Es war anders, als Leonie es sich vorgestellt hatte. Konkret hatte sie sich gar nichts vorgestellt, sondern einfach Angst gehabt, aber hätte sie sich etwas vorgestellt, wäre es zweifellos etwas Unheimlicheres gewesen. Geisterhaft wabernder Nebel, flüsternde Stimmen, unheimliche Gestalten mit Fledermausschwingen und scharfen Krallen - aber vor ihr lag nichts Ungewöhnlicheres als ein knapp zwei Meter hoher gemauerter Gang mit gewölbter Decke, der sich in beiden Richtungen schon nach wenigen Schritten in grauer Dämmerung verlor. Keine Ungeheuer, keine schrecklichen Gefahren. Leonie war allein.
Vollkommen allein.
Wie allein, das wurde ihr erst zur Gänze bewusst, als sie die Hand hob und nach ihrem pelzigen Begleiter tastete. Die Maus war nicht mehr da. Sie war auch nicht von ihrer Schulter gesprungen, wie Leonie mit einem raschen Blick in die Runde feststellte, und es war auch äußerst unwahrscheinlich, dass sie es geschafft haben könnte, unbemerkt wegzuhuschen. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich endgültig um und starrte die Wand hinter sich an. Es war eine massive, uralte Mauer aus dunklen Ziegelsteinen, in deren Fugen sich grünlicher Schimmelpilz und Moder festgesetzt hatten. Keine Tür. Leonie war gefangen.
Obwohl sie wusste, was sie herausfinden würde, streckte sie die Arme aus und tastete mit den Handflächen über die Wand. Es blieb dabei: Die Mauer fühlte sich an wie eine Mauer und sie war auch genauso massiv wie eine Mauer. So viel zur Theorie ihres Vaters, dass es sich um einen Spiegeltrick oder irgendeine andere raffinierte Illusion handeln musste. Sie war definitiv gefangen.
Leonie unterdrückte mit Mühe die Angst, die Macht über ihre Gedanken erlangen wollte. Irgendwie war sie hier hereingekommen und irgendwie würde sie auch wieder hinauskommen, basta. Aber das hatte noch Zeit. Sie hatte sich nicht auf dieses Abenteuer eingelassen, um gleich wieder zu gehen.
Nachdenklich sah sie sich um. Der Gang war offensichtlich alt. Trotzdem gab es keinen Staub auf dem Boden und damit auch keine Spuren, die verraten hätten, in welche Richtung ihre Eltern gegangen waren. Sie machte einen Schritt nach rechts, blieb wieder stehen und lauschte verwirrt in sich hinein. Diese Richtung war falsch. Leonie wusste nicht, woher sie diese Überzeugung nahm, aber sie war zu stark, um sie zu ignorieren.
Also machte sie kehrt, blieb abermals stehen und kramte in ihren Taschen, um irgendetwas darin zu finden, womit sie die Stelle markieren konnte, an der sie hereingekommen war. Alles, was sie fand, war die verchromte Piercing-Nadel, und aus irgendeinem Grund sträubte sich alles in ihr gegen die bloße Vorstellung, sich davon zu trennen. Achselzuckend steckte sie sie wieder ein und machte sich auf den Weg, ohne ein Zeichen zurückgelassen zu haben. Ohne ihren vierbeinigen Begleiter nutzte es ihr sowieso nichts, zu wissen, wo die verborgene Tür war. Sie versuchte trotzdem ihre Schritte zu zählen, um wenigstens eine ungefähre Orientierungshilfe zu haben, gab aber schon nach wenigen Augenblicken wieder auf und konzentrierte sich: lieber darauf, ihre Umgebung möglichst aufmerksam zu betrachten.
Auf den ersten fünfzig oder auch hundert Schritten gab es absolut nichts Außergewöhnliches zu sehen - es sei denn, man hatte ein besonderes Interesse an altem Mauerwerk und Schimmelpilzen. Der Gang zog sich schnurgerade dahin; es gab keine Türen, keine Fenster oder irgendeine andere Unterbrechung der gemauerten Monotonie. Sie hörte auch nichts außer ihren eigenen Atemzügen und dem dumpfen Echo ihrer Schritte. Aber sie hatte nach wie vor das todsichere Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Was ihr immer sonderbarer vorkam, war die Beleuchtung. Es gab keine Lampen, Fackeln oder irgendeine andere Lichtquelle. Die Helligkeit kam buchstäblich aus dem Nichts und sie schien sie zu begleiten, denn sie erstreckte sich stets nur auf den kleinen überschaubaren Bereich unmittelbar vor und hinter ihr.
Nach einer kleinen Ewigkeit änderte sich das Bild. Der Tunnel erstreckte sich weiter schnurgerade vor ihr, doch nun nahm das Licht um sie herum plötzlich eine graugrüne Färbung an. Leonie ging schneller und erreichte nach wenigen Schritten einen Durchgang, wo Wände und Decke von einem gewaltigen steinernen Wulst gestützt wurden. Der Stollen endete an einem kreisrunden Schacht, der sicherlich zwanzig Meter maß, wenn nicht mehr. Ein feuchtwarmer, unangenehm riechender Luftzug blies Leonie ins Gesicht, als sie mit der linken Hand an der Wand Halt suchte und sich behutsam vorbeugte, um in die Tiefe zu blicken.
Beinahe sofort wurde ihr schwindelig. Sie konnte nicht sehen, wie tief der Schacht war, denn alles, was mehr als dreißig oder vierzig Meter unter ihr lag, verlor sich in dem unheimlichen graugrünen Licht, das dort fast die Konsistenz von leuchtendem Nebel annahm, aber sie spürte einfach, dass er unendlich tief war. Eine schmale, gewendelte Treppe, die vor ihren Füßen begann, zog sich wie die abgeworfene Haut einer steinernen Schlange an der Wand des Schachtes hinab. Ungefähr dort, wo sie im nebligen Licht zu verschwimmen begann, glaubte Leonie einen Schatten zu sehen, vielleicht ein Tier, vielleicht aber auch etwas ganz anderes.
Nun ja, sie würde bald wissen, was es war.
Allein der bloße Gedanke, in diesen Schacht hinabzusteigen, jagte Leonie schon wieder einen eisigen Schauer über den Rücken. Die Treppe war steil und nicht wesentlich breiter als zwei nebeneinander gelegte Hände und den Luxus eines Geländers gab es nicht. Aber sie hatte gar keine andere Wahl. Genau wie vorhin, als sie angekommen war, reichte ein einziger Blick nach unten, um sie davon zu überzeugen, dass sie auf dem richtigen Weg war. Wenn sie ihre Eltern finden wollte, dann musste sie dort hinunter.
