Willkommen in der Wirklichkeit

»Hier?« Irgendwie hatte Leonie das Kunststück fertig gebracht, ihren Gesichtsausdruck auf ein bloßes missbilligendes Stirnrunzeln zu reduzieren - das ihre Großmutter wahrscheinlich nicht einmal bemerkte, denn sie stand seit einer geschlagenen Minute da, starrte auf die Fassade des altehrwürdigen Gebäudes, und auf ihrem Gesicht hatte sich ein Ausdruck ausgebreitet, den Leonie nur noch als Verzückung bezeichnen konnte; auch wenn sie diese Begeisterung beim besten Willen nicht verstand. Was sie anging, erfüllte sie der Anblick mit einem Gefühl, das verdächtig nahe an blankes Entsetzen heranreichte.

Leonie räusperte sich. »Hier?«, fragte sie wieder, und diesmal gelang es ihr nicht nur, die Frage mit vollkommen ausdrucksloser Miene zu stellen, sondern sogar den leicht hysterischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.

Nicht dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Leonie war - zu Recht - stolz auf ihre schauspielerische Leistung, die Großmutter aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Sie stand immer noch wie zur Salzsäule erstarrt da, blickte auf die gewaltige Sandsteinfassade dieses jahrhundertealten Monstrums von Haus und schien alle Mühe zu haben, nicht vor lauter Begeisterung die Fassung zu verlieren.

Und zumindest das, dachte Leonie mit einer Mischung aus Resignation und immer noch schwelendem Entsetzen, war etwas, das sie im Moment durchaus gemeinsam hatten: Auch sie selbst stand kurz davor, die Fassung zu verlieren und möglicherweise etwas sehr Dummes zu tun.

Wenn auch aus vollkommen anderen Gründen...

Sie war schon mit einem unguten Gefühl aufgestanden und daran hatte sich seither nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Der bloße Anblick dieses Monstrums aus Sandstein und barock erstarrter Zeit flößte ihr Unbehagen ein. Leonie hielt von Vorahnungen ungefähr ebenso viel wie von alter Architektur - aber Tatsache war, dass ihr dieses Gebäude nicht nur Unbehagen einflößte, sondern ihr das intensive Gefühl einer drohenden Gefahr vermittelte. Vielleicht war es besser, dort nicht hineinzugehen...

Unsinn. Leonie hob die Hand, um die juckende Stelle am Kinn zu kratzen, und ließ den Arm dann wieder sinken, ohne die Bewegung zu Ende geführt zu haben. Die Stelle, wo sie das Piercing am Morgen entfernt hatte, juckte nicht nur wie wild, sie tat auch verteufelt weh - und sie war keineswegs sicher, ob sie den kleinen Chromstift so ohne weiteres wieder einsetzen konnte. Und das Allerschlimmste war: Großmutter wusste das Opfer, das Leonie für sie gebracht hatte, nicht einmal zu würdigen.

»Ja, ja, hier«, sagte Großmutter plötzlich. Leonie blinzelte und brauchte ein paar Augenblicke um zu begreifen, dass das die Antwort auf die Frage war, die sie vor einer guten Minute - zweimal! - gestellt hatte. Anscheinend schlug der Anblick des gewaltigen Bibliotheksgebäudes die alte Frau so sehr in seinen Bann, dass sie sich nur mit Mühe auf das konzentrieren konnte, was um sie herum vorging. »Damit hast du nicht gerechnet, wie? Die Überraschung ist mir gelungen, nicht wahr? Sag schon.«

Leonie schluckte ein paarmal, nicht nur um den bitteren Speichel loszuwerden, der sich immer wieder dort sammelte, wo vor ein paar Stunden noch das Piercing gewesen war, sondern vor allem um nicht auszusprechen, was ihr wirklich auf der Zunge lag. Sie lächelte gequält. »Stimmt«, antwortete sie. »Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

Das war nicht einmal gelogen.

Großmutters Gesicht hellte sich auf. Mit deutlicher Anstrengung riss sie sich vom Anblick des riesigen Gebäudes los und wandte sich Leonie zu. Ihre Augen schienen von innen heraus zu leuchten, als sie zu ihrer Enkelin hochsah - und das im buchstäblichen Sinne des Wortes. Leonie - fünfzehn, sportlich, eine gute Schülerin und (nach eigener Einschätzung) verdammt gut aussehend - war alles andere als hoch gewachsen, aber ihre Großmutter reichte ihr trotzdem nur bis zum Kinn.

»Und das Beste kommt erst noch!«, sagte Großmutter. »Die eigentliche Überraschung steht dir erst noch bevor. Warts nur ab!«

»So, so«, machte Leonie. Sie lächelte - wenigstens hoffte sie, dass ihre Großmutter das gequälte Verziehen der Lippen, zu dem sie sich durchrang, als Lächeln auffassen würde. Ein Lächeln, das ihr umso schwerer fiel, als das unheimliche Gefühl, das dieses Gebäude in ihr erzeugte, mit jedem Moment stärker wurde.

»Du wirst sehen«, versprach Großmutter nochmals. »Komm!« Sie ging los und Leonie erlebte eine weitere Überraschung. Sie kannte ihre Großmutter als zwar agile, aber dennoch alte Frau, die sich eher vorsichtig bewegte, um nicht zu sagen: betulich. Jetzt aber eilte sie mit kleinen, trippelnden Schritten so schnell voraus, dass Leonie im ersten Moment Mühe hatte, überhaupt mitzukommen, als gäbe ihr der Anblick des uralten Gemäuers etwas von der Kraft zurück, die ihr die vielen Jahrzehnte abverlangt hatten, die auf ihren schmalen Schultern lasteten.

Leonie runzelte die Stirn, ein wenig verwundert über ihre eigenen Gedanken. Trotzdem beeilte sie sich weiterzugehen, um mit ihrer Großmutter Schritt zu halten. Auf der Mitte der breiten Freitreppe, die zu dem beeindruckenden, von mehr als mannshohen steinernen Säulen flankierten Eingang des Bibliotheksgebäudes hinaufführte, holte sie sie ein, konnte aber trotzdem nicht wirklich langsamer werden. Ihre Großmutter legte ein Tempo vor, das sie immer mehr in Erstaunen versetzte. Noch vor einer knappen Stunde, als sie in den Bus gestiegen waren, hatte Großmutter ihre liebe Not gehabt, die beiden Stufen hinaufzukommen, jetzt schien sie mit jedem Schritt, den sie sich dem Eingang näherten, an Kraft und Schnelligkeit zu gewinnen.

Vielleicht war es ja die Kraft der Erinnerung, überlegte Leonie. Sie selbst hatte mit Büchern nie viel am Hut gehabt - wozu auch in einer Welt, in der es Fernseher, Notebooks, Gameboys, Walkmans und MP3-Player gab? -, aber Großmutter war zeit ihres Lebens von Büchern umgeben gewesen. Sie hatte (großer Gott: vor mehr als sechzig Jahren!) eine Lehre als Buchhändlerin abgeschlossen und niemals in einem anderen Beruf gearbeitet. Die kleine Buchhandlung am Stadtrand, von der Leonies Eltern lebten und die sie eines Tages übernehmen sollte, hatte sie vor nahezu einem halben Jahrhundert gegründet, und obwohl sie mittlerweile die achtzig weit überschritten hatte, stand sie auch jetzt noch dann und wann im Laden; und sei es nur, um ein Schwätzchen mit einem Kunden zu halten.

Wobei sie beim Thema waren, dachte Leonie mit einem lautlosen, aber inbrünstigen Seufzer. Natürlich war ihr vollkommen klar, was der wirkliche Grund für das immer stärker werdende Gefühl von Unbehagen war, das das uralte Bibliotheksgebäude in ihr erzeugte. Buchhändler. Ihre Eltern erwarteten allen Ernstes, dass sie eine Lehre als Buchhändlerin machte und den elterlichen Laden übernahm! Dass ihre Großmutter, die eine alte Frau war und mehr in der Vergangenheit lebte als in der Gegenwart, davon träumte, dass sie als ihre einzige Enkelin den Familienbetrieb in der dritten Generation weiterführte, das konnte Leonie ja noch halbwegs nachvollziehen. Aber ihre Eltern? Sie konnten doch nicht im Ernst annehmen, dass ein modernes, aufgeschlossenes junges Mädchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, den Rest seines Lebens in einem muffigen, kleinen Laden zu verbringen, in den sich an manchen Tagen nur ein einziger Kunde verirrte und in dem es nichts anderes als Bücher gab! Noch dazu eine ganz besondere Art von Büchern. Nicht etwa spannende Thriller und Fantasy-Romane von Stephen King, Grisham oder Rowling, sondern uralte Schwarten - Goethe, Kleist, Shakespeare und der ganze Kram, der keinem anderen Zweck diente, als unschuldige Schüler damit zu quälen.

