Der sicherste Ort der Welt

Nachdem Frank und die beiden Männer, mit denen er sich die Spätschicht teilte, ihre letzte Runde durchs Haus gemacht und das ganze Gewirr von Alarm- und Überwachungsanlagen scharf geschaltet hatten, die das vermeintlich ganz normale Einfamilienhaus mit dem angegliederten kleinen Ladengeschäft für antiquarische Bücher in eine nahezu uneinnehmbare elektronische Festung verwandelten, war es sonderbar still geworden; auf eine Art, die in Leonie eine zwar vollkommen unbegründete, dennoch aber tiefe Melancholie weckte, gegen die sie sich nicht wehren konnte und im Grunde auch gar nicht wollte. Es war nicht so, dass sie irgendwelche Probleme hatte, die sie lösen musste um wieder Lebensfreude zu gewinnen; die Wahrheit war viel einfacher: Sie starb fast vor Langeweile.

Dabei hatte sie durchaus viel zu tun. Das Haus hatte nur knapp zwei Wochen leer gestanden, aber nach ihrer Rückkehr aus Südafrika hatte sie ein Anblick empfangen, als käme sie nach einer zehnjährigen Abwesenheit in eine Wohnung zurück, in die in all der Zeit kein Mensch einen Fuß gesetzt hatte: Überall lag Staub, Kühlschrank und Gefriertruhe rochen leicht muffelig, obwohl sie beides vor ihrer Abreise extra leer geräumt und ausgewaschen hatte, damit genau das nicht passierte, und anscheinend hatte sie wohl auch in der Vorratskammer das eine oder andere Lebensmittelpaket übersehen, denn auf den Regalen lagen haufenweise zerfetztes Papier und jede Menge Mäuseköttel. Der Gestank war selbst durch die geschlossene Tür gedrungen und hatte es ihr in den ersten Stunden fast unmöglich gemacht, es hier drinnen auszuhalten. Seit ihr Vater auf dem Sicherheitstrip war und damit angefangen hatte, das Haus in so etwas wie die hiesige Version von Fort Knox zu verwandeln, ließen sich natürlich auch die Fenster nicht mehr öffnen, und die Klimaanlage war während ihrer Abwesenheit abgeschaltet gewesen und hatte nun alle Mühe, mit dem Gestank fertig zu werden, der zwei Wochen lang Zeit gehabt hatte, sich in alle Winkel einzunisten und Möbel und Vorhänge festzusetzen. Leonie vermutete, dass er noch immer da war und sie sich in den zurückliegenden achtundvierzig Stunden nur einfach so sehr daran gewöhnt hatte, dass sie es schon gar nicht mehr merkte.

Das war wieder einmal typisch für ihren Vater, dachte sie, während sie unschlüssig durch das leere Haus strich und eine Möglichkeit nach der anderen erwog - und fast ebenso schnell wieder verwarf -, wie sie den Abend herumbringen konnte ohne das Haus zu verlassen, was jedes Mal einen schier unglaublichen Aufwand bedeutete: Er gab ein kleines Vermögen für den Sicherheitsdienst aus, der für das Wohlergehen seiner Tochter und die Sicherheit seiner ach-so-geliebten uralten Schinken sorgte, aber um eine Hilfe zu engagieren, die wenigstens einmal die Woche kam und das Nötigste erledigte, war er zu geizig. Leonie hatte längst aufgehört mitzuzählen, wie oft sie sich schon über dieses Thema in die Haare geraten waren.

Natürlich argumentierte ihr Vater, dass es nicht am Geld lag, sondern er einfach keine Fremden im Haus haben wollte, bei all den wertvollen Büchern und Handschriften, die hinter den Panzerglasscheiben und Stahltüren des vermeintlichen Antiquariats lagerten, und in gewisser Weise konnte Leonie das sogar verstehen - aber das änderte nichts daran, dass es ihr allmählich reichte. Sie war schließlich seine Tochter, nicht seine Putzfrau, basta! Sobald er von seiner Reise zurück war, würde sie noch einmal mit ihm über dieses Thema reden und diesmal würde sie nicht nachgeben!

Falls er überhaupt zurückkam, bevor die Ferien zu Ende waren und die Schule wieder anfing, hieß das.

Auch das war etwas, was Leonie mit einer Trauer erfüllte, die ihr unangemessen erschien, wenn man ihr Alter bedachte, die aber dennoch jeden Tag ein bisschen stärker wurde: Sie sah ihren Vater kaum noch. Manchmal vergingen Monate, in denen das einzige Lebenszeichen, das sie von ihm bekam, ein Anruf von seinem Handy aus war, oder auch nur eine E-Mail. Ihr Vater hatte sich schon immer für diese langweiligen alten Bücher interessiert - je älter, desto besser, und wie sollte es auch anders sein, in einer Familie, deren Mitglieder seit Generationen Buchhändler gewesen waren? -, doch seit dem Tod ihrer Mutter war aus diesem Interesse eine regelrechte Besessenheit geworden. Er reiste praktisch das ganze Jahr herum; kroch durch verstaubte Büchereien, durchwühlte schmutzige Dachböden, krabbelte durch uralte Katakomben und trieb sich an vermutlich noch viel unheimlicheren und unappetitlicheren Orten herum, immer auf der Suche nach alten Büchern, Dokumenten und Handschriften, die er seiner Sammlung einverleiben konnte. Obwohl ihr Vater - was erstaunlich genug war - zu Hause praktisch nie über seine Passion sprach, war Leonie doch klar, dass er im Laufe so vieler Jahre eine Sammlung von enormem Wert zusammengetragen hatte, um die ihn so manches Museum beneiden musste. Und in einer Welt, in der Bücher immer seltener wurden, nahm der Wert dieser Sammlung vermutlich täglich von ganz allein noch zu.

Leonie war das herzlich egal. In dieser Hinsicht war sie schon immer so etwas wie das schwarze Schaf der Familie gewesen. Zu den wenigen Erinnerungen, die sie an ihre viel zu früh verstorbene Mutter hatte, gehörten auch ein paar bruchstückhafte Gespräche, in denen Mutter sich darüber beklagt hatte, wie sehr ihre einzige Tochter doch aus der Art geschlagen war, denn sie interessierte sich viel mehr für Musik, Computerspiele und Filme als für Bücher, und das als bislang letzter Spross einer Familie, die seit Jahrhunderten vom Buchhandel lebte.

Aber das war früher gewesen. Damals hatten sie Bücher nur nicht interessiert. Heute hasste sie sie regelrecht, denn nachdem ihre Mutter gestorben war und sich ihr Vater ganz in seine Passion vergrub, um den Schmerz über diesen Verlust zu betäuben, hatten diese verdammten Dinger ihr auch noch ihren Vater weggenommen und sie damit zum einsamsten Menschen auf der Welt gemacht.

Wenigstens kam sie sich manchmal so vor.

Leonie schüttelte den Gedanken ab und schnitt sich selbst eine Grimasse, als sie auf dem Weg nach unten an dem großen Garderobenspiegel vorbeikam. Gut, sie hatte sich ihre tägliche Portion Selbstmitleid gegönnt, nun konnte sie zur Tagesordnung übergehen und zum Beispiel überlegen, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Es war noch nicht allzu spät - auf jeden Fall zu früh, um ins Bett zu gehen -, aber sie verspürte weder Lust, den Fernseher einzuschalten noch Musik zu hören oder sich in eines ihrer eigentlich heiß geliebten Virtual-Reality-Spiele zu vergraben. Das letzte war ihr fast ein wenig zu realistisch gewesen (obwohl das eigentlich der Sinn eines solchen Spieles war, bei dem man sich mittels eines speziellen Helms und eines Paars Datenhandschuhe in eine künstlich erschaffene Computerwelt versetzte, in der man die tollsten Abenteuer erleben konnte) und sie spürte jetzt noch ein eisiges Frösteln, wenn sie an die verrückte Geschichte zurückdachte.

