Zeter und Mordio. Nur gut, dass diese unheimliche unterirdische Anlage so ungeheuer groß war!

Es wurde wärmer, je tiefer sie kam. Ein sonderbarer süßlicher Geruch hing in der Luft, nicht unbedingt unangenehm, aber penetrant, und bald hörte sie ein anderes Geräusch, das sich in das Getrappel, Wispern, Rauschen und Zischen mischte und die Gänge des Labyrinths erfüllte: ein dumpfes, langsames Pochen und Wummern, wie das Arbeitsgeräusch einer sehr großen, behäbigen Maschine. Schließlich ging sie eine letzte gewendelte Treppe hinab und gelangte in einen Raum, der gut als Vorhof der Hölle durchgegangen wäre.

Er war nicht so gigantisch wie der Schreibsaal, aber immer noch riesig. Die Decke, die von gewaltigen gemauerten Säulen getragen wurde, befand sich mindestens zwanzig Meter über ihrem Kopf, und ein wahres Gewirr von Trägern, Balken und Schienen aus rostigem Metall zog sich darunter entlang wie das Netz einer titanischen, verrückt gewordenen Spinne. Anders als der Schreibsaal herrschte in diesem Raum ein reines Chaos. Die Luft war rot vom Widerschein zahlloser Feuer, die unter gewaltigen gusseisernen Kesseln brannten, und der süßliche Geruch war hier so stark, dass er ihr fast den Atem nahm. Zwischen den Kesseln standen riesige, altertümlich anmutende Maschinen, deren Zweck sie nicht erriet, und zum ersten Mal sah sie auch Wesen, die keine schwarzen Kapuzenmäntel trugen und entweder so groß waren wie ein zehnjähriges Kind oder so klein wie eine Hand. Aber sie konnte nicht sagen, um was für Geschöpfe es sich handelte.

Menschen waren es jedenfalls nicht.

Eine Sorte war kaum größer als Scriptor, aber ihre Vertreter waren so massig, dass sie fast quadratisch wirkten. Ihre Gesichter sahen eher aus wie die von Bulldoggen als die von Menschen, und da sie bis auf grobe, wollene Kniehosen nackt waren, konnte Leonie die Ehrfurcht gebietenden Muskelpakete sehen, die ihre stämmigen Körper bedeckten. Sie musste daran denken, wie leicht es ihr gefallen war, Scriptor auszuknocken, vermutlich würde es einem von diesen Muskelzwergen noch weniger Mühe bereiten, sie einfach in zwei Teile zu brechen.

Es gab noch andere, noch unheimlichere Geschöpfe. Riesige gepanzerte Kreaturen, deren Leiber sich unter Plattenrüstungen, schwarzem Leder und zerschrammtem Eisen verbargen und die mit langen mehrschwänzigen Peitschen und wuchtigen Keulen bewaffnet waren. Leonie nahm an, dass es sich um eine Art Aufseher handelte, denn sie gingen keiner sichtbaren Tätigkeit nach, sondern schlenderten scheinbar ziellos umher und blieben nur manchmal stehen, um ihre Peitschen knallen zu lassen oder einen der Muskelzwerge anzufahren, die die Maschinen bedienten. Leonie war sehr froh, dass sie die Gesichter hinter den schwarzen Metallmasken nicht sehen konnte; Gesichter von Wesen, die das Wort Brutalität offensichtlich erfunden hatten - sie beobachtete einen der Knirpse, der das Pech hatte, unter die Füße der Aufseher zu geraten und einfach zerquetscht wurde. Und einmal machte eine ganze Gruppe dieser Winzlinge einem der riesigen Geschöpfe nicht schnell genug Platz, denn das Wesen bückte sich, ergriff eine ganze Hand voll von ihnen und warf sie in hohem Bogen in einen der Kessel. Leonie unterdrückte ein eisiges Frösteln. Ganz gleich, was diese sonderbaren Geschöpfe auch sein mochten, ein Leben schien hier unten nicht besonders viel wert zu sein.

Während sie rasch und scheinbar unbeeindruckt zwischen den gewaltigen Maschinen, Kesseln und Schienensystemen hindurchging, wurde ihr allmählich klar, dass sie sich auf der untersten Ebene der Anlage befand. Hier wurde offensichtlich das Papier hergestellt, aus dem die Pergamentrollen und Bücher bestanden, die von den Kapuzenmännern weiter oben verteilt wurden. Hatte Scriptor nicht irgendetwas von einem Leimtopf erzählt?

Ziemlich genau in der Mitte der Halle erhob sich eine gewaltige Säule aus schwarzem Stein, in die ein gutes halbes Dutzend niedriger Eisentüren eingelassen war. Leonie steuerte zielsicher darauf zu. Niemand versuchte sie aufzuhalten oder sprach sie an, obwohl ihr nur zu deutlich bewusst wurde, dass sie die Einzige war, die auf den unterirdischen Turm zuhielt. Schließlich hatte sie eine dieser Türen erreicht und drückte entschlossen die geschmiedete Klinke herunter.

Sie rührte sich nicht. Leonie rüttelte daran, aber es war so wie vorhin oben an der Schranktür: Genauso gut hätte sie versuchen können, mit bloßen Händen einen Banksafe aufzubrechen.

Vielleicht funktionierte der Trick ja noch einmal.

»Geh auf!«, sagte Leonie.

Die Tür ging auf.

»Na also«, bemerkte Leonie zufrieden. »Geht doch.« Sie warf noch einen vorsichtigen Blick nach rechts und links, dann ergriff sie ihr Buch fester und trat durch die Tür hindurch. Sie war so niedrig, dass sie sich bücken musste, und das erwies sich als großes Glück, denn der Raum, den sie betrat, war nicht leer. Er war so klein, dass er gerade mal einem der niedrigen Stehpulte Platz bot, wie sie sie schon oben gesehen hatte. Auch hinter diesem Pult stand ein hakennasiger Zwerg in einer schwarzen Kutte, der seine Kapuze allerdings zurückgeschlagen hatte, sodass sie sein Gesicht sehen konnte. Er war noch hässlicher als Scriptor, falls das überhaupt möglich war.

»Kommt rein, kommt rein!« Der Gnom wedelte unwillig mit einer fleckigen, dürren Hand. »Was wollt Ihr hier, Scriptor, ich habe zu tun. Also tragt Euer Anliegen vor und stehlt mir nicht meine Zeit!«

Leonie war im ersten Moment verwirrt. Woher wusste der Gnom Scriptors Namen? An diesem Mantel war nichts, was zur Identifizierung seines legitimen Besitzers dienen konnte. Aber vielleicht war Scriptor ja auch gar kein Name, sondern eine Art Dienstrang.

