Sie waren danach nicht mehr allzu lange geblieben. Spätestens nach der hässlichen Szene zwischen Leonies Vater und dem Feuerschlucker war die Stimmung ohnehin im Eimer gewesen, und daran hatte sich auch nach ihrer Rückkehr ins Lokal nichts geändert. Kaum zehn Minuten später waren sie nach Hause gefahren, und obwohl es noch nicht allzu spät war, hatte sich Leonie sofort in ihr Zimmer zurückgezogen und war kurz darauf ins Bett gegangen. Manchmal half es einfach, eine Nacht über eine unangenehme Situation zu schlafen.
Es half nicht. Als Leonie am nächsten Morgen zum Frühstück hinunterkam, war die Stimmung beinahe noch schlechter als am Vorabend. Noch bevor sie die Küche betrat, spürte sie die angespannte Atmosphäre dort sofort. Ihre Mutter saß wie üblich mit ausdruckslosem Gesicht da und rührte in ihrem Kaffee, aber Leonie war ziemlich sicher, dass Vater und sie sich wieder einmal gestritten hatten. Ihre Eltern sprachen in letzter Zeit immer weniger miteinander, und wenn, dann in einem alles andere als liebevollen Ton.
»Guten Morgen«, sagte Leonie, während sie Platz nahm.
Ihre Mutter antwortete nur mit einem angedeuteten Kopfnicken, während ihr Vater sich zu einem Lächeln zwang, das ungefähr so warm war wie die Eiswürfel in seinem Glas. Als Leonie sich vorbeugte, um nach dem Brotkorb zu greifen, erschien ein rundes pelziges Gesicht über der gegenüberliegenden Tischkante. Ein Paar orangerot glühende Augen funkelten sie Unheil verkündend an.
»Überrascht?«, fragte ihr Vater. Er lächelte dünn. »Du solltest doch eigentlich wissen, dass eine Katze überall rein- und rauskommt, wo sie will.«
»Wie beruhigend«, nuschelte Leonie. Die nächsten zwei oder drei Minuten überbrückte sie damit, sich auf die umständlichste aller vorstellbaren Arten ein Käsebrötchen zu schmieren, aber irgendwann gelang es ihrem Vater doch, ihren Blick aufzufangen.
»Ich hatte heute Morgen schon einen unangenehmen Anruf«, sagte er. »Von Meister Bernhard.«
»So?«, meinte Leonie einsilbig. »Wer soll das sein?«
»Die Gaukler«, antwortete Vater. »Du hast sie gestern Abend im Burgkeller kennen gelernt. Erinnerst du dich?«
Leonie nickte. Die Vorstellung, dass der Feuerschlucker ein Telefon benutzt haben sollte, fiel ihr sonderbar schwer.
»Würdest du mir einen Gefallen tun, Leonie?«, fuhr ihr Vater fort. »Halt dich bitte in Zukunft aus meinen Geschäften raus.«
»Was hat sie denn getan?«, fragte Mutter.
»Oh, ich glaube, Leonie weiß ganz genau, wovon ich rede«, sagte Vater. »Nicht wahr?«
Leonie wollte antworten, aber in diesem Moment richtete sich Mausetod auf der anderen Seite des Tisches kerzengerade auf. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und ein tiefes, drohendes Knurren drang aus ihrer Brust.
Als Leonies Blick dem der Katze folgte, machte ihr Herz einen erschrockenen Sprung. Sie hatte die Tür hinter sich offen gelassen, und auf der Schwelle war ein winziges graues Etwas erschienen, das aus kleinen Knopfaugen zu ihr emporsah. Conan! Mausetod fauchte. Conan fuhr zusammen und huschte los, aber nicht zurück auf den Flur, wie Leonie gehofft hatte, sondern geradewegs weiter in die Küche hinein und zwischen Leonies Füßen hindurch unter den Tisch. Mausetod fauchte noch einmal und verschwand mit gesträubtem Fell in die gleiche Richtung, und Leonie wollte sich hastig bücken, um die Maus zu retten, die offensichtlich in Selbstmordlaune war.
Ihr Vater griff blitzschnell über den Tisch, griff nach ihrer Hand und hielt sie so fest, dass es beinahe schon wehtat. Unter dem Tisch erscholl ein erschrockenes Piepsen, gefolgt von einem lautstarken Fauchen.
»Was soll das?«, keuchte Leonie. »Lass mich los!« Sie versuchte ihre Hand wegzureißen, aber Vater hielt sie mit eiserner Kraft fest. Sein Griff tat nun wirklich weh.
»Das machen die beiden schon unter sich aus«, sagte er ruhig.
Das Fauchen wurde lauter. Ein dumpfes Poltern erklang, dann ein Krachen und durch all das hindurch glaubte Leonie ein geradezu panikerfülltes Fiepen zu hören.
