Mausetod

»Also, das ist die mit Abstand verrückteste Geschichte, die ich jemals gehört habe«, sagte Leonies Vater und goss sich ein weiteres Glas Orangensaft ein. Es war das dritte, seit Leonie angefangen hatte zu erzählen, und daran merkte sie, wie lang ihre Geschichte gedauert haben musste. Es war zwar noch heißer geworden, aber das erkannte Leonie nur an der Anzeige des kleinen Digitalthermometers, das an der Wand neben ihr angebracht war und sowohl die Außen- als auch die Innentemperatur anzeigte. Sie saßen auf der großen, rundum verglasten Terrasse des Hauses, und abgesehen von der Anzeige des Thermometers kündete nur das leise Summen der Klimaanlage von der flimmernden Hochsommerhitze, die draußen herrschte und ihr Bestes tat, um den Garten zu verbrennen und die Blätter an den Bäumen zum Verkohlen zu bringen. Trotz der mittlerweile fast ununterbrochen arbeitenden Bewässerungsanlage standen ihre Chancen gut, es zu schaffen. Leonie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so heißen August erlebt zu haben.

»Aber sie ist auch nicht schlecht«, fuhr Vater fort. »Diese Theresa sollte vielleicht einen Fantasy-Roman daraus machen. Wahrscheinlich würde es ein Bestseller.« Er lachte.

»Das ist nicht komisch«, sagte Mutter.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Leonie. Vaters Lächeln verschwand, aber vermutlich sah nicht nur Leonie ihm an, dass er es nur mühsam unterdrückte.

»Es ist ganz und gar nicht komisch«, räumte er ein. »Aber es sollte selbst dir klar machen, wie gefährlich diese Leute sind.«

»Für mich klingt es eher verrückt«, sagte Leonie.

»Das ist es auch«, bestätigte ihr Vater und plötzlich wurde er wirklich ernst. »Aber das eine schließt ja das andere schließlich nicht aus, weißt du? Ich habe immer gesagt, dass diese Leute gefährlich sind, aber deine Mutter hat mir nicht geglaubt. Es war richtig, dass du uns davon erzählt hast.«

Dessen war sich Leonie noch gar nicht sicher. Sie war auf direktem Wege nach Hause gegangen, nachdem Theresa verschwunden war, aber sie hatte noch über eine Stunde gezögert, ihren Eltern von ihrer Zusammenkunft mit ihr zu erzählen. »Ihr kennt diese Leute also?«, fragte sie.

»Ja«, gestand ihr Vater.

»Und das, was sie über Großmutter erzählt hat...?«

»... ist haarsträubender Blödsinn«, fiel ihr Vater ins Wort.

Leonie behielt jedoch ihre Mutter im Auge, und was sie in ihrem Gesicht las, sagte etwas völlig anderes. Sie hatte während des ganzen Gespräches kaum ein Wort gesagt, aber der Schrecken in ihren Augen war beständig größer geworden.

»Dafür, dass es Blödsinn ist, war sie ziemlich überzeugend, finde ich«, sagte Leonie.

»Das ist ja gerade das Gefährliche an diesen Leuten«, antwortete ihr Vater. »Ich weiß, wir hätten es dir erzählen sollen.«

»Das wäre keine schlechte Idee gewesen«, stimmte ihm Leonie zu. Ihre Mutter senkte den Blick.

»Wir haben gehofft, dass es nicht nötig ist«, gab ihr Vater unumwunden zu. »Deine Großmutter hatte früher mit ihnen zu tun, aber das ist lange her. Wir haben gedacht, es wäre vorbei.« Er machte ein grimmiges Gesicht. »Und ich werde dafür sorgen, dass es das auch sein wird. Ich rufe noch heute unseren Anwalt an. Diese Theresa wird dich nie wieder belästigen, das verspreche ich dir. Und auch keiner von diesen anderen Verrückten.«

»Aber wer sind diese Leute?«, fragte Leonie. Der Zorn ihres Vaters war echt, aber er betonte für ihren Geschmack einfach ein paarmal zu oft, dass Theresa und die anderen verrückt waren.

»Genau das, was ich sage«, beharrte ihr Vater stur. »Eine Bande von Verrückten. Eine Art...« Er suchte nach Worten. »Eine Art Sekte, wenn du so willst. Ich glaube, zum Teil hat diese Theresa die Wahrheit gesagt. Deine Mutter und ich haben uns nicht mit diesen Leuten abgegeben, aber natürlich haben wir das eine oder andere mitbekommen. Anscheinend gibt es diese sonderbare... Schwesternschaft wirklich. Du hast den Stammbaum in Großmutters Familienbibel ja gesehen.«

»Er reicht sehr weit zurück«, bestätigte Leonie. »Weißt du eigentlich, wie lange es die Rosenkreuzler schon gibt, oder die Freimaurer oder ein Dutzend anderer Sekten?«, fragte Vater. »Diese Theresa war sehr überzeugend, habe ich Recht? Das ist das Gefährliche an solchen Leuten, weißt du? Sie glauben an das, was sie tun. Das macht sie so überzeugend.«

»Komisch«, erwiderte Leonie. »Theresa hat etwas ganz Ähnliches über dich gesagt.«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Wut in den Augen ihres Vaters auf, aber er beherrschte sich. »Tja, dann musst du dich wohl entscheiden, wem du glaubst«, sagte er gepresst.

»So war das nicht gemeint«, sagte Leonie hastig, aber ihr Vater schnitt ihr mit einem Kopfschütteln das Wort ab.

»Ich kann dir nur sagen, was ich über diese so genannten Hüterinnen weiß«, meinte er. »Deine Großmutter hat früher einmal zu ihnen gehört, aber das war, bevor ich deine Mutter kennen gelernt habe.«

»Sie wollte nicht, dass ich auch unter ihren Einfluss gerate«, erklärte ihre Mutter. »Ich habe diese Leute ein paarmal getroffen. Sie waren nicht besonders glücklich darüber. Ein- oder zweimal habe ich einen Streit miterlebt, den es wohl deshalb gab, aber ich glaube, es war in Wirklichkeit noch viel schlimmer.« Sie hob die Schultern. »Als du dann auf die Welt gekommen bist, hat sie den Kontakt zu ihnen ganz abgebrochen. Ich dachte, es wäre vorbei.«

»Es ist vorbei«, verbesserte sie Vater. »Dafür werde ich sorgen.«

Leonie war für einen ganz kleinen Moment unschlüssig, was sie nun denken oder gar sagen sollte. Die Erklärung ihrer Eltern klang sehr einleuchtend und überaus logisch - aber vielleicht war es gerade das, was sie störte. Ihre Antworten erschienen ihr fast ein wenig zu glatt, beinahe als hätten sie dieses Gespräch erwartet und sich die Antworten auf alle nur erdenkbaren Fragen schon vorher sorgsam zurechtgelegt.