Trotz dieser Erkenntnis war sie in arger Verlegenheit. Der Gnom erwartete noch immer eine Antwort von ihr, und seine Miene verdüsterte sich zusehends, als sie nicht schnell genug kam. »Habt Ihr Eure Zunge verschluckt, oder seid Ihr eigens hierher gekommen, um mir meine Zeit zu stehlen, Scriptor?«, giftete er, beantwortete seine Frage aber auch gleich selbst. »Ihr bringt das Inventarium, nehme ich an? Ist es schon wieder so weit?« Er kam um den Tisch herumgetrippelt, riss Leonie das Buch unter dem Arm weg, bevor sie auch nur richtig begriff, was er von ihr wollte, und klappte es auf.

»Was ist das?«, japste er. »Das ist doch nicht...«

»Nein«, sagte Leonie, »ist es nicht.« Sie schlug die Kapuze zurück und weidete sich einen Moment lang an dem Ausdruck blanken Entsetzens auf dem faltigen Gesicht des Scriptors. Der Gnom setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Leonie brachte ihn dazu, sich das noch einmal zu überlegen, indem sie kurzerhand den Arm ausstreckte und ihn an seiner dürren Gurgel packte. »Ich an deiner Stelle wäre jetzt ganz still«, sagte sie. »Sind wir uns da einig? Ich will dir nichts tun, aber ich möchte auch nicht, dass du deine Freunde rufst. Hast du verstanden?«

Der Scriptor hätte möglicherweise sogar geantwortet, wenn er es nur gekonnt hätte. Er war jedoch nur dazu fähig, mit den Füßen zu strampeln und hektisch mit beiden Händen auf seinen Hals zu deuten. Leonie ließ ihn los.

Der Scriptor hustete, taumelte rücklings gegen sein Stehpult und krümmte sich, heftig um Atem ringend. »Oh«, keuchte er. »Oh, oh! Du... du bist ja so...«

»Grob, ich weiß«, sagte Leonie. »Es tut mir Leid« - das war gelogen - »aber ich dachte, das wäre der normale Umgangston hier unten.«

Immer noch keuchend richtete sich der Scriptor auf und funkelte sie feindselig aus seinen hervorquellenden Augen an. »Hässlich, wollte ich eigentlich sagen«, zischte er. »So etwas Hässliches wie dich habe ich ja noch nie gesehen! Was willst du hier?«

Das war eine gute Frage. Leonie hätte selbst eine Menge darum gegeben, die Antwort darauf zu wissen. Den ganzen Weg hier herunter war sie nur ihrem Gefühl gefolgt, aber allmählich gestand sie sich ein, dass es sie möglicherweise getrogen hatte. Hier in dieser winzigen Kammer waren ihre Eltern jedenfalls nicht.

Sie beantwortete die Frage des Scriptors nicht, sondern warf ihm nur einen drohenden Blick zu und umrundete mit zwei schnellen Schritten das Stehpult, um einen Blick in das aufgeschlagene Buch zu werfen, das dort lag.

»Was tust du da?«, kreischte der Scriptor. Er versuchte sie zurückzureißen, aber seine Kraft reichte nicht einmal annähernd. Leonie blätterte ungerührt weiter, während der keifende Gnom immer verzweifelter an ihrem Arm zerrte und riss. »Das darfst du nicht!«, schimpfte er. »Solche wie dich geht das Inventarium nichts an! Niemanden geht es etwas an!«

Leonie ignorierte ihn. Sie blätterte langsam weiter in dem Buch, aber was sie sah, schien einfach keinen Sinn zu ergeben, oder vielleicht doch, aber es war einer, der sich ihr nicht offenbarte. Da standen Namen, nicht alphabetisch, sondern scheinbar willkürlich geordnet, und jeder einzelne Name war mit einer langen Kombination von Buchstaben und Zahlen versehen, die ihr noch unverständlicher vorkamen. Ebenso gut hätte sie das Telefonbuch einer Großstadt durchblättern können.

Der Scriptor hörte endlich auf, sinnlos an ihrem Arm herumzuzerren und änderte seine Taktik: Er grub seine Zähne so tief in Leonies Hand, dass sie vor Schmerz aufheulte. Sein Pech war nur, dass Leonie ganz instinktiv reagierte: Sie versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die ihn quer durch den Raum fliegen ließ.

»Das wirst du bereuen«, keuchte er. »Niemand schnüffelt ungestraft in meinem Hauptbuch! Du wirst im Leimtopf landen, genau wie die anderen!«

»Welche anderen?« Leonie war mit einem einzigen Schritt neben dem Scriptor, der gerade versuchte sich irgendwie in die Höhe zu arbeiten. Leonie nahm ihm die Arbeit ab, indem sie ihn unsanft im Nacken ergriff und auf die Füße zerrte. »Welche anderen?«, wiederholte sie.

Der Scriptor starrte sie nur trotzig an und Leonie zerrte ihn noch ein gutes Stück weiter in die Höhe und begann ihn dann zu schütteln wie eine nasse Katze. »Also?«

»Da... Da... Da waren schon andere wie du«, stammelte der Scriptor hastig.

»Andere wie ich?« Vielleicht war sie hier doch nicht ganz so falsch. Möglicherweise hatte ihr Gefühl sie ja nur auf Umwegen hierher geleitet. Sie schüttelte den Scriptor noch einmal.

»Ich... ich habe sie selbst nicht gesehen«, keuchte der Gnom. »Aber alle sprechen von ihnen. Man sagt, sie wären genauso hässlich gewesen wie du. Grausige Monster, bei deren Anblick es einem kalt über den Rücken läuft, und...«

Leonie schüttelte ihn noch einmal und der Scriptor verstummte mit einem schrillen Quietschen. »Was ist aus ihnen geworden?«, fragte sie.

»Was soll aus ihnen geworden sein?«, ächzte der Scriptor. »Die Aufseher haben sie erwischt, so wie sie alle erwischen, die hier nichts zu suchen haben!«

»Die Aufseher? Du meinst die großen Kerle in den schwarzen Rüstungen?«

»Natürlich, wen denn sonst? Du bist anscheinend genauso dumm, wie du hässlich bist, und...«

Leonie drückte noch ein wenig fester zu und der Scriptor quietschte. »Ja«, ächzte er, nachdem er wieder Luft bekam.

»Die Aufseher haben sie also erwischt«, sagte Leonie. Allein die Vorstellung, dass sich ihre Eltern in der Gewalt dieser grässlichen Kreaturen befanden, schnürte ihr schier die Kehle zu. »Wo haben sie sie hingebracht?«

»Wohin schon«, kicherte der Scriptor. »Sie landen im Leimtopf, wie alle, die...«

»Wo finde ich ihn?«, unterbrach ihn Leonie.

»Den Leimtopf?« Der Scriptor ächzte. »Du bist nicht nur hässlich, du bist auch noch verrückt. Niemand geht freiwillig dorthin.«

»Ich schon«, sagte Leonie grimmig. »Und weißt du was? Du wirst mir den Weg zeigen!«

»Ich?!« Der Scriptor kreischte fast.