Leonie kämpfte noch einige Sekunden mit ihrer eigenen Furcht, aber dann setzte sie vorsichtig den Fuß auf die schmale Stufe, die auf der anderen Seite des Durchgangs lag. Behutsam schob sie sich weiter, presste den Rücken gegen den rauen Stein der Wand und begann, Stufe und Stufe nach unten zu steigen.
Es war ein Albtraum. Der Abgrund unter ihr hatte die Wirkung eines Sogs, dessen Anziehungskraft mit jedem Schritt stärker wurde, und obwohl sie Rücken und Handflächen mit aller Kraft gegen die Wand presste, hatte sie das Gefühl, sich zugleich immer weiter nach vorne und in den Abgrund zu beugen. Während des ersten Dutzends Stufen hatte sie noch die Hoffnung, dass sie sich daran gewöhnen würde, aber das war leider ganz und gar nicht der Fall; es wurde sogar schlimmer. Ihr Herz hämmerte bald wie verrückt, ihre Knie zitterten und sie war am ganzen Leib in Schweiß gebadet. Die Treppe schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Von oben aus hatte es den Anschein gehabt, dass die Tür vielleicht dreißig oder vierzig Meter unter ihr lag, aber Leonie hatte das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein, als ihre tastende Hand endlich ins Leere griff.
Sie hatte die Tür erreicht. Mit einem hastigen Schritt rückwärts trat sie hindurch und drehte sich erst dann um. Der Gang hinter ihr setzte sich auf ähnliche Weise fort wie der weiter oben - ähnlich, aber nicht vollkommen gleich. In unregelmäßigen Abständen waren Türen in die Ziegelsteinwände eingelassen und an seinem Ende schien sich etwas zu bewegen. Obwohl Leonie - schlimm genug - spürte, dass dieser Gang der falsche war, bewegte sie sich vorsichtig einige Schritte tiefer in ihn hinein, um die am nächsten gelegene Tür in Augenschein zu nehmen.
Es war eine sonderbare Tür. Sie war nicht sehr hoch, sodass Leonie sich hätte bücken müssen um hindurchzugehen, dafür aber breiter als eine normale Tür, und sie hatte weder eine Klinke, noch sah Leonie irgendeine andere Art von Öffnungsmechanismus. Auch schien sie nicht aus Holz oder Metall zu bestehen, sondern machte eher den Eindruck, als wäre sie mit Leder oder irgendeinem ähnlichen Material bezogen, in das rätselhafte, verschlungene Symbole geprägt waren, die fast wie Schriftzeichen aussahen. Der Anblick erinnerte Leonie an etwas, aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen woran.
Es blieb ihr keine Zeit, dieses Rätsel zu ergründen. Leonie untersuchte noch eine weitere Tür, die vollkommen anders auf ihre Art - aber ebenso seltsam - aussah, dann kehrte sie zum Schacht zurück und machte sich schweren Herzens daran, weiter in die Tiefe zu steigen. Die Treppe kam ihr noch steiler vor als beim ersten Mal, und sie wäre jede Wette eingegangen, dass die Stufen schmaler wurden, je weiter sie nach unten kam. Zwei- oder dreimal reckte sie vorsichtig den Hals, um in die Tiefe zu blicken; sie bedauerte diesen Versuch jedes Mal sofort wieder. Das nebelige Licht wich unter ihr im gleichen Tempo zurück, in dem sie sich bewegte, und ihr wurde fast augenblicklich schwindelig - und das, obwohl sie sich bislang für absolut schwindelfrei gehalten hatte.
Nach einer kleinen Ewigkeit erreichte sie die nächste Tür, aber sie warf diesmal nur einen kurzen Blick in den dahinter liegenden Gang, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Das Gefühl war noch immer so unbegründet wie am Anfang und noch immer genauso stark. Sie musste weiter nach unten. Vielleicht war der nächste Gang ja der richtige.
Oder der übernächste.
Oder der darauf folgende.
Oder der, der dann kam...
Irgendwann hörte Leonie auf, die Türen zu zählen, an denen sie vorbeikam, ohne dass sich das Gefühl änderte, noch nicht am Ziel zu sein. Es war vermutlich nicht wirklich so, aber sie fühlte sich, als ob sie kilometerweit in die Tiefe gestiegen wäre, und es musste wohl auch ein gehöriges Stück gewesen sein, denn ihre Knie zitterten mittlerweile nicht nur vor Angst, sondern auch vor Anstrengung; es war alles andere als leicht, sich seitwärts eine steinerne Treppe hinunterzuschieben, die kaum breit genug war, um ihren Füßen Platz zu bieten und dazu noch den Rücken mit aller Kraft gegen die Wand zu pressen. Als sie endlich eine Tür erreichte, hinter der sie nicht das Gefühl erwartete, am völlig falschen Platz zu sein, war sie so erschöpft, dass sie sich nur noch ein paar Schritte weit in den Gang hineinschleppte, ehe sie sich zitternd gegen die Wand sinken ließ und die Augen schloss, um erst einmal neue Kraft zu schöpfen.
Es war nicht nur diese unheimliche innere Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie auf dem richtigen Weg sei. Dieser Gang war anders. Es gab auch hier die seltsamen Türen, von denen einige noch bizarrer aussahen als die, die sie weiter oben gesehen hatte, und von weit, weit her hörte sie Geräusche: leise und einzeln nicht zu identifizieren, aber dennoch unheimlich wie das Murmeln einer Kirchengemeinde in einer großen Kathedrale.
Ihre Knie hatten mittlerweile aufgehört zu zittern und auch ihr Herz schlug jetzt nicht mehr so hart von innen gegen ihre Rippen, als suche es sein knöchernes Gefängnis zu sprengen, aber Leonie ging trotzdem noch nicht sofort weiter. Sie war nicht mehr so sicher wie noch vor ein paar Minuten, dass ihre Eltern tatsächlich hier entlanggekommen waren.
Leonie sah noch einmal in den Schacht hinab und ihr lief auch im Nachhinein ein kalter Schauer über den Rücken, als sie an die Strecke dachte, die hinter ihr lag, und vor allem daran, dass sie das ganze Stück auch wieder nach oben musste, wenn sie jemals aus diesem bizarren Labyrinth hinauskommen wollte. Sie konnte sich immer weniger vorstellen, dass ihre Eltern - vor allem ihre Mutter in dem entkräfteten Zustand, in dem sie sich befand - diese Albtraumtreppe herabgestiegen sein sollten.
Dennoch war dort vorne etwas, das sie beinahe magisch anzog.