Sie war durch eine gewaltige Höhlenwelt voller giftiger, grün leuchtender Kanäle und bizarrer Riesenmaschinen gewandert, in der es sonderbare, hässliche Wesen gab, die allmählich zu grünem Schleim zerflossen. Eigentlich war in diesem Spiel gar nichts wirklich Schlimmes passiert. Sie erinnerte sich an andere, weitaus entsetzlichere Abenteuer in der kunterbunten Welt virtueller Realitäten, in denen sie von grässlichen Monstern durch menschenleere Hochgeschwindigkeitszüge gehetzt worden war, die anschließend in bodenlose Abgründe stürzten, oder wochenlang in finsteren Kerkern gefangen saß, bis ihr endlich die Flucht gelang, und doch hatte keines dieser viel aufregenderen Computerabenteuer einen solchen Nachhall von Furcht in ihr hinterlassen. Als wäre während dieses Spiels noch etwas geschehen, das einfach zu entsetzlich war, als dass sie sich noch daran erinnern könnte...

Aber vielleicht war das verdammte Ding ja auch einfach nur kaputt.

So oder so: Heute stand ihr nicht der Sinn nach quietschbunten Cyberspace-Abenteuern. Eigentlich stand ihr der Sinn nach gar nichts.

Leonie blieb ein paar Augenblicke lang unschlüssig unter der Tür stehen und griff schließlich aus purer Langeweile nach der Fernbedienung des Fernsehers. Nicht dass irgendetwas lief, was sie wirklich interessierte - die Programmzeitschrift durchzublättern war ihre erste Amtshandlung gleich nach ihrer Heimkehr aus Südafrika gewesen und...

Südafrika?

Leonie blinzelte, dann stahl sich ein leicht verwirrtes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie hatte gerade tatsächlich Südafrika gedacht, obwohl sie ihre Heimatstadt in ihrem ganzen Leben noch nicht verlassen hatte. Reines Wunschdenken, entschied sie. Nicht dass es sie wirklich nach Südafrika oder in irgendein anderes exotisches Land gezogen hätte - aber endlich einmal aus diesem goldenen Käfig auszubrechen, den ihr Vater für sie erschaffen hatte, wäre auch nicht das Schlechteste.

Ein goldener Käfig zudem, in dem es im Augenblick ganz erbärmlich stank.

Leonie legte die Fernbedienung unverrichteter Dinge wieder aus der Hand, drehte sich einmal um sich selbst und sog dabei mit einem hörbaren Schnüffeln die Luft ein um herauszufinden, aus welcher Richtung der üble Gestank kam. Es gelang ihr nicht, aber plötzlich hörte sie ein lautstarkes Poltern, und als sie auf dem Absatz herumfuhr, sah sie gerade noch einen grauweißen buschigen Schwanz die Treppe hinauf verschwinden.

»Mausetod«, rief sie. »Bleib sofort stehen!«

Ein dumpfes Poltern erscholl, gefolgt von einem enttäuschten Miauen, und dann tauchte ein grauweiß geschecktes Katzengesicht am oberen Ende der Treppe auf und blickte mit einer Mischung aus Trotz und schlecht verhohlenem Schuldbewusstsein zu ihr herab. Obwohl Leonie die Katze nicht besonders mochte und auch keinen Hehl daraus machte, gehorchte Mausetod ihr wie ein Hund, und so kam sie auch jetzt - selbstverständlich provozierend langsam und stolz erhobenen Hauptes, denn schließlich war sie eine Katze - die Treppe herab. Ihr Gesicht war das personifizierte schlechte Gewissen.

»Du hast mit diesem Gestank nicht zufällig etwas zu tun, oder?«, fragte Leonie streng.

Mausetod legte den Kopf auf die Seite und maunzte beleidigt. Wahrscheinlich tat sie der Katze Unrecht, dachte Leonie. Der Gestank wurde immer unerträglicher, aber es roch nicht wirklich nach dem, was Katzen hinterlassen, wenn sie den Weg in ihre Kiste einmal nicht schnell genug finden.

Es roch schlimmer.

Leonie schnüffelte erneut, drehte sich noch einmal im Kreis und glaubte schließlich die Richtung ausmachen zu können, aus der der erbärmliche Gestank kam: vom anderen Ende des Flures, von dort, wo das Arbeitszimmer ihres Vaters lag. Leonie kämpfte ihren Ekel nieder und bewegte sich vorsichtig auf die Tür zu, während sie versuchte den schrecklichen Gestank irgendwie einzuordnen. Er kam ihr bekannt vor, auch wenn ihr schon der bloße Gedanke den Magen umdrehte, schon einmal mit irgendetwas in Berührung gekommen zu sein, das so roch: Es stank nach Marzipan - aber wenn, dann nach verwesendem Marzipan, das mit noch etwas anderem, Schlimmerem, vermischt war. Leonies Magen revoltierte mit jedem Schritt heftiger, den sie sich der Tür näherte.

Als sie sich vor der Tür in die Hocke sinken ließ, wurde ihr für einen Moment so schwindelig, dass der Flur vor ihren Augen verschwamm. Leonie hielt für einen Moment in der Bewegung inne, blinzelte und wartete darauf, dass sich ihr Magen beruhigte, und dann blinzelte sie noch einmal und vergaß für eine Sekunde sogar den erbärmlichen Gestank, als sie den zerknüllten schwarzen Stofffetzen bemerkte, der unmittelbar vor der Tür lag.

Vor einer Sekunde war er noch nicht da gewesen.

Es war keine Einbildung. Leonie war hundertprozentig sicher, dass dieser nasse schwarze Lappen noch vor einem Augenblick nicht dort gelegen hatte. Offensichtlich spielte ihre Fantasie ihr mittlerweile wirklich üble Streiche...

Und das war noch lange nicht alles.

Als Leonie genauer hinsah, fiel ihr auf, dass der schwarze Fetzen über und über mit einer zähflüssigen grünen Pampe besudelt war, von der allem Anschein nach dieser grässliche Gestank ausging. Angeekelt, aber tapfer griff sie mit spitzen Fingern nach dem Fetzen und hob ihn hoch. Halb erstarrter Leim tropfte herab und vergrößerte die übel riechende Lache auf dem Fußboden noch.

Wieso eigentlich Leim? Das Zeug sah aus wie irgendein ekelhafter Schleim, aber in ihrem Kopf war ganz deutlich das Wort Leim erschienen. Unheimlich.

Leonie hob den Fetzen höher und erkannte jetzt, dass es sich um einen zerrissenen schwarzen Kapuzenmantel handelte, der allerdings so klein war, dass er allerhöchstem einem Achtjährigen gepasst hätte. Noch dazu einem Achtjährigen, der an Bulimie im letzten Stadium litt.

Oder einem Scriptor.

Leonie verspürte ein neuerliches noch eisigeres Frösteln, als dieses Wort so deutlich in ihrem Kopf entstand, als hätte es jemand neben ihr laut ausgesprochen. Und es war nicht nur dieses sonderbare Wort, das ihr einfiel. Sie wusste sogar, woher sie es kannte. Scriptoren waren diese hässlichen Gnome aus dem Computerspiel, das ihr so großes Unbehagen bereitet hatte. In der künstlich geschaffenen Welt der virtuellen Realität, die sich weder um Logik noch um Naturgesetze zu scheren brauchte, waren vorlaute Knirpse, die nach und nach zu grüner Grütze zerflossen, ja in Ordnung - aber in der Realität?