Vielleicht sagten sie aber auch einfach nur die Wahrheit.

»Leonie, du glaubst doch diesen Unsinn nicht wirklich?«, fragte ihr Vater, als ihm ihr Schweigen offensichtlich zu viel wurde. »Ein Archiv, in dem das Schicksal aufgezeichnet wird. Und heilige Frauen, die den Schlüssel zu diesem Archiv hüten. Fällt dir eigentlich selbst nicht auf, wie sich das anhört?«

»Sie haben nicht gesagt, dass sie heilig sind«, bemerkte Leonie.

»Vielleicht sollten wir ja jetzt schon froh sein, dass sie nicht behaupten, nach dem Heiligen Gral zu suchen«, schnappte ihr Vater. »Leonie, ich bin froh, dass wir mit diesen Leuten seit fünfzehn Jahren nichts mehr zu tun haben. Ich werde nicht zulassen, dass sie sich wieder in unser Leben mischen!«

»Aber sie wollen doch gar nichts von euch«, antwortete Leonie. Eine innere Stimme warnte sie davor, weiterzureden und damit möglicherweise den Bogen zu überspannen. Und ganz verstand sie selbst auch nicht, warum sie sich nicht einfach mit der Erklärung zufriedengab, die ihre Eltern ihr geliefert hatten. Es gab nichts daran auszusetzen, nicht den mindesten Grund, misstrauisch zu sein. Wäre da nicht dieses Durcheinander in ihrem Kopf gewesen. Da waren Erinnerungen an Dinge, die sie nie erlebt hatte, Gespräche, die sie niemals geführt hatte, und Situationen, die sich gegenseitig ausschlossen, weil die eine nicht sein konnte, wenn es die andere gegeben hatte. Aber alles wirkte so unglaublich echt.

»O nein, sie wollen nicht uns«, sagte Vater bitter. »Sie wollen dich. Diese Leute sind geschickt. Sie hätten sich kaum so lange halten können, wenn sie dumm wären.«

»Ja wahrscheinlich«, seufzte Leonie. Dann fragte sie: »Was ist das für ein Buch, das du in deinem Tresor aufbewahrst?«

Ihr Vater blinzelte. »Wie?«

»Das Buch. Was ist das für ein Buch?«, wiederholte Leonie. Sie sah ihrem Vater fest in die Augen, während sie diese Frage stellte, aber irgendwie gelang es ihr auch, zugleich das Gesicht ihrer Mutter zu beobachten. Zu sagen, dass sie erschrocken wirkte, wäre untertrieben gewesen.

»Ein Buch eben«, antwortete ihr Vater. Er klang zornig. »Ich bin Buchhändler, falls du es vergessen haben solltest. Besonders wertvolle Exemplare bewahre ich im Tresor auf. Was soll das?«

»Nur ein Buch?«, vergewisserte sich Leonie.

Sie konnte regelrecht sehen, wie ihr Vater innerlich explodierte, nur eine Sekunde, bevor er es auch äußerlich tun und sie anbrüllen würde. Aber der befürchtete Wutanfall blieb aus. Ihre Mutter legte ihm rasch und besänftigend die Hand auf die Schulter und meinte: »Warum zeigst du es ihr nicht einfach?«

»Weil ich nicht daran denke, dieses alberne...«

»Bitte!«, sagte Mutter. »Sie braucht einen Beweis, glaub mir.«

»Unsere Tochter braucht einen Beweis, dass ihre eigenen Eltern ihr die Wahrheit sagen?«, fragte Vater böse. »Interessant! Einer wildfremden Person scheint sie zu glauben!« Er streifte Mutters Hand mit einer groben Bewegung ab und stand auf. Noch während er es tat, griff er in die Hosentasche und zog einen großen Schlüsselbund hervor. »Kommt mit!«

Er ging schnell zur Tür hinaus, und Leonie trat rasch um den Tisch herum, um ihm zu folgen, doch ihre Mutter hielt sie mit einer fast verstohlenen Bewegung zurück. Nebeneinander gingen sie in Richtung Arbeitszimmer, aber langsamer als ihr Vater. »Du darfst ihm nicht böse sein, Leonie«, sagte ihre Mutter halblaut. Obwohl sie nicht flüsterte, sprach sie sicher nicht zufällig gerade leise genug, dass nur Leonie ihre Worte verstehen konnte. »Diese Leute... Theresa... Wir hatten früher eine Menge Ärger mit ihnen, weißt du? Er hat einfach Angst, dass alles wieder von vorne losgehen könnte.«

»Theresa?«, vergewisserte sich Leonie. »Ich kann mich ja täuschen - aber sie ist doch höchstens fünf oder sechs Jahre älter als ich.«

»Die Leute, die sie geschickt haben«, erklärte ihre Mutter.

Sie hatten das Arbeitszimmer erreicht. Ihr Vater ging wortlos zum Safe, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn so heftig herum, als hätte er vor ihn abzubrechen. Aber er öffnete die Tür erst, als auch Leonie und ihre Mutter hinter ihm eintraten. »Nur damit niemand behaupten kann, ich hätte das Buch im Hemdsärmel verschwinden lassen oder gegen ein anderes ausgetauscht«, sagte er böse.

Leonie fuhr unter seiner Spitze sichtbar zusammen. Sie hatte mehr wehgetan, als sie sich selbst eingestehen wollte; vielleicht sogar mehr, als ihr Vater beabsichtigt hatte. Leonie ließ sich vor dem offen stehenden Geldschrank in die Hocke sinken und sah hinein. Er enthielt nichts anderes als ein schmales Bündel Geldscheine, ein sehr großes in uraltes Leder gebundenes Buch - und eine kleine verchromte Pistole.