Sie würde es nicht herausfinden, wenn sie hier stehen blieb und Löcher in die Luft starrte. Sie ging weiter. Die Geräusche wurden allmählich lauter, aber kein bisschen deutlicher, und wie schon zuvor schien das Licht vor ihr im gleichen Maße zurückzuweichen, in dem sie darauf zuging. Irgendetwas stimmte mit diesem Licht ganz und gar nicht, ebenso wenig wie mit dem fernen Murmeln, und auch die Türen wirkten immer merkwürdiger.
Schließlich blieb Leonie vor einer der Türen stehen, um sie genauer zu betrachten. Sie hatte dieselben ungewöhnlichen Maße wie die, die Leonie schon weiter oben untersucht hatte, und auch auf ihr prangte in Blickhöhe ein goldfarbener Schriftzug, den Leonie allerdings nicht entziffern konnte. Nicht nur die Sprache war ihr fremd, sie hatte auch Buchstaben wie diese noch nie gesehen. Dennoch wirkten sie auf eine schwer zu begründende Weise beunruhigend, genau wie die Geräusche.
Zögernd streckte Leonie die Hand aus, doch kurz bevor sie die Tür berühren konnte, schwang sie von selbst nach außen. Leonie wich einen halben Schritt zurück und zur Seite, um ihr Platz zu machen, dann trat sie gebückt unter dem niedrigen Türsturz hindurch. Dahinter lag ein weitläufiges und unerwartet helles und freundlich eingerichtetes Zimmer. Sie war ein wenig verwirrt. Nach dem düsteren Gang draußen hatte sie etwas völlig anderes erwartet; vielleicht nicht gerade eine mittelalterliche Folterkammer, aber doch zumindest ein düsteres Verlies, das von qualmenden Fackeln erhellt wurde und in dem Ketten von der Decke hingen und Spinnen und Ratten in den Ecken nisteten.
Das genaue Gegenteil war der Fall.
Der Raum war überraschend groß und in freundlichen Farben gehalten. Die Einrichtung war altmodisch, so als stamme sie vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, aber adrett. Es gab kein einziges modernes Gerät und selbst die Lampen, die von der weiß getünchten Decke hingen, waren altmodische Petroleumlampen mit Schirmen, die die Form von weißen Blütenblättern hatten. In einer Ecke erhob sich eine wuchtige Standuhr, deren Pendel sich allerdings nicht bewegte, und außerdem gab es kein Fenster.
Leonie war schon bis zur Mitte des Raumes gegangen, als ihr dieser Umstand bewusst wurde. Das Zimmer wurde eindeutig von Tageslicht erhellt, aber es gab kein Fenster. Außer der Tür, durch die sie hereingekommen war, entdeckte sie noch zwei weitere Türen, die diesmal normale Maße hatten und mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren - aber nicht die Spur einer Fensteröffnung. Wo das Tageslicht herkam, blieb Leonie ein Rätsel - ebenso wie die Frage, wo dieses Zimmer herkam und wer sich die Mühe gemacht hatte, hier, tief unter der Erde, einen detaillierten Nachbau eines gutbürgerlichen Wohnzimmers aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu errichten.
Aber wenn sie schon einmal hier war, konnte sie sich auch ebenso gut ein wenig umsehen. Das fehlende Fenster blieb ein Rätsel wie so vieles hier, und es lohnte im Moment nicht, darüber nachzudenken - wenn man nicht den Verstand verlieren wollte.
Das Zimmer war spartanisch, aber geschmackvoll eingerichtet. An den Wänden klebten gestreifte Seidentapeten und es gab einen wuchtigen Schrank mit zwei übergroßen Türen, einen Tisch mit vier Stühlen, deren Lehnen und Armstützen reich verziert waren, und etwas, das wie eine Mischung aus einem Schreibtisch und einer Anrichte aussah; Leonie kramte einen Moment in ihren Gedanken und glaubte sich zu erinnern, dass man so etwas einen Sekretär nannte, war sich aber nicht ganz sicher. Die übrige Einrichtung beschränkte sich auf die Standuhr und einen altmodischen Waschtisch.
Vor allem der erweckte Leonies Interesse. Er war eine wirkliche Kostbarkeit, zierlich, mit geschnitzten Beinen und einer Marmorplatte, in die eine runde Emailleschüssel eingelassen war. Daneben stand eine Wasserkaraffe aus feinstem Porzellan, auf der anderen Seite lagen zwei penibel zusammengelegte Handtücher aus weißem Damast.
Es war ein sonderbares Gefühl, vor diesem uralten Möbelstück zu stehen. Leonie hatte so etwas noch nie gesehen, außer auf Bildern, und sie kam sich ein wenig wie in einem Museum vor, zugleich aber auch wieder ganz anders. Allmählich beschlich sie ein seltsames Gefühl. Es war keine Angst. Eher eine Art Unbehagen, und zugleich kam ihr all das hier auf seltsame Art vertraut vor. Sie blieb noch einige Sekunden vor dem Waschtisch stehen, ohne das unheimliche Gefühl fassen zu können, dann drehte sie sich um und ging zu der Standuhr hinüber. Sie betrachtete eine Weile das stillstehende Pendel, dann öffnete sie die Glastür und setzte es mit einem leichten Schubs in Bewegung, ohne selbst genau sagen zu können, warum sie das tat. Sie konnte hören, wie sich die feinen Zahnrädchen und Hebel des Uhrwerks in Bewegung setzten. Die Uhr hatte keinen Sekundenzeiger, sodass sie nicht auf Anhieb sagen konnte, ob sie nun wieder lief oder nicht.
Als Nächstes wandte sie sich dem Sekretär zu. Wie alles hier drinnen war er penibel aufgeräumt. Auf der Platte lag eine Schreibmappe aus geprägtem dunkelroten Leder, daneben stand ein Tintenfass mit einer altmodischen Feder, die aber offensichtlich nur Dekoration war, denn als Leonie näher trat, entdeckte sie einen schweren schwarz-goldenen Füllfederhalter neben der Schreibmappe. Auf einem schmalen Regalbrett darüber standen gut zwei Dutzend Bücher in Reih und Glied. Leonie schlug die Schreibmappe auf. Sie enthielt eine Hand voll schon leicht vergilbter Blätter, die eng mit einer verschnörkelten, fast wie gemalt wirkenden Handschrift bedeckt waren. Leonie betrachtete das oberste Blatt eine Weile, ohne die Worte wirklich wahrzunehmen. Obwohl der Mensch, der diese Zeilen geschrieben hatte, mit Sicherheit schon lange tot war, hatte sie doch das Gefühl, in Dingen herumzuschnüffeln, die sie nichts angingen.