Leonie ließ den Mantel fallen und drängte die Furcht, die in ihr emporkriechen wollte, mit einiger Mühe zurück. Sosehr sie dieses Spiel liebte, sie nahm sich vor, in nächster Zeit die Finger davon zu lassen. Vielleicht war es doch nicht so harmlos, mit elektronischen Wellen im Gehirn herumzupfuschen, wie einen die Werbung immer glauben machen wollte.

Sonderbarerweise dachten weder der zerfetzte Mantel noch die Leimpfütze daran, gefälligst wieder zu verschwinden, jetzt nachdem sie sie als einen geschmacklosen Scherz entlarvt hatte, den ihr ihre Erinnerung spielte. Ganz im Gegenteil sah sie plötzlich noch weitere zähe grüne Tropfen, die in einer unregelmäßig verschmierten Spur an der Tür hinaufführten und dicht unter dem Schloss endeten, als hätte der Scriptor versucht die Klinke zu erreichen, es aber nicht mehr geschafft, bevor er wieder zu der Substanz zerfallen war, aus der man ihn erschaffen hatte. Leonie glaubte sogar, so etwas wie einen verschmierten Handabdruck zu erkennen, aber sie war nicht ganz sicher, und sie hatte auch nicht den Mut, genauer hinzusehen.

Stattdessen stand sie auf, trat zwei Schritte von der Tür zurück und musterte sie aufmerksam. Irgendetwas daran kam ihr sonderbar vor, aber sie konnte nicht sagen was. Es war die gleiche vertraute Tür, die sie praktisch seit dem Tag ihrer Geburt kannte, zumindest äußerlich. Vor einigen Jahren hatte ihr Vater sie mit einem massiven Stahlkern ausstatten lassen, denn er verwahrte in seinem Arbeitszimmer einige Bücher von enormem Wert, und auch wenn das Schloss aussah wie ein ganz normales altmodisches Türschloss, so hätte es in Wahrheit wohl selbst einem Profi-Einbrecher gehöriges Kopfzerbrechen bereitet. Äußerlich jedoch war es die alte Zimmertür, und soviel Leonie wusste, hatte sich auch dahinter nicht viel verändert, sah man von den Gittern vor den Fenstern und dem in die Wand eingelassenen Safe ab, der massiv genug war, der Explosion einer kleinen Atombombe standzuhalten. In dem Zimmer war ansonsten nur das, was sich im ganzen Haus wie rasend schnell wachsendes Unkraut ausbreitete: Bücher. Selbst wenn es den Scriptor wirklich gab - was völlig unmöglich war -, was hätte er ausgerechnet hier suchen sollen?

Da Leonie ohnehin keinen Schlüssel für den gepanzerten Hochsicherheitstrakt hatte, der sich hinter dieser scheinbar normalen Zimmertür verbarg, trat sie mit einem resignierten Achselzucken zurück und ging in die Küche, um Eimer und Wischlappen zu holen. Auch wenn sich ihr bei dem bloßen Gedanken schon der Magen umdrehte, konnte sie die Schweinerei nicht einfach liegen lassen. Mausetod lief mit schräg gehaltenem Kopf neben ihr her und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Aus dem schuldbewussten Ausdruck auf ihrem breiten Katzengesicht war ein unübersehbar vorwurfsvoller geworden.

»Jetzt guck bloß nicht so selbstgefällig«, maulte Leonie. »Mit dieser Sauerei hast du vielleicht nichts zu tun, aber über den Mäusedreck in der Speisekammer reden wir noch, verlass dich darauf.«

Als sie an der offenen Wohnzimmertür vorbeikam, fiel ihr ein flackerndes rotes Lämpchen am Fernseher auf. Normalerweise blinkte diese Lampe nie, denn sie zeigte nur an, dass sich das Gerät im Standby-Modus befand, und sowohl Leonie als auch ihr Vater mochten es nicht, wenn Geräte eingeschaltet waren, die eigentlich aus sein sollten. Sie benutzte den Fernseher entweder oder schaltete ihn wirklich und vollständig aus. Vielleicht war sie vorhin versehentlich an eine Taste der Fernbedienung gekommen. Leonie unterbrach ihren Weg in die Küche kurz, um das blinkende Lämpchen zum Erlöschen zu bringen, dann ging sie weiter und kehrte einen Moment später mit einem Eimer heißen Wassers und einem ganzen Stapel Aufnehmer bewaffnet zurück.

Es war nicht ganz so schlimm, wie sie erwartet hatte, aber schlimm genug. Ihr Mageninhalt versuchte ein paarmal sich dem Inhalt ihres Putzeimers hinzuzugesellen. Leonie gewann den Kampf gegen ihre eigenen Innereien, aber als sie fertig war und zum letzten Mal ihren Aufnehmer auswrang, war ihr hundeelend. Mehr taumelnd als gehend schleppte sie sich ins Bad, schüttete den Inhalt ihres Putzeimers samt dem schwarzen Mantel ins Klo und brauchte anschließend gut fünf Minuten, um sich auch nur halbwegs zu erholen.

Wieder draußen auf dem Flur machte sie zwei Schritte und blieb dann stehen, um mit einem resignierten Seufzen die Augen zu verdrehen. Wie es aussah, war sie noch nicht ganz fertig. Der Fußboden vor der Tür zu Vaters Arbeitszimmer glänzte wie frisch gebohnert, aber auf halbem Wege dorthin begann eine schwache, aber nicht zu übersehende Spur aus unregelmäßigen grünen Tropfen, die schnurstracks an Leonie vorbeizog und unter der Verbindungstür verschwand, die zum Laden führte.

Leonie verdrehte innerlich die Augen und wollte sich schon nach ihrem Putzeimer bücken, machte aber dann noch einmal kehrt und trat vollends auf den Flur hinaus, um der Spur erst einmal bis zu ihrem Ursprung zu folgen. Vielleicht war es besser, sie sah erst einmal nach, welche bösen Überraschungen dort auf sie warteten.

Die erste böse Überraschung war die Tür selbst. Sie war verschlossen und Leonie musste die Klinke nicht einmal ganz herunterdrücken um zu spüren, dass sich auch hinter ihr massiver Stahl verbarg. Das überraschte sie. Die Buchhandlung war seit dem Tod ihrer Mutter geschlossen, und es war Jahre her, dass Leonie das letzte Mal in dem kleinen Antiquariat gewesen war, aber sie konnte sich gar nicht daran erinnern, dass ihr Vater auch diese Tür einbruchssicher hatte machen lassen. Wozu auch? Der Raum war - selbstverständlich - bis in den letzten Winkel mit Büchern voll gestopft, aber die wirklich wertvollen Exemplare seiner Sammlung befanden sich in einem ganz anderen Raum, wo sie nicht nur vor neugierigen Blicken, sondern auch vor schädlichem Sonnenlicht, vor Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen geschützt waren.

Aber egal aus welchem Grund, er hatte es getan und jetzt hatte Leonie ein Problem. Die Spur aus grünen Leimtropfen führte geradewegs auf diese Tür zu und darunter hindurch. Leonie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich der dazugehörige Schlüssel befand. Und wie sie ihren Vater und seinen Sicherheitsfimmel kannte, würde sie ein ausgewachsenes Schiffsgeschütz brauchen, um diese Tür aufzubrechen.