»Seit wann brauchen wir denn eine Waffe?«, fragte sie ganz erschrocken.

»Die letzten fünfzehn Jahre habe ich sie nicht gebraucht«, antwortete Vater spitz. »Aber sie ist legal. Ich habe einen Waffenschein dafür. Möchten Sie ihn sehen, Miss Holmes?«

Leonie wandte sich wieder dem Buch zu. Es war wirklich riesig und noch viel schwerer, als es sowieso schon aussah. Leonie brauchte beide Hände, um es aus dem Safe zu nehmen und zum Schreibtisch zu tragen, und das zierliche Designermöbelstück ächzte, als sie es auf die Glasplatte fallen ließ.

»Also, sieh nach!«, sagte ihr Vater.

Leonies Finger glitten einen Moment lang fast bewundernd über den Einband aus uraltem, steinhart gewordenem Leder. Sie konnte fühlen, wie alt dieses Buch war. Behutsam schlug sie es auf und ließ ihren Blick über die winzigen kalligraphischen Buchstaben schweifen. Sie konnte die Schrift nicht lesen. »Ist das... Italienisch?«, fragte sie.

»Die erste Kopie einer Handschrift von Leonardo da Vinci«, antwortete ihr Vater. »Sie ist unglaublich selten. Zeig mir irgendjemanden, der dieses Buch nicht im Safe aufbewahren würde.«

Leonie sah ihn verunsichert an. Sie sagte nichts, sondern blätterte das Buch mit fast ehrfürchtigen Bewegungen weiter durch. Die Worte in Italienisch, noch dazu jahrhundertealtem Italienisch, verstand sie nicht, aber die Behauptung ihres Vaters entbehrte nicht einer gewissen Glaubhaftigkeit. Ein Großteil der Blätter war mit Zeichnungen und Skizzen übersät und sie erkannte den typischen Stil Leonardo da Vincis sofort.

»Aber... aber ich habe doch gesehen...«, murmelte sie.

»Was?«, fragte ihr Vater.

»Du hast etwas darin verändert!«

Ihr Vater zog wortlos eine Schublade seines Schreibtisches auf, nahm ein winziges Fläschchen heraus und knallte es mit solcher Wucht vor ihr auf die Schreibtischplatte, dass das Glas hörbar knirschte. »Damit?«

Leonie war nicht ganz sicher. Sie nickte zögernd.

»Dann sieh sie dir genau an«, schnappte ihr Vater. »Ich restauriere Bücher. Einige Seiten sind beschädigt. Ich habe versucht, sie zu reparieren.« Er wiederholte seine auffordernde Geste. Leonie griff nicht nach der Flasche. Sie blätterte auch nicht weiter in dem Buch, sondern schob es behutsam zurück und musste dann ihre ganze Kraft zusammennehmen, um ihrem Vater ins Gesicht sehen zu können.

»Es... es tut mir Leid«, sagte sie stockend. Sie kam sich unglaublich schäbig vor.

»Das braucht es nicht, Leonie«, tröstete ihre Mutter sie. »Das ist schon in Ordnung.«

»Nein, das ist es nicht«, widersprach Leonie. Plötzlich konnte sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten, die ihr in die Augen schießen wollten. Sie schämte sich so sehr, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. »Ich habe dieser Fremden geglaubt, obwohl ich sie kaum kenne, und euch nicht.«

»Daran kannst du sehen, wie gefährlich diese Leute sind«, stellte ihr Vater fest. Er nahm das Buch, trug es zum Tresor zurück und schloss es wieder ein, bevor er sich zu ihr umdrehte und weitersprach: »Entschuldige, dass ich gerade so grob zu dir war. Deine Mutter hat vollkommen Recht. Diese Leute sind gefährlich. Sie schleichen sich in dein Hirn ein und vergiften deine Seele, und du merkst es nicht einmal.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Tu mir den Gefallen und sei die nächste Zeit ein bisschen vorsichtig, okay? Sag uns Bescheid, wenn sie wieder versuchen, sich an dich heranzumachen.«

»Sicher«, antwortete Leonie. Ihr schlechtes Gewissen hatte sich mit dem Schamgefühl zu etwas verbunden, das es ihr fast unmöglich machte, ihrem Vater weiter in die Augen zu blicken. »Es... es tut mir wirklich... Leid.«

»Und hör auf, dich ständig zu entschuldigen«, fügte ihr Vater hinzu. Dann grinste er. »Friede?«

»Friede«, antwortete Leonie. Noch immer zögernd, trat sie um den Schreibtisch herum. Ihr Vater lachte noch einmal und lauter, zerstrubbelte ihr das Haar und ließ den Tresorschlüssel mit einer schwungvollen Bewegung in der Hosentasche verschwinden.

»Und zur Feier des Tages lade ich euch heute Abend zum Essen ein«, erklärte er. »In der Stadt hat ein neues Restaurant aufgemacht, in dem es Speisen wie zur Zeit von König Artus gibt. Es soll sehr gut sein. Habt ihr Lust?«

»Na klar«, antwortete Leonie. Ihre Mutter nickte nur. Leonie hatte nichts anderes erwartet. Mutter war sehr schweigsam geworden in letzter Zeit. Sie sprach selten, und wenn, dann nur das Allernötigste, und meistens, ohne ihr Gegenüber dabei direkt anzusehen. Leonie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter das letzte Mal wirklich von Herzen gelacht hatte. Am Anfang hatte sie geglaubt, es wäre Großmutters Tod, der sie so mitnahm, und gewiss war das auch einer der Gründe für ihren Zustand. Aber es ging ihr immer noch nicht besser und irgendwann musste doch auch der schlimmste Schmerz wieder vergehen.

Ein Poltern draußen auf dem Flur drang in ihre Gedanken. Leonie sah hoch und erblickte gerade noch einen hellen Schemen, der an der offen stehenden Tür vorbeihuschte. Überrascht drehte sie sich zu ihrem Vater um und wollte eine entsprechende Frage stellen, aber er lächelte nur, war mit drei schnellen Schritten draußen auf dem Flur und kam nach wenigen Augenblicken zurück. Er war nicht mehr allein.