Nein, für Leonie stand fest, dass sie dieses großzügige Ansinnen ihrer Eltern ausschlagen würde. Auch wenn Mutters Augen bei der Nachricht ihres bevorstehenden Praktikums vor Freude geleuchtet hatten. Sie war überhaupt nur mit hierher gekommen, um ihrer Großmutter einen Gefallen zu tun. Selbst das bedauerte sie mittlerweile - spätestens seit dem Moment, in dem sie sich das Piercing aus der Unterlippe gezogen hatte und ihr dabei Tränen in die Augen geschossen waren -, aber nun war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Leonie seufzte erneut, und diesmal sogar hörbar. Na schön: Sie würde eben gute Miene zum bösen Spiel machen und den Rest dieses verlorenen Nachmittags auch noch durchstehen. Auch wenn sie beim besten Willen nicht wusste wie.

Als sie das Gebäude betraten, wurde das Gefühl einer drohenden Gefahr für einen Moment so übermächtig, dass Leonie all ihre Kraft aufwenden musste, um nicht auf dem Absatz herumzufahren und einfach davonzurennen. Außerdem wurde es spürbar kühler und Leonie sah überrascht hoch, als sie das Brummen einer Klimaanlage vernahm; nach der brütenden Sommerhitze draußen eine reine Wohltat, mit der sie in einem altehrwürdigen Gebäude wie diesem zu allerletzt gerechnet hätte.

Falsch, dachte sie fast hysterisch. Irgendetwas hier war vollkommen falsch.

Überhaupt sah es hier eigentlich nicht so aus, wie sie sich eine Jahrhunderte alte Bibliothek vorgestellt hatte. Der Raum erinnerte sie eher an das Foyer eines Mittelklassehotels aus den Fünfzigerjahren, nur dass er sehr viel größer war. Der Boden war mit schwarzweißen, hoffnungslos verkratzten Kacheln bedeckt und überall standen schmucklose, rechteckige Tische mit zerschrammten Resopalplatten und dazu passende billige Kunststoffstühle, die aussahen, als wären sie nur zu dem einzigen Zweck entworfen worden, möglichst unbequem zu sein; an zwei oder drei Tischen saßen sogar Leute, die in Büchern lasen oder in Zeitschriften blätterten, die meisten aber waren leer. Es roch auch nicht nach alten Büchern oder Staub, sondern nach Putzmittel. Die dem Eingang gegenüberliegende Wand bestand aus einer beeindruckenden Reihe deckenhoher Milchglastüren, bewacht von einem noch beeindruckenderen Tresen, der das Gefühl, sich in einem heruntergekommenen Hotel zu befinden, noch verstärkte. Ein grauhaariger Mann, der tatsächlich so etwas wie eine Livree trug, stand dahinter und wachte mit Argusaugen darüber, dass niemand die heilige Ruhe des Lesesaales störte.

Großmutter steuerte mit energischen Schritten auf diesen Tresen zu, was offensichtlich das Missfallen des Livreeträgers erweckte, denn auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der mindestens so finster war wie Leonies Gedanken. Dann aber hellten sich seine Züge ganz plötzlich auf und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Aber das ist doch... Frau Kammer!«

Die beiden letzten Worte hatte er fast geschrien, jetzt kam er mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten um seinen Tresen herum, eilte auf Großmutter zu und schloss sie so stürmisch in die Arme, dass er sie fast von den Füßen gerissen hätte.

Irgendetwas stimmte mit seiner Stimme nicht, dachte Leonie. Sie hörte sich... nicht wirklich an wie eine menschliche Stimme, eher wie das Kratzen einer uralten Schreibfeder auf noch älterem Pergament.

»Frau Kammer!«, rief er immer wieder. »Das ist ja eine Überraschung! Dass wir uns nach so langer Zeit noch einmal wiedersehen!« Plötzlich schien ihm sein eigenes Benehmen peinlich zu werden. Er ließ Großmutter los, trat fast hastig einen Schritt zurück und rang einen Moment lang unbehaglich die Hände. »Das... ist ja wirklich eine Überraschung«, wiederholte er und räusperte sich. »Womit kann ich Ihnen dienen, meine Gnädigste?«

Meine Gnädigste!, dachte Leonie. Wo war sie hier bloß gelandet?

»Ich würde mich ja liebend gerne mit Ihnen über alte Zeiten austauschen, Albert«, sagte Großmutter lächelnd. »Aber zumindest im Moment passt es schlecht. Wir haben nämlich einen Termin bei Herrn Professor Wohlgemut und ich fürchte, wir sind schon jetzt zu spät dran.«

»Professor Wohlgemut?« Albert sah regelrecht erschrocken aus. Seine Stimme klang immer mehr wie das Kratzen einer alten Feder auf uraltem Papier. Er wirkte hilflos. »Aber ich... ich weiß gar nicht...?«

»Ja?«, fragte Großmutter.

Kratz, kratz, kratz.

»Also der Professor...« Albert druckste kurz herum, dann gab er sich sichtlich einen Ruck. »Ich verstehe.« Er sah Leonie und ihre Großmutter noch einen Moment lang hilflos an und verschwand dann mit schnellen Schritten hinter seinem Tresen und drückte einen Knopf. Ein Summen erklang und eine der Milchglastüren hinter ihm sprang einen Spaltbreit auf.

»Wir finden sicher noch Gelegenheit, in aller Ruhe über alte Zeiten zu plaudern.« Er wies mit einer einladenden Handbewegung auf die offen stehende Tür. »Sie kennen ja den Weg. Ich melde Sie schon mal beim Herrn Professor an.«

Großmutter bedankte sich mit einem Kopfnicken (und einem Lächeln, das sie für einen Moment zwanzig Jahre jünger aussehen ließ) und ging auf die offene Tür zu, und Leonie beeilte sich ihr zu folgen, bevor Albert vielleicht auf die Idee kam, irgendwelche selbst erlebten Geschichten aus dem Dreißigjährigen Krieg zu erzählen.

»Professor Wohlgemut wird dir gefallen«, bemerkte Großmutter, nachdem sie die Tür durchschritten hatten und einen langen, nur matt erhellten Gang mit weiß getünchten Wänden hinuntergingen, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Auch hier sah es nicht aus wie in einer Bibliothek, fand Leonie, allerdings auch nicht mehr wie in einem Fünfziger-Jahre-Hotel, eher schon wie in einem hundertfünfzig Jahre alten Krankenhaus. »Er ist ein wirklich guter Freund von mir.«

Großmutter steuerte eine Gittertür ganz am Ende des Flures an, hinter der eine altmodische Liftkabine mit verspiegelten Wänden lag. »Er ist ein sehr netter Mann.« Sie blinzelte Leonie zu. »Und kaum älter als ich. Nicht einmal ganz zehn Jahre, glaube ich.«

»Aha«, sagte Leonie. Bedeutete das, dass sie sich jetzt auch noch selbst erlebte Geschichten von der Schlacht im Teutoburger Wald anhören musste?

»Das Ganze hier gefällt dir nicht, habe ich Recht?«, fragte Großmutter, als sie die Liftkabine betreten hatten und darauf warteten, dass sich das altmodische Gefährt in Bewegung setzte. Leonie wollte widersprechen, aber Großmutter hob rasch die Hand und schnitt ihr das Wort ab. »Oh, mach mir nichts vor. Ich weiß sehr wohl, dass du nur mitgekommen bist, um mir einen Gefallen zu tun.« Sie lächelte. »Das ist schon in Ordnung, wie ihr jungen Leute heute sagt. Ich erwarte nicht, dass du dich auf irgendetwas einlässt, was du nicht wirklich willst. Tu mir nur einen Gefallen und sieh dir an, was wir dir zeigen. Ist das in Ordnung?«

Leonie sagte gar nichts, sondern starrte ihre Großmutter nur verdattert - und mit einem heftigen schlechten Gewissen - an, aber Großmutter schien ihr Schweigen als Zustimmung zu werten, denn nach ein paar Sekunden nickte sie und drückte den Knopf für die dritte und zugleich oberste Etage und der an drei Seiten verspiegelte Eisenkäfig setzte sich schnaubend und wackelnd in Bewegung. Durch das Gitter, das die Tür bildete, konnte Leonie die anderen Etagen sehen, an denen sie vorüberglitten. Sie unterschieden sich nicht vom Erdgeschoss: lange, weiß gestrichene Flure mit zahlreichen Türen, sonst nichts. Und sie sah kein einziges Buch.

