Der Advokat

Zumindest in den nächsten Stunden erfuhr Leonie nichts über das Geheimnis Theresas und der anderen sonderbaren Freunde Großmutters, denn ihre Mutter ging sofort nach oben und schloss sich im Schlafzimmer ein, wie sie es in den letzten drei Tagen praktisch ununterbrochen getan hatte, und ihr Vater verschwand in seinem Arbeitszimmer und begann hektisch zu telefonieren.

Leonie protestierte nicht. Sie war noch immer zutiefst verstört und gleichzeitig auch erschrockener, als sie selbst zugeben wollte, aber innerhalb der letzten halben Stunde war einfach zu viel auf sie eingestürmt, als dass sie auch nur die Hälfte davon hätte begreifen können. Und sie spürte auch, dass zumindest ihre Mutter im Moment gar nicht in der Lage gewesen wäre, ihr irgendwelche Fragen zu beantworten. Sie war während der