»Unter sich?«, keuchte sie. »Aber Conan ist eine Maus!«
Sie versuchte noch einmal sich loszureißen, aber ihr Vater verstärkte seinen Griff. »Das hätte sie sich überlegen sollen, bevor sie sich dazu entschieden hat, hier einzuziehen«, sagte er.
Die Kampfgeräusche wurden lauter. Obwohl Leonie nun keinen Widerstand mehr leistete, hielt ihr Vater weiterhin unerbittlich ihre Hand fest. Unter dem Tisch ertönte wieder ein dumpfes Poltern, dann schlug irgendetwas mit solcher Gewalt von unten gegen die Tischplatte, dass das Geschirr klirrte. Auf Vaters Gesicht erschien ein dünnes, kaltes Lächeln.
»So ist nun einmal die Natur«, sagte er.
Unter dem Tisch erscholl ein schmetternder Schlag, und dann flog ein kreischendes graues Fellbündel in hohem Bogen durch das Zimmer und knallte gegen die Wand neben der Tür. Als es daran herunterrutschte, hinterließen seine messerscharfen Krallen ein knappes Dutzend tiefe Kratzer in der teuren Seidentapete. Leonies Vater riss ungläubig die Augen auf und ließ endlich ihre Hand los.
»Ja«, murmelte Leonie mit belegter Stimme, »anscheinend hast du Recht. So ist nun einmal die Natur.«
Ihr Vater rang vergebens nach Worten. Vollkommen fassungslos sah er zu, wie die Katze vollends zu Boden plumpste, einen Moment liegen blieb und sich dann verdattert aufrappelte. Er wollte aufstehen, aber jetzt war es Leonie, die nach seiner Hand griff und ihn zurückhielt.
»Lass nur«, meinte sie. »Das machen die beiden schon untereinander aus.«
Im Moment allerdings wohl eher nicht. Mausetod blieb noch ein paar Sekunden lang benommen sitzen, dann drehte sie sich langsam um und stolzierte beleidigt aus der Küche. Leonie sah ihr nach, bis sie im Flur verschwunden war, und beugte sich dann unter den Tisch, wo Conan in aller Seelenruhe saß und an einem Brotkrümel knabberte, der auf den Boden gefallen war. Die Maus hatte eine winzige Schramme auf der Nase, aber das war auch schon alles. Leonie versuchte erst gar nicht, über das nachzudenken, was sie gerade gesehen hatte.
Sie setzte sich auf und wandte sich wieder an ihren Vater. »Was wolltest du mir gerade sagen?«
Ihr Vater presste die Kiefer so fest aufeinander, dass Leonie glaubte, seine Zähne knirschen zu hören. Er sagte nichts, sondern stand so abrupt auf, dass sein Stuhl umstürzte, und lief aus dem Raum. Nur einen Moment später konnte Leonie hören, wie die Tür zu seinem Arbeitszimmer ins Schloss fiel.
Leonies Mutter stand auf, um den umgestürzten Stuhl aufzurichten. »Du solltest das nicht tun, Leonie«, bemerkte sie.
»Was?«
»Deinen Vater so provozieren«, sagte Mutter, ohne sie anzusehen.
»Ich?«, ächzte Leonie. »Ich habe ihn provoziert? War es nicht eher umgekehrt?«
»Dein Vater hat im Moment eine Menge um die Ohren«, fuhr Mutter fort, scheinbar ohne ihre Frage auch nur gehört zu haben. »Dieses Geschäft ist wirklich wichtig für uns, weißt du? Wir sind nicht arm, aber wenn es schiefgeht...«
»... wachen wir bestimmt am nächsten Morgen auf und stellen fest, dass wir reicher sind als Bill Gates und die Zentralbank von Luxemburg zusammen«, fiel ihr Leonie ins Wort. »Und jeder findet das ganz normal, außer mir vielleicht.«
Ihre Mutter blinzelte. »Wie meinst du das?«
Leonie setzte zu einer schroffen Antwort an, aber dann sah sie ihrer Mutter ins Gesicht und stellte fest, dass sie offenbar wirklich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Aber du musst dich doch...«, begann sie.
»Was muss ich?«, fragte Mutter betont, als sie mitten im Satz abbrach. Sie sah plötzlich ein wenig besorgt aus.
Du beginnst dich zu erinnern, hatte Bruder Gutfried gesagt, weil du die Gabe hast. Und ihre Mutter hatte sie nicht. So einfach war das.
»Nichts«, murmelte sie und stand auf.
Ihre Mutter kam um den Tisch herum und auf sie zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Sicher«, antwortete Leonie fast hastig. »Ich... ich muss nur noch einmal weg. Eine dringende Verabredung. Ich hätte sie fast vergessen.«
»Eine Verabredung? Um diese Zeit? Aber es sind doch Ferien!«
»Eben!« Leonie war schon herum und auf halbem Wege zur Tür. »Das ist die wertvollste Zeit des Jahres. Zu kostbar, um sie zu verschwenden.« Noch bevor ihre Mutter eine weitere Frage stellen konnte, war sie bereits an der Haustür und dann draußen.