Er trug eine Katze auf den Armen. Leonie riss ungläubig die Augen auf.

»Darf ich vorstellen?«, fragte ihr Vater, wobei er grinste wie ein Schuljunge, dem ein ganz besonders raffinierter Streich gelungen war. »Mausetod.«

Leonie riss die Augen noch weiter auf und starrte eine Sekunde lang ihren Vater und dann wieder die riesige hellgraue Katze an, die es sich auf seinen Armen so bequem gemacht hatte, als wäre das seit Jahren ihr angestammter Platz. Sie war gewaltig. Ein wahres Monster, das durch das wuschelige lange Fell noch größer aussah. Allein an der Art, wie ihr Vater sie hielt, konnte Leonie erkennen, wie schwer sie sein musste; wahrscheinlich wog sie weit mehr als zehn Kilo. Leonie war nicht unbedingt die größte Katzennärrin, aber selbst sie musste zugeben, dass diese Katze ein wahres Prachtexemplar war - ihr Fell hatte einen seidigen Glanz, wie sie ihn noch nie zuvor bei einer Katze gesehen hatte, und sie besaß auch nicht das typische platte Persergesicht, das Leonies Meinung nach immer so aussah, als wäre sein Besitzer damit in frühester Jugend ungefähr hundertmal gegen eine Wand gelaufen oder hätte eins mit einer Schaufel übergebraten bekommen, sondern ein elegantes, stolzes Katzengesicht. Ja, sie war eine Schönheit - oder hätte es sein können, wären die Augen nicht gewesen. Sie waren perfekt: von einem leuchtenden Orange und sehr groß. Und durch und durch gemein. Leonie hatte noch nie so viel Bosheit und Heimtücke in den Augen eines lebenden Wesens gesehen, wie in denen dieser hellgrauen Perserkatze. Allein der Anblick jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

»Wo... wo kommt die denn her?«, stieß sie schließlich hervor, nachdem sie die Katze fast eine Minute lang angestarrt hatte.

»Du wirst es nicht glauben«, antwortete ihr Vater. »Aus dem Tierheim.« Er schüttelte den Kopf und begann die Katze mit der linken Hand zwischen den Ohren zu kraulen. Das Tier begann sofort zu schnurren, aber in Leonies Ohren hörte es sich eher an wie das Knurren eines schlecht gelaunten Hundes. »Kannst du dir vorstellen, welcher Mensch ein so wunderschönes Tier ins Tierheim bringt?«

Das konnte Leonie. Sie, zum Beispiel. »Tierheim?«, murmelte sie.

»Ja«, antwortete ihr Vater, noch immer in diesem begeisterten Ton, den Leonie mit jeder Sekunde weniger verstand, die sie in die Augen der Katze blickte. »Ich war ganz zufällig dort. Ich musste nur ein Buch abgeben, das einer der Angestellten bestellt hatte, weißt du? Und da habe ich diese Katze entdeckt. Sie saß ganz allein in einem Käfig, der viel zu klein für sie war. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich musste sie einfach mitnehmen.«

Leonie tauschte einen raschen Blick mit ihrer Mutter. Sie hatte Vaters neue Freundin offensichtlich schon gesehen, wie Leonie an ihrem Gesicht ablesen konnte, aber sie sah nicht so aus, als ob sie seine Begeisterung teilte.

»Und sie heißt... Mausetot?«, fragte Leonie stockend.

»Mausetod«, verbesserte ihr Vater sie lachend. »Mit ›d‹ am Schluss. Ich finde, das ist ein passender Name für eine Katze, zumal wir in der letzten Zeit ja ein gewisses... Nagetierproblem hatten.« Er hielt Leonie die Katze hin. »Willst du sie mal nehmen?«

Das wollte Leonie ganz und gar nicht, aber sie ging trotzdem langsam um den Schreibtisch herum und streckte die Arme aus. Mausetod musterte ihre ausgestreckten Hände, sah einen Moment lang mit auf die Seite gelegtem Kopf zu ihr hoch - und schlug dann so blitzschnell zu, dass Leonie die Bewegung kaum sah.

Dafür spürte sie den brennenden Schmerz umso heftiger.

Leonie sprang mit einem Schrei zurück und starrte ungläubig auf ihre linke Hand. Mausetods Krallen hatten vier dünne, gebogene Risse auf ihrem Handrücken hinterlassen, die zwar nur haarfein waren, aber wie die Hölle brannten und sofort zu bluten begannen.

»Mistvieh!«, sagte sie herzhaft.

Ihr Vater schoss einen wütenden Blick in ihre Richtung ab, aber dann machte er einen raschen Schritt rückwärts und legte der Katze beschützend die Hand auf den Kopf. Mausetod begann zufrieden zu schnurren. »Das verstehe ich nicht«, erklärte er betroffen. »So etwas hat sie noch nie gemacht!«

»In den zwei Stunden, die du sie kennst, meinst du?«, fragte Leonie feindselig. Sie presste die rechte Hand auf die blutenden Kratzer. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, so schlimm war er.

»Sie ist normalerweise lammfromm«, beteuerte ihr Vater. »Die Leute vom Tierheim haben mir versichert, dass sie absolut zahm ist! Sie ist mit Kindern aufgewachsen...«

»Lass mich deine Hand sehen«, verlangte Mutter. Sie griff nach Leonies Hand, aber Leonie zog den Arm mit einem Ruck zurück, drehte sich um und stürmte an ihrem Vater vorbei in den Flur.

»Wo willst du hin?«, rief ihr Vater ihr nach.

»Ins Tierheim«, entgegnete Leonie. »Fragen, ob sie noch einen herrenlosen Rottweiler haben, oder eine Dogge!«

Selbstverständlich rannte sie nicht aus dem Haus, sondern stürmte die Treppe hinauf und ins Bad. Das kalte Wasser, das sie über ihre Hand laufen ließ, um das Blut abzuwaschen, verstärkte den Schmerz im ersten Moment noch, aber schon nach ein paar Sekunden hörten die Kratzer auf zu bluten und kurz darauf klang auch der Schmerz ab und wurde zu einem eigentlich nur noch unangenehmen Brennen.