»Siehst du hier sonst noch jemanden?«, fragte Leonie. »Du kennst den Weg und ich nicht. Also sind wir uns einig, oder etwa nicht?«

»Ich denke ja nicht daran!«, kreischte der Scriptor. »Sie werden mich in den Leimtopf werfen, wenn ich auch nur...«

Leonie schüttelte ihn ungefähr zwanzig Sekunden lang und der Scriptor fuhr mit etwas lauterer Stimme fort: »Auf der anderen Seite ist es ja dein Hals, den du riskierst. Ich könnte dir zumindest den Weg erklären.«

»Wenn du versuchst mich reinzulegen, wirst du es bereuen«, drohte Leonie. »Ein falsches Wort, und du wirst dir noch wünschen, es nur mit den Aufsehern zu tun zu haben!«

»Wenn du meinst«, grinste der Scriptor.

Leonie schüttelte ihn rein prophylaktisch ein weiteres Mal durch, aber sie gestand sich insgeheim ein, dass der Scriptor Recht hatte. Sobald sie aus dieser Kammer herauskam, war sie dem Gnomen praktisch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er musste nur einen einzigen Schrei ausstoßen und sie war verloren.

Nachdenklich sah sie sich in der winzigen Kammer um. Abgesehen von Scriptors Stehpult war der Raum vollkommen leer und auch auf dem Pult lag nur das aufgeschlagene Buch. Leonie betrachtete es aufmerksam, dann hellte sich ihr Gesicht auf. Das Buch hatte ein Lesebändchen, breit wie zwei nebeneinander gelegte Finger und aus einem dünnen Leinengewebe geflochten. Leonie riss es kurzerhand ab.

Der Scriptor schrie, als hätte man ihm bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, und nahm Leonie die Mühe ab, sich zu ihm zu begeben, indem er sich mit erhobenen Armen auf sie stürzte und mit den Fäusten auf ihren Rücken einhämmerte. »Bist du wahnsinnig!«, kreischte er. »Was tust du da? Willst du meine ganze Arbeit zunichte machen, du hässliches Ungeheuer?«

Leonie ignorierte ihn. Das Lesebändchen war für das, was sie damit im Sinn hatte, zu kurz, also begann sie es aufzuribbeln. Der Scriptor heulte auf, als hätte sie damit begonnen, dasselbe mit ihm zu tun, hörte auf, sie zu schlagen, und versuchte stattdessen, sie zu würgen - und das war eindeutig zu viel. Leonie fuhr auf dem Absatz herum, packte den keifenden Gnomen mit der linken Hand am Kragen und schlang ihm mit der anderen das Ende der selbst gebastelten Leine um den Hals.

»Was...?«, ächzte der Scriptor. Der Rest der Frage ging in einem erstickten Keuchen unter, als Leonie unsanft an dem dünnen Goldbändchen riss.

»Das«, sagte Leonie betont, »geschieht dir jetzt jedes Mal, wenn du nicht spurst. Hast du das verstanden?« Sie zerrte noch einmal an dem Strick, als die erwartete Antwort nicht schnell genug kam, und erntete ein hastiges Nicken.

»Gut«, fuhr sie fort. Mit der freien Hand deutete sie auf die Tür. »Wir gehen jetzt hinaus und du wirst mich dorthin bringen, wo die anderen gefangen gehalten werden. Wenn du um Hilfe schreist oder mich in die Irre zu führen versuchst oder mich irgendwie sonst reinlegst, reiße ich dir den Kopf ab, ist das klar?«

Der Scriptor nickte wieder hastig. Leonie kam sich ziemlich gemein vor, den hilflosen Gnomen derart zu bedrohen. Natürlich würde sie ihm weder den Kopf abreißen noch ihm sonst etwas zuleide tun (jedenfalls nicht viel), aber das musste sie diesem keifenden Zwerg ja nicht unbedingt auf die Nase binden, oder? Nach allem, was sie in den letzten Stunden beobachtet und miterlebt hatte, herrschte hier unten ohnehin ein reichlich grober Umgangston. Sie bezweifelte, dass das Wort Freundlichkeit auch nur zum Sprachschatz der Scriptoren gehörte.

Leonie wickelte sich das freie Ende ihrer improvisierten Leine um die rechte Hand und schlug mit der anderen die Kapuze wieder hoch. »Also los!«

Der Scriptor begann am ganzen Leib zu zittern. »Aber das... das... das geht doch nicht!«, wimmerte er. »Das können wir nicht tun. Wir dürfen nicht dorthin. Sie werden uns erwischen und wir landen...«

»... im Leimtopf, ich weiß«, unterbrach ihn Leonie grob - und riss mit einem unsanften Ruck an seiner Leine, der den Scriptor fast auf die Knie warf. »Ich bin schon ganz gespannt darauf. Los!«

Der Scriptor massierte seinen schmerzenden Hals und warf ihr noch einen giftigen Blick zu, aber er leistete keinen Widerstand mehr, sondern wandte sich gehorsam zur Tür und öffnete sie. Flackerndes rotes Licht und der durcheinander hallende Lärm der Arbeiter und Maschinen drangen zu ihr herein, und ein sonderbares Gefühl ergriff von Leonie Besitz, als sie ins Freie traten. Im allerersten Moment hielt sie es für Furcht - und es war wohl auch ein Gutteil Furcht dabei -, aber dann verstand sie, dass es eher das intensive Gefühl war, einen Fehler zu begehen.

Sie unterdrückte das Gefühl. Bisher hatte sie gar keine andere Wahl gehabt, als auf Gedeih und Verderb der eher vagen Ahnung zu folgen, die sie leitete. Aber nun hatte sie eine konkrete Spur, die sie möglicherweise zu ihren Eltern führen würde - oder auch direkt in den Leimtopf, was immer das war.

Sie ging so dicht wie möglich hinter dem Scriptor her, damit niemand die Leine sah, die sie mit ihrem unfreiwilligen Führer verband, und musste Acht geben, ihm nicht in die Hacken zu treten. Wie auf dem Weg hierher schien niemand Notiz von ihnen zu nehmen, nicht einmal die riesigen gepanzerten Aufseher, die mit Argusaugen über alles wachten, was sich hier regte. Und sie waren nicht zimperlich. Mehr als einer der winzigen Kapuzenmänner wurde unter ihren gewaltigen Füßen zerquetscht. Und Leonie beobachtete einen Aufseher, der sich anscheinend einen Spaß daraus machte, etliche der Knirpse zu nehmen und in hohem Bogen in die brodelnden Kessel zu werfen.

»Dasselbe wird uns auch passieren«, jammerte der Scriptor.