Diesmal brauchte sie wirklich nur zehn Minuten, um die Kirche zu erreichen, denn sie nahm keine Rücksicht mehr darauf, ob sie auffiel oder komische Blicke erntete.
Trotzdem kam sie zu spät.
Die Kirche war noch da (nicht einmal dessen war sie ganz sicher gewesen), aber die Erleichterung, die sie bei ihrem Anblick empfand, hielt nur wenige Augenblicke an. So lange, genauer gesagt, bis sie nahe genug heran war, um Einzelheiten zu erkennen. Das Gotteshaus war nicht mehr als eine ausgebrannte Ruine. Die Wände waren brandgeschwärzt, und das kostbare bunte Glas der Fenster war ebenso verschwunden wie die schwere Eichentür. Das Dach hatte sich in ein verkohltes Gerippe verwandelt, und die allermeisten Steinfiguren waren zerborsten und von ihren Sockeln gestürzt. Leonie wurde immer langsamer, je näher sie der Ruine kam, und blieb schließlich ganz stehen. Ihr Herz raste, aber das lag ebenso wenig wie das immer heftiger werdende Zittern ihrer Hände und Knie daran, dass sie so schnell, wie sie konnte, hierher gehetzt war.
Was sie sah, war unmöglich. Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, da war dieses Gebäude vollkommen unversehrt gewesen. Wäre es gestern Abend oder im Laufe der Nacht abgebrannt, ja selbst direkt nach ihrem Besuch gestern, dann hätte die Luft noch immer voller Ruß und Asche sein müssen und es hätte überall Schutt und Trümmer gegeben. Und ganz bestimmt hätte man den Brandgeruch in der Luft immer noch wahrgenommen.
Nichts von all dem war der Fall. Die Luft roch so klar und frisch, wie sie an einem Sommermorgen nur riechen konnte, und alle Trümmer und Glassplitter waren längst fortgeschafft worden. Der Brand musste vor Tagen hier gewütet haben, wenn nicht vor Wochen, denn überall auf dem verkohlten Boden zeigten sich bereits wieder die ersten grünen Spitzen nachwachsender Grashalme.
»Er lernt dazu.«
Leonie erschrak, aber obwohl sie die Stimme nur ein paarmal gehört hatte, erkannte sie sie sofort wieder und zwang sich dazu, sich ruhiger umzudrehen, als ihr zumute war. »Mein Vater?«
»Wer sonst?«, gab Bruder Gutfried zurück. Er stand unmittelbar hinter Leonie, als wäre er buchstäblich aus dem Nichts erschienen, aber er sah nicht sie an, sondern die Ruine der Kirche. Auch wenn er es nicht aussprach - man sah ihm an, dass dieses Gotteshaus für ihn viel mehr gewesen war als nur ein Gebäude.
»Wollen Sie sagen, mein Vater hätte die Kirche angezündet?«, fragte Leonie mit schriller Stimme. »Das ist doch Quatsch! Das hätte er doch gar nicht nötig.«
»Oh, natürlich hat er sie nicht selbst angezündet«, antwortete Gutfried. »Die Feuerwehr hat den Brand gründlich untersucht. Eine der alten Leitungen hat einen Kurzschluss verursacht, der das Feuer ausgelöst hat. Das ist mit hundertprozentiger Sicherheit erwiesen. Aber wir wissen beide, wer dafür verantwortlich ist, nicht wahr?«
»Warum sollte er so etwas tun? Er hätte doch einfach dafür sorgen können, dass sie niemals gebaut wird.«
»Wozu dieses Risiko eingehen? Zu viele Leben würden beeinflusst, zu viele Erinnerungen müssten neu geschrieben werden, zu viele Entscheidungen rückgängig gemacht oder ins Gegenteil verkehrt.« Gutfried seufzte. »Er lernt dazu, Leonie. Er wird vorsichtiger. Und zugleich immer gefährlicher. Bald wird der Moment gekommen sein, da sein Tun gefährlich für diese ganze Wirklichkeit wird. Vielleicht ist der Schaden schon jetzt nicht mehr wieder gutzumachen.«
»Diese Wirklichkeit?«, hakte Leonie rasch nach. »Gibt es denn mehr als eine?«
»Unendlich viele«, erklärte Gutfried, beantwortete ihre nächste Frage aber mit einem Kopfschütteln, noch bevor sie sie überhaupt stellen konnte. »Das hier ist eure Wirklichkeit. Und sie allein zählt für euch. Aber ich weiß nicht, wie lange sie noch Bestand hat. Das Gefüge der Realität ist kompliziert und unendlich empfindlich.«
»Und was soll ich nun tun?«, fragte Leonie. »Ich kann ihm dieses verdammte Buch schließlich nicht mit Gewalt wegnehmen.«
Der fast kahlköpfige Geistliche antwortete mit einem bedrückten Lächeln. »Selbst wenn du es könntest, würde es nichts nutzen. Er ist im Moment der rechtmäßige Besitzer, weil seine Frau die Gabe nicht hat. Du könntest nur die Buchstaben ändern, nicht das, was sie bewirken.« Er schüttelte seufzend und sehr traurig den Kopf. »Nein, ich fürchte, so einfach ist es nicht. Du musst versuchen deinen Vater zur Vernunft zu bringen. Das ist der einzige Weg, der uns bleibt.«
Ihren Vater zur Vernunft bringen! Leonie hätte beinahe gelacht. Seit ein paar Tagen kannte sie ihren Vater kaum wieder - er schien sich mit jeder Stunde mehr und mehr zu verändern. Sie schüttelte unglücklich den Kopf.