Die Kabine hielt an und Großmutter trat als Erste hinaus und wandte sich nach links. »Da hinten ist das Büro des Professors. Er wird uns herumführen und dir alles zeigen.«

»Hast du früher hier gearbeitet?«, erkundigte sich Leonie.

»Weil ich mich hier auskenne und wegen Albert und dem Professor?« Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf. »O nein, ich war immer nur eine kleine Buchhändlerin mit einem noch kleineren Laden, in den sich kaum noch Kunden verirren. Aber wenn man sein Leben mit Büchern verbringt und noch dazu das große Glück hat, in dieser Stadt zu wohnen, dann kann man gar nicht anders, als die Zentralbibliothek kennen zu lernen.«

Sie hatten eine gewaltige zweiflügelige Tür erreicht, die mindestens drei Meter hoch war und aussah, als wöge sie eine Tonne. Großmutter machte auch keine Anstalten, sie zu öffnen, sondern drückte einen Klingelknopf, der an der Wand daneben angebracht war. »Ich finde es einen wunderschönen Gedanken, dass etwas, das ein Mensch vor über hundert Jahren niedergeschrieben hat, noch immer da ist. Der Mensch selbst ist schon lange verschwunden und vielleicht sogar schon vergessen, aber seine Gedanken sind immer noch da. Bücher sind Boten aus der Vergangenheit, weißt du? Botschaften aus der Vergangenheit für die Menschen der Zukunft. Wie kleine Zeitmaschinen.« Sie sah Leonie Beifall heischend an. »Das müsste dir doch gefallen. Das sind doch die Geschichten, die ihr jungen Leute heutzutage lest, oder? Wie nennt ihr sie doch gleich? Zukunftsromane?«

»Science-Fiction«, antwortete Leonie. »Aber Science-Fiction ist out. Heute ist Fantasy angesagt.«

»Fantasie, so.« Großmutter sprach es irgendwie so aus, dass man die deutsche Schreibweise hörte. »Früher nannte man es Märchen, glaube ich. Aber das Wort gefällt mir auch.«

Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau, der man die Sekretärin so deutlich ansah, als hätte sie sich ihre Berufsbezeichnung auf die Stirn tätowieren lassen, blickte Großmutter fragend an. Leonie lächelte ganz automatisch, aber sie war auch ein ganz kleines bisschen verwirrt: Abgesehen von dem Altersunterschied (der gute sechzig Jahre betragen musste) hätte die junge Frau eine Schwester ihrer Großmutter sein können.

Kratz, kratz, kratz. Etwas... veränderte sich. Lautlos, aber nachhaltig.

»Guten Tag«, begann Großmutter. »Der Herr Professor erwartet uns.«

»Professor Wohl...« Das Gesicht der Sekretärin hellte sich auf. »Sie müssen Frau Kammer sein. Ja, der Herr Professor hat mich informiert.« Sie trat einen halben Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Sie einen Moment hereinkommen, erkläre ich Ihnen den Weg.«

Großmutter trat auf die Tür zu, aber als Leonie ihr folgen wollte, machte die dunkelhaarige junge Frau eine knappe, aber sehr entschiedene Bewegung. In ihren Augen blitzte etwas auf, das an blanken Hass grenzte.

Aber auch eine Spur von Furcht...

»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Aber Unbefugten ist das Betreten der Verwaltungsräume streng verboten.«

»Was soll denn der Unsinn?«, murrte Leonie. »Haben Sie Angst, dass ich...«

Sie verstummte, als sie einen mahnenden Blick aus Großmutters Augen auffing. Wäre sie allein gewesen, hätte sie dieser eingebildeten Tussi gehörig die Meinung gesagt, aber sie wollte Großmutter nicht in Verlegenheit bringen. So beließ sie es bei einem Achselzucken und einem trotzigen Blick und trat wieder zurück. Ihre Großmutter stand jetzt im Türrahmen und Leonie sah sich gelangweilt um. Sie hoffte, dass es nicht zu lange dauerte. Andererseits - dieser Tag war sowieso im Eimer. Was machten da schon ein paar Minuten?

Alles.

Die Erkenntnis erschien so deutlich in ihren Gedanken, als hätte sie jemand mit einer glühenden Stahlfeder auf die Innenseite ihrer Stirn tätowiert. Ganz egal, was geschah - ihre Großmutter durfte nicht durch diese Tür treten. Gerade als die Sekretärin die Tür hinter sich schließen wollte, streckte Leonie die Hand aus und riss sie mit aller Kraft zurück.

»Nein!«, schrie sie. »Geh nicht dort hinein!«

Ihre Großmutter, die schon fast eingetreten war, hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich verwirrt zu ihr um. »Aber Kind!«, rief sie. »Was ist denn nur los mit dir?«

Die Sekretärin sah nicht verwirrt aus. Ihre Augen sprühten vor Hass. Aber sonderbarerweise sagte sie nichts, sondern griff nur ihrerseits nach der Türklinke und versuchte die Tür ins Schloss zu ziehen. Ihre Kraft war erschreckend. Etwas an ihr... veränderte sich. Für einen winzigen, aber entsetzlichen Moment schien zuerst ihr Gesicht, dann ihre ganze Gestalt auf unheimliche Weise an Substanz zu verlieren, als begänne etwas anderes, durch und durch Fremdes und Feindseliges unter der vertrauten menschlichen Erscheinung Gestalt anzunehmen, und ein Gefühl fast übermächtiger Furcht schloss sich um Leonies Herz und presste es zusammen. Sie bekam keine Luft mehr. Sie kratz, kratz, kratz wollte nichts mehr, als auf der Stelle herumfahren und von hier verschwinden, so schnell und so weit weg, wie sie nur konnte, aber das kratz, kratz, kratz durfte sie nicht. Etwas unvorstellbar Schreckliches würde geschehen, wenn sie zuließ, dass ihre Großmutter auch nur einen Fuß in den Raum hinter dieser Tür setzte. Statt loszulassen stemmte sie sich nur noch mit größerer Kraft gegen den Griff des Archivars der Sekretärin und versuchte gleichzeitig mit der anderen Hand ihre Großmutter wieder zu sich auf den Flur hinauszuziehen.

»Aber Leonie!«, keuchte Großmutter. »Was ist denn nur plötzlich in dich gefah...«

Weder die vermeintliche Sekretärin noch Leonie wollte loslassen, und obwohl der Archivar Wohlgemuts Sekretärin mit schier übermenschlicher Gewalt an der Türklinke zerrte, kämpfte Leonie auf der anderen Seite mit der absoluten Kraft der Todesangst, mit der sie die bloße Vorstellung erfüllte, ihre Großmutter könnte in jenen schrecklichen Raum treten.

Schließlich war es die altersschwache Türklinke, die kapitulierte.

Irgendetwas im Inneren der Tür zerbrach. Die Sekretärin riss ungläubig die Augen auf und taumelte zurück, als sie plötzlich nur noch die abgebrochene Hälfte der Türklinke in der Hand hielt, kämpfte für einen Moment mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht und stürzte dann zu Boden, und zugleich stolperten Leonie und ihre Großmutter in die entgegengesetzte Richtung und wieder endgültig auf den Flur hinaus. Die Tür schwang knarrend auf und gab den Blick auf den dahinter liegenden Raum frei.

Nur dass es nicht das Büro des Bibliotheksleiters war.

Es war überhaupt kein Büro. Es war nicht einmal ein Zimmer.

Leonie starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf den gewaltigen, aus uraltem, moderndem Ziegelstein gemauerten Saal, der sich da auftat, wo sie ein altmodisch eingerichtetes Büro erwartet hatte. Der Raum war gigantisch, mit einer turmhohen Decke, die von riesigen Spitzbögen getragen wurde, und voll von unheimlichen... Dingen, die an grobschlächtige Maschinen erinnerten, deren Zweck Leonie nicht einmal zu erraten vermochte. Ein flackerndes blassgrünes Licht, das aus dem Nirgendwo zu kommen schien, erhellte die gespenstische Szenerie, und in der Luft lag ein durchdringender, heißer Geruch nach Marzipan.

Die Sekretärin stand auf, aber sie war nun keine Sekretärin mehr.