Mit den Büchern war das schon etwas anderes.
Leonie ordnete die Blätter wieder genau so, wie sie sie vorgefunden hatte, schloss die Schreibmappe und nahm eines der Bücher aus dem Regal. Als sie es aufschlug, stellte sie fest, dass es nicht aus dem letzten, sondern sogar aus dem vorletzten Jahrhundert stammte. Das Impressum behauptete, es wäre 1856 erschienen. Die Buchstaben waren ungewöhnlich. Sütterlinschrift. Die meisten ihrer Mitschüler wussten vermutlich nicht einmal mehr, dass es so etwas gab, aber Leonie konnte sie sogar lesen, wenn auch nicht unbedingt flüssig. Ein Großteil der Büchersammlung ihrer Großmutter war noch in dieser altmodischen Schrift gedruckt und Großmutter hatte zwar sanft, aber doch nachdrücklich darauf bestanden, dass sie sie flüssig lesen lernte.
Sie blätterte einige Bücher durch, ohne hinterher schlauer zu sein, und griff schließlich nach dem größten Band auf dem Regal. Er war so schwer, dass sie beide Hände brauchte, um ihn vom Brett zu nehmen.
Es war eine Familienbibel, uralt und in steinhart gewordenes Leder gebunden. Leonie blätterte sie mit vorsichtigen Bewegungen durch, bis sie auf den letzten Seiten angekommen war. Wie in alten Familienchroniken üblich, die traditionell von Generation zu Generation weitervererbt wurden, waren die letzten Seiten frei gelassen worden, um den Stammbaum der Besitzer einzutragen. Leonies Kenntnisse alter Handschriften kapitulierten vor den verschnörkelten, aber auch hier wie gemalt aussehenden Schriftzeichen, mit denen die Seiten übersät waren, doch immerhin konnte sie ein paar Zeichen entziffern. Das Buch musste noch viel älter sein, als sie ohnehin schon angenommen hatte. Die ältesten Eintragungen waren so stark verblasst, dass sie praktisch nicht mehr lesbar waren, aber die dazugehörigen Jahreszahlen waren eindeutig dreistellig. Leonie verspürte einen Schauer der Ehrfurcht, als sie behutsam weiterblätterte. Kein Wunder, dass es ihr so schwer gefallen war, die Bibel zu entziffern. Das Buch sah aus wie gedruckt, aber wenn diese Datumsangaben stimmten, dann musste es sich um eine über tausend Jahre alte Handschrift handeln! Leonie fragte sich, wer ein so kostbares Buch an einem so sonderbaren Ort wie diesem aufbewahren mochte.
Die letzten Seiten der Bibel waren leer. Die Eintragungen endeten mit den Initialen T. K. und der Jahreszahl 1927; zuletzt stieß sie auf ein verblichenes Schwarzweißfoto, das aussah, als wäre es mindestens hundert Jahre alt. Es war auf die damals übliche Art aufgenommen worden, die modernen Menschen schon fast ein bisschen lächerlich vorkam: Das Familienoberhaupt mit Schnauzbart, Fliege und Frack stand stocksteif aufgerichtet da, die rechte Hand eindeutig besitzergreifend auf die Schulter seiner Frau gelegt, die ebenso stocksteif vor ihm auf einem Stuhl saß. Ohne den verbissenen Gesichtsausdruck, von dem höchstens sie selbst glaubte, dass es sich um ein Lächeln handelte, den strengen Dutt und das altbackene Kleid, das so steif aussah, als müsse es wie Glas zerbrechen, wenn sie auch nur versuchte, sich darin zu bewegen, wäre sie eine gut aussehende Frau gewesen; mithilfe eines Friseurs und ein wenig modernen Make-ups sogar eine Schönheit. Leonie glaubte für einen Moment, etwas vage Bekanntes in ihren Zügen zu erblicken, aber das lag wohl eher daran, dass auf diesen alten Fotos irgendwie alle gleich aussahen.
Dann aber betrachtete sie den Rest der Familienidylle - insgesamt fünf Kinder; drei Jungen in Matrosenanzügen und zwei Mädchen in gestärkten Kleidern, die fast so steif aussahen wie ihre sorgsam drapierten Lockenfrisuren - und das Lächeln gefror ihr auf den Lippen.
Eines der Mädchen war ihre Großmutter.
Leonies Verstand sagte ihr, dass das vollkommen unmöglich war. Das Mädchen auf dem Foto war allerhöchstens sechs Jahre alt und es sah in dem altmodischen Kleid und der riesigen Turmfrisur genauso aus, wie jedes sechsjährige Kind auf einem hundert Jahre alten, verblassten Foto ausgesehen hätte - und dennoch erkannte sie sie mit einer Sicherheit, die keinen Zweifel zuließ. Es war etwas in ihren Augen. Der sanftmütige Blick, den Leonie so sehr an ihr geliebt und den sie ganz offensichtlich schon als Kind gehabt hatte.
Und Leonie hatte den Schrecken, den diese Erkenntnis mit sich brachte noch nicht ganz verarbeitet, als etwas noch viel Unheimlicheres geschah: Das Mädchen auf dem Foto drehte den Kopf und sah sie an.
Leonie prallte zurück und schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und das sechsjährige Konterfei ihrer Großmutter sagte mit einer hellen, aber klar verständlichen Kinderstimme: »Bring dich in Sicherheit. Schnell! Sie sind gleich da!«
Im allerersten Moment war sie vor Schreck und Unglauben einfach gelähmt und völlig unfähig, den Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen, aber dann sagte das Foto noch einmal und noch viel eindringlicher: »Um Gottes willen. Schnell! Wenn sie dich hier finden, bist du verloren!«
In der Stimme schwang eine solch unüberhörbare Panik mit, dass die Lähmung schlagartig von Leonie abfiel und nackter Angst Platz machte. Und im gleichen Moment wurde ihr auch klar, dass sich das Geräusch, das sie durch die offen stehende Tür hörte, verändert hatte. Es klang immer noch wie ein an- und abschwellendes Murmeln - beinahe wie eine ferne Meeresbrandung -, zugleich aber auch völlig ungewohnt. Und dann mischte sich leider noch etwas anderes, völlig Eindeutiges in die Geräuschkulisse: Schritte. Sehr viele Schritte, die rasch näher kamen - jemand rannte auf sie zu.
Leonie wirbelte herum, bewegte sich ein Stück in Richtung Tür und blieb wieder stehen. Die Schritte waren nun noch lauter zu hören und jetzt glaubte sie auch aufgeregte Stimmen wahrzunehmen. Sie würde es nicht schaffen. Wer immer dort draußen angerannt kam, musste sie sehen, wenn sie das Zimmer zu verlassen suchte! Sie brauchte ein Versteck - aber wo sollte sie in einem fast leeren Zimmer eines hernehmen?