Leonie ließ die Hand trotzdem so lange unter dem eisigen Wasserstrahl, bis sie nahezu taub war. Danach trat sie an den Spiegelschrank, kramte den Verbandskasten hervor und versuchte, ein Pflaster auf ihren Handrücken zu kleben. Sie hatte das sonderbare Gefühl, dasselbe - oder etwas Ähnliches - vor nicht allzu langer Zeit schon einmal getan zu haben, aber das konnte eigentlich nicht sein. Abgesehen von Mausetods Begrüßungsschrammen war ihre Hand unversehrt.

Das Pflaster hielt nicht richtig, weil ihre Hand noch nass war, außerdem würde das verdammte Ding wahrscheinlich sowieso bei der ersten unvorsichtigen Bewegung wieder abgehen. Leonie warf es ärgerlich in den Mülleimer, wickelte sich kurzerhand drei Lagen Toilettenpapier um die Hand und ging in ihr Zimmer zurück. Als sie den Flur überquerte, hörte sie die Stimmen ihrer Eltern unten im Erdgeschoss. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber es handelte sich eindeutig - wieder einmal - um einen Streit.

Sie knallte die Tür hinter sich zu, warf sich aufs Bett und versuchte fünf Minuten lang, ein Loch in die Decke über ihrem Kopf zu starren. Als es ihr nicht gelingen wollte, stand sie wieder auf und begann wie der berühmte gefangene Tiger im Käfig, in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen. Es waren nicht nur die Wut auf diese verdammte Katze und der Ärger über ihren Vater, die es ihr einfach unmöglich machten, still sitzen zu bleiben. Eine sonderbare innere Unruhe hatte sie ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte, die aber mit jedem Moment stärker wurde. Irgendetwas war passiert. Sie wusste nicht was, sie wusste nicht einmal, woher sie diese Überzeugung nahm, aber es war ganz genau das: eine Überzeugung. Etwas Großes ging vor - und es war nichts Gutes.

Leonie registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, blieb stehen und sah gerade noch einen winzigen Schwanz über den Rand des Schuhkartons verschwinden, der noch auf ihrem Schreibtisch stand. Überrascht trat sie näher und beugte sich über die kleine, bunt beklebte Pappschachtel.

Sie hatte sich ziemlich verändert, seit sie sie das letzte Mal näher betrachtet hatte: Der obere Rand war mit einem Kranz feiner Zacken versehen worden, die entfernt an die gemauerten Zinnen einer Burg erinnerten, und an einer Ecke ragte trotzig ein Türmchen in die Höhe, das gerade stabil genug aussah, um das Gewicht einer einzelnen Maus zu tragen. Die Maus selbst trug einen schwarzen Umhang, und über ihrer Brust kreuzten sich zwei Gurte, in denen zwei stecknadelgroße Stichwaffen steckten. In der rechten Pfote hielt sie etwas, das wie eine Armbrust aussah, in der anderen ein breites Messer mit einer gezahnten Klinge.

Na wunderbar, dachte Leonie. Jetzt war sie völlig verrückt! Sie blinzelte, und die Maus war wieder eine ganz normale Maus und der Schuhkarton ein Schuhkarton, mehr nicht. Ihre Nerven schleiften anscheinend wirklich schon auf dem Fußboden. Ganz tief in ihr flüsterte eine Stimme, dass es auch diesen Karton gar nicht geben durfte, aber sie weigerte sich, ihr zuzuhören. Vielleicht hatte die Stimme ja sogar Recht, aber wenn ihre Fantasie sich schon vorgenommen hatte, sie in den Irrsinn zu treiben, dann musste sie ihr ja nicht unbedingt auch noch dabei helfen.

Die Maus setzte sich auf die Hinterläufe und blickte auffordernd zu ihr hoch. Leonie streckte die Hand aus. »Komm schon, Conan«, sagte sie.

Die Maus schien sie einen Herzschlag lang vorwurfsvoll anzublicken, aber Leonie grinste nur noch breiter. Sie fand den Namen plötzlich irgendwie passend.

Conan wartete einen Moment lang ab, ob Leonie es sich nicht anders überlegen würde. Dann zuckte die Maus mit den Achseln (sie tat es tatsächlich, dachte Leonie verdattert), hüpfte auf ihre Hand und trippelte von dort aus auf ihre Schulter hinauf. Ihre Barthaare kitzelten Leonies Wange, als er es sich dort gemütlich machte.

Es klopfte. Leonie ging zur Tür und öffnete sie. Ihr Vater stand draußen und setzte offensichtlich dazu an, etwas zu sagen, aber dann klappte er den Mund nur auf und starrte sie an. Jedenfalls dachte sie das im allerersten Moment, bevor ihr klar wurde, dass er gar nicht sie, sondern etwas auf ihrer rechten Schulter ansah.

»Was... ist das?«, keuchte er schließlich.

Leonie drehte den Kopf nach rechts. Die Maus saß völlig ruhig da und streckte ihrem Vater natürlich nicht wirklich die Zunge heraus, aber irgendwie hatte Leonie den Eindruck, dass sie es gern getan hätte.

»Das«, antwortete sie lächelnd, »ist Conan.«

»Conan«, wiederholte Vater.

»Conan«, bestätigte Leonie. »Ich finde, für eine Maus ist das genau der richtige Name.«

»So«, murmelte ihr Vater. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Du hast wirklich keine Zeit verloren. Eigentlich bin ich hier heraufgekommen, um mich zu entschuldigen, aber das hat sich ja wohl erledigt.«

Ein zustimmendes Knurren erscholl. Leonie sah nach unten und erblickte ein wuscheliges graues Fellbündel, das zwischen Vaters Füßen saß. Mausetods Augen leuchteten wie zwei kleine orangefarbene Sterne, als sie das Maul aufriss und fauchte.

Leonie sah wieder nach rechts. Jetzt war sie sicher, dass ihre Fantasie ihr einen Streich spielte. Conan streckte der fauchenden Katze die Zunge heraus.

Ihr Vater ächzte. Es musste wohl eine ganz besondere Art von Halluzination sein, denn er hatte sie offensichtlich auch.

»Ist... alles in Ordnung?«, fragte Leonie freundlich.