»Dann weiß ich auch nicht mehr, was ich noch tun soll«, seufzte Gutfried. »Außer hoffen und beten, dass unser Herr ein Wunder geschehen lässt.«
»Hat er das nicht schon?«, meinte Leonie. Gutfried sah sie fragend an, und Leonie wurde plötzlich wütend und rief: »Sie haben es doch selbst gesagt, oder? Nur wer über die Gabe verfügt, kann erkennen, was wirklich passiert. Und wie eine Frau sehen Sie eigentlich nicht aus.«
Gutfried lächelte. »Und jetzt glaubst du, ich wäre geschickt worden, um auf euch aufzupassen?«, vermutete er. »Ich muss dich enttäuschen, Leonie, falls du hoffst, dass ich ein paar Flügel unter meiner Soutane versteckt habe.«
»Aber Sie sind doch auch kein normaler Priester, oder?«, bohrte Leonie weiter.
Diesmal zögerte Bruder Gutfried spürbar, bevor er antwortete: »Vielleicht eine Art... Beobachter, wenn du so willst«, sagte er schließlich. »Mehr nicht. Es tut mir Leid. Selbst wenn ich eingreifen könnte, ich dürfte es nicht.«
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Leonie.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Gutfried in einem Tonfall ehrlichen Bedauerns. »Geh zu deinem Vater und rede mit ihm. Er ist im Grunde ein sehr vernünftiger Mann und bestimmt kein schlechter Mensch. Er wird am Ende einsehen, dass das, was er tut, falsch ist.«
»Und warum warten wir dann nicht einfach ab?«, wollte Leonie wissen.
»Weil es dann zu spät sein könnte«, erwiderte Gutfried. »Für uns alle. Und nun stell bitte keine Fragen mehr, denn ich darf sie dir nicht beantworten. Ich habe jetzt schon mehr gesagt, als ich dürfte.« Er machte eine entsprechende Handbewegung. »Geh zu deinem Vater. Er ist auf dem Weg zur Altstadt, und sollte er dort eintreffen, dann ist er möglicherweise in Gefahr.«
»In Gefahr? Wieso?«
»Ich kann es dir nicht sagen«, meinte Gutfried bedauernd. »Es ist mir verboten, mich in eure Angelegenheiten zu mischen. Aber geh, schnell.«
Leonie verschwendete noch eine kostbare Sekunde damit, den vermeintlichen Pastor flehend anzublicken, aber sie las in seinen Augen, dass er nichts mehr sagen würde, und schließlich drehte sie sich um und ging; zunächst noch langsam, dann aber immer schneller und schließlich rannte sie, noch bevor sie die nächste Straßenkreuzung erreicht hatte. Selbst bei diesem Tempo würde sie mehr als eine Stunde brauchen, um ihr Ziel zu erreichen - ganz abgesehen davon, dass sie das niemals durchhalten konnte -, und Bruder Gutfried hatte keinen Zweifel daran gelassen, wie wenig Zeit ihr noch blieb.
Aber sie hatte ausnahmsweise einmal Glück: Schon nach einer knappen Minute kam ihr ein Taxi entgegen, das sie kurzerhand heranwinkte, und der Fahrer kannte sowohl das restaurierte Altstadtviertel als auch den Burgkeller.
Leonie nutzte die gut zwanzigminütige Autofahrt, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen. Eines dieser beiden Vorhaben gelang ganz gut, das andere dafür überhaupt nicht. Je mehr sie über das Gespräch mit Gutfried nachdachte, desto weniger wusste sie, was sie jetzt tun sollte. Sie konnte ja schlecht zu ihrem Vater gehen und ihm erzählen, dass sie alles wusste und dass er ihr gefälligst das Erbe überschreiben und damit die Macht über Großmutters Buch geben sollte. Und selbst wenn sie es täte - so verwandelt, wie er seit ein paar Tagen war, würde er sie bestenfalls auslachen, vermutlich aber wütend werden.