Die Auswahl war nicht besonders groß. Genau genommen beschränkte sie sich auf eine einzige und dabei so offensichtliche Möglichkeit, dass sie sie nicht einmal in Betracht gezogen hätte, wenn sie auch nur einen Sekundenbruchteil darüber nachgedacht hätte. Aber sie war in diesem Moment so sehr in Panik, dass ihr logisches Denken praktisch ausgeschaltet war, und das rettete ihr möglicherweise das Leben. Mit einem einzigen Satz war sie bei dem gewaltigen Kleiderschrank und riss an der Tür.
Sie rührte sich nicht.
Die Schritte draußen kamen näher und hatten den Eingang jetzt fast erreicht. Die Panik drohte Leonie endgültig zu überwältigen. Wie von Sinnen riss und zerrte sie an der Schranktür, die sich von ihren Bemühungen ungefähr genauso beeindruckt zeigte wie eine tausendjährige Eiche von den Drohgebärden eines Rehpinschers, und schließlich schrie sie: »Geh auf, verdammt noch mal!«
Die Tür ging auf.
Leonie verlor durch ihren eigenen Schwung fast das Gleichgewicht, fing sich im letzten Augenblick wieder und sprang nahezu kopfüber in den Schrank. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall hinter ihr wieder ins Schloss, noch bevor sie unsanft auf etwas Weichem, muffig Riechendem landete, und buchstäblich im gleichen Sekundenbruchteil polterten hinter ihr hastige Schritte ins Zimmer.
Einen Moment lang blieb sie benommen liegen. Sie war auf einem Kleiderhaufen gelandet, der ihrem verwegenen Hechtsprung die ärgste Wucht genommen hatte, aber ihr dröhnte trotzdem der Kopf, und als sie sich aufzusetzen versuchte, wurde ihr wieder schwindelig. Durch die geschlossene Schranktür drangen die Geräusche nur halblaut und sonderbar gedämpft herein, aber sie konnte dennoch außer Schritten und heftigem Hantieren und Herumwuseln die schrill durcheinander plärrenden Stimmen von mehr als einer Person unterscheiden.
Leonie sah sich mit heftig klopfendem Herzen um. Es war im Inneren des Schrankes nicht so vollkommen dunkel, wie sie erwartet hätte. Durch etliche Spalten und Ritzen im Holz drangen schmale Lichtstreifen, die Leonie ihre Umgebung zumindest erahnen ließen. Sie sah nichts, was sie nicht erwartet hätte. Uralte Kleider, die reglos von ihren Stangen hingen, und auf dem Boden ein Haufen Kleider, möglicherweise auch Bettwäsche. Nichts, was ihr helfen könnte, sollte sie entdeckt werden. Und schon gar kein Versteck, das auch nur dem ersten flüchtigen Blick standhalten würde, falls irgendjemand den Schrank untersuchte.
Was früher oder später unweigerlich der Fall sein würde.
Sie setzte sich vorsichtig auf und spähte durch einen etwas breiteren Spalt in der Tür.
Sie hatte sich geirrt: In dem Zimmer hielten sich nicht zwei oder drei Eindringlinge auf, sondern mindestens zwanzig oder dreißig, wenn nicht mehr, die scheinbar ziellos durcheinander huschten und den Raum in ein Chaos aus Bewegung verwandelten. Keiner von ihnen war größer als zwanzig Zentimeter.
Leonie blinzelte, sah noch einmal hin, schloss für eine Sekunde die Augen und sah wieder hin, aber der unglaubliche Anblick änderte sich nicht. Das Zimmer war voller kleiner, wild hin und her hüpfender und schnatternder Gestalten. Sehr viel mehr konnte Leonie allerdings nicht erkennen, denn sie trugen ausnahmslos eine Art schwarzbrauner Kutten, die in spitzen Kapuzen endeten. Wenn sich darunter Gesichter verbargen, so konnte Leonie sie in dem schwarzen Schatten, den die Kapuzen warfen, jedenfalls nicht erkennen.
Der Anblick war aber auch so schon bizarr genug. Nachdem sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte, versuchte Leonie, irgendein System hinter dem Chaos zu erkennen, in das sich das Zimmer schlagartig verwandelt hatte, aber es gelang ihr nicht. Möglicherweise lag das daran, dass es keins gab.
Die winzigen Kapuzenmänner wuselten einfach ziellos umher, ohne irgendetwas Erkennbares zu tun. Es war ein einziges sinnloses Tohuwabohu. Die Gestalten flitzten hierhin und dorthin, rempelten sich gegenseitig an und sprangen auf Stühle und Tisch, hopsten in den Sekretär und den Waschtisch, rannten gegen Wände und Möbel, einige von ihnen bildeten eine Art wackeliger Räuberleiter vor der Standuhr, die aber nicht einmal die halbe Höhe bis zum Zifferblatt erreichte, bevor sie unter schrillem Gekeife und Gebrüll zusammenbrach. Einer der Winzlinge schlug einen kompletten anderthalbfachen Salto in der Luft, landete auf der Nase und schlitterte mit weit ausgebreiteten Armen über den spiegelblank gebohnerten Boden, direkt auf den Schrank zu, in dem Leonie saß. Seine Kutte geriet dabei in Unordnung, und als er sich hastig aufrappelte, rutschte seine Kapuze in den Nacken, sodass sie zum ersten Mal sah, was sich darunter verbarg.
Nicht dass sie besonders froh darüber war, denn das Gesicht, das unter der Kapuze zum Vorschein kam, war das mit Abstand hässlichste, das sie jemals gesehen hatte. Es war sicher nicht menschlich, aber Leonie war nicht einmal sicher, ob man es guten Gewissens als menschenähnlich bezeichnen konnte. Das Geschöpf hatte zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase und einen Mund, aber damit hörte die Ähnlichkeit dann auch schon auf, und zwar gründlich.
Die Kreatur hatte eine ledrige, schwarzgrüne Haut, fast wie die eines Frosches, die nur aus Falten und Runzeln zu bestehen schien und mit einer Unzahl nässender Pusteln und Geschwüre übersät war, und wie zum Ausgleich dafür keine Lippen, sondern nur einen fast von einem Ohr zum anderen reichenden Schlitz, hinter dem nadelspitze, schief und krumm gewachsene Zähne blitzten. Ihre Ohren waren spitz wie die eines Fuchses oder einer Katze und aus den Ohrmuscheln wuchsen mehr Haare als auf dem nahezu kahlen Schädel sprossen. Die Augen waren der reinste Albtraum: lid- und wimpernlose Glupschaugen, die so weit aus den Höhlen quollen, dass sich Leonie allen Ernstes fragte, wieso sie nicht einfach herausfielen. Das Tüpfelchen auf dem i schließlich bildete eine gewaltige Hakennase. Und dieser ganze absurde Schädel saß auf einem so lächerlich dürren Hals, dass er eigentlich bei der ersten unvorsichtigen Bewegung hätte abbrechen müssen.