Vor Leonie stand eine unheimliche, fast nur als Schatten erkennbare Gestalt, die einen schwarzen Kapuzenmantel trug, ein Schemen, riesig und düster, mit den Umrissen eines Menschen, aber gleichzeitig anders als ein Mensch, vollkommen anders und unmenschlich.

»Du!«, keuchte Großmutter. »Aber das kann doch nicht sein! Nicht nach all den...« Ihre Stimme versagte. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und mit einem Mal wirkte sie unendlich alt und müde.

Komm zu mir, befahl der Archivar. Er streckte die Hand aus, und Leonie konnte spüren, wie sein Wille wie eine unwiderstehliche Woge über ihrer Großmutter zusammenschlug und kratz, kratz, kratz, das Geräusch einer altertümlichen Schreibfeder auf uraltem Pergament ihren eigenen Willen einfach brach und kratz, kratz, kratz. Der Archivar kommt näher. Die Kräfte ihrer Großmutter beginnen jetzt immer rascher zu erlahmen. Leonie weiß, dass sie ihn nur noch für ein paar Sekunden aufhalten kann, und ihre Feder fährt immer hastiger über das Papier, löscht Buchstaben aus und fügt andere hinzu. Das Ungeheuer hat sie jetzt fast erreicht. Sie kann spüren, wie es die Hand nach ihr ausstreckt, aber sie wagt es nicht, den Blick von den brüchigen Seiten des uralten Buches zu nehmen, sondern die Sekretärin fuhr sich mit einer verwirrten Geste durch das kurz geschnittene blonde Haar und maß Leonie mit einem Blick, in dem sich Verwirrung und mühsam zurückgehaltener Ärger ein stummes Duell lieferten.

»Also, ich weiß wirklich nicht, ob...«, begann sie.

»Bitte entschuldigen Sie das Benehmen meiner Enkelin«, sagte Großmutter verlegen. »Die jungen Leute heute... Sie wissen ja.«

Dem Gesichtsausdruck der jungen Frau nach zu urteilen, wusste sie ganz eindeutig nicht, was Großmutter meinte, aber sie beließ es bei einem Achselzucken und wechselte das Thema.

»Also gut«, sagte sie. »Ich habe ohnehin noch viel zu tun und Sie kennen sich ja hier aus. Der Professor ist im großen Lesesaal. Finden Sie den Weg?«

»Selbstverständlich«, antwortete Großmutter hastig. Sie warf Leonie einen halb verwirrten, halb vorwurfsvollen Blick zu. »Gehen Sie ruhig an Ihre Arbeit. Ich finde mich schon zurecht.«

Noch einmal, ein allerletztes Mal, sah die Sekretärin Großmutter unschlüssig (und fast ein bisschen wütend) an, aber dann zuckte sie wortlos mit den Schultern und drehte sich auf dem Absatz um. Die Tür flog mit einem dumpfen Knall hinter ihr ins Schloss. Der Archivar hat sie erreicht, aber er hat so wenig Macht über sie, wie sein Körper noch Substanz besitzt. Als seine grässlichen Hände Leonie berühren, sind sie nicht mehr als Schatten. Und einen Augenblick später gänzlich verschwunden.

Mit einer ärgerlichen Bewegung fuhr Großmutter zu Leonie herum. »Was sollte denn das?«, fragte sie. »Musstest du unbedingt...« Sie brach ab, runzelte die Stirn und sah erst Leonie, dann die geschlossene Tür hinter sich und dann wieder ihre Enkelin nachdenklich an. Ein Ausdruck zwischen Bestürzung und maßlosem Entsetzen erschien auf ihrem Gesicht.

»Was wolltest du sagen?«, fragte Leonie.

»Nichts«, antwortete Großmutter. Sie strich sich eine Strähne ihres dünnen, grauen Haares zurück, die ihr in die Stirn gerutscht war, und fuhr in der gleichen Bewegung glättend über ihre Kleidung. Sie wirkte ein bisschen zerrupft, fand Leonie.

Großmutter wandte sich um und bedeutete Leonie mit einer entsprechenden Handbewegung, ihr zu folgen. Sie ging den Flur in umgekehrter Richtung zurück, am Lift vorbei und durch mehrere Türen, und mit jeder Tür, die sie durchschritten, konnte sie ein bisschen besser verstehen, was Großmutter gerade gemeint hatte, als sie von einer Zeitmaschine sprach. Es war tatsächlich wie eine kleine Zeitreise, denn sie bewegten sich eindeutig mit jedem Schritt ein winziges Stückchen weiter in die Vergangenheit. Die Türen wurden älter und hatten jetzt schwere, kunstvoll geschmiedete Griffe und Beschläge aus Messing, die ausgetretenen Bodendielen, über die sie gingen, knirschten unter ihren Füßen, und unter den Decken hingen keine Neonröhren mehr, sondern schimmernde Kristalllüster; und dann öffnete Großmutter eine letzte Tür und der Schritt hindurch schien endgültig der in ein lange zurückliegendes Jahrhundert zu sein.

Leonie war noch nie hier gewesen, aber ihr war sofort klar, dass das der große Saal sein musste, von dem Großmutter erzählt hatte - wobei die Betonung eindeutig auf dem Wort groß lag.

Sie war niemals in einem größeren Raum gewesen und sie hatte niemals mehr Bücher an einem Ort versammelt gesehen. Leonie schätzte, dass der Saal mindestens dreißig, wenn nicht vierzig oder mehr Meter lang war, gute fünfzehn Meter breit und dort, wo sich die Decke zu einem kunstvoll aus farbigem Glas gestalteten Kuppeldach emporschwang, mindestens zehn Meter hoch, wenn nicht mehr. In einer fast schon erschreckend großen Anzahl gläserner Vitrinen waren besonders kostbare Bücher und Handschriften ausgestellt, aber eine schier unvorstellbare Menge von Büchern - Zehn-, wenn nicht Hunderttausende! - war in endlosen Reihen von Regalen untergebracht, die jeden Zentimeter der Wände beanspruchten und sich bis unter die Decke hinaufzogen. Auf halber Höhe - in drei bis fünf Metern, schätzte Leonie - lief eine Galerie mit einem kunstvoll geschnitzten Holzgeländer entlang und auch dort standen Bücher, Bücher, Bücher.

»Na?«, fragte Großmutter. Ihre Augen leuchteten. »Habe ich zu viel versprochen?«

Irgendwie wirkte sie immer noch ein bisschen unsicher, fand Leonie. Und auch sie selbst fühlte sich irgendwie... irreal. Aber es war ihr nicht möglich, das Gefühl in Worte zu kleiden. Irgendetwas hier war... falsch. Aber auf eine vollkommen absurde Art... richtig falsch.

Leonie schüttelte wortlos den Kopf und den ehrfürchtigen Ausdruck, der sich dabei auf ihrem Gesicht breit machte, musste sie dieses Mal nicht einmal schauspielern. Sie war beeindruckt, und das weit mehr, als sie sich selbst erklären konnte. Es war ja keineswegs so, als wäre sie das erste Mal in einer Bibliothek. Dass sie Discman und MP3-Player gedruckten Büchern vorzog, änderte nichts daran, dass sie praktisch in einer Buchhandlung aufgewachsen war und schon mehr als eine wirklich große Bibliothek gesehen hatte.

Aber das hier war... anders.

Leonie konnte den Unterschied gar nicht richtig in Worte fassen, aber er war da, und er war einfach zu deutlich, um ihn mit einem bloßen Achselzucken abzutun.

Es begann mit dem Geruch. Es roch nach Büchern, aber eben nicht nur. Da war noch mehr; etwas, von dem Leonie ganz genau wusste, dass sie es noch nie zuvor gerochen hatte, und das ihr trotzdem auf fast schon gespenstische Weise vertraut war. Vor allem aber verstand sie plötzlich ganz genau, was ihre Großmutter vorhin hatte sagen wollen. Sie spürte plötzlich, dass all diese Bücher rings um sie herum viel mehr als nur eine gewaltige Masse bedruckten Papiers waren. Leonie weigerte sich selbst jetzt noch in Gedanken, das Wort zu benutzen, aber im Grunde wusste sie sehr wohl, was es war, das sie für einen Moment wie erstarrt innehalten und erschauern ließ: Ehrfurcht.

»Da hinten ist der Professor!« Großmutters Stimme riss Leonie zurück in die Wirklichkeit, aber etwas von dem sonderbaren Gefühl, das sie für einen Moment überkommen hatte, blieb.

Nur dass es ihr jetzt fast ein bisschen unheimlich war.