Nicht dass sie ernsthaft in Erwägung zog, so etwas Dummes zu tun. Die Tür war verschlossen, basta, und ganz gleich welches Chaos auch immer dahinter herrschen mochte, niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie irgendetwas damit zu tun hatte. Irgendwie unheimlich war ihr die ganze Geschichte schon, aber Leonie war zugleich auch sicher, dass sich früher oder später eine logische Erklärung dafür finden würde. Sie ging noch einmal zurück ins Bad, holte Eimer und Lappen und beseitigte auch noch den Rest der Spur, die der sterbende Scriptor hinterlassen hatte.

Blieb noch immer die Frage, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Die Auswahl war nicht besonders groß. Nachdem ihr verständlicherweise die Lust auf ein Computerspiel vergangen war, konnte sie sich zu Tode langweilen, eingedenk der Tatsache, dass die Schule bereits in einer knappen Woche wieder anfing, ihren PC einschalten und eine CD mit Lernsoftware einlegen (was im Prinzip auf dasselbe hinauslief) oder fernsehen. O ja, oder vielleicht ein Buch lesen. Bäh.

Es war einer der wenigen Momente, in denen es Leonie zutiefst bedauerte, so wenige Freunde zu haben. Die beiden einzigen Mädchen aus ihrer Klasse, mit der sie mehr als nur eine flüchtige Bekanntschaft verband, waren noch nicht aus dem Urlaub zurück und Theresa hatte sich seit Wochen nicht mehr gemeldet.

Leonie blinzelte.

Wer zum Teufel war Theresa?

Sie konnte sich nicht erinnern, jemanden dieses Namens zu kennen. Theresa war der Name ihrer Großmutter gewesen, aber Leonie hatte sie niemals kennen gelernt. Sie war gestorben, lange bevor sie selbst auf die Welt gekommen war, und sie hatte nur ein paarmal gehört, wie sich ihre Eltern über sie unterhalten hatten. Niemand sonst, den sie kannte, hieß Theresa.

Und trotzdem - etwas an diesem Namen kam ihr ungeheuer wichtig vor. Leonie strengte ihr Gedächtnis an und...

Irgendetwas... Unheimliches geschah. Leonie wurde plötzlich schwindelig, und für zwei oder drei Sekunden hatte sie das bizarre Gefühl, den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren. Die Wände rings um sie herum schienen durchsichtig zu werden, ohne dass sie erkennen konnte, was dahinter lag, und alles wurde leicht und irreal.

Der schreckliche Augenblick ging so schnell vorüber, wie er gekommen war, und Leonie fand sich mit klopfendem Herzen und stocksteif dastehend auf dem Flur wieder, der genauso massiv und echt war, wie er sein sollte.

Was zum Teufel war nur mit ihr los?

Sie hob die Hand an die Stirn um zu fühlen, ob sie Fieber hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, und sie war plötzlich gar nicht mehr sicher, dass es nur an diesem verrückten Computerspiel lag, das sie gespielt hatte. Vielleicht wurde sie ja tatsächlich krank.

Besorgter, als sie sich selbst eingestehen wollte, ging sie ins Wohnzimmer zurück und wurde dort von einem heftig blinkenden roten Licht am Fernseher begrüßt.

Eine ganze Armee eiskalter, dürrer Spinnenbeine kroch Leonies Rückgrat hinauf. Drehte sie jetzt völlig durch oder spukte es hier tatsächlich? Sie war vollkommen sicher, das verdammte Ding ausgeschaltet zu haben, bevor sie auf den Flur hinausging, um die Schweinerei wegzumachen!

Leonie streckte die Hand nach der Fernbedienung aus und verharrte mitten in der Bewegung. Das Teil war nicht mehr die Fernbedienung, wenigstens nicht die, die noch vor ein paar Minuten hier gelegen hatte und ihr seit Jahren vertraut war. Diese hier war viel größer und hatte ungleich mehr Tasten, als wäre sie dazu bestimmt, gleich mehrere Geräte auf einmal zu bedienen. Es war die Fernbedienung, die Theresa benutzt hatte, um damit im Vorführraum das Chaos auszulösen, das Leonies Flucht ermöglicht hatte.

Die Wirklichkeit schlug Wellen. Für einen Moment sah Leonie alles nur wie in der spiegelnden Oberfläche eines Quecksilbersees, in den jemand einen Stein geworfen hatte. Das Zimmer schien plötzlich doppelt vorhanden zu sein, in zwei ähnlichen, aber eben nicht ganz identischen Ausführungen, die sich lautlos um ihren Platz in der Wirklichkeit stritten, ohne dass Leonie sagen konnte, welche nun die richtige war. Leonie machte einen verwirrten Schritt zurück und sah sich aus aufgerissenen Augen um, dann klärte sich ihr Blick wieder. Die Halluzination erlosch.

Leonie atmete erleichtert auf, drehte sich wieder um und stieß einen erschrockenen Laut aus.

Diesmal konnte sie es nicht auf ihr schlechtes Erinnerungsvermögen schieben oder vielleicht darauf, dass ihre Nerven ihr einen bösen Streich spielten. Sie hatte die Fernbedienung nicht einmal angefasst.

Trotzdem lief der Fernseher jetzt. Und nicht nur das.

Noch während der Bildschirm allmählich heller wurde und die Farben an Leuchtkraft zunahmen, begann die Kanalanzeige wie wild zu scrollen, so schnell, dass auf dem Monitor keine wechselnden Bilder mehr zu erkennen waren, sondern nur noch ein Durcheinander aufblitzender Farben und zusammenhangloser Umrisse. Die Kanalanzeige erreichte die fünfzig, dann die hundert und jagte weiter, in einen Frequenzbereich hinein, auf dem gar keine Sender mehr lagen. Auf dem Bildschirm war jetzt nur noch flackerndes Schneegestöber zu sehen. Leonie starrte den wild gewordenen Fernseher einige Augenblicke lang mit klopfendem Herzen an, machte einen halben Schritt zurück - und stieß eine Mischung aus einem erleichterten Seufzen und einem leisen, aber fast hysterischen Lachen aus, als ihr klar wurde, dass sie sich wie eine komplette Närrin benahm.

Dieser Fernseher war weder verrückt geworden noch verhext. Er war schlicht und einfach kaputt. Leonie schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit und machte zwei Schritte auf den Apparat zu, um ihn auszuschalten oder zur Not auch den Stecker herauszuziehen, wenn es gar nicht anders ging. Wenn die Glückssträhne, die sie im Moment hatte, anhielt, dann würde ihr das verflixte Ding am Ende noch um die Ohren fliegen.

Hinter ihr schepperte etwas und sie hörte einen Laut wie ein kleines, erschrockenes Piepsen. Ein ganz ähnliches, nur sehr viel lauteres Geräusch stieß Leonie im nächsten Augenblick selbst aus, als sie sich umdrehte, um nach der Ursache des sonderbaren Piepens Ausschau zu halten.

Der Fernseher war nicht kaputt. Er tat ganz genau das, was ein ordnungsgemäß funktionierender Fernseher tut, wenn jemand auf der Fernbedienung herumhämmert.

Nur dass dieser Jemand normalerweise keine fünf Zentimeter große Maus war, die wie wild auf den winzigen Knöpfen herumsprang, um sie mit ihrem Körpergewicht hinunterzudrücken...

Leonie starrte sie eine Sekunde lang aus hervorquellenden Augen an, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus, schlug die Hand vor den Mund und prallte so entsetzt zurück, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

Wenn es irgendetwas auf der Welt gab, vor dem sie sich im gleichen Maße ekelte wie fürchtete, dann waren es Mäuse. Das war schon seit ihrer frühesten Kindheit so gewesen. Schon als Baby hatte Leonie kein Problem damit gehabt, einen fetten Regenwurm in die Hand zu nehmen, oder fröhlich zu lachen, während ihr eine haarige Spinne über das Gesicht kroch, aber beim Anblick einer harmlosen Maus hatte sie regelrecht hysterische Anfälle bekommen. Das war auch der Grund, warum ihr Vater Mausetod angeschafft hatte - auch wenn sich die fette Perserkatze in dieser Hinsicht als komplette Niete entpuppt hatte. Leonie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals auch nur eine einzige Maus gefangen hätte.