Mit zwei Händen, die genauso dürr und abstoßend waren wie ihr Gesicht, schlug die Kreatur ihre Kapuze wieder nach vorne, und Leonie atmete instinktiv erleichtert auf, als sie vom Anblick des Albtraumgesichts erlöst wurde.
Sie blinzelte wieder und sah noch einmal hin, aber der unglaubliche Anblick war immer noch da: Das Zimmer war voller winziger Kapuzenwesen, die hoffnungslos durcheinander stürzten, schnatterten, schrien und sich wie die Kesselflicker prügelten. Leonie fragte sich, wann der erste auf die Idee kommen würde, die Schranktür zu öffnen, und vor allem, was sie dann tun würde. Sie hatte nicht wirklich Angst vor den schwarz gekleideten Knirpsen - aber es waren immerhin ziemlich viele.
Seltsamerweise näherte sich keines der winzigen Kapuzenmännchen dem Schrank, doch dafür flog die Zimmertür mit einem Knall auf und die lebensgroße - nun ja: fast lebensgroße - Ausgabe der Kapuzenmänner trat ein. Diese Kreatur hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihre Kapuze hochzuziehen, sodass Leonie ihr Gesicht in seiner ganzen Hässlichkeit bewundern konnte. Es unterschied sich praktisch nicht von dem seiner Miniaturausgabe, die Leonie gerade gesehen hatte, nur dass die bizarre Kreatur in etwa die Größe eines zehnjährigen Kindes hatte und ihr Gesicht infolgedessen noch abstoßender wirkte.
Einen Unterschied gab es allerdings doch: Dieses Wesen war nicht mit leeren Händen gekommen. Es trug ein schweres ledergebundenes Buch unter dem linken Arm und eine altmodische Schreibfeder in der rechten Hand.
»Was ist denn hier los?!«, brüllte es mit schriller, überschlagender Stimme, die so unangenehm war, dass Leonie sich um ein Haar die Ohren zugehalten hätte. »Wer von euch ist dafür verantwortlich? Was habt ihr hier angerichtet?«
Keiner der Winzlinge antwortete, aber die Stimme des Kapuzenmannes zeigte trotzdem Wirkung: Die handgroßen Gestalten prallten zurück wie eine Herde aufgescheuchter Hühner, unter die der Fuchs gefahren war, und zumindest das wirre Geschnatter und Gezirpe hörte für einen Moment auf.
»Also?« Der Blick der triefenden Glupschaugen tastete über all die winzigen Gestalten, die so weit von dem Kapuzenmann zurückgewichen waren, wie sie nur konnten, und sich zitternd gegen die Wände pressten oder unter dem Tisch zu verschwinden versuchten. Dann weiteten sich seine Augen noch mehr und Leonie sah, dass sein Gesicht durchaus dazu fähig war, außer Griesgrämigkeit noch ein weiteres Gefühl zum Ausdruck zu bringen: blankes Entsetzen.
»Was...«, ächzte er, »ist... das?!« Ein spindeldürrer Zeigefinger mit einem schmutzigen, abgekauten Fingernagel deutete auf die Standuhr. »Das... das... das...«, stammelte er, »darf DOCH NICHT WAHR SEIN!« Die letzten vier Worte hatte er so laut geschrien, dass Leonie die Ohren klingelten.
»Wer war das?«, kreischte er. »Wer ist dafür verantwortlich?« Er begann wie besessen im Zimmer auf und ab zu hüpfen. Seine winzigen Ebenbilder versuchten verzweifelt, sich vor ihm in Sicherheit zu bringen, aber nicht allen gelang es. Das eine oder andere fing sich einen Tritt ein, der es quer durch den Raum fliegen ließ, und mindestens zwei der winzigen Gestalten blieben hinterher liegen und rührten sich nicht mehr. Der Kapuzenmann tobte und wütete indessen ununterbrochen weiter. Es dauerte mindestens eine Minute, wenn nicht zwei, bis er sich zumindest so weit wieder in der Gewalt hatte, dass er stehen bleiben und erneut mit einem zitternden Finger in Richtung Uhr deuten konnte. »Bringt das... sofort... in Ordnung!«, keifte er kurzatmig. »Wer war hier drinnen? Wer hat das getan?!«
Er bekam auch jetzt keine Antwort - Leonie war mittlerweile fast sicher, dass die Winzlinge gar nicht sprechen konnten, zumindest nicht in einer Sprache, die sie verstand -, aber ein gutes Dutzend der Knirpse begann erneut eine komplizierte Räuberleiter vor der Standuhr zu bilden. Ganz offensichtlich wollten sie zum Zifferblatt hinaufgelangen. Leonie sah genau hin und erkannte, dass sich die Zeiger um eine Winzigkeit bewegt hatten, seit sie das Pendel angestoßen hatte. Kaum mehr als eine Minute, schätzte sie. Seltsam: Sie hätte geschworen, dass sie schon viel länger hier drinnen war. Vielleicht funktionierte das Uhrwerk ja nicht mehr richtig.
»Braucht Ihr Hilfe, verehrter Scriptor?« Eine zweite Gestalt in der Größe eines Kindes erschien unter der Tür und ein hakennasiges Gesicht, das womöglich noch hässlicher war als das von Glupschauge, spähte zu ihm herein. Es war schwer, in den hervorquellenden Triefaugen irgendein Gefühl zu erkennen, aber Leonie meinte trotzdem, so etwas wie ein schadenfrohes Funkeln auszumachen. »Alles in Ordnung?«
Der Kapuzenmann fuhr wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen herum und ließ vor lauter Schreck sein Buch fallen. »Ja, es ist alles in Ordnung!«, giftete er. Der Neuankömmling und er schienen nicht unbedingt die besten Freunde zu sein.
»Das scheint mir aber gar nicht so«, antwortete Hakennase. »Seid Ihr sicher, dass Ihr keine Hilfe nötig habt?«
»Ganz sicher«, antwortete Scriptor. »Nur eine Übung. Ihr wisst ja, wie das mit dem Nachwuchs heutzutage ist: Wenn man sie nicht ständig auf Trab hält, dann rühren sie keinen Finger. Es ist alles in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe, aber ich danke Euch trotzdem für Euer Angebot.« Und damit knallte er dem zweiten Glupschaugengesicht die Tür so heftig vor der Nase zu, dass Leonie instinktiv auf einen Schmerzensschrei und den dumpfen Aufprall eines bewusstlosen Körpers draußen auf dem Gang wartete.