»Warum seid ihr so brutal zu den Kleinen?«, fragte Leonie. Das erschien ihr ratsamer, als zu intensiv über die Prophezeiung des Scriptors nachzudenken. »Ihr könnt sie doch nicht einfach so umbringen!«

»Umbringen?« Der Scriptor warf ihr einen Blick zu, der deutlich machte, dass er an ihrem Verstand zweifelte. »Wieso umbringen? Das sind doch nur Schusterjungen.«

»Schusterjungen?« Leonie hätte beinahe über dieses Wort gelächelt, aber eben nur beinahe. Es mochte komisch klingen, doch sie hatte das sichere Gefühl, dass es in Wahrheit etwas vollkommen anderes bedeutete, als sie darunter verstand. »Also, ich finde sie sehen euch Scriptoren ähnlich - bis auf die Größe, versteht sich.«

»Eben!«, sagte der Scriptor. »Wo kämen wir hin, wenn sie alle zu Scriptoren würden? Stell dir nur das Gedränge vor!«

»Soll das heißen«, ächzte Leonie. »Das diese... Schusterjungen junge Scriptoren sind? Und ihr bringt sie reihenweise um?!«

»Nur die Besten schaffen es«, bestätigte der Scriptor. Etwas leiser und mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme fügte er hinzu: »Die Allerbesten.«

»Aha«, murmelte Leonie.

Der Scriptor sah sie nur verständnislos an. »Macht ihr das da, wo du herkommst, mit euren Jungen etwa anders?«

»Ein wenig«, antwortete Leonie ausweichend.

»Ich hab’s gewusst«, sagte der Scriptor hämisch. »Ihr seid nicht nur hässlich, ihr seid auch verrückt.«

»Mag sein«, erwiderte Leonie. Sie zupfte unsanft an der Leine. »Besser, du merkst dir das. Geh schneller!«

Langsam näherten sie sich der gegenüberliegenden Wand der Halle, wo es nur noch ein einziges, allerdings monumental großes Tor aus schwarzem Eisen gab, das tiefer in die Erde hineinführte. Zwei gewaltige Aufseher flankierten das Tor; sie standen so reglos, dass Leonie sie im ersten Moment für Statuen hielt.

»Und nun?«, giftete der Scriptor. »Ich meine: Nur falls du mir nicht zugehört haben solltest - wir können da nicht durch. Nur Aufseher und Schriftführer können dieses Tor öffnen.«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Leonie gereizt. Sie ging - scheinbar - unbeeindruckt weiter, aber sie fragte sich in Wirklichkeit mit wachsender Verzweiflung, was sie tun sollte, wenn ihr Sesam-öffne-dich-Trick bei dieser Tür nicht funktionierte. Sie konnte die Gesichter der beiden Aufseher nicht erkennen, denn sie waren hinter schwarzen Eisenmasken verborgen, in denen es nur schmale Sehschlitze gab, aber sie glaubte, ihre misstrauischen Blicke fast wie die Berührung einer unangenehm warmen Hand auf sich zu spüren. Erneut wurde ihr schaudernd bewusst, wie riesig die monströsen Geschöpfe waren: bestimmt zwei Meter groß, wenn nicht mehr, und dabei so breitschultrig, dass sie schon fast missgestaltet wirkten. Sie konnte sich ungefähr vorstellen, wie die beiden Aufseher reagieren würden, wenn sie vergeblich versuchte diese Tür zu öffnen.

»Wir werden im Leimtopf landen«, jammerte der Scriptor. »Ich kann schon spüren, wie mir das Fleisch von den Knochen gekocht wird.«

»Du wirst dir noch wünschen, im Leimtopf zu landen, wenn du nicht gleich die Klappe hältst«, zischte Leonie. Sie versetzte dem Scriptor einen unsanften Stups, damit er schneller ging. Er stolperte fast über die unterste Stufe der kurzen Treppe, die zu der wuchtigen Eisentür hinaufführte, fing sich dann aber im letzten Moment wieder und ging mit gesenktem Kopf weiter. Auch Leonie sah zu Boden, versuchte aber, die Aufseher so unauffällig wie möglich im Auge zu behalten. Einer der muskelbepackten Kolosse rührte sich nicht, aber der andere, der links von ihr stand, drehte langsam den Kopf in ihre Richtung. Leonies Herz raste jetzt wie ein kleines Hammerwerk in ihrer Brust. Es gab keinen Griff, keinen wie auch immer gearteten Öffnungsmechanismus. Nichts! Die Tür war glatt. Eine nahezu fugenlose Platte aus schwarzem Eisen, deren einziger Schmuck eine stilisierte, tief eingravierte Feder war. Leonie sah nicht hin, aber sie konnte spüren, wie sich der Aufseher vollends zu ihr hindrehte und aus seiner Erstarrung erwachte.

»Geh auf«, flüsterte sie. Die Tür rührte sich nicht. Der Aufseher machte einen einzelnen Schritt in ihre Richtung. Der Boden erbebte nicht wirklich unter seinen Füßen, aber es kam Leonie so vor. Sie konzentrierte sich und sagte noch einmal mit lauterer, klar verständlicher Stimme: »Geh auf!«

Ein dumpfes, hartes Klacken erscholl, ein Geräusch, als raste irgendwo tief unter der Erde ein gewaltiger Riegel ein, und die Tür sprang auf. Ein haarfeiner Spalt bildete sich, der quälend langsam breiter wurde.

Der Aufseher machte einen weiteren Schritt auf sie zu. »He da!«, grollte er. »Was macht ihr da?«

Die Tür glitt mit einem schweren eisernen Knirschen weiter auf, beständig, aber immer noch unerträglich langsam. Zu langsam. Der Spalt war jetzt vielleicht so breit wie eine Hand, und der Aufseher machte einen weiteren Schritt. »Was ihr da treibt, habe ich gefragt! Ihr zwei habt hier nichts verloren!«

Der Spalt wurde breiter; dahinter kamen die gemauerten Wände eines finsteren Ganges zum Vorschein, der von dunkelrot blakenden Fackeln in ein düsteres Licht getaucht wurde.

»Aufhören!«, befahl der Aufseher. »Sofort aufhören, habe ich gesagt!«

Leonie sah aus dem Augenwinkel, wie auch der zweite Aufseher aus seiner Erstarrung erwachte und sich langsam in ihre Richtung drehte. Seine Peitsche schleifte mit einem Geräusch über den Boden, das sie an das Zischen einer angreifenden Schlange erinnerte. Der Spalt war noch immer nicht breit genug für sie, aber vielleicht für...

Leonie versetzte dem Scriptor einen Stoß, der ihn durch den Spalt und auf die andere Seite stolpern ließ. Der Zwerg kreischte, schlug der Länge nach hin und schlitterte mit ausgebreiteten Armen über den rauen Boden, und Leonie warf sich mit verzweifelter Kraft nach vorne und versuchte, sich ebenfalls durch den breiter werdenden Spalt zu quetschen.