Und selbstverständlich war sie auch jetzt nicht da.

Leonie setzte dazu an, einen zweiten, gellenden Schrei auszustoßen, um die verflixte Katze zu alarmieren, die vermutlich gerade irgendwo im Haus Jagd auf etwas machte, das nicht ganz so schnell war wie eine Maus - eine Dose Katzenfutter zum Beispiel -, aber sie brachte plötzlich keinen Ton mehr heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr Herz schlug mit einem Mal ganz langsam, aber so hart, dass es beinahe wehtat. Ihr war heiß und zugleich bedeckte kalter Schweiß ihre Handflächen und ihre Stirn. Es war die gleiche lähmende Furcht, die sie immer überkam, wenn sie eine Maus sah, und gegen die sie einfach wehrlos war.

Die Maus sah sie aus ihren winzigen Knopfaugen fast vorwurfsvoll an, hörte aber nicht auf, wie besessen auf den Tasten der Fernbedienung herumzutrampeln, und Leonie bekam endlich wieder Luft und nutzte sie, um einen krächzenden, halb erstickten Schrei auszustoßen.

Die Reaktion erfolgte prompt. Von der Tür her erscholl ein fast überraschtes Maunzen, das beinahe augenblicklich in ein zorniges Fauchen überging. Leonie riss sich für einen Moment vom Anblick der Maus los und wurde mit einem sehr sonderbaren Anblick belohnt: Mausetod war unter der Tür erschienen und hatte die Maus ganz offensichtlich sofort entdeckt. Nur reagierte sie nicht im Entferntesten so, als hätte sie vor ihrem Namen Ehre zu machen. Sie hatte die Ohren angelegt und ihre Augen zu schmalen und gelb funkelnden Schlitzen verengt. Ihr Schwanz peitschte nervös und aus ihrer Brust drang ein tiefes, grollendes Knurren. Hätte Leonie es nicht besser gewusst, dann hätte sie geschworen, dass Mausetod vor irgendetwas Angst hatte.

Wenn, dann überwand sie sie jedenfalls sehr schnell.

Aus dem Knurren wurde wieder ein Fauchen, dann stieß sich die Katze mit einem kraftvollfedernden Satz ab und flog mit ausgefahrenen Krallen und gebleckten Fängen auf die Maus zu.

Und Leonie tat etwas, was sie selbst vielleicht am allerwenigsten verstand.

In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor Mausetod ihr Ziel erreichte, sprang sie vor und stieß ihr die flachen Hände in die Seite. Mausetod schrie überrascht auf. Statt Zähne und Krallen in den Leib ihrer angepeilten Beute zu graben, verwandelte sie sich in ein kreischendes Fellbündel, das wild um sich schlagend durch die Luft flog und in einem Bücherbord landete, das mit einem gewaltigen Scheppern und Krachen unter seinem Anprall zusammenbrach. Die Maus hörte zwar nicht auf, wie ein kleiner, mit Fell überzogener Gummiball auf den Tasten der Fernbedienung herumzuhüpfen, drehte aber trotzdem den Kopf, um der davonfliegenden Katze ein schadenfrohes Grinsen hinterherzuschicken.

Leonie starrte fassungslos auf ihre eigenen Hände. Sie verstand nicht, warum sie das getan hatte. Allein die Nähe der Maus bereitete ihr beinahe körperliches Unwohlsein und trotzdem hatte sie sie gerade gerettet!

Mausetod krabbelte umständlich unter dem Berg aus Holztrümmern, aufgeschlagenen und zerknickten Büchern und Papierfetzen hervor, unter dem sie sich selbst begraben hatte, schüttelte benommen den Kopf und sah sie einen Moment lang ebenso verwirrt wie vorwurfsvoll an. Dann richtete sich der Blick ihrer gelben, boshaft funkelnden Augen wieder auf die Maus. Ihr Schwanz peitschte wütend. Mit einem zornigen Fauchen stieß sie sich ab und sprang abermals.

Diesmal musste Leonie dem grauen Winzling nicht helfen. Die Maus wartete zwar bis zum wirklich allerletzten Moment, aber dann bewegte sie sich so blitzartig, dass es Leonie schien, als wäre sie von einem Augenblick zum anderen einfach verschwunden. Statt ihre Krallen in die winzige Maus zu schlagen, landete Mausetod bloß auf der Fernbedienung, die unter ihrem Aufprall davonschlitterte und zu Boden fiel, wo sie in tausend Stücke zersprang. Mausetod flog kreischend hinterher, schlitterte hilflos um sich schlagend auf dem spiegelglatten Parkett aus der Tür und knallte so wuchtig vor die gegenüberliegende Wand, dass sie nur noch einmal quiekte und dann stocksteif auf die Seite fiel.

Der Anblick war so komisch, dass Leonie an sich halten musste, um nicht laut aufzulachen. Trotzdem setzte sie sich sofort in Bewegung, um der Katze nachzueilen und nach ihr zu sehen; Mausetod hatte zwar den sprichwörtlichen Dickkopf aller Katzen, aber es hatte auch ganz schön gekracht. Doch sie kam nur zwei Schritte weit.

Der Fernseher begann erneut zu rauschen. Zu dem flackernden Schneegestöber auf der Mattscheibe gesellte sich ein an- und abschwellendes Zischen, das rasch an Lautstärke zunahm und in einem unheimlichen Rhythmus zu pulsieren schien, den Leonie zwar nicht genau erfassen konnte, der ihr aber irgendwie bekannt vorkam. Und auch die wirbelnden, weißen Störflecke auf dem Bildschirm schienen sich plötzlich nicht mehr so willkürlich zu bewegen wie gerade noch: Sie bildeten Muster, Schlieren und Umrisse, die ebenso schnell wieder auseinander flossen, wie sie entstanden, zugleich aber immer hartnäckiger Gestalt anzunehmen versuchten - als wollte sich ein bestimmtes Bild auf der Mattscheibe materialisieren, ohne dass es ihm in letzter Konsequenz gelang.

Dann hörte sie die Stimme.

So wenig, wie das Bild wirklich ein Bild war, war diese Stimme wirklich eine Stimme. Was Leonie hörte, war nur ein geisterhaftes Flüstern und Wispern, so leise und verzerrt, als dränge es aus unendlich großer Entfernung an ihr Ohr. Und trotzdem gab es nicht den leisesten Zweifel daran, dass diese unheimliche Geisterstimme ihren Namen rief...

Fassungslos machte Leonie wieder kehrt und starrte den Fernseher an. Die Kanalanzeige hatte aufgehört zu flackern und war bei 999 stehen geblieben und das chaotische Wirbeln gerann jetzt immer mehr zu festen Formen und Umrissen. Es vergingen nur noch wenige Augenblicke, bis ein deutlich erkennbares Bild die Stelle der tanzenden Störungen eingenommen hatte. Es war nicht besonders gut. Es gab weder Farben noch Tiefe und die Umrisse wollten immer wieder zerfließen. Leuchtende weiße Streifen liefen in unregelmäßiger Folge von oben nach unten über den Bildschirm, als betrachtete sie ein uraltes defektes Videoband. Die Kamera - wenn es eine Kamera war, die dieses gespenstische Bild übertrug - zeigte einen Ausschnitt einer winzigen fensterlosen Zelle, deren Wände aus fast meterhohen, nur grob behauenen Felsquadern bestanden. Schwere eiserne Ringe waren darin eingelassen und auf dem Boden lag fauliges Stroh. Vornübergebeugt und mit weit ins Gesicht hängenden grauen Haaren, die vor Schmutz starrten, hockte eine schmalschulterige, in Fetzen gehüllte Gestalt.