Leonie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, während sie ihrer Großmutter folgte, die lächelnd einem Mann entgegenging, bei dem es sich einfach um den Professor handeln musste: Er sah aus, als wäre er mindestens fünfhundert Jahre alt, und war auf eine Weise gekleidet, die an jedem anderen Platz der Welt einfach nur lächerlich gewirkt hätte, nur eben hier nicht. Er trug braune Cordhosen und ein abgewetztes, beigefarbenes Samtjackett, dessen Ellbogen und Manschetten mit kleinen Lederflicken verstärkt waren, eine altmodische Fliege und eine gewaltige Hornbrille, deren Gläser dicker zu sein schienen als die Böden von Cola-Flaschen. Er war fast kahlköpfig, aber die wenigen Haare, die ihm verblieben waren, hatte er sich lang wachsen lassen und zu einem albernen Pferdeschwanz zusammengebunden, der kaum so dick wie ein Babyfinger war. Wäre Leonie nicht viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich über ihre eigenen Gedanken zu wundern, dann wäre sie bei seinem Anblick wahrscheinlich in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Aber da war noch etwas, das beinahe noch unheimlicher war. Obwohl sie wusste, dass es ganz und gar ausgeschlossen war, hatte sie das sichere Gefühl, den Professor zu kennen.

Gleichzeitig hatte sie fast Mühe, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie verstand einfach nicht, was mit ihr los war. Seit sie dieses sonderbare Gebäude betreten hatte, wandelten ihre Gedanken auf Pfaden, die ihr so unbekannt und vor allem unverständlich waren wie die einer Fremden.

Wohlgemut hatte Großmutter mittlerweile ebenfalls entdeckt und eilte ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Leonie hörte nicht hin, aber man konnte gar nicht übersehen, dass die beiden sich wie gute alte Freunde begrüßten. Danach wandte sich Wohlgemut an sie.

»Du musst Leonida sein. Deine Großmutter hat mir sehr viel von dir erzählt, aber ich glaube, das wäre gar nicht nötig gewesen. Weißt du, dass du ganz genauso aussiehst wie sie in deinem Alter?«

Leonie verzog das Gesicht. Sie hasste es, wenn sie mit dem Namen angesprochen wurde, der in ihrer Geburtsurkunde stand. Sie hasste auch ihre Eltern dafür, sie auf diesen Namen getauft zu haben. Wenigstens manchmal.

»Leonie«, entgegnete sie, während sie widerstrebend Wohlgemuts ausgestreckte Hand ergriff und sie schüttelte. »Meine Freunde nennen mich Leonie.« Sie starrte Wohlgemut an. Auf eine gespenstische Weise war ihr der greise Professor so vertraut, als kenne sie ihn schon seit Jahren.

»Du willst also in die Fußstapfen deiner Großmutter und deiner Eltern treten und ebenfalls Buchhändlerin werden«, sagte Wohlgemut. »Das freut mich aufrichtig, Leonie. Dass Kinder eine so alte Familientradition fortführen, kommt heute leider nur noch selten vor.«

»Ganz so weit sind wir noch nicht«, sprang ihre Großmutter ihr bei. »Im Moment geht es nur um ein Praktikum von zwei Wochen.«

»Und da haben Sie natürlich an die Zentralbibliothek gedacht, meine Liebe.« Wohlgemut lächelte geschmeichelt. »Eine sehr kluge Entscheidung. Wir nehmen zwar eigentlich seit Jahren keine Praktikanten mehr auf, aber in diesem Fall kann ich sicher eine Ausnahme machen.« Er wandte sich direkt an Leonie. »Falls die junge Dame überhaupt Interesse hat, heißt das.«

Leonie machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Kopfschütteln, einem Nicken und einem Achselzucken angesiedelt war und deren eigentliche Bedeutung sich Wohlgemut selbst aussuchen konnte.

»Vielleicht beginnen wir mit einem kleinen Rundgang durch die Bibliothek«, schlug Wohlgemut vor. »Möglicherweise änderst du deine Meinung ja noch, wenn du erst einmal alles gesehen hast.«

»Es lohnt sich wirklich«, versprach Großmutter. »Professor Wohlgemuts Führungen waren früher legendär, aber seit ein paar Jahren veranstaltet er sie nur noch für ganz ausgesuchte Gäste.«

Und wie sich zeigte, war das keineswegs übertrieben. Es fiel Leonie am Anfang verständlicherweise schwer, Wohlgemuts Erklärungen und Ausführungen zu folgen, aber nach und nach schlugen sie seine Worte doch in ihren Bann. Was Wohlgemut erzählte, war einfach zu interessant - selbst für jemanden, der Bücher normalerweise nur dazu benutzte, Fliegen zu erschlagen oder sie hoch genug aufzustapeln, damit man sie als Leiter benutzen konnte, um an die CDs auf dem obersten Regalbrett heranzukommen.

Sie erfuhr, dass die Bibliothek offiziell schon seit mehr als dreihundert Jahren existierte, in Wirklichkeit aber sehr viel älter sein musste. Niemand wusste genau, wann die ersten Mönche angefangen hatten, uralte Handschriften und Pergamente in den Mauern des Klosters zu sammeln, das früher einmal an dieser Stelle gestanden hatte, aber die Vermutungen reichten von fünfhundert Jahren bis zurück in eine Zeit, in der noch keltische Druiden über dieses Land geherrscht hatten. Seit dem siebzehnten Jahrhundert jedenfalls war das die Zentralbibliothek des ganzen Landes.

»Und wie viele Bücher haben Sie hier?«, fragte Leonie, als Wohlgemut - nach einer geschlagenen Stunde! - am Ende seines Vortrags angelangt war. Sie befanden sich auf einer der Galerien, die auf halber Höhe um den gesamten Raum herumführten, und Leonie hatte die Frage im Grunde nur gestellt, um Wohlgemuts endlosen Redefluss wenigstens für einen Moment zu unterbrechen. Was er zu erzählen hatte, war wirklich interessant, aber es war einfach zu viel. Leonie schwirrte der Kopf von all den Zahlen und Daten, mit denen der Professor sie zugeschüttet hatte.

»So ungefähr zweihunderttausend«, antwortete Wohlgemut stolz.

»Das ist eine Menge«, sagte Leonie automatisch, dann stutzte sie. »Äh... Moment. Großmutter hat erzählt, dass hier seit hundert Jahren ein Exemplar jedes Buches aufbewahrt wird, das im Land erscheint.«

»Seit hundertfünfzehn, um genau zu sein«, verbesserte sie Wohlgemut und blinzelte ihr zu. »Und auch jeder einzelnen Zeitschrift. Und jetzt wunderst du dich, weil es doch eigentlich viel mehr sein müssten in all der Zeit.« Er nickte heftig, um seine eigene Frage gleich zu beantworten. »Die zweihunderttausend sind natürlich nur die Exemplare, die wir hier oben aufbewahren, im historischen Teil der Bibliothek: alte Handschriften, unersetzliche Originale und sehr seltene Ausgaben. Alles andere lagern wir unten im Zentralarchiv im Keller.«

»Das muss aber ein wirklich großer Keller sein«, bemerkte Leonie. »Ich meine: Es müssen doch ein paar Millionen Bücher sein!«

»Viele Millionen sogar«, bestätigte Wohlgemut. Er lächelte geheimnisvoll. »Aber es ist auch ein wirklich großer Keller. Ich zeige ihn dir später einmal. Für heute sollten wir uns auf den historischen Teil konzentrieren, meine ich. Wir haben ja später Zeit genug und hier oben gibt es noch eine Menge interessanter Dinge. Da fällt mir ein...«, er wandte sich zu Großmutter um, »... erinnern Sie sich noch an die Handschrift von Walther von der Vogelweide, nach der ich so lange gesucht habe, meine Liebe?«

»Mehr als zehn Jahre, wenn ich mich richtig erinnere«, antwortete Großmutter. »Sagen Sie nicht, Sie haben sie bekommen?«

»Vor zwei Monaten«, bestätigte Wohlgemut. Er strahlte wie ein undichtes Atomkraftwerk. »Wollen Sie sie sehen?«

»Was für eine Frage!?«, rief Großmutter.

»Und du?«, wandte sich Wohlgemut an Leonie.