»He!«, brüllte der Aufseher. Seine Peitsche knallte. Leonie zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern und die Peitschenschnur krachte nur einen Fingerbreit über ihr gegen die Tür, und das mit solcher Wucht, dass die Funken stoben. »Stehen bleiben! Rühr dich nicht von der Stelle!«

Leonie hätte es nicht einmal gekonnt, wenn sie gewollt hätte. Sie hatte sich mit der Kraft der Verzweiflung in den Türspalt geworfen, mit dem Ergebnis, dass sie nun hoffnungslos festsaß. Der Spalt wurde ganz allmählich breiter. Wahrscheinlich dauerte es nur noch zwei oder drei Sekunden, bis er auch für sie breit genug war, um sich hindurchzuquetschen.

Nur dass sie diese zwei oder drei Sekunden nicht hatte.

Leonie schrie vor Entsetzen auf, als die Gestalt des Aufsehers riesig und drohend über ihr emporwuchs. Mit der ungeheuren Kraft, die ihr die Todesangst verlieh, presste sie sich weiter durch den Spalt. Die rauen Eisenkanten der Tür schrammten über ihre Schultern, zerrissen den gestohlenen Umhang und hinterließen tiefe, brennende Kratzer auf ihren Oberarmen. Eine riesige Pfote grapschte nach ihr, hinterließ tiefe Kratzer auf ihrem Rücken und riss ihr die Kapuze vom Kopf - und dann war sie durch, machte einen letzten, ungeschickten Stolperschritt und schlug genau wie der Scriptor der Länge nach hin. Hinter ihr erscholl ein zorniges Brüllen, als sich der Aufseher im buchstäblich letzten Moment um seine schon sicher geglaubte Beute betrogen sah.

Leonie blieb für die Dauer von zwei oder drei schweren Herzschlägen liegen, ehe sie sich ächzend auf den Rücken wälzte und dann aufrichtete. Um ein Haar hätte sie schon wieder vor Entsetzen laut aufgeschrien. Es war noch nicht vorbei. Der Aufseher war ganz offensichtlich nicht gewillt, seine Beute so leicht aufzugeben. Der Spalt war noch nicht einmal annähernd breit genug für ihn, aber er quetschte und drängelte sich herein, so wütend er nur konnte, und seine gewaltige Pranke hatte sich um die Tür geschlossen und riss, zerrte und rüttelte mit aller Gewalt daran. Die Tür zeigte sich davon zwar vollkommen unbeeindruckt, aber sie glitt immer noch Millimeter um Millimeter auf.

»Um Gottes willen!«, keuchte Leonie. »Schluss! Aus! Vorbei!«

Die Tür öffnete sich weiter. Der Aufseher quetschte nun auch seine andere Hand durch den Spalt und versuchte sogar, den Schädel zwischen die Torhälften zu drücken. Leonie richtete sich hastig weiter auf. Ihre Kapuze rutschte endgültig nach hinten und faltete sich in ihrem Nacken zusammen.

Der Aufseher brüllte auf. Leonie konnte sehen, wie sich seine wässrigen Augen hinter den schmalen Sehschlitzen weiteten.

»Guargck!«, brüllte er. »Hässlich! Du bist ja sooo häässlich!«

Brüllend zog er die Arme aus dem Spalt, prallte zurück und schlug die Hände vors Gesicht, und Leonie sprang mit einem Satz endgültig auf die Füße.

»Geh zu!«, befahl sie. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Knall.

»Das war knapp«, keuchte sie. »Eine Minute länger, und...« Sie hob fröstelnd die Schultern, betrachtete die geschlossene Tür mit einem letzten, misstrauischen Blick und drehte sich schließlich um. Sie staunte nicht schlecht, als sie in ein spitzes, abgrundtief hässliches Gesicht blickte, das unter einer halb verrutschten Kapuze zu ihr heraufsah. Der Scriptor hatte sich in eine halb sitzende Position hochgerappelt, saß aber ansonsten genau dort, wo er hingefallen war.

»Wieso bist du nicht weggelaufen?«, fragte Leonie fassungslos.

Der Scriptor verdrehte den Hals und sah sich mit einem übertriebenen Schaudern um.

»Wohin denn?«, fragte er mit weinerlicher Stimme.

»Moment mal«, sagte Leonie. »Soll das jetzt heißen, du... du kennst dich hier gar nicht aus?«

»Habe ich das etwa behauptet?« Der Scriptor hatte noch immer einen weinerlichen Ton in der Stimme, aber er wurde auch schon wieder patzig.

»Du hast gesagt, du kannst mich zu meinen El...« Leonie verbesserte sich hastig. »Zu den anderen führen.«

»Ich habe gesagt, ich weiß, wo man sie hingebracht hat«, nörgelte der Scriptor. »Nämlich durch diese Tür. Was dahinter ist, weiß ich nicht. Niemand weiß das. Kein Scriptor hat diese Tür je durchschritten. Wenigstens keiner, der zurückgekommen ist«, fügte er mit deutlich leiserer Stimme hinzu.

Leonie zog es vor, den letzten Satz nicht gehört zu haben. Sie ging in die Hocke, nahm das Ende des aufgeribbelten Lesebändchens in die Hand, das der Scriptor noch immer um den Hals trug, und sah den hakennasigen Winzling nachdenklich an.

»Gibst du mir dein Wort, keinen Unsinn zu machen, wenn ich dich losbinde?«, fragte sie.

»Klar«, antwortete der Scriptor schnell - für Leonies Geschmack ein kleines bisschen zu schnell.

»Was gilt denn das Ehrenwort eines Scriptors?«, erkundigte sie sich.

»Ehre?« Der Scriptor legte die Stirn in Falten. »Was ist denn das?«

Leonie seufzte. »Ja, das habe ich mir so gedacht.« Sie wog das Ende des goldfarbenen Bandes noch einen Moment in der Hand, ehe sie sich weiter aufrichtete und es mit einem Achselzucken fallen ließ. »Geh einfach vor«, sagte sie.

Der Scriptor blinzelte. Zwei oder drei Sekunden beäugte er sie misstrauisch, dann stand er überhastet auf, streifte die Schlinge über den Kopf und fegte die Leine mit einem Fußtritt davon. Leonie machte eine auffordernde Kopfbewegung, der Scriptor druckste jedoch herum, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Was ist denn noch?«, fragte sie unwillig.

»Ähm... könntest du mir ähm... ähm... einen klitzekleinen Gefallen tun?«, fragte der Scriptor.

»Und welchen?«, erkundigte sich Leonie argwöhnisch.

»Deine Kapuze«, antwortete der Scriptor. »Könntest du sie vielleicht... ich meine... ähm... wieder aufsetzen? Du bist sooo hääässlich.«

Leonie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schluckte die wütende Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Mit einem Ruck zog sie sich die Kapuze tief ins Gesicht.