»Ich... ähm... ja«, stotterte ihr Vater. Er riss seinen Blick mühsam von Leonies Schulter los und trat einen Schritt zurück »Ich wollte dich nur an heute Abend erinnern. Das Essen. Nimm dir nichts vor. Wir fahren um sieben, aber es kann eine Weile dauern.«

Leonie nickte, schloss die Tür und verdrehte noch einmal den Hals, um die Maus auf ihrer Schulter anzublicken. Ob sie nun glaubte, was sie sah, oder nicht, ein Zweifel war nicht möglich: Conan grinste breit.

Um sich wenigstens noch einen Rest geistiger Gesundheit zu bewahren, wandte sie den Blick von ihm ab, ging zum Schreibtisch zurück und setzte die Maus behutsam in den Schuhkarton. Sie blieb einen kurzen Moment lang gehorsam sitzen - und sprang dann mit einer behänden Bewegung wieder heraus. Leonie versuchte nach ihr zu greifen, aber Conan entwischte ihr einfach durch die Finger, hüpfte vom Tisch und verwandelte sich in einen huschenden Schatten, der in schon gewohnter Manier unter der Tür verschwand. Leonie folgte Conan auf die etwas umständlichere Art, die jenen von der Natur benachteiligten Wesen eigen ist, die darauf angewiesen sind, Türen zu öffnen, statt einfach durch sie hindurchzulaufen, und entdeckte die Maus ein gutes Stück entfernt schon fast an der Treppe. Sie hatte angehalten und sah zu Leonie zurück, aber nur gerade lange genug, um sich davon zu überzeugen, dass sie ihr auch wirklich folgte.

Leonie schritt rascher aus. Sie begann sich allmählich daran zu gewöhnen, dass ihr neuer Freund sie zu geheimen Orten führte und dafür sorgte, dass sie Dinge hörte, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren (sie hütete sich darüber nachzudenken, wieso diese Maus zu so etwas fähig war oder wer sie geschickt haben konnte), aber die Situation hatte sich geändert. Es gab einen neuen Mitbewohner im Haus, dem Conan besser nicht über den Weg lief.

Im Augenblick war von der Perserkatze allerdings nichts zu sehen. Die Maus erreichte unbehelligt die unterste Treppenstufe, wartete, bis Leonie fast zu ihr aufgeschlossen hatte, und trippelte dann weiter. Mit einem Satz sprang sie auf das Garderobenschränkchen neben der Haustür. Leonie trat rasch zu ihr, sah sich noch einmal nervös nach der Katze um und blickte dann die Maus fragend an.

»Und?«

Auf dem Garderobenschränkchen befand sich absolut nichts Außergewöhnliches - ein kleines Päckchen, eine Vase mit künstlichen Blumen und eine flache Kristallschale, in die ihr Vater manchmal die Autoschlüssel legte. Im Moment befand sich darin nur eine einzelne Visitenkarte mit verschnörkelter Goldschrift.

Sie gehörte Bruder Gutfried. Leonie drehte sie einige Sekunden lang unschlüssig in den Händen. Sie hatte ganz vergessen, dass der Geistliche seine Karte dagelassen hatte (um ehrlich zu sein, hatte sie bis zu diesem Moment sogar vergessen gehabt, dass er überhaupt hier gewesen war), und sie verstand auch nicht wirklich, warum Conan sie hierher geführt hatte. Warum sollte sie mit Bruder Gutfried reden? Wenn überhaupt, dann gehörte der Pastor doch wohl eher zu den Leuten, vor denen ihre Eltern sie so eindringlich gewarnt hatten.

Sie hörte ein Geräusch, legte die Karte mit einer hastigen Bewegung zurück und drehte sich um. Ihr Vater stand hinter ihr. Sie hatte nicht einmal gehört, dass er näher gekommen war (hatte er sich angeschlichen?), und er sah nicht besonders erfreut aus. In der rechten Hand hielt er den schweren schwarz-goldenen Füller, den Leonie schon ein paarmal gesehen hatte, und sein Blick verfinsterte sich immer weiter, während er abwechselnd Leonie und den Garderobenschrank ansah. Leonie streckte rasch die Hand aus, um Conan verschwinden zu lassen. Nach der unangenehmen Szene von gerade eben hatte es keinen Zweck, ihren Vater noch weiter zu provozieren.

Aber Conan war nicht mehr da. Ihr Vater hatte auch nicht die Maus angeblickt, sondern die Kristallschale mit Bruder Gutfrieds Visitenkarte. Er starrte sie gute zehn Sekunden lang durchdringend an, dann drehte er sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, auf dem Absatz um und ging in sein Arbeitszimmer zurück. Ein hellgraues Fellbündel wuselte zwischen seinen Beinen hindurch auf den Flur heraus, bevor er die Tür schloss.

Leonie sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal vier - noch jede Menge Zeit, bis sie zum Essen fuhren, und der Friedhof, neben dem Bruder Gutfrieds Kapelle lag, war selbst zu Fuß nur zehn Minuten entfernt. So verärgert, wie ihr Vater im Moment war, würde er sich wahrscheinlich ohnehin für den Rest des Tages in seinem Arbeitszimmer einschließen und überhaupt nicht merken, dass sie weg war. Und selbst wenn - Leonie glaubte nicht, dass sie im Moment noch irgendetwas tun konnte, um seine Laune nennenswert zu verschlechtern.

Außer einer Kleinigkeit vielleicht.

Leonies Hand ruhte schon auf der Klinke der Haustür, aber jetzt machte sie noch einmal kehrt, ging zu Mausetod zurück und nahm die Katze kurzerhand hoch. Sie rechnete insgeheim damit, gleich Bekanntschaft mit einem knappen Dutzend rasiermesserscharfer Krallen zu machen, aber die Katze versuchte nicht einmal sich zu wehren, sondern sah sie nur verdattert an. Offensichtlich begriff sie gar nicht, was Leonie gerade getan hatte, und noch viel weniger, was sie vorhatte. Und als sie es verstand, war es zu spät.

Leonie verließ das Haus, zog die Tür hinter sich ins Schloss und überzeugte sich mit einem kurzen Rütteln an der Klinke, dass sie auch wirklich zu war. Dann ließ sie Mausetod einfach fallen.