Leonie schrie auf, als die Gestalt mit einer unendlich müde wirkenden Bewegung den Kopf hob und das Haar zur Seite strich, sodass sie ihr schmales, von tiefen Linien und Falten zerfurchtes Gesicht erkennen konnte.

Sie kannte dieses Gesicht. Sie hatte es in natura noch nie gesehen, sondern nur auf Fotografien und in einem alten Video, und da war es deutlich jünger gewesen und nicht so von Leid und Furcht gezeichnet und verdreckt wie jetzt, und dennoch wusste sie ohne jeden Zweifel, um wen es sich handelte.

Es war das Gesicht ihrer Großmutter.

»Leonida, du musst... sein«, begann die unheimliche Erscheinung. Leonie erkannte auch ihre Stimme wieder, trotz des Rauschens und Knisterns, und das war vielleicht das Unheimlichste daran, denn Leonie hatte diese Stimme noch nie gehört. Ihr Herz klopfte wie wild und mit einem Mal begann sie am ganzen Leib zu zittern. Das war keine Halluzination mehr, und auch keine Sinnestäuschung, sondern etwas viel Schlimmeres.

Das Bild begann wieder stärker zu flackern und gleichzeitig nahmen die Störgeräusche zu. Für einen Moment drohte es ganz zu verschwinden, dann stabilisierte es sich wieder. Leonie konnte sehen, wie sich die Lippen ihrer Großmutter bewegten, aber sie hörte nur vereinzelte Satzfetzen und Worte.

»... nicht trauen«, identifizierte sie zwischen Zischen und Knistern. Die alte Frau auf dem Bildschirm hob beschwörend die Hände und streckte die Arme in Leonies Richtung aus, als versuche sie über den Fernsehschirm nach ihr zu greifen. Ihr Gesicht wurde von weiteren Störungen und Bildausfällen verzerrt und neu zusammengesetzt und für einen winzigen Moment sah Leonie es ganz deutlich. Aber sie bemerkte auch die Spuren, die die Entbehrungen und das Leid endloser Gefangenschaft in der nassen, fensterlosen Zelle darin hinterlassen hatten, und der Anblick bohrte sich wie eine glühende Messerklinge tief in ihre Brust. Ihre Augen füllten sich schlagartig mit Tränen.

»Leonida, hör... zu«, drang die Stimme der alten Frau durch das an- und abschwellende Rauschen zu ihr. In ihren Augen erschien ein verzweifeltes Flehen. »Du darfst... trauen. Sie... nicht, was... scheint!«

Das Zischen und Knistern wurde noch lauter und verschlang Großmutters Worte schließlich ganz. Nur einen Augenblick später begann auch das Bild zu verblassen. Es verging nicht einmal eine Minute, bis der Fernseher wieder nichts als weißes Rauschen zeigte. Die Kanalanzeige zählte rückwärts, und als sie bei 0 angekommen war, ging der Fernseher mit einem leisen Klacken aus.

Leonie erwachte wie aus einer tiefen Trance. Das Zittern ihrer Hände und Knie verstärkte sich, und für einen Augenblick raste ihr Herz so ungestüm, dass sie kaum noch atmen konnte. Alles um sie drehte sich, jetzt aber aus gänzlich anderen Gründen als zuvor. Was bedeutete das noch? Verlor sie allmählich den Verstand oder begann die ganze Welt um sie herum verrückt zu spielen?

Mit einiger Mühe gelang es Leonie endlich, den Blick von dem schwarzen Bildschirm zu lösen und sich umzusehen. Alles sah aus wie immer. Die Wirklichkeit hatte aufgehört Wellen zu schlagen und sich wieder verfestigt, so als habe die Realität ihr falsches Spiegelbild verschlungen und ihren angestammten Platz in der Welt wieder eingenommen.

Aber woher wollte sie eigentlich wissen, welche der beiden unterschiedlichen Wirklichkeiten, die sich für einen Moment einen lautlosen Kampf um die Vorherrschaft in der Welt geliefert hatten, die richtige war?

Leonie schüttelte heftig den Kopf, wie um mit der Bewegung gleichsam auch diesen unheimlichen Gedanken abzuschütteln, der nicht nur zu nichts anderem als Kopfschmerzen führen konnte, sondern darüber hinaus auch vollkommen hirnrissig war. Unterschiedliche Wirklichkeiten! Was für ein Unsinn!

Sie hatte keine Erklärung für das, was sie gerade erlebt hatte, aber sie war jetzt sicherer denn je, dass es eine ganz natürliche Ursache für all das gab.

Und sei es nur, weil es einfach so sein musste.

Leonie lächelte nervös über ihre dummen Gedanken und bückte sich, um die beiden größten der Stücke aufzuheben, in die die Fernbedienung zerbrochen war. Vermutlich tat es dem Tohuwabohu hinter ihrer Stirn ganz gut, wenn sie sich mit einer rein praktischen Tätigkeit ablenkte.

Allerdings machte es kaum noch Sinn, der Fernbedienung mehr als nur einen flüchtigen Blick zu schenken. Leonie war einigermaßen geschickt, wenn es darum ging, Dinge zu reparieren, aber dieser Patient war ein hoffnungsloser Fall. Na wunderbar, dachte Leonie missmutig, während sie die einzelnen Bruchstücke zusammenklaubte und auf den Tisch warf. Das bedeutete nichts anderes, als dass sie für den Rest dieses Abends nicht einmal fernsehen konnte.

Nicht dass sie das ernsthaft vorgehabt hätte, nach dem, was sie gerade erlebt hatte...

Leonie bedachte den Fernseher mit einem letzten schrägen Blick - ihre Großmutter, die seit mehr als fünfzehn Jahren tot war, hatte sich über den Fernseher aus einem Verlies direkt aus der Hölle bei ihr gemeldet: ha, ha, ha! - und trat dann mit schnellen Schritten auf den Flur hinaus um nach Mausetod zu sehen. Auch wenn sich ihre Sympathie für die übergewichtige Perserkatze in Grenzen hielt, konnte sie sie nicht einfach so dort draußen liegen lassen.

Das musste sie auch nicht, denn Mausetod war gar nicht mehr da. Wo sie gelegen hatte, entdeckte Leonie jetzt nur noch ein Büschel grauen Fells, das unter dem Luftzug ihrer Schritte davonwirbelte. Anscheinend, dachte Leonie, hatte sie doch ihr zweites Abendessen noch erwischt.

Seltsamerweise empfand Leonie bei diesem Gedanken ein tiefes Bedauern. Sie hätte erleichtert sein sollen, dass der ekelige Nager verschwunden war, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Und hatte sie die Maus gerade eben tatsächlich gerettet, indem sie Mausetod zur Seite geschubst hatte?

Leonie sah einen Moment lang fast ungläubig auf ihre eigenen Hände und drehte dann den Kopf um ins Wohnzimmer zurückzublicken. Das zertrümmerte Bücherbord lag jedenfalls noch genau da, wo Mausetod es von der Wand gerissen hatte. Die ganze Geschichte war wirklich mehr als mysteriös.

Leonie verscheuchte auch diesen Gedanken und hielt weiter nach der Katze Ausschau. Sie konnte sie nirgends entdecken, aber dafür sah sie weitere Büschel grauen Fells. Ganz kampflos hatte die tapfere kleine Maus offensichtlich nicht aufgegeben. Sie folgte der Spur aus Fellbüscheln und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. Es waren eine ganze Menge Fellbüschel, und einige davon waren eigentlich viel zu groß, um von einer so kleinen Maus zu stammen...