»Danke«, sagte der Scriptor erleichtert.

Leonie schenkte ihm einen giftigen Blick. Sie sagte nichts, aber sie trat mit einem Schritt dicht an den Scriptor heran und zog auch dessen Kapuze mit einem Ruck so weit nach vorne, wie es nur ging.

»Danke, gleichfalls«, knurrte sie.

Dann vergaß sie den Scriptor und konzentrierte sich stattdessen auf den Weg, der sich vor ihr auftat. Der Gang war mindestens zwanzig Meter breit, Wände, Decke und Boden bestanden aus schweren, roh behauenen Steinen und es erging Leonie so wie beim Anblick des monströsen Treppenschachtes: Obwohl sich ihr Blick schon nach ein paar Dutzend Schritten im Nebel verlor, wusste sie irgendwie, dass dieser Korridor buchstäblich endlos war.

Nur etwas war anders. Sie spürte, dass sie nicht mehr auf dem richtigen Weg war. Das unheimliche Gefühl, das sie bis zur Kammer des Scriptors geleitet hatte, war nicht nur nicht mehr da, sondern ganz eindeutig ins Gegenteil umgeschlagen. Aber es gab kein Zurück. Auf der anderen Seite der geschlossenen Eisentür warteten die Aufseher, und mittlerweile bestimmt nicht mehr nur sie.

Sie marschierten eine ganze Weile, bis sie die erste Tür erreichten und wieder stehen blieben. Leonie betrachtete sie misstrauisch. Auch sie bestand aus schwarzem Eisen, aber auf ihr prangte keinerlei Symbol. Es gab auch kein Schloss und keinen Griff.

»Geh auf!«, sagte Leonie. Die Tür ging auf. Dahinter lag ein schmaler Gang, der nach ein paar Schritten zu einer ausgetretenen Steintreppe wurde, die steil in unbekannte Tiefen führte.

»Du willst doch nicht wirklich da hineingehen?«, ächzte der Scriptor.

»Nein«, antwortete Leonie. Ihre Stimme zitterte ganz leicht. »Nicht ich. Wir.«

Der Scriptor ächzte vor Entsetzen, aber Leonie gab ihm keine Gelegenheit, zu widersprechen, sondern versetzte ihm einen derben Schubs, der ihn mehr durch die Tür stolpern als gehen ließ. Sie folgte ihm in so dichtem Abstand, dass sie ihn praktisch vor sich herschob.

»Das ist Wahnsinn«, jammerte der Scriptor. »Wir werden sterben. Dort unten wartet der Leimtopf auf uns, du wirst sehen!«

»Kein Problem«, antwortete Leonie. »Dreh dich einfach um, und du wirst sehen, dass hinter dir etwas noch viel Schlimmeres wartet. Und jetzt halt die Klappe!«

»Oder?«, fragte der Scriptor.

»Oder ich setze die Kapuze ab und zwinge dich, mich die ganze Zeit anzusehen.«

Der Gang wurde schmaler und zugleich auch niedriger. Irgendwo weiter vorne flackerte das Licht der Fackeln stärker und von weither drang ein helles, rhythmisches Klingen an ihr Ohr, wie Hammerschläge. Sie glaubte auch etwas wie ein Stöhnen zu hören und wimmernde Schreie - aber vielleicht spielten ihr ja auch nur ihre Nerven einen Streich.

In regelmäßigen Abständen tauchten jetzt Türen rechts und links von ihnen auf. Auch sie bestanden aus schwarzem Eisen und hatten weder Schloss noch Griff, aber in Kopfhöhe gab es winzige vergitterte Luken. Leonie trat an eine dieser Türen heran und warf einen Blick in den dahinter liegenden Raum. Er war sehr klein und vollkommen leer, aber Leonie sah dennoch etwas, das ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte: In die Wände waren eiserne Ringe eingelassen, an denen rostige, äußerst massive Ketten mit Fuß- und Handfesseln hingen. Bei dem Raum handelte es sich ohne jeden Zweifel um eine Kerkerzelle. Sie war leer und ihrem Aussehen nach zu schließen war sie es auch schon eine geraume Weile, aber das änderte nichts daran, dass ihr der bloße Anblick Angst machte.

»Ich habe es dir gesagt«, nörgelte der Scriptor.

Leonie ging wortlos weiter. Sie sah in keine der anderen Zellen mehr hinein, aber sie zählte die, an denen sie vorüberkamen. Es waren mehr als hundert. Wo um alles in der Welt war sie da nur hineingeraten?

»Und du weißt wirklich nicht, was das hier unten ist?«, fragte sie. Obwohl es keinen Grund dafür gab, hatte sie die Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern gesenkt. Und als der Scriptor antwortete, tat er es in derselben Lautstärke.

»Nein. Kein Scriptor ist jemals hier unten gewesen.«

»Aber es gibt doch bestimmt Gerüchte«, meinte Leonie. »Es gibt immer Gerüchte.«

»Nein«, behauptete der Scriptor. »Niemand weiß, was hier unten ist.« Er schüttelte sich. »Niemand wollte es je wissen.«

Das wiederum hatte Leonie gar nicht wissen wollen.

Sie hörte auf, die Zellen zu zählen, aber sie schätzte, dass es mindestens noch einmal die gleiche Anzahl war, bevor sie endlich das Ende des Ganges erreichten. Auch er mündete in eine große runde Höhle; nicht annähernd so gewaltig wie die, durch die sie vorhin gekommen war, aber immer noch riesig. Mindestens ein Dutzend weiterer Gänge führte in diese Höhle. Auch hier gab es gewaltige Apparaturen und Maschinen, riesige, mehr als mannshohe Zahnräder, die sich knirschend drehten, gewaltige Pleuelstangen, von denen Öl tropfte, und titanische Pressen, die sich mit einem dumpfen Wummern herabsenkten und sich ächzend wieder hoben. Leonie sah auch hier die ihr inzwischen bekannten Arbeiter und unter ihnen die riesigen gepanzerten Gestalten der Aufseher. Sie entdeckte keinen einzigen Schusterjungen, aber dafür etliche Scriptoren.

All dem schenkte sie jedoch nur einen flüchtigen Blick, denn das wirklich Unheimliche an dem riesigen Raum war der Boden. Er bestand aus einem weitmaschigen, mit Rost und Schmutz verkrusteten Metallgitter, in das zahlreiche Luken, Klappen und Scharniere eingelassen waren. Darunter lag kein fester Boden, sondern eine zähe bleichgrün schimmernde Flüssigkeit, die ununterbrochen brodelte und zischte. Manchmal durchbrach eine Blase die Oberfläche und platzte, und hier und da stiegen Fetzen eines matt leuchtenden Nebels auf. »Der Leimtopf!«, keuchte der Scriptor. Das hatte sich Leonie fast gedacht. Sie setzte gerade dazu an, eine entsprechende Bemerkung zu machen, als sie etwas sah, das ihr um ein Haar einen entsetzten Schrei entlockt hätte. Zwischen all den Maschinen, Zahnrädern, Pressen und einfach rätselhaften Dingen erhoben sich mannshohe rostige Käfige. Die meisten waren leer, aber in einem von ihnen befanden sich ihre Eltern!