»Eingebildeter Fatzke!«, nörgelte Scriptor. »Das könnte ihm so passen, mir - Was um alles in der Welt tut ihr da?! Hört sofort auf.«. Er hatte sich umgedreht, während er sprach. Nun war er mit einem Satz bei den Kapuzenmännchen, deren lebende Pyramide das Zifferblatt schon fast erreicht hatte, und fegte sie mit einem Fußtritt auseinander. »Untersteht euch, hier noch irgendetwas anzurühren!«, keifte er. »Als ob nicht schon genug Schaden angerichtet worden wäre!«
Diejenigen Kapuzenmännchen, die seine Attacke halbwegs unbeschadet überstanden hatten, brachten sich mit hastigen Schritten in Sicherheit. Nur ein einziges war mutig - oder dumm - genug, einfach stehen zu bleiben und zu ihm hochzublicken.
Scriptor dankte es ihm, indem er den Fuß hob und ihn unsanft in den Boden stampfte. Aus der gleichen Bewegung heraus bückte er sich nach dem Buch, das er fallen gelassen hatte, und begann hektisch darin zu blättern. Schon nach einem Augenblick schien er fündig zu werden, aber was er da sah, gefiel ihm offensichtlich nicht besonders. Er ächzte.
»O nein, nicht auch das noch!«, keuchte er. Er sah sich mit einer wilden, fast panischen Bewegung im Raum um, starrte dann wieder in sein Buch und kickte beiläufig ein weiteres Kapuzenmännchen davon, das ihm unvorsichtigerweise zu nahe gekommen war. Dann seufzte er tief. Leonie konnte regelrecht sehen, wie alle Kraft aus seinem ausgemergelten Körper wich, als er sich wieder zur Standuhr umwandte. Langsam, fast ängstlich, wie es ihr schien, streckte er die Hand aus, hielt zuerst das Pendel an und bewegte dann, buchstäblich Millimeter für Millimeter, die Zeiger zurück. Er hielt mehrmals inne, um einen langen Blick in sein Buch zu werfen. Leonie hatte den Eindruck, dass er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen nicht unbedingt zufrieden war, als er endlich zurücktrat.
»Also gut!«, schimpfte er, nachdem er das Zifferblatt mindestens noch eine Minute lang mit gefurchter Stirn angestarrt hatte. »Und jetzt bringt den Rest in Ordnung! Das Buch auf dem Sekretär! Jemand hat die Tischdecke verschoben! Und die Wasserkaraffe steht nicht genau so, wie es sein sollte! Gebt Acht, dass ihr keinen Staub aufwirbelt! Und der Füllfederhalter liegt zu weit links!«
Und so ging es weiter. Leonie hockte mindestens zehn Minuten lang reglos in ihrem Schrank und sah mit wachsendem Unverständnis zu, wie Scriptor seine winzigen Gehilfen kreuz und quer durchs Zimmer scheuchte, um jede noch so kleine Veränderung, die sie vorgenommen hatte, rückgängig zu machen. Er ging dabei keineswegs planlos vor, sondern blätterte immer wieder in seinem Buch und machte die meisten Korrekturen, die seine zwergwüchsigen Kopien vornahmen, mindestens zwei- oder dreimal wieder rückgängig, bevor er sich endlich mit einem resignierten Seufzen zufrieden gab.
»Ich hoffe, das reicht«, murmelte er. »Das hätte nicht passieren dürfen. All diese Veränderungen! Was um alles in der Welt mag geschehen sein, bevor wir es gemerkt haben? Eine Katastrophe! Eine unglaubliche Katastrophe, und das dazu noch hier, ausgerechnet hier! Wenn das rauskommt, bin ich geliefert. Welche Folgen das haben kann!«
Er seufzte noch einmal und tiefer, dann klappte er sein Buch mit einem Knall zu und machte eine herrische Geste, auf die hin die Kapuzenmännchen die Beine in die Hand nahmen, um so schnell wie möglich aus dem Zimmer zu verschwinden. Eines von ihnen schien Scriptor wohl trotz allem nicht schnell genug zu sein; er spießte es mit seiner Schreibfeder auf, gerade als der Winzling zwischen seinen Beinen hindurchlaufen wollte. Leonie runzelte in ihrem Versteck die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, wer oder was dieser Scriptor war, aber sein Charakter schien durchaus seinem Aussehen zu entsprechen.
Nachdem die Kapuzenmännchen gegangen waren (zumindest die, die noch gehen konnten), wartete sie nun darauf, dass Scriptor ebenfalls verschwand. Aber er dachte offensichtlich nicht daran. Stattdessen blieb er noch eine kleine Ewigkeit unter der Tür stehen und sah sich aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen im Zimmer um. Leonie überlief ein eisiges Frösteln, als sein Blick dabei auch den Schrank streifte und für ihren Geschmack eine Spur zu lange daran hängen blieb. Er runzelte die Stirn, als wäre ihm etwas aufgefallen, aber dann zuckte er nur die Schultern, klappte sein Buch wieder auf und machte einen schwungvollen Federstrich.
Das gute Dutzend regloser Kapuzenmännchen, das im Raum verteilt war, verschwand. Leonie sog so scharf die Luft ein, dass sie schon befürchtete, Scriptor dadurch auf ihre Anwesenheit aufmerksam gemacht zu haben, aber der hässliche Gnom drehte nur noch einmal den Kopf von rechts nach links, wobei er seinen Blick abschließend und sehr aufmerksam durch das Zimmer schweifen ließ, dann wandte er sich um und verließ den Raum. Die Tür schloss sich schnell und vollkommen lautlos hinter ihm und Leonie war wieder allein.
Sie ließ noch mehrere Minuten verstreichen, ehe sie es wagte, die Schranktür zu öffnen und wieder ins Zimmer hinauszutreten. Der Raum kam ihr plötzlich viel unheimlicher vor als vorhin, als sie hereingekommen war, obwohl sich hier rein gar nichts verändert hatte. Vielleicht kam das aber auch gerade daher, dass nun alles wieder genauso aussah wie vorher. Was war so ungemein wichtig daran, dass hier auch nicht die kleinste Kleinigkeit verändert wurde?