Aus dem Wandschrank neben der Tür drang ein leises klägliches Miauen.

Leonie blieb überrascht stehen, sah die geschlossene Schranktür einen Herzschlag lang nachdenklich an und ging dann weiter. Das Maunzen wiederholte sich. Eigentlich hatte sie keine Lust, der Katze dabei zuzusehen, wie sie die Überreste der Maus verspeiste. Aber irgendetwas stimmte nicht. Mausetods Miauen klang so kläglich, dass es ihr schier das Herz brach. Behutsam öffnete Leonie die Schranktür und riss in nächsten Moment ungläubig die Augen auf.

Die Katze war keineswegs damit beschäftigt, die Maus zu fressen. Sie hatte sich im hintersten Winkel des Wandschranks zusammengekauert und zitterte vor Angst. Ihre Augen waren weit aufgerissen (wenigstens das linke, das andere begann bereits zuzuschwellen) und ihr rechtes Ohr hing in Fetzen. Sie hatte mindestens zwei oder drei Zähne verloren, und ihr Fell sah aus, als hätte sie Nachbars Kater mit einem eingeschalteten Rasenmäher bearbeitet.

»Mausetod?«, murmelte Leonie ungläubig.

Die Katze kreischte, war mit einem Satz an ihr vorbei und dann so schnell wie der Blitz auf den Flur verschwunden. Leonie sah gerade noch das zerrupfte Ende ihres grauweiß getigerten Schwanzes auf der Treppe verschwinden, als sie sich umdrehte. Eine Sekunde später schepperte es oben. Glas zerbrach klirrend.

»Mausetod?«, murmelte sie noch einmal. »Aber was...?«

Sie sprach nicht weiter, sondern brach mit einem ungläubigen Keuchen ab, als ihr Blick auf die Verbindungstür zum Laden fiel.

Sie war offen.

Unter dem verschnörkelten Messingschließblech, das ein ganz normales altmodisches Türschloss vorgaukelte, hatte ein winziges grünes Lämpchen zu blinken begonnen, das vorher noch nicht da gewesen war, und jetzt, wo die Tür offen war, konnte Leonie erkennen, dass nicht nur das Schließblech etwas ganz anderes zu sein vorgab, als es war. Diese Zimmertür war keine Zimmertür, sondern ein mindestens zehn Zentimeter dickes Monstrum aus massivem Stahl, das jedem ausgewachsenen Banktresor Ehre gemacht hätte. Auch der Türrahmen bestand aus Stahl, der nur mit einer dünnen Furnierschicht überzogen war, und aus der Tür ragte ein gutes Dutzend daumendicker Schließbolzen. Leonie war vollkommen perplex. Sie hatte schon ein paarmal gewitzelt, dass ihr Vater an einem offenbar leicht übersteigerten Sicherheitsbedürfnis litt - aber das hier war keine übertriebene Vorsicht mehr, sondern ein klarer Fall von galoppierender Paranoia! Was um alles in der Welt bewahrte er da hinter dieser Tür auf? Die Kronjuwelen der englischen Königin?

Leonie ging unsicher weiter. Der winzige Raum hinter der Tür war ebenso neu wie die Tür selbst. Die Wände bestanden wieder aus mattiertem Stahl und auch die Tür in der gegenüberliegenden Wand machte einen ziemlich massiven Eindruck. Zwei unter der Decke angebrachte Videokameras deckten jeden Quadratzentimeter der Stahlkammer ab, und Leonie war ziemlich sicher, dass es noch eine ganze Anzahl weiterer, unsichtbarer Sicherheits- und Überwachungsgeräte hier drinnen gab. Die Tür auf der anderen Seite hatte weder einen Griff noch ein sichtbares Schloss, sondern nur eine Zahlentastatur und etwas, das wie ein in die Wand eingelassener Scanner aussah. Auch sie stand offen.

Zumindest in der Buchhandlung dahinter schien sich nichts verändert zu haben; wenigstens erschien ihr das auf den ersten Blick so und auch auf den zweiten fielen ihr nicht allzu viele Neuerungen auf. Die bis unter die Decke reichenden Bücherregale aus einfachem Holz waren noch dieselben wie vor zehn oder zwanzig Jahren - möglicherweise auch vor hundert -, nur dass sie jetzt mit schweren, sorgsam verschlossenen Glastüren versehen waren und Leonie das leise Summen einer Klimaanlage hörte, die hier drinnen für eine stets gleich bleibende Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgte; darüber hinaus waren auch hier unter der Decke mehrere Videokameras montiert. Ansonsten sah der Laden aber ganz genauso aus, wie Leonie ihn in Erinnerung hatte. Auf dem Boden lag noch immer derselbe zerschlissene Teppich und hinter dem schmalen Tresen hatte Mutter ihr halbes und Großmutter sogar ihr ganzes Leben verbracht, ja selbst die Registrierkasse war noch da, obwohl sie sogar aus dem vorletzten Jahrhundert stammte.

Ein sonderbares Gefühl überkam Leonie, während sie zwischen den überladenen Bücherregalen hindurchging. Sie war nur sehr selten hierher gekommen, als ihre Mutter noch gelebt hatte, und seit ihrem Tod überhaupt nicht mehr, und doch fühlte sie sich auf eine sehr seltsame Art zu Hause. Die voll gestopften Regale, die abgenutzten Möbel und das blasse Licht vermittelten ihr ein Gefühl von Geborgenheit, das mit jedem Schritt stärker wurde. Und noch etwas ganz und gar Unheimliches geschah, erstaunlicherweise aber, ohne dass es ihr auch nur die geringste Angst machte: Als sie an der niedrigen Theke vorbeiging, glaubte sie für einen winzigen Moment ihre Mutter zu sehen, wie sie hinter der antiquierten Registrierkasse stand und mit einem geduldigen Lächeln die Fragen ihrer Kunden beantwortete und sie beriet, und für die gleiche unendlich kurze Spanne wusste sie einfach, dass ihre Mutter noch am Leben war, auf irgendeine unbegreifliche Art und in einer unbegreiflichen Welt.

Die Vision verging und sie war plötzlich von einem Mut und einer Zuversicht erfüllt, die sie vor ein paar Minuten noch für unmöglich gehalten hätte. Selbst als ihr endgültig klar wurde, dass mit ihren Erinnerungen irgendetwas nicht stimmte, machte ihr das keine Angst; vielleicht weil sie spürte, dass das, was sich hinter der Mauer des Vergessens in ihrem Kopf versteckte, nicht nur Schlimmes barg, sondern auch ein paar sehr beruhigende Dinge.

Leonie sah sich nachdenklich um. Sie wusste selbst nicht genau, wonach sie eigentlich suchte, aber ihr war natürlich klar, dass sie nicht zufällig hier war; so wenig wie es Zufall war, dass die seit zehn Jahren verschlossene Tür zum Antiquariat plötzlich offen stand. Sie blickte nach rechts und links und dann nach unten, und sie erkannte selbst in dem schwachen Licht hier drinnen die Spur aus verschmierten grünen Flecken, die vom Eingang her geradewegs in den kleinen Nebenraum führte, der ihren Eltern früher als Büro gedient hatte. Die Tür zum Büro stand offen, und als Leonie hindurchtrat, bemerkte sie, dass auch die viel schmalere Tür in der gegenüberliegenden Wand geöffnet war. Die Spur aus grünen Fußabdrücken führte geradewegs dorthin. Leonie wusste, dass dahinter eine Treppe lag, die in einen winzigen Keller führte, der ihres Wissens nach seit einem halben Menschenleben nicht mehr benutzt wurde.