Die Katze kreischte überrascht auf. Sie landete zwar sicher auf allen vieren, sah Leonie aber so wütend und zugleich erschrocken an, als hätte sie sie ohne Fallschirm und in tausend Metern Höhe aus einem Flugzeug geworfen. Schließlich reckte sie beleidigt den Kopf in die Höhe, drehte sich um und begann an der Tür zu kratzen. Leonie grinste schadenfroh, bevor sie sich endgültig abwandte und ging.

Wie sich zeigte, hatte sie sich gründlich verschätzt. Der Friedhof lag nicht zehn Minuten entfernt, sondern mehr als zwanzig, obwohl Leonie nicht trödelte, sondern im Gegenteil von Anfang an ein scharfes Tempo vorgelegt hatte. Sie hatte leichtes Seitenstechen, als sie endlich in die Straße, die zum Friedhof führte, einbog und die kleine Kirche vor sich sah.

Ihre Schritte wurden langsamer, und das nicht nur, weil sie so außer Atem war, als wäre sie einen Großteil des Weges gerannt. Wie auch ihre Eltern hatte Leonie zeit ihres Lebens nicht viel mit der Kirche im Sinn gehabt und abgesehen von einem Besuch im Vatikan und der Besichtigung des Stephansdoms in Wien hatte sie noch nie eine Kirche von innen gesehen und wenige von außen.

Dennoch kam ihr diese Kirche... merkwürdig vor. Es war eine ganz normale Kirche (soweit sie das beurteilen konnte, hieß das), zugleich aber auch wieder nicht, denn nichts schien wirklich zusammenzupassen. Sie war nicht sehr groß - Leonie schätzte, dass sie kaum mehr als dreißig oder vierzig Menschen Platz bot - und sie sah aus wie eine gotische Kathedrale. Aber rings um das Dach und auf den viel zu wuchtig ausgefallenen Pilastern, die die seitlichen Fassaden stützten, waren kleine Teufelsfratzen und Dämonen aus Stein angebracht, und das steinerne Kreuz über der zweiflügeligen, spitz zulaufenden Tür schien auf dem Kopf zu stehen.

Auch die Fenster der Kirche waren sonderbar. Eingerahmt von gotischen Spitzbögen, bestanden sie aus kunstvoll arrangiertem Bleiglas - aber sie zeigten keine religiösen Motive, sondern fast abstrakte Muster, die Leonie das Gefühl gaben, dass ihr schwindelig werden würde, wenn sie den Fehler beginge, zu lange hinzusehen. Der Turm war unverhältnismäßig dick, ragte dafür aber nur geringfügig über das Dach hinaus.

Leonie war stehen geblieben, ohne es zu merken, aber nun riss sie ihren Blick von diesem seltsamen Bauwerk los und ging weiter. Sie war schließlich nicht hier, um architektonische Studien durchzuführen, sondern...

Ja, sondern... Um ehrlich zu sein: Leonie wusste nicht, warum sie hier war, und sie hatte es bisher auch ganz bewusst vermieden, zu intensiv über diese Frage nachzudenken. Der einzige Grund, aus dem sie gekommen war, war Bruder Gutfrieds Visitenkarte, zu der Conan sie geführt hatte.

Sie ging die aus nur drei Stufen bestehende Treppe hinauf und öffnete die Tür. Trotz der großen Fenster war es überraschend finster im Inneren der kleinen Kapelle und so kühl, dass Leonie fast sofort eine Gänsehaut bekam. Sie musste den Schatten einer der Steinfiguren durchqueren, die die Tür flankierten und die Größe von Kindern hatten, und für den Sekundenbruchteil, den sie dazu benötigte, schien es noch kälter zu werden. Sie sah zu der Figur zurück, und wie so oft in letzter Zeit hatte sie das beunruhigende Gefühl, etwas wiederzuerkennen, das sie ganz bestimmt noch nie zuvor gesehen hatte.

Dabei war an der Figur ganz und gar nichts Unheimliches. Anders als die allermeisten anderen Figuren in der Kirche war es keine Teufelsgestalt und kein geflügelter Dämon, sondern eine kaum anderthalb Meter hohe Gestalt, die eine Art Mönchskutte mit einer weit nach vorne gezogenen Kapuze trug. Leonie konnte weder ein Gesicht noch Hände oder irgendeinen anderen Teil des Körpers erkennen, aber die bloße Frage, was sich wohl unter der schwarzen Kapuze verbergen mochte, ließ sie noch stärker frösteln.

»Du fängst also allmählich an dich zu erinnern.«

Leonie erschrak so heftig, dass sie nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte, als die Stimme hinter ihr erklang. Hastig drehte sie sich um und erschrak noch einmal und noch heftiger, obwohl sie ganz genau wusste, wer da vor ihr stand. In der Dunkelheit der Kapelle war Bruder Gutfried jedoch selbst kaum mehr als ein Schatten, dessen Umrisse mit den formlosen Schemen zu verschwimmen schienen, die den Raum hinter ihm füllten; fast als wäre er gar nicht wirklich, sondern nur ein Abbild, das in dem Moment entstand, in dem sie es ansah, und bestimmt wieder verschwunden sein würde, sobald sie in eine andere Richtung blickte.

»Wie... wie meinen Sie das?«, fragte Leonie stockend. Sie konnte hören, wie sehr ihre Stimme zitterte. Ihr Herz pochte. Irgendetwas hier machte ihr Angst, aber sie wusste nicht genau was: Bruder Gutfried, diese sonderbare Kapelle, die unheimliche Figur oder vielleicht alles zusammen.

Gutfried blieb ihr die Antwort auf ihre Frage schuldig. Er trat zurück und winkte sie heran. Leonie folgte der Aufforderung, aber es kostete sie große Überwindung, und es schien noch kälter zu werden. Und dann geschah etwas wirklich Unheimliches: Die Kirche war leer, doch das gedämpfte, zu matten Farben gefilterte Licht und die tanzenden Schatten vermittelten ihr für die Dauer eines angsterfüllten Herzschlages den genau entgegengesetzten Eindruck: Die Bankreihen schienen mit schattenhaften Gestalten gefüllt zu sein, die in das stumme Gegenteil eines Gebetes versunken waren. Dann blinzelte sie und die Schatten waren verschwunden, und als sie weiterging, kam es ihr auch nicht mehr so kalt vor wie bisher.