Der Scriptor musste sie wohl im gleichen Augenblick entdeckt haben, denn er zog scharf und erschrocken die Luft durch die Zähne ein. »Beim großen Redigator!«, keuchte er. »Die sind ja noch hässlicher als du!«

Leonie versetzte ihm eine Kopfnuss und der Scriptor enthielt sich vorsichtshalber jeden weiteren Kommentars. Dabei hätte sie ihm nicht einmal so vehement widersprechen können, wie sie es gewollt hätte. Ihre Eltern boten tatsächlich ein Bild des Jammers. Ihre Kleider waren zerrissen und verdreckt, und obwohl sie im Grunde noch viel zu weit entfernt war, um Einzelheiten zu erkennen, glaubte sie doch zu sehen, wie abgemagert und geschunden sie beide waren - und wie mutlos.

Es dauerte lange, bis sie es schaffte, sich von dem erschreckenden Anblick loszureißen und mit einem schnellen Schritt in den Schutz des Ganges zurückzuweichen. Sie ließ ihren Blick ein zweites Mal und aufmerksamer durch den Raum schweifen. Wie sie bereits festgestellt hatte, war er nicht annähernd so riesig wie die beiden anderen unterirdischen Katakomben, durch die sie bereits gekommen war, aber trotzdem groß; auf jeden Fall aber entschieden zu groß, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, unentdeckt zu den Eisenkäfigen in seiner Mitte zu gelangen. Und schon gar nicht zurück.

»Also gut«, sagte sie. »Wie komme ich dorthin? Und wieder zurück?«

»Waas?!« Der Scriptor richtete sich kerzengerade auf und starrte sie eindeutig entsetzt an.

»Du hast mich verstanden«, meinte Leonie ernst. »Wie komme ich dort hinein und wieder zurück?«

»Gar nicht«, antwortete der Scriptor.

»Ich muss es aber«, beharrte Leonie. »Ohne die beiden da kann ich hier nicht weg. Und ohne mich kommst du auch nicht wieder heil hier heraus. Das ist dir doch hoffentlich klar?«

»Ich bin sowieso verloren«, sagte der Scriptor leise. »Vielleicht sollte ich mich freiwillig in den Leimtopf werfen, bevor mir noch etwas Schlimmeres zustößt. So bin ich wenigstens noch zu etwas nütze.« In seiner Stimme war eine solche Mutlosigkeit, dass Leonie für einen Moment nichts als Mitleid mit dem abstoßenden kleinen Gnomen empfand.

»Was ist das eigentlich, der Leimtopf?«, fragte sie.

Der Scriptor deutete ein resigniertes Achselzucken an. »Das siehst du doch.«

»Aber wozu braucht ihr denn so viel Leim?«

»Alles wird daraus gemacht«, antwortete der Scriptor. »Das Papier, aus dem die Bücher sind, der Leim, um die Seiten einzukleben, das Leinen für die Einbände und Buchrücken, die Tinte...« Er zuckte erneut die Schultern. »Alles eben. Und alles, was nicht mehr gebraucht wird, kommt zum Schluss wieder hinein.«

»Auch... eure Gefangenen?«, murmelte Leonie ungläubig.

Statt einer Antwort deutete der Scriptor mit einer müden Geste wieder in die Halle hinein. Leonies Blick folgte der Bewegung und erneut lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. In der Decke der gewaltigen runden Halle hatte sich eine Öffnung aufgetan, aus der an Dutzenden rasselnden Ketten ein gewaltiger Eisenbottich heruntergelassen wurde. Als er den halben Weg nach unten zurückgelegt hatte, kam hektische Bewegung in die Arbeiter, Aufseher und Scriptoren, die in der Halle herumwuselten. Sie spritzten regelrecht auseinander, und unmittelbar unter dem Bottich begann sich ein Teil des eisernen Gitters knirschend ineinander zu schieben, bis eine sechseckige Öffnung entstand, die ungefähr den Durchmesser des Bottichs hatte. Die Ketten spannten sich rasselnd auf einer Seite und der Bottich kippte langsam nach vorn und ergoss seinen Inhalt in den brodelnden Leim. Leonie konnte nicht allzu genau erkennen, was da in die Tiefe stürzte, aber es schien sich nicht nur um leblose Fracht zu handeln - sie erkannte mindestens eine zappelnde schwarze Gestalt und sie glaubte auch Schreie zu hören...

»So geht es allen, die sich etwas zu Schulden kommen lassen«, sagte der Scriptor düster.

Leonie starrte ihn entsetzt an. »Du meinst, die... die beiden, die wir überwältigt haben, müssen jetzt sterben - nur weil wir ihnen entkommen sind?«, fragte sie.

»Die Redigatoren verzeihen keinen einzigen Fehler«, antwortete der Scriptor.

»Aber das ist ja entsetzlich«, murmelte Leonie. »Sie müssen sterben, weil sie einen einzigen Fehler gemacht haben?«

»Sterben?«, wiederholte der Scriptor verständnislos. »Was soll das sein?«

Leonie deutete auf den Leimtopf. »Das da.«

»Aber natürlich«, sagte der Scriptor. »Wir tun unsere Aufgabe so lange, wie wir sie gut beherrschen. Einige wenige werden zu Scriptoren und die allerbesten von uns werden Schriftführer, manche sogar Redigatoren.« Sein Blick wurde vorwurfsvoll. »Ich war auf dem besten Wege dazu, ist dir das eigentlich klar? Noch ein paar hundert Jahre, und ich wäre ein Schriftführer geworden, und irgendwann einmal vielleicht sogar Redigator. Aber du musstest mir ja unbedingt dazwischenfunken, und...«

»Scriptor!«

»Ja, ja, schon gut.« Der Scriptor wich einen hastigen halben Schritt vor ihr zurück. »Also am Ende landen wir alle im Leimtopf. Manche eher, manche später. Ist das bei euch etwa nicht so?«

»Nein«, antwortete Leonie. Sie wandte sich schaudernd wieder um. »Unsere Leimtöpfe heißen... anders.«

Das Gitter hatte sich bereits wieder geschlossen, aber die grünliche Oberfläche darunter brodelte und zischte noch immer. Der Bottich bewegte sich, an seinen Ketten klirrend, zurück in die Höhe.

Sie sah wieder zu ihren Eltern hin. Die beiden hockten noch immer zusammengekauert nebeneinander in ihrem Käfig. Sie schienen von dem unheimlichen Zwischenfall nicht einmal Notiz genommen zu haben. »Wir müssen sie dort herausholen«, murmelte sie.