Walther von der Vogelweide? Leonie verspürte einen kurzen, aber heftigen Anfall blanken Entsetzens. »Nicht... unbedingt«, antwortete sie vorsichtig. »Haben Sie vielleicht etwas von King da? Oder Clive Barker oder Jason Dark?«

Wohlgemut wirkte jetzt für einen Moment so hilflos, dass er Leonie beinahe Leid tat, aber nur beinahe. »Unten im Zentralarchiv sicher«, meinte er schließlich. »Aber hier...«

»Schon gut«, sagte Leonie. »Geht ihr nur ruhig zu eurer Handschrift. Ich warte so lange. Es gibt hier ja genug interessante Dinge, die ich mir ansehen kann. Bücher zum Beispiel.«

»Wunderbar!« Wohlgemut rieb sich begeistert die Hände. »Kommen Sie, meine Liebe, kommen Sie. Ich freue mich schon seit Monaten darauf, Ihnen dieses Prachtexemplar zeigen zu können!«

Er hielt Großmutter den Arm hin und sie hakte sich bei ihm unter - ganz perfekter Gentleman und feine Lady gingen sie über die Galerie davon und die Treppe hinunter und Leonie blieb allein zurück. Zunächst war sie fast erleichtert, endlich einen Moment Ruhe zu haben, aber schon nach wenigen Minuten kam es ihr als eine gar nicht mehr so gute Idee vor, ganz allein hier zurückgeblieben zu sein, nur in Gesellschaft von Büchern. Sie kannte ihre Großmutter. Wenn sie erst einmal anfing sich für ein bestimmtes Buch zu interessieren - oder gar für eine so kostbare Handschrift wie die, von der der Professor geschwärmt hatte! -, dann konnte es gut sein, dass sie alles andere um sich herum einfach vergaß; einschließlich ihrer Enkeltochter. Wenn sie Pech hatte, dann konnte sie eine Stunde hier oben warten oder auch zwei.

Aber das hatte sie sich schließlich selbst eingebrockt.

Leonie seufzte tief, drehte sich um und ließ ihren Blick über die Rücken der dicht an dicht stehenden Bücher schweifen. Einige davon waren so alt, dass die Schrift längst verblichen und unleserlich geworden war, und Leonie argwöhnte, dass das bei dem einen oder anderen Band nicht nur auf das Äußere zutraf.

Sie drehte sich weiter und hielt inne, als ihr Blick auf einen Riss zwischen zwei der schweren, handgeschnitzten Bücherregale fiel. Eigentlich war es gar kein Riss, sondern ein Spalt von gut zwei Fingern Breite, und als Leonie näher trat, spürte sie, wie ihr ein kühler Lufthauch entgegenkam. Zögernd legte sie die Hand darauf und das gesamte Regal bewegte sich knirschend ein Stück nach innen. Leonie machte einen erschrockenen Schritt zurück und hätte am liebsten über ihre eigene Reaktion gelacht. Der Riss war kein Riss, so wenig wie das Regal ein einfaches Bücherregal war, vielmehr handelte es sich um eine Art Geheimtür, die in einen Raum dahinter zu führen schien, aus dem ein grauer, flackernder Lichtschein drang.

Urplötzlich war ihr Forscherdrang geweckt. Leonie sah sich noch einmal nach rechts und links um - nicht dass sie wirklich glaubte, etwas Verbotenes zu tun, aber so war es einfach spannender -, dann trat sie erneut an das Regal heran und drückte dagegen.

Angesichts des enormen Gewichtes, das die mindestens hundertfünfzig bis zweihundert Bücher auf die Regalbretter brachten, bewegte sich die Geheimtür überraschend leicht. Mit einem leisen, aber durchdringenden Quietschen schwang sie nach innen und Leonie trat mit klopfendem Herzen in den dahinter liegenden Raum.

Der voller Bücher war.

Leonie blieb geschlagene zehn Sekunden völlig reglos stehen und tat nichts anderes, als sich unbeschreiblich blöd vorzukommen. Was hatte sie denn erwartet in einer Bibliothek? Den Schatz der Nibelungen vielleicht? Sie schüttelte den Kopf, lächelte über ihre eigene Naivität und wollte sich umdrehen, um den Raum wieder zu verlassen, überlegte es sich dann aber anders und machte stattdessen einen weiteren Schritt hinein. Wenn sie schon einmal hier war, konnte sie sich ebenso gut auch noch ein bisschen umsehen.

Sie rechnete allerdings nicht ernsthaft damit, irgendetwas Außergewöhnliches zu entdecken. Wohlgemut hatte Worte wie kostbar, einzigartig und unersetzlich zwar äußerst verschwenderisch benutzt, aber sie glaubte nicht, dass die wirklich wertvollen Bücher in einer so staubigen Kammer aufbewahrt wurden. Ganz davon abgesehen, dass sie ein kostbares Buch selbst dann nicht erkennen würde, wenn es ihr vor die Füße fiele. Außerdem war es in der Kammer so dunkel, dass sie ohnehin nicht viel sehen konnte. Fast der gesamte vorhandene Platz wurde von bis unter die Decke reichenden Bücherregalen eingenommen, und die Scheiben des einzigen kleinen Fensters waren so verdreckt, dass das hereinfallende Licht zu einer Art grauem Nebel wurde, in dem sich die Umrisse der Dinge fortwährend auf schwer greifbare, aber beunruhigende Weise zu verändern schienen.

Nein, dachte Leonie schaudernd, das war gewiss nicht der Ort, um auf Großmutters Rückkehr zu warten.

Irgendetwas raschelte. Leonie blieb noch einmal stehen und kniff die Augen zusammen, um in dem sonderbar milchigen Licht hier drinnen mehr erkennen zu können. Sie war sich jetzt ganz sicher: Irgendetwas bewegte sich in dem schattendurchwobenen Halbdunkel zwischen ihr und dem schmutzigen Fenster, etwas, das dort absolut nicht hingehörte. Für einen Augenblick war es ihr, als sähe sie dem eleganten Tanz verspielter, kleiner Schattenwesen zu, die einander umkreisten und immer wieder im letzten Moment zurückwichen, bevor sie sich wirklich berührten, und für die Dauer eines Atemzugs hatte sie das unheimliche Gefühl, ein sonderbares Geräusch zu hören, wie das Scharren einer altmodischen Goldfeder auf noch altmodischerem Pergamentpapier.

Kratz, kratz, kratz.

Das Geräusch weckte eine Anzahl sonderbar unangenehmer Assoziationen in Leonie, die sie sich zwar nicht erklären konnte, die ihr aber schwer zu schaffen machten. Da war irgendetwas mit Wohlgemuts Sekretärin gewesen, das sie auf keinen Fall hätte vergessen dürfen. Darüber hinaus beunruhigte sie der Nachhall einer weit größeren Unstimmigkeit, die mit der Tür zu Wohlgemuts Büro zu tun hatte, und vor allem mit dem, was dahinter lag, aber auch dieser Gedanke entschlüpfte ihr, bevor sie danach greifen oder ihn gar festhalten konnte.

Und dann war da für einen kleinen Moment der Irrealität nur noch dieses geisterhafte Kratzen und Schaben und schließlich ein Geräusch, als würde eine Seite in einem uralten, großen Buch umgeschlagen.

Leonies Gesicht verdüsterte sich, als sich ihre Augen vollends an das dämmerige Zwielicht hier drinnen gewöhnt hatten und sie die Ursache für die merkwürdigen Kratzgeräusche erkannte: Nicht weit von ihr befand sich ein altertümliches Stehpult, das an jedem anderen Ort auf der Welt ebenso antiquiert wie fehl am Platze gewirkt hätte. Es war nicht besonders groß, so als wäre es nicht für einen Erwachsenen, sondern speziell für ein Kind oder einen zwergwüchsigen Menschen angefertigt worden. Trotzdem hatte sein momentaner Benutzer alle Mühe, daran zu arbeiten, denn er war gute anderthalb Köpfe kleiner als Leonie, sodass er sich auf die Zehenspitzen stellen und weit nach vorne beugen musste, um überhaupt an das Buch zu gelangen, das auf der abgeschrägten Platte des Stehpultes lag.

Leonie fuhr entsetzt zusammen, als sie sah, was die kleinwüchsige Gestalt in dem langen Kapuzenmantel da tat.

»Maus«, keuchte sie vollkommen überrascht, als sie erkannte, wer in dem Kapuzenmantel steckte; jemand, der hier überhaupt nicht hingehörte, nicht in die Zentralbibliothek und schon gar nicht in einen Raum, der verborgen hinter einer Geheimtür lag.