Bruder Gutfried trat an den kleinen steinernen Altar heran, der aus einem einzigen Block gemeißelt zu sein schien, und lehnte sich mit lässig verschränkten Armen gegen seine Kante. Leonie fand die Haltung für einen Geistlichen irgendwie unpassend.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, begann er. »Ehrlich gesagt: Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.«

»Eigentlich weiß ich selbst nicht so ganz genau, warum ich gekommen bin«, gestand Leonie. Sie legte den Kopf schräg. »Was haben Sie damit gemeint, dass ich anfange mich zu erinnern?«

»Genau das, was ich gesagt habe«, antwortete Gutfried. »Du beginnst dich zu erinnern.«

»Woran?«

»Daran, wie es war«, antwortete Gutfried. »Wie es sein sollte.«

»Wie es... sein sollte?«, wiederholte Leonie verständnislos. »Wie meinen Sie das?«

»Ich glaube, du weißt recht gut, was ich meine«, sagte Gutfried. »Du hast doch mit Theresa gesprochen, oder?«

»Ja«, antwortete Leonie. »Nein. Ich meine...« Sie brach verwirrt ab und rettete sich in eine Mischung aus einem Kopfschütteln und einem Achselzucken. »Manchmal habe ich das Gefühl, mich an Dinge zu erinnern, die gar nicht passiert sind, oder etwas Wichtiges vergessen zu haben. Aber dann weiß ich wieder nicht, was oder wen.«

»Das ist normal«, erklärte Gutfried. »Dein Gedächtnis spielt dir keinen Streich. Und du bist auch nicht verrückt, keine Angst. Deine Erinnerung hat nur Schwierigkeiten, mit den unterschiedlichen Wirklichkeiten zurechtzukommen.«

Unterschiedliche Wirklichkeiten. Was war denn das nun wieder für ein Blödsinn?, dachte Leonie.

Bruder Gutfried breitete die Arme aus. »Hast du nicht manchmal das Gefühl, dass das alles hier nicht... richtig ist? Dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte?«

Leonie starrte ihn nur an. Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen.

»Theresa hat die Wahrheit gesagt«, fuhr Gutfried nach sekundenlangem Schweigen fort. Nach einer weiteren, noch längeren Pause und in verändertem Ton fügte er hinzu: »Bevor dein Vater sie aus dem Buch getilgt hat.«

»Was soll das heißen?«, fragte Leonie.

»Du weißt es.« Gutfried seufzte. »Es gibt keine Theresa mehr. Es hat sie nie gegeben.«

»Das ist nicht wahr!«, protestierte Leonie. »Ich kann mich an sie erinnern.«

»Weil du die Gabe hast«, erklärte Gutfried. »So wie deine Großmutter sie hatte, und vorher fast alle Frauen aus eurer Familie. Für alle anderen ist die Wirklichkeit die Wirklichkeit, aber ihr, die ihr die Gabe habt, ihr spürt die Veränderungen. Vielleicht ist das der einzige Grund, aus dem euch dieses Geschenk gemacht worden ist. Ihr seid die Hüterinnen der Wirklichkeit.«

»Dann... dann ist alles wahr, was Theresa erzählt hat?«, murmelte sie. »Es gibt diesen Ort? Und auch die Scriptoren und alles andere?«

Bruder Gutfried nickte schweigend.

»Wenn das wahr ist«, flüsterte Leonie erschüttert, »dann habe ich wohl ziemlich versagt.«

»Es war nicht deine Schuld«, sagte Bruder Gutfried sanft. »Du wusstest es nicht. Niemand hat es dir gesagt. Und als du es erfahren hast, da war es längst zu spät.« Er schüttelte den Kopf. »Niemand wird dir einen Vorwurf machen, und auch deinen Eltern nicht.«

»Es war Großmutter, habe ich Recht?«, fragte Leonie. Es war nicht einmal wirklich eine Frage. Sie erinnerte sich an jene Nacht, in der alles angefangen hatte. Ihre Großmutter hatte am Ende eines langen Lebens begriffen, dass sie ihr einziges Kind um das betrogen hatte, was allen anderen Menschen ganz selbstverständlich zusteht: ein normales, glückliches Leben. Und sie hatte das Einzige getan, was sie tun konnte, um mit dieser Schuld fertig zu werden - sie hatte den Fehler korrigiert.

»Auch deiner Großmutter macht niemand einen Vorwurf«, sagte Bruder Gutfried. »Die schlimmsten Fehler sind fast immer die, die in bester Absicht begangen werden. Es muss aufhören, Leonie.«

»Aber wie?«, fragte Leonie.

»Die Ordnung der Dinge muss wiederhergestellt werden«, antwortete Bruder Gutfried. »Du musst dafür sorgen, dass deine Eltern dir das Erbe übertragen. Du musst das Buch an seinen Platz zurückbringen, denn wenn das nicht geschieht, dann ist alles, was bis jetzt passiert ist, nur der Anfang.«

»Und wenn meine Eltern...« Leonie setzte neu an: »Wenn mein Vater nicht einverstanden ist?«

»Dann wird ein anderer Weg gefunden werden müssen, um die Ordnung wiederherzustellen«, sagte Gutfried.

Das klang eindeutig nach einer Drohung, fand Leonie und sie sagte es auch.

»Aber nein«, verteidigte sich Gutfried. »Niemand will dir drohen. Und wir würden niemals Gewalt anwenden, Leonie, ganz gleich, was auf dem Spiel steht. Aber das Schicksal wird einen Weg finden. Vielleicht einen schrecklichen Weg, und vielleicht wird noch viel größeres Leid verursacht, als schon geschehen ist.« Er hob die Hand, als Leonie widersprechen wollte. »Geh und sprich mit deinen Eltern, Leonie. Sie sind keine schlechten Menschen, das weiß ich. Sie werden einsehen, dass du Recht hast.«

»Und wenn nicht?«, fragte Leonie.

Diesmal antwortete Bruder Gutfried nicht mehr, und nach einer Weile und ohne noch eine weitere Frage gestellt zu haben, wandte sich Leonie um, verließ die Kapelle und machte sich auf den Heimweg.

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