Kaltes Neonlicht und ein leicht muffiger Geruch schlugen ihr entgegen, als sie durch die Tür trat und die schmale Treppe nach unten ging. Auch hier gab es eine Videokamera unter der Decke, aber die Wände bestanden aus nacktem Ziegelstein, in dessen Fugen sich schon vor einem Jahrhundert der Schimmel eingenistet hatte, und die hölzernen Stufen knarrten vernehmlich unter ihrem Gewicht. Allmählich beschlich Leonie doch ein banges Gefühl. Wären die grünen Fußabdrücke vor ihr nicht gewesen, dann hätte sie vermutlich spätestens in diesem Moment kehrtgemacht. So aber ging sie weiter und gelangte nach knappen anderthalb Dutzend Stufen in einen winzigen fensterlosen Kellerraum - der vollkommen leer war.

Beinahe, jedenfalls. Unter der mit freundlichen hellen Kunststoffplatten verkleideten Decke hing eine ganze Batterie von Kameras und anderen, zum Teil höchst kompliziert aussehenden Apparaturen und die der Treppe genau gegenüberliegende Wand bot einen ziemlich merkwürdigen Anblick: Sie bestand aus nacktem Beton, nicht aus Ziegelsteinen wie die anderen Wände, und als hätte man sichergehen wollen, dass wirklich niemand der Wand zu nahe kam, war davor ein engmaschiges Netz aus silbern blitzenden Drähten gespannt, von dem ein leises elektrisches Summen ausging. Leonie konnte nicht genau sagen warum, aber sie hatte das sehr starke Gefühl, dass es besser war, diese Drähte nicht zu berühren.

Eingebettet in dieses vermutlich tödliche Spinnennetz aus stählernem Draht war die gewaltigste Panzertür, die Leonie jemals gesehen hatte. Sie war kreisrund, reichte vom Boden bis zur Decke und bestand aus Stahl, der so sorgsam poliert war, dass Leonie ihr eigenes Gesicht als schreckensbleich verzerrtes Spiegelbild darin erkennen konnte. Das Monstrum musste mindestens fünf Tonnen wiegen, und es hatte nicht nur ein, sondern gleich drei Schlösser und dazu eine Zifferntastatur, einen Handabdruck-Scanner und noch zwei oder drei andere Apparaturen, deren Bedeutung sie nicht einmal zu erraten vermochte. Tatsächlich, dachte Leonie - irgendjemand wollte wirklich sehr sicher sein, dass kein Unbefugter durch diese Tür ging. Leonie hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wer dieser Jemand war, und ihr war alles andere als wohl bei dem bevorstehenden Gespräch mit ihrem Vater, das unweigerlich folgen musste, sobald er die Bänder der Überwachungskamera ausgewertet hatte. Trotzdem zögerte sie nur einen kurzen Moment, bevor sie weiterging.

»Ich an deiner Stelle würde das nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr. Leonie fuhr erschrocken herum und Frank fuhr mit einem Grinsen fort, das nicht wirklich über den abgrundtiefen Schrecken in seinem Blick hinwegtäuschen konnte: »Ich an meiner Stelle übrigens auch nicht. Es ist nicht ganz ungefährlich, dieser Wand zu nahe zu kommen.«

»Wo... wo kommen Sie denn her?«, murmelte Leonie überrascht.

»Die Frage ist, glaube ich, eher: Wie kommst du hierher?«

»Ich wohne hier.« Leonie funkelte Frank an. Natürlich war ihr klar, dass der stellvertretende Leiter des privaten Sicherheitsdienstes ihres Vaters nur seine Arbeit tat, aber das änderte nichts daran, dass sie ihn noch nie besonders gemocht hatte. »Schon vergessen?«

»Genau genommen wohnst du oben«, antwortete Frank ungerührt. »Hier unten hat niemand etwas zu suchen. Auch du nicht. Wie kommst du eigentlich hierher?«

»Ich bin der Spur gefolgt«, antwortete Leonie.

»Welcher Spur?«

»Der von diesem hakennasigen kleinen Kerl, der dann später zu grünem Schleim zerfallen ist«, erwiderte Leonie. »Die Maus hat mir die Tür aufgemacht, nachdem sie die Katze verprügelt hat.«

Franks Gesicht verdüsterte sich. »Ganz wie du meinst«, sagte er kühl. »Aber jetzt sollten wir wieder raufgehen. Es ist wirklich nicht ganz ungefährlich hier.«

Leonie machte keine Anstalten, seiner Aufforderung zu folgen. Stattdessen drehte sie sich wieder um und deutete mit einer Kopfbewegung auf die monströse Tür. »Was ist dahinter?«

»Das weiß ich nicht«, behauptete Frank. »Und es ist mir auch egal. Mich interessiert lediglich, dass du nicht hier sein darfst. Es ist wirklich gefährlich, glaub mir. Dein Vater wird nicht besonders begeistert sein, wenn er davon erfährt.«

»Muss er es denn erfahren?«, fragte Leonie.

»Darüber reden wir, sobald wir hier raus sind, einverstanden?«, fragte Frank. »Jetzt komm bitte.« Er machte eine barsche Handbewegung, die er zugleich mit einem breiten Lächeln wieder zu entschärfen versuchte, aber es gelang ihm nicht, einen raschen nervösen Blick auf die Tür zu unterdrücken. Man musste kein allzu guter Beobachter sein um zu bemerken, dass ihm ihre bloße Nähe Unbehagen bereitete.

Ihr erging es jedenfalls so.

Frank trat demonstrativ zur Seite und machte eine übertrieben einladende Geste. Leonie ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihm noch einen giftigen Blick zuzuwerfen, aber dann drehte sie sich gehorsam um und ging an ihm vorbei die Treppe hinauf.

Auch wenn sie es niemals laut zugegeben hätte: Sie war froh hier herauszukommen. Irgendetwas Unheimliches war hier unten, etwas, das ihr Angst machte.

Als sie in das ehemalige Büro trat, hörte sie Schritte und gedämpfte, aber aufgeregte Stimmen, und in der Buchhandlung selbst begegneten ihr zwei junge Männer, die so haargenau dem Klischee von Hollywood-Agenten entsprachen, dass sie schon fast lächerlich aussahen: schwarze Anzüge, kurz geschnittenes, streng zurückgekämmtes Haar, Sonnenbrille (obwohl es draußen stockdunkel war) und den obligaten Knopf im Ohr, von dem ein durchsichtiges Spiralkabel ausging, das in ihrem Kragen verschwand.

»Hier ist alles in Ordnung«, sagte einer der beiden zu Frank. »Es scheint niemand da zu sein.«

»Scheint?« Franks Stirnrunzeln war allenfalls angedeutet, aber Leonie sah trotzdem, wie das Gesicht seines Mitarbeiters unter der albernen Sonnenbrille alle Farbe verlor.

»Es ist niemand hier«, versicherte der Mann hastig. »Und auf den Videos ist auch nichts zu sehen.« Er hob unglücklich die Schultern. »Ich habe keine Erklärung dafür, wie sie die Sicherheitsbarrieren überwinden konnte. Geschweige denn wie es ihr gelungen ist, die Tür zu öffnen.«

Frank vermittelte für einen Moment ganz den Eindruck, als würde er explodieren und seine Wut an seinem bedauernswerten Mitarbeiter auslassen. Aber dann beherrschte er sich und wandte sich stattdessen wieder ganz Leonie zu, um sie mit einem langen nachdenklichen Blick zu messen. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns ein wenig unterhalten, junge Dame.«

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