»Bist du jetzt endgültig verrückt geworden? Was machst du da? Und wie kommst du überhaupt hierher?«

Ihr Bruder - der in Wahrheit natürlich nicht Maus hieß, wegen seines zarten Körperbaus und seines quirligen Wesens aber von jedermann so genannt wurde, manchmal sogar von ihren Eltern - richtete sich hinter dem Schreibpult auf und trat einen halben Schritt zur Seite. Leonie war mit einer hastigen Bewegung bei ihm - und riss ebenso verblüfft wie peinlich berührt die Augen auf. Die Platte des antiquierten Schreibpultes war leer. Dabei hätte sie schwören können, dass sie ein aufgeschlagenes, uraltes Buch daraufliegen gesehen hatte.

»Was ist denn los, Schwesterherz?«, fragte Maus harmlos.

Leonie blickte irritiert von ihm zu dem leeren Pult und wieder zurück. »Du kannst doch nicht einfach wie ein Dieb hier eindringen und in einem dieser alten Bücher herumkritzeln«, murmelte sie. »Wohlgemut trifft glatt der Schlag.«

»Hä?«, machte Maus.

Für ihren leicht depperten Bruder war das eigentlich schon eine hochintelligente Antwort, fand Leonie - wäre da nicht das gehässige Glitzern in seinen Augen gewesen, das in Leonie den Verdacht weckte, dass die kleine Pestbeule ihr nicht nur in die Zentralbibliothek gefolgt war, sich hier versteckt und an Dingen zu schaffen gemacht hatte, die sie überhaupt nichts angingen, sondern mehr ausgefressen hatte. Manchmal waren kleine Brüder noch schlimmer als uralte, vertrocknete Männer!

»Was tust du hier überhaupt?«, fragte sie unsicher - und hauptsächlich auch nur, um von ihrer eigenen seltsamen Bemerkung bezüglich des Buches abzulenken. Dabei konnte sie allerdings nicht verhindern, dass ihr Blick noch einmal und gänzlich ohne ihr Zutun über die verschrammte, ansonsten aber vollkommen leere Platte des Stehpultes glitt. Sie hätte schwören können, dass dort ein Buch gelegen hatte!

Etwas raschelte und neben ihrem Bruder tauchte ein pelziges, rundes Katzengesicht auf, bevor Maus auf ihre Frage antwortete. Leonies stieß ein erschrockenes Keuchen aus. Dabei hätte sie eigentlich gar nicht überrascht sein dürfen. Mausetod folgte ihrem Bruder wie ein Hund auf Schritt und Tritt. Maus bewegte sich praktisch keinen Zentimeter ohne den flohverseuchten wandelnden Bettvorleger - aber ihn ausgerechnet hierher mitzubringen, wo er selbst nichts verloren hatte, das war wirklich dreist!

»Ich wollte mal nachsehen, wo du in Zukunft deine Tage verbringst, Schwesterherz«, griente Maus. Leonie hasste es, wenn er sie Schwesterherz nannte - vermutlich der einzige Grund, aus dem er es tat, denn normalerweise wäre er viel zu faul gewesen, ein so langes Wort auszusprechen. »Mutter hat mir gesagt, dass du mit Oma hierher gefahren bist.«

Beim Klang des Wortes Mutter durchfuhr Leonie ein intensives Gefühl von Erleichterung, das ihr wie ein warmer, wohliger Schauer über den Rücken lief und für sie absolut unerklärlich war. Verwirrt sah sie sich in der winzigen, mit Büchern voll gestopften Kammer um. Nein, diese Umgebung übte eindeutig keinen guten Einfluss auf sie aus.

»Ich werde nicht meine Tage hier verbringen«, sagte sie betont, »sondern nur ein Praktikum. Vielleicht«, fügte sie nach einem merklichen Zögern hinzu.

Maus war klug genug, sich jeden Kommentar zu verkneifen, aber Leonie fand, dass ein einziger Blick in sein unverschämtes Grinsegesicht vollkommen reichte.

Leonie betrachtete den frischen Kratzer auf der Nase ihres Bruders, der von seiner letzten Balgerei mit Mausetod herrührte, und erwog einen Moment lang ernsthaft die verschiedenen Möglichkeiten, der Schramme noch ein wenig Gesellschaft zu verpassen, ohne den heiligen Zorn ihrer Eltern herabzubeschwören, denn selbstredend war Maus nicht nur das Nesthäkchen der Familie, sondern genoss auch absolute Narrenfreiheit, seit er im Alter von zwei Jahren schwer krank geworden war und beinahe gestorben wäre.

»Also ich finde, der Laden passt zu dir«, sagte Maus hämisch. »Alt, verstaubt und furztrocken.«

»Das habe ich gehört, junger Mann«, rief eine strenge Stimme von der Tür her. Leonie drehte sich überrascht um und erblickte ihre Großmutter, die halb hereingekommen war, ohne dass Maus oder sie es bemerkt hätten. Für eine Frau ihres Alters vermochte sie sich manchmal mit schon unheimlicher Leichtfüßigkeit zu bewegen.

»Du weißt, dass ich solche unflätigen Ausdrücke nicht mag«, fuhr sie fort und hob spielerisch drohend den Finger. »Abgesehen davon, dass ich mich ernsthaft frage, wie du es geschafft hast, hierher zu kommen!«

Maus legte das Gesicht in Falten, was aber Leonies Meinung nach weniger an Großmutters Ermahnung lag, sondern wohl eher daran, dass er vermutlich ebenso angestrengt wie vergeblich über die Bedeutung des Wortes unflätig nachdachte.

Sie hob die Schultern, drehte sich vollends um und trat ohne ein weiteres Wort durch die Tür und zu ihrer Großmutter auf die Galerie hinaus. Hinter ihr ergriff Maus seine transportable Katzenfloh-Aufzuchtstation, klemmte sie sich kurzerhand unter den Arm und folgte ihnen.

Auf dem Korridor wäre Leonie fast in einen dunkelhaarigen Mann im grauen Anzug hineingekracht, der eine großkalibrige Pistole in der einen Hand und ein riesiges Schrotgewehr unter dem anderen Arm trug -, doch als sie erschrocken blinzelte, entpuppte sich das Schrotgewehr als ein Bücherkatalog im Großformat und die Pistole als Handy, »Hoppla, nicht ganz so schnell, meine junge Dame«, sagte der Dunkelhaarige und grinste breit.

Irgendetwas an der Art, wie er die Worte aussprach, kam Leonie vage bekannt vor, und ohne dass sie hätte sagen können warum, blickte sie auf sein Ohr in der Erwartung, dort den Knopf eines Funkgerätes zu sehen, wie es Bodyguards hatten. Aber natürlich war da nichts - was hätte ein Bodyguard auch in der Zentralbibliothek verloren?

Professor Wohlgemut, der hinter dem deutlich jüngeren Mann stand, der ihm trotzdem und auf eine schwer beschreibbare Art ähnlich sah, räusperte sich umständlich. »Das ist übrigens Frank, mein Assistent...«

Er brach ab und verzog missbilligend und leicht überrascht das Gesicht, als er Leonies Bruder mit der Katze im Arm bemerkte. »Abgesehen davon, dass du selbst hier nichts zu suchen hast«, sagte er zu Maus, »sind Haustiere in der Bibliothek streng verboten!«

»Aber das weiß ich doch, mein lieber Professor«, unterbrach ihn Großmutter hastig - und mit einem raschen, leicht vorwurfsvollen Blick in Maus’ Richtung. »Es wird auch ganz bestimmt nicht noch einmal vorkommen. Leonies Bruder wusste nicht, dass Tiere hier nicht erlaubt sind.«

Wohlgemut seufzte. Leonie hatte das sichere Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte, aber dann räusperte er sich wieder gekünstelt, zwang sich zu einem leicht verkrampften Lächeln und ging vor Maus in die Hocke.

»Na ja, bei einer so wunderschönen Dame können wir ja vielleicht einmal eine Ausnahme machen«, sagte er, während Frank bereits den Bücherkatalog ablegte und die Hand ausstreckte, um Mausetod hinter den Ohren zu kraulen. Leonie wünschte, er hätte es nicht getan.

Nur einen Augenblick später wünschte sich Frank vermutlich dasselbe, denn Mausetod schlug so blitzartig zu, dass der junge Mann die Bewegung wahrscheinlich nicht einmal sah, sondern sich allerhöchstem wunderte, woher die vier dünnen, blutigen Kratzer auf seinem Handrücken kamen.