Leonie zermarterte sich einen Moment lang vergeblich das Hirn mit dieser Frage, tat sie dann aber mit einem Achselzucken ab und wandte sich zur Tür. Ohne es zu merken, ging sie dabei in so großem Abstand an den Möbeln vorbei, wie ihr das nur möglich war. Ganz flüchtig streifte ihr Blick den Sekretär, und sie ertappte sich bei dem Wunsch, die Familienbibel noch einmal herauszunehmen, um einen Blick auf das unheimliche Foto zu werfen, aber sie unterdrückte ihn auch fast im gleichen Sekundenbruchteil wieder, in dem sie ihn verspürte. Auch wenn sie nicht einmal annähernd verstand, was sie eben beobachtet hatte, war ihr doch zugleich klar, dass sie mehr Glück als Verstand gehabt hatte. Sie gedachte nicht, dieses Glück unnötig auf die Probe zu stellen. Stattdessen hastete sie zur Tür, öffnete sie und blieb wie angewurzelt stehen.
»Sieh an, sieh an«, sagte Scriptor, der draußen auf dem Gang stand und hämisch zu ihr heraufgrinste. »Das habe ich mir doch beinahe gedacht!«
»Oh«, machte Leonie verdattert.
»Oh«, meinte Scriptor und stieß mit der Spitze seiner Schreibfeder nach ihrer Brust, »ist keine Antwort. Jedenfalls nicht auf die meisten Fragen, die ich an dich habe.« Er piekste sie noch einmal mit seiner Feder, und diesmal war die Berührung so unangenehm, dass Leonie ganz instinktiv die Türklinke losließ und zwei Schritte weit ins Zimmer zurückwich.
Scriptor folgte ihr. Seine wässrigen Glupschaugen funkelten boshaft. Er piekste Leonie immer wieder mit seiner Feder, und obwohl es nicht wirklich wehtat, wich sie Schritt für Schritt vor ihm zurück, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite gegen die Wand stieß. Sie hatte nicht wirklich Angst, dazu war sie viel zu perplex. »Da haben wir ja des Rätsels Lösung«, sagte Scriptor hämisch. »Konnte ich mir auch gar nicht vorstellen, dass das alles reiner Zufall gewesen sein soll. Aber deine Frechheiten werden dir schon noch vergehen, das verspreche ich dir. Ich kann nämlich auch ganz anders, wenn es sein muss. Du landest im Leimtopf, mindestens! Aber vorher wirst du mir noch ein paar Fragen beantworten.«
»Ach?«, fragte Leonie. »Werde ich das?« Sie versuchte vergeblich, Angst zu empfinden. Scriptor erschien ihr zwar genauso, wie sie umgekehrt auch ihm - nämlich abgrundtief hässlich -, aber jetzt, wo sie ihm direkt gegenüberstand, merkte sie auch, was für einen lächerlichen Anblick der Kapuzenmann eigentlich bot. Er hatte sich herausfordernd aufgeplustert und fuchtelte nach wie vor drohend mit seiner Feder herum, aber das änderte nichts daran, dass er ihr mit Mühe und Not bis zur Brust reichte und so dürr war, dass sein schwarzer Umhang nur so um seine Glieder schlotterte. Leonie bezweifelte, dass der Knirps mehr als fünfzig Pfund wog.
»Also?«, giftete Scriptor. »Willst du jetzt reden oder muss ich andere Seiten aufziehen?«
Leonie dachte einen Moment lang daran, wie Scriptor mit seinen kleinen Gehilfen umgesprungen war, überlegte einen etwas längeren Moment, wie sie reagieren sollte, und entschied sich schließlich für eine, wie sie fand, angemessene Vorgehensweise. Sie sah noch eine Sekunde lang nachdenklich auf Scriptor hinab und boxte ihm dann kräftig auf die Nase. Scriptor verdrehte die Augen und kippte stocksteif nach hinten.
Leonie riss ungläubig die Augen auf und betrachtete abwechselnd ihre eigene Hand und den bewusstlosen Zwerg, der mit ausgebreiteten Armen und Beinen vor ihr auf dem Boden lag. Sie hatte nicht einmal sehr fest zugeschlagen, sonderlich viel schien er nicht auszuhalten.
Leonie überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass Scriptor nachhaltig ausgeschaltet war, ging zur Tür und drückte sie hastig ins Schloss. Das fehlte ihr noch, dass noch mehr von diesen hässlichen Gnomen hier auftauchten. Sie ging zu Scriptor zurück, ließ sich neben ihm in die Hocke sinken und hob das Buch auf, das er fallen gelassen hatte. Es war so schwer, als wäre es aus einem massiven Felsblock herausgemeißelt worden, und hatte mindestens tausend Seiten, wenn nicht mehr.
Und sie waren alle leer.
Leonie blätterte das Buch mit wachsender Verblüffung durch, aber es blieb dabei: Die Seiten aus uraltem Büttenpapier waren leer.
Endlich legte sie das Buch wieder aus der Hand, sah einen Moment lang nachdenklich auf Scriptor hinab und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Besonders viele Möglichkeiten hatte sie nicht. Und keine davon weckte wirklich ihre Begeisterung. Aber es gab keinen Ausweg - sie hätte höchstens zurückgehen können, und das kam nicht in Frage, solange sie ihre Eltern nicht gefunden hatte.
Sie beugte sich zu Scriptor hinab und zog ihm ohne viel Mühe die schwarze Kutte aus. Der Gnom war darunter vollkommen nackt und noch viel dürrer, als sie sowieso schon erwartet hatte; kaum mehr als ein Skelett, das von runzliger, schwarzgrüner Krötenhaut überzogen war. Leonie nahm ihn auf die Arme - er schien überhaupt nichts zu wiegen -, trug ihn zum Schrank und schloss die Tür hinter ihm. Sie hätte gern einen Stuhl unter den Griff geschoben, um den Schrank von außen zu verbarrikadieren, aber nach der Aufregung, die die letzten Veränderungen hervorgerufen hatten, wagte sie es nicht, hier drinnen auch nur irgendetwas anzurühren. Sie war allerdings auch ziemlich sicher, dass Scriptor für eine geraume Weile außer Gefecht gesetzt war.
Leonie betrachtete die schmuddelige schwarze Kutte, die sie Scriptor ausgezogen hatte, und verzog angewidert das Gesicht. Allein die Vorstellung, diesen Lumpen überzustreifen, ließ sie frösteln.
Trotzdem tat sie es.
Nur wenige Augenblicke später verließ sie das Zimmer, in Scriptors schwarze Kutte gehüllt, die Kapuze so weit nach vorne gezogen, wie es nur ging, das schwere Buch unter den rechten Arm geklemmt und die Schreibfeder in der rechten Hand, und setzte ihren Weg fort.