»Du bist ja verrückt!«, krähte der Scriptor.

»Ja, wahrscheinlich«, gestand Leonie. »Aber ich werde es trotzdem versuchen.«

»Und wie sollen wir das anstellen?«, fragte der Scriptor.

»Wir?« Leonie schüttelte den Kopf. »Du brauchst mich nicht zu begleiten.«

»Ach nein? Und wo soll ich hingehen? Hast du denn schon vergessen, dass ein gewisser Jemand dafür gesorgt hat, dass ich nicht mehr zurückkann? Ich lande sowieso im Leimtopf, ganz egal, was ich mache, da kann ich ganz genauso gut vorher noch ein bisschen Spaß haben.«

»Und wie stellst du dir diesen Spaß vor?«, fragte Leonie.

»Woher soll ich denn das wissen?«, fragte der Scriptor patzig. »Du bist doch hier der Schlaudenker.«

Leonie seufzte. Ihr Blick irrte immer und immer wieder durch den großen Raum. Überall waren Arbeiter, Aufseher und eine Menge Scriptoren, die scheinbar ziellos hin und her hasteten. Die meisten hatten Bücher unter den Arm geklemmt oder trugen sie aufgeschlagen in den Händen, um im Gehen darin zu lesen. Manche debattierten auch aufgeregt miteinander.

»Kannst du einen von ihnen hier hereinlocken?«, fragte sie.

»Klar«, antwortete der Scriptor. »Aber warum sollte ich so etwas Dummes tun?«

»Vielleicht, weil ich sonst meine Kapuze abnehme und dir mein entzückendstes Lächeln schenke?«, schlug Leonie vor.

»Ist ja schon gut«, maulte der Scriptor. Wahrscheinlich war er es seinem Stolz einfach schuldig, nicht sofort nachzugeben, sondern sie erst noch eine Sekunde lang wütend anzustarren. Aber schließlich setzte er sich doch in Bewegung und ging in die Höhle hinaus. Ein Teil von Leonies Verstand fragte sich, ob sie eigentlich verrückt war, diesem hässlichen kleinen Knirps zu vertrauen. Aber auf der anderen Seite: Welche Wahl hatte sie schon? Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung sah sie zu, wie der Scriptor mit zielsicheren Schritten in die Halle hinaus- und auf einen seiner Brüder zuging. Sie konnte nicht hören, was die beiden Scriptoren miteinander besprachen, aber es verging nur ein kurzer Augenblick, bis die beiden miteinander zurückkamen. Leonie machte rasch zwei Schritte rückwärts, damit sie im Schatten stand und nicht sofort gesehen werden konnte. Die beiden Scriptoren traten in den Gang, und Leonie tat das Erstbeste, was ihr einfiel: Sie machte wieder einen Schritt nach vorne und schlug ihre Kapuze zurück.

Das Ergebnis war verblüffend: Der neu hinzugekommene Scriptor stand wie vom Donner gerührt. Das Buch rutschte unter seinem Arm hervor, knallte zu Boden, und der Scriptor fiel stocksteif nach hinten und blieb mit ausgebreiteten Armen neben seinem Buch liegen.

»Saubere Arbeit«, lobte der Scriptor. »Und was machen wir jetzt mit ihm?« Er kicherte. »Ich meine: Du könntest hier warten, bis er wieder wach wird, und dich dann über ihn beugen. Wenn er dich sieht, springt er garantiert freiwillig in den Leimtopf...« Er brach ab und schluckte den Rest seines Satzes mit einem hörbaren Geräusch hinunter, als Leonie einen wütenden Blick in seine Richtung abschoss. »Schon gut«, sagte er hastig. »Ich mach das schon.«

Rasch kniete er neben seinem bewusstlosen Kameraden nieder, riss einen Streifen aus seinem schwarzen Mantel und fesselte ihn damit. Einen zweiten, etwas kürzeren Streifen benutzte er, um ihn zu knebeln.

»Und jetzt?«, fragte Leonie, als der Scriptor zurücktrat und offensichtlich sehr zufrieden mit sich selbst auf seinen wie ein Weihnachtspaket verschnürten Kollegen hinabsah. Der Scriptor schenkte ihr einen verächtlichen Blick, bückte sich nach dem Buch und begann darin zu blättern. Es dauerte nur einen Moment, bis er gefunden zu haben schien, wonach er suchte.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte er. »Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«

»Wofür?«

»Um deine Eltern zu befreien«, antwortete der Scriptor, legte den Kopf auf die Seite und sah sie fragend an. »Wo wir schon mal dabei sind: Was ist das - Eltern?«

»Was ist...« Jetzt war es an Leonie, verblüfft zu sein. »Was soll denn diese Frage? Du musst doch wissen, was Eltern sind. Ich meine: Jeder hat Eltern. Du doch bestimmt auch.«

»Nein«, bekannte der Scriptor.

»Unsinn«, widersprach Leonie. »Wenn du keine Eltern hast, wo kommst du denn dann her, bitte schön?«

»Aus dem Leimtopf«, antwortete der Scriptor. »Woher denn sonst?«

»Ah ja«, meinte Leonie. »Wie konnte ich das bloß vergessen?« Sie deutete auf das aufgeschlagene Buch. »Also, was steht da drin?«

»Alles«, antwortete der Scriptor.

Leonie beherrschte sich jetzt nur noch mit Mühe. »Ich meine: Was steht da über meine Eltern?«, fragte sie gepresst.

»Was ich mir schon gedacht habe«, erwiderte der Scriptor. »Sie landen im Leimtopf. Aber vorher sollen sie noch von einem Redigator verhört werden.«

»Ein Redigator«, wiederholte Leonie, der dieses Wort erst jetzt auffiel. »Was ist das?«

»Glaub mir«, antwortete der Scriptor, »das willst du nicht wissen.«

Leonie glaubte ihm. Sie gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er fortfahren sollte.

»Sie erwarten ihn jeden Augenblick«, sagte der Scriptor kopfschüttelnd.

»Und dann?«

»Kommen sie in den Leimtopf«, erklärte der Scriptor. »Aber vorher werden sie noch sagen, wie sie hier reingekommen sind. Die Schriftführer sind völlig aus dem Häuschen. Noch nie zuvor ist es einem Fremden gelungen, bis hierher vorzudringen.«

»Dann haben wir wirklich nicht viel Zeit«, sagte Leonie. Sie zog ihre Kapuze weiter ins Gesicht. »Komm!«

»Wohin?«

»Meine Eltern befreien«, antwortete sie.

»Befreien?«, ächzte der Scriptor. »Bist du jetzt völlig plemplem?«

»Nein«, seufzte Leonie. »Aber weißt du was? Ich wünschte mir fast, ich wäre es. Dann könnte ich mir wenigstens einbilden, dass das alles hier nur ein Albtraum ist.«

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