Und es gab da noch etwas: An Bruder Gutfrieds Geschichte... stimmte etwas nicht. Leonie konnte nicht genau sagen was, aber das Gefühl war zu deutlich, um es zu ignorieren. Selbst wenn alles stimmte, was er ihr erzählt hatte, und Vater tatsächlich in der Lage war, jede Sekunde im Leben ihrer Großmutter zu verändern - wie konnte er damit die gesamte Wirklichkeit in Gefahr bringen? Das alles ergab keinen Sinn.
Als sie ihr Ziel erreicht hatte, ergab sich ein weiteres Problem: Leonie hatte nicht einen Cent eingesteckt, als sie das Haus verließ. Der Taxifahrer war wenig begeistert, als sie ihm erklärte, dass er sie wohl oder übel zu ihrem Vater begleiten musste, der die Rechnung begleichen würde, und als sie - um ihn zu beruhigen - hinzufügte, dass ihrem Vater das ganze Stadtviertel gehörte, vor dessen Ummauerung sie parkten, machte sie es eher noch schlimmer, denn der Fahrer glaubte ihr offensichtlich kein Wort. Leonie hätte es im umgekehrten Fall wohl auch nicht getan. Dennoch begleitete er sie, statt in der Taxizentrale anzurufen und sie von der Polizei abholen zu lassen, womit er im ersten Moment gedroht hatte.
Bei hellem Sonnenschein betrachtet, bot die Straße einen noch viel bizarreren Anblick als am Abend zuvor. Leonie sah jetzt, dass sie sich getäuscht hatte: Es gab auf den Dächern weder Satellitenschüsseln noch Antennen. Was sie dafür gehalten hatte, das waren in Wirklichkeit Wetterhähne und auf dem höchsten Dach sogar ein Storchennest, wie sie es bislang nur von Fotografien gekannt hatte. Auch die Fassaden der Häuser waren akribisch von jeglicher moderner Zivilisation gereinigt worden - es gab weder Klingelknöpfe noch Türdrücker und schon gar nicht etwas so Modernes wie eine Gegensprechanlage. Leonie hielt vergeblich nach dem bläulichen Flimmern eines Fernsehers hinter den Fensterscheiben Ausschau, aber das konnte natürlich auch einfach an der Uhrzeit liegen - wer setzte sich schließlich schon vormittags vor den Fernseher?
Der Taxifahrer, der dicht neben ihr herging und jeden ihrer Schritte mit Argusaugen bewachte, offensichtlich um zu verhindern, dass sie in einer unbeobachteten Sekunde in einer der schmalen Gassen oder durch eine Haustür verschwand, wurde immer ungeduldiger, zumal Leonie ihrerseits immer langsamer wurde. Sie war jetzt überhaupt erst zum zweiten Mal hier, und das einzige Gebäude, das sie wirklich kannte, war das Gasthaus. Sie fragte sich, was sie tun sollte, wenn sie ihren Vater nicht im Burgkeller fand - falls das Restaurant zu dieser Zeit überhaupt schon geöffnet hatte. Der Taxifahrer sah so aus, als ob ihm gleich der Kragen platzen würde, und falls der Burgkeller noch zuhatte, konnte sie noch nicht einmal den Wirt bitten, ihr die benötigte Summe vorzustrecken.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich gottlob als grundlos. Sie entdeckte ihren Vater nicht im Burgkeller, sondern sogar auf der Straße davor. Er war in eine hitzige, von heftigen Gebärden begleitete Diskussion mit dem Wirt des Burgkellers und dem Feuerschlucker verstrickt, die gute Aussichten hatte, zu einer handfesten Auseinandersetzung zu eskalieren, wenn Leonie den Ausdruck auf den Gesichtern der beiden anderen Männer richtig deutete. Trotzdem atmete sie erleichtert auf und beschleunigte ihre Schritte. Im Moment war ihr ein schlecht gelaunter Vater immer noch lieber als ein Taxifahrer, der keinen Hehl daraus machte, dass er sie für eine Betrügerin hielt, die ihn um sein Geld prellen wollte.
Ihr Vater bemerkte sie, als sie nur noch wenige Meter von ihm und den anderen entfernt war. Er unterbrach das Gespräch mit den beiden Männern mit einer Geste, die Leonie nur noch als herrisch bezeichnen konnte, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verdüsterte sich noch weiter, obwohl Leonie das noch vor einer Sekunde gar nicht für möglich gehalten hätte.
»Was willst du denn hier?«, war seine reichlich unfreundliche Begrüßung.
Leonie schluckte die ärgerliche Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und rief sich innerlich zur Ruhe, während sie ihren Vater bat, erst einmal das Taxi zu bezahlen.
»Taxi?«, fragte er verständnislos. Der Blick, mit dem er den Fahrer maß, war kaum freundlicher als der, mit dem er Leonie gerade begrüßt hatte, aber er sagte vorsichtshalber nichts, als er den Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes sah.