»Ups«, sagte Maus. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Bedauern zu heucheln. »Ich hätte Ihnen vielleicht sagen sollen, dass sich Mausetod nur von mir anfassen lässt.«

»Mausetod?« Frank richtete sich mitsamt Bücherkatalog wieder auf und sah abwechselnd die blutigen Schrammen auf seiner Hand und die blauweiße Perserkatze an, die seinen Blick mit jener überzeugenden Unschuldsmiene erwiderte, zu der von allen lebenden Geschöpfen auf der Welt nur Katzen imstande sind. »Ein origineller Name für eine Katze.«

Mausetod fauchte zustimmend, sprang mit einem Satz zu Boden und verschwand blitzartig und mit steil aufgerichtetem Schwanz zwischen den Bücherregalen.

»Keine Sorge«, meinte Großmutter hastig. »Sie ist vollkommen stubenrein. Wahrscheinlich sucht sie nur nach einer Zwischenmahlzeit.«

»Mausetod frisst keine Mäuse!«, rief Maus empört.

»Da hätte sie hier auch Pech«, erwiderte Wohlgemut. »Obwohl all dieses Papier eigentlich ein Paradies für Mäuse sein müsste, haben wir nie ein Problem damit gehabt.«

»Ich könnte Ihnen sogar sagen, warum das so ist«, erklärte Maus.

»So?«

»Die Antwort auf die Frage, welche Rolle die Mäuse in dieser Geschichte spielen, steht auf den Seiten des Buches, die nie geschrieben wurden«, fuhr Maus fort und seufzte. »Wie so manches andere dieses Albtraums, durch den ich geschlittert bin bei dem Versuch, mein Leben zu retten - und dann ganz nebenbei auch deines, Leonie. Aber leider beginnen mir die Details dieser Geschichte zu entfallen und ich fürchte«, er sah plötzlich so aus, als wüsste er selbst gar nicht, wovon er eigentlich redete, »gleich werde ich alles vergessen haben, weil man das, was nie geschrieben wurde, natürlich auch nicht behalten kann...«

Wohlgemut und Frank sahen ihn verwirrt an, und auch Leonie blinzelte irritiert und setzte dazu an, eine entsprechende Frage zu stellen, doch in diesem Moment blieb ihr Blick an etwas Kleinem, Glitzerndem hängen, das Maus aus der Tasche gefallen sein musste, als die Katze von seinem Arm gesprungen war. Hastig bückte sie sich danach - und ihre Augen wurden zuerst groß vor Staunen und dann nahezu schwarz vor Zorn.

Es war die verchromte Piercing-Nadel, die sie am Morgen unter erheblichen Schmerzen und noch größerer seelischer Pein aus ihrer Unterlippe gepult hatte.

»Das ist meine Nadel«, murmelte sie. »Wo hast du sie her?«

Maus spielte perfekt den Ahnungslosen. »Deine?«, fragte er. »Tatsächlich?«

»Sie ist kaputt«, sagte Leonie vorwurfsvoll. Eine der beiden winzigen verchromten Kugeln fehlte und das Gewinde war hoffnungslos demoliert. »Was hast du damit gemacht, du kleine Eiterbeule?«

Großmutter sah sie strafend an, aber Wohlgemut beugte sich neugierig vor, um die kleine Silbernadel auf ihrer Handfläche näher zu betrachten. »Interessant. Wozu braucht man so etwas?«

»Oh, man kann alles Mögliche damit anfangen«, meinte Maus, bevor Leonie Gelegenheit fand, zu antworten. »Man kann sie als Gedankenstütze verwenden oder auch Schlösser damit knacken.« Er grinste Leonie unverschämt an. »Und natürlich kann man sie sich auch durch die Backe rammen und daraufwarten, dass man eine dicke Lippe kriegt und aussieht wie ein Kannibalen auf dem Kriegspfad.«

»Jetzt reicht’s aber, du elender kleiner...«, begann Leonie.

»Aber Kinder, bitte«, fiel ihr Großmutter ins Wort, zwar in strengem Ton, trotzdem aber mit einem ebenso milden wie verständnisvollen Lächeln. »Bitte hört doch auf zu streiten.«

Leonie spießte ihren Bruder mit Blicken regelrecht auf. Viel lieber hätte sie dasselbe zwar mit dem abgebrochenen Ende der Nadel getan, aber stattdessen begnügte sie sich damit, der Liste der Grausamkeiten, die sie ihm anzutun gedachte, noch ein paar hässliche Punkte hinzuzufügen, und schloss die Hand um die beschädigte Nadel. Und - seltsam - obwohl sie zu absolut nichts mehr zu gebrauchen und somit vollkommen wertlos war, durchströmte sie für einen Moment ein unendlich warmes, wohltuendes Gefühl, so als hielte sie den wertvollsten Schatz der Welt in der Hand.

»Professor Wohlgemut hat mir gerade gesagt, dass du schon morgen mit deinem Praktikum beginnen kannst, wenn du willst«, fuhr Großmutter nach einer kleinen Weile fort. »Was hältst du davon?«

Leonie sah ihre Großmutter nachdenklich an und wartete darauf, dass sich wieder dasselbe Entsetzen in ihr regte wie vorhin, als sie sich vorzustellen versucht hatte, wie es sein musste, zwischen all diesen verstaubten alten Büchern herumzukramen. Aber es kam nicht. Ganz im Gegenteil. Mit einem Mal fand sie die Idee gar nicht mehr so übel.

»Warum eigentlich nicht?«, fragte sie.

Ihre Großmutter strahlte und auch Wohlgemut sah auf eine sonderbar erleichterte Art zufrieden aus.

»Und wo wir schon einmal dabei sind«, rief Großmutter plötzlich, »wäre das jetzt vielleicht der richtige Moment, dich in eines der großen Geheimnisse unserer Familie einzuweihen.«

»Geheimnis?«, murmelte Leonie. Plötzlich hatte sie ein sehr merkwürdiges Gefühl. »Was für ein Geheimnis?«

Großmutter sah sie verschwörerisch an. »Eigentlich ist es eine reine Frauensache, aber es soll ja auch männliche Nachfahren in der Hüterinnenlinie geben, die über gewisse Fähigkeiten verfügen«, sagte sie mit einem Augenzwinkern in Maus’ Richtung.

»Besondere Fähigkeiten?«, fragte Leonie verblüfft.

»Aber ja.« Großmutter nickte fröhlich. »Indem sie sich zum Beispiel nicht nur mit Katzen hervorragend verstehen, sondern auch mit ihren ganz speziellen Freunden, den Mäusen - man könnte sogar fast sagen, mit einer ganz speziellen Art von Mäusen...«

»Conan«, flüsterte Leonie, ohne allerdings die geringste Ahnung zu haben, wie sie auf diesen Namen kam.

»Daher glaube ich, dass wir in diesem speziellen Fall eine Ausnahme machen können«, fuhr Großmutter fort, ohne auf Leonies Bemerkung einzugehen. »Am besten wir drei gehen erst einmal ein großes Eis essen und dann erzähle ich euch alles. Es ist eine etwas längere Geschichte, und sie hat etwas mit einem ganz besonderen Archivar zu tun, der... nun ja, man könnte sagen, uns nicht gerade freundlich gesonnen ist und alles daran setzt, unsere Sicht der Wirklichkeit zu verdrehen. Aber genau das werden wir verhindern, und du, Leonie, spielst dabei eine ganz besondere Rolle - denn in dir spüre ich die Gabe in einer fast unglaublichen Stärke. Und wenn du dann alles verstanden hast, werden wir zu meinem alten Freund Dr. Fröhlich fahren, damit er sicherstellt, dass du meine Nachfolge irgendwann einmal auch juristisch korrekt antreten kannst. Vater Gutfrieds Segen dazu hast du jedenfalls, davon bin ich überzeugt!«

Verwirrt, aber auch auf eine seltsame Weise aufgeregt, machte sich Leonie daran, ihrer Großmutter, Wohlgemut, Frank und Maus zu folgen, die bereits den Korridor hinuntergingen, und für den Bruchteil eines Lidschlages blieb ihr Blick an einem der geschnitzten Holzköpfe hängen, die die als Bücherregal getarnte Tür flankierten, und für den gleichen, unendlich kurzen Moment glaubte sie zu sehen, wie ihr das winzige Dämonengesicht gutmütig zublinzelte. Aber das war natürlich ganz und gar unmöglich.

Und noch einmal, ein allerletztes Mal, glaubte Leonie ein sonderbar unwirkliches Geräusch zu hören. Aber diesmal war es nicht das Scharren einer Schreibfeder auf Papier, sondern etwas, das sich wie das Zuschlagen eines sehr großen, sehr alten Buches anhörte.


Загрузка...