»Ich muss mit dir reden«, antwortete Leonie rasch. »Es ist wichtig. Deswegen bin ich mit einem Taxi gekommen.«
»Ja, und genau damit wirst du auch wieder fahren«, schnappte ihr Vater. Er wandte sich an den Fahrer. »Wie viel?«
Der Mann nannte eine Summe, die deutlich über der lag, die Leonie gerade auf dem Taxameter gelesen hatte, aber ihr Vater protestierte nicht, sondern zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche, zählte mehr als das Doppelte dieses Betrages ab und reichte es dem Fahrer. »Bringen Sie sie nach Hause«, sagte er unfreundlich. »Der Rest ist für Sie.«
»Ich denke ja nicht daran, wieder...«, begann Leonie, wurde aber sofort und in rüdem Ton von ihrem Vater unterbrochen.
»Du wirst auf der Stelle nach Hause fahren, junge Dame, und zwar ohne Widerrede. Und wenn nicht, dann wird diese Geschichte noch weit unangenehmere Folgen für dich haben, als sie ohnehin schon hat.« Er sah den Taxifahrer an und deutete dabei auf Leonie. »Nehmen Sie sie mit. Und Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, dass sie auch zu Hause ankommt.«
»Sehe ich vielleicht aus wie Ihr Kindermädchen?«, fragte der Taxifahrer. Er schüttelte den Kopf. »Machen Sie Ihren Familienstress untereinander aus, aber ohne mich.«
Leonies Vater sah ganz so aus, als würde er im nächsten Moment vor Wut platzen, aber sein Gegenüber gab ihm gar keine Gelegenheit dazu. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.
»Aber das ist doch...«, keuchte Vater. Er schluckte den Rest hinunter, fuhr mit einem Ruck zu Leonie herum und spießte sie mit Blicken regelrecht auf. »Darüber reden wir noch. Und jetzt bleib hier stehen und sag kein Wort, ist das klar?«
Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sich Leonie mit einem kleinlauten Ja antworten - aber sie hatte ihren Vater auch noch nie so zornig wie jetzt gesehen. Sie bekräftigte ihre Zustimmung noch einmal mit einem hastigen Nicken, und Vater warf ihr noch einen bösen Blick zu, bevor er sich wieder umdrehte und die beiden anderen herbeiwinkte. Leonie fiel erst im Nachhinein auf, dass der Wirt genau wie Meister Bernhard respektvoll ein paar Schritte zurückgewichen war, vielleicht damit sie den peinlichen Streit zwischen ihrem Vater und ihr nicht mit anhören mussten.
»Ich denke, wir sind dann auch so weit fertig«, sagte Vater. »Ihr wisst also Bescheid, Meister Bernhard. Und seine Leute werden von Eurer Küche mit drei warmen Mahlzeiten am Tag versorgt, und lasst Euch nicht etwa einfallen, ihnen nur die Reste vorzusetzen, die die Gäste übrig lassen.«
Der Wirt nickte zwar zustimmend, aber seine Augen blitzten vor Zorn, und selbst Bernhard sah alles andere als zufrieden aus. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Leonies Vater kam ihm zuvor und fuhr ihn an: »Und Ihr, Meister Bernhard, lasst Euch nicht einfallen, jetzt noch mehr unverschämte Forderungen zu stellen. Ich erwarte eine besonders gute Vorstellung als Gegenleistung für diese Großzügigkeit - die Ihr im Übrigen nur dem Umstand zu verdanken habt, dass meine Tochter aus irgendeinem Grund einen Narren an Eurem Sohn gefressen hat.« Er wedelte ungeduldig mit den Händen. »Und nun geht. Ich denke, Ihr habt eine Nummer einzustudieren.«
Bernhard warf ihm noch einen gequälten Blick zu, aber dann hatte er es plötzlich sehr eilig, sich zu trollen, und auch der Wirt ging ohne ein weiteres Wort und sehr hastig davon. »Wunderbar«, sagte Vater, als die beiden außer Hörweite waren. »Ein ganz hervorragendes Timing, Leonie. Solltest du dir vorgenommen haben, meine Autorität zu untergraben, so ist dir das ganz ausgezeichnet gelungen.«
»Deine Autorität?«, wiederholte Leonie verständnislos.
»Was denkst du denn?«, fauchte ihr Vater. »Bei solchen Leuten muss man hart durchgreifen. Sie brauchen eine feste Hand.«
»Aber ich habe doch nur...«, begann Leonie.
»Ich weiß, dass du in bester Absicht gehandelt hast«, unterbrach sie ihr Vater. Er sprach noch immer laut, aber sein Tonfall wurde versöhnlicher. »Du hattest Mitleid mit diesem armen Jungen, das ist mir schon klar.« Er seufzte. »Aber glaub mir, du hast ihm damit keine Gefallen getan. Diese Leute sind...«, er suchte nach Worten, »... anders als wir. Du darfst keine Dankbarkeit von ihnen erwarten. Gutmütigkeit legen sie unweigerlich als Schwäche aus.«
»Übertreibst du es jetzt nicht ein bisschen mit dem Realismus?«, fragte Leonie. Sie sah sich demonstrativ um. »Nur weil es hier aussieht wie im frühen Mittelalter, muss man die Leute doch nicht gleich auch so behandeln.«
»Aber genau das erwarten sie«, antwortete Vater. »Für dich und mich ist Freiheit vielleicht das höchste Gut, wie man so schön sagt, aber sie wollen es gar nicht. Glaub mir, sie wären verloren, wenn man ihnen nicht sagen würde, was sie zu tun haben.« Er schien auf Widerspruch zu warten, und als er nicht kam, seufzte er noch einmal tief und wechselte das Thema. »Also, was ist so wichtig, dass du extra hierher gekommen bist?«
Plötzlich fehlten Leonie die Worte. Vielleicht lag es an dieser sonderbaren Umgebung, vielleicht an der bizarren Szene, deren Zeuge sie gerade geworden war - sie fand mit einem Mal nicht mehr die Worte, um ihrem Vater klar zu machen, dass er in Gefahr war.
Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass sie selbst nicht mehr wirklich davon überzeugt war. Noch vor wenigen Minuten wäre sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, Gutfrieds Behauptung zu hinterfragen, aber nun fühlte sie sich zunehmend unsicherer. Der Geistliche hatte etwas so Überzeugendes, dass man ihm einfach glauben musste.
»Du bist doch nicht nur hierher gekommen, um mich in eine peinliche Situation zu bringen, oder?«, fragte Vater, als Leonie weiterhin schwieg, entschärfte seine eigenen Worte aber auch sogleich durch ein Lächeln und ein versöhnliches Kopfschütteln. »Bitte, versuch mich zu verstehen, Leonie. Dieses Projekt ist sehr wichtig für mich... für uns. Wenn ich hier einen Fehler mache, dann kann das katastrophale Folgen haben.«
»Wie der Brand im Haus unserer Nachbarn?«, fragte Leonie. Diesmal antwortete ihr Vater nicht und Leonie nahm all ihren Mut zusammen und fuhr fort. »Das war nicht immer so, habe ich Recht? Es ist wirklich passiert, und du kannst dir nicht erklären warum, aber es hätte nicht passieren dürfen. Du hast irgendetwas in Großmutters Leben verändert und damit eine Kettenreaktion ausgelöst, an deren Ende diese Katastrophe stand. Und vielleicht noch andere, von denen wir gar nichts wissen.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest«, antwortete ihr Vater. Sie konnte regelrecht sehen, wie seine Laune sank. Der versöhnliche Ton war wieder aus seiner Stimme verschwunden, seine Worte klangen spröde. »Was soll der Unsinn? Hast du irgendwelche Drogen genommen oder findest du das vielleicht witzig?«
»Aber sie hat doch Recht, Klaus.« Eine schlanke, dunkelhaarige Frau in einem modischen, schwarzen Kostüm trat unmittelbar neben Vater aus einer schmalen Gasse und sah erst ihn und dann, etwas nachdenklich, Leonie an. »Ich weiß zwar nicht genau, wovon deine Tochter spricht, aber dir sollte doch klar sein, dass du etwas Schreckliches auslösen wirst, oder?«
»Theresa?«, murmelte Leonie. Mit einem Mal hatte sie ein ungutes Gefühl. Ein sehr ungutes Gefühl.
Die dunkelhaarige Frau sah sie noch einmal und diesmal sehr nachdenklich an. »Kennen wir uns?«, fragte sie. Leonie stellte erschrocken fest, dass sie sich verändert hatte. Sie war nicht älter geworden oder jünger, aber in ihrem Gesicht war ein harter Zug, den es zuvor nicht darin gegeben hatte, und das warme Lächeln, das immer irgendwo auf dem Grund ihrer Augen gewesen war, war ebenfalls erloschen.
»Was wollen Sie hier?«, fragte Vater unfreundlich. »Habe ich mich gestern Abend nicht deutlich genug ausgedrückt?«
»Ich dachte, ich könnte noch einmal vernünftig mit dir reden«, antwortete Theresa. »Aber ich fürchte, diese Hoffnung war wohl vergebens.«
»Ja, das scheint mir auch so«, sagte Leonies Vater kühl. »Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte zu gehen. Das ist hier alles Privatbesitz und ich erteile Ihnen hiermit offiziell Hausverbot.«
Theresa lachte bitter. »Du bist bescheidener, als ich dachte. Nur ein paar Straßen... Warum nicht die ganze Stadt oder gleich das ganze Land? Aber was nicht ist, kann ja noch werden, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir werden das nicht zulassen, Klaus. Wir können es nicht.«
»Darf ich das als Drohung auffassen?«, fragte Vater. Er wartete Theresas Antwort gar nicht ab, sondern setzte ein grimmiges Lächeln auf und klatschte zweimal rasch hintereinander in die Hände. Die Tür des Burgkellers flog auf und zwei Männer stürzten heraus und nahmen rechts und links von Theresa Aufstellung. Sie waren sonderbar gekleidet: Pluderhosen, ein Wams mit weiß-roten Längsstreifen und Stulpenstiefel und auf ihren Köpfen trugen sie eng anliegende Pickelhauben aus Kupfer. Beide waren bewaffnet: An ihren Gürteln baumelten kurze Schwerter und in den Händen trugen sie Hellebarden, die eine unangenehme Erinnerung in Leonie wachrufen wollten, ohne dass es ihnen gelungen wäre oder Leonie gewusst hätte warum.
»Die Stadtwache wird Sie zurück zum Tor begleiten«, meinte Vater kühl. »Sollten Sie dieses Gelände noch einmal betreten oder mich und meine Familie in irgendeiner anderen Form belästigen, behalte ich mir weitere rechtliche Schritte vor. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Mehr als genug«, antwortete Theresa verächtlich. »Du hast es nicht anders gewollt.«
Leonies Vater gab einem der bunt gekleideten Soldaten einen Wink. Der Mann wollte Theresas Arm packen, aber sie riss sich mit einer wütenden Bewegung los, warf trotzig den Kopf in den Nacken und ging mit so schnellen Schritten davon, dass die beiden Männer der Stadtwache Mühe hatten, ihr zu folgen.
»Stadtwache?«, fragte Leonie verstört.
»Ein privater Sicherheitsdienst«, antwortete ihr Vater, ohne den Blick von Theresa zu lösen, die sich rasch in Richtung des Stadttores entfernte und dabei noch ein paarmal zu ihnen zurücksah.
»Sie... sehen ziemlich echt aus«, bemerkte Leonie unbehaglich.
»Wenn sie schwarze Uniformen und Funkgeräte an den Gürteln trügen, wären sie wohl erst recht unpassend angezogen, nicht wahr?«, grollte Vater. Theresa und ihre beiden Begleiter waren inzwischen außer Sicht, aber er blickte noch eine ganze Weile in ihre Richtung, ehe er sich mit grimmiger Miene wieder an Leonie wandte und gleichzeitig in die Jackentasche griff.
»Fahren wir nach Hause.« Er zog die Autoschlüssel hervor. »Ich muss ein paar Telefonate führen.«
Leonie schloss sich ihm kommentarlos an. Sie war beinahe erleichtert, dass ihr Vater im Moment viel zu aufgeregt zu sein schien, um sie noch einmal nach dem Grund ihres Kommens zu fragen. Nicht nur weil es ihr immer schwerer fiel, diesen Grund selbst zu benennen; sie fühlte sich auch mit jedem Moment weniger wohl in dieser Umgebung. Gestern Abend war ihr dieser liebevoll restaurierte Straßenzug toll vorgekommen, eine Idee, die ihr mindestens so gut gefiel wie ihrem Vater (auch wenn sie das niemals in seiner Gegenwart zugegeben hätte), und als sie vorhin hier eingetroffen war, zumindest noch interessant. Mittlerweile begann sie zu ahnen, warum man die Zeit, der diese Gebäude nachempfunden waren, das finstere Mittelalter nannte. Als sie durch den spitzen Torbogen traten, hatte sie das Gefühl, plötzlich wieder freier atmen zu können.
Ihr Vater beschleunigte seine Schritte, um den Wagen zu erreichen, der gut hundert Meter entfernt abgestellt war. Auch Leonie ging schneller, aber ihre Aufmerksamkeit galt nicht dem silberfarbenen Cabriolet ihres Vaters, vielmehr hatte sie plötzlich das unangenehme Gefühl, angestarrt zu werden.
Niemand beobachtete sie, aber als sie die Straße überquerte und zur Beifahrerseite des Wagens ging, sah sie etwas, das sie für einen Moment erstarren ließ.
Theresa hatte die Altstadt verlassen, doch sie war nicht besonders weit gekommen. Ihre beiden Begleiter in den albernen Kleidern waren verschwunden, aber Theresa war dennoch nicht allein. Ein kleinwüchsiger Mann mit ungepflegtem krausen Haar und in ebenso ungepflegten zerrissenen Kleidern stand direkt neben ihr. Theresa redete heftig auf ihn ein, aber Meister Bernhard schien Mühe zu haben, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Sein Blick irrte immer wieder nach rechts und links, tastete über die Fassaden der Häuser, die Passanten und Automobile, und wenn Leonie auch nur einen einzigen vernünftigen Grund dafür hätte nennen können, dann hätte sie geschworen, dass das, was er sah, ihn mit panischer Angst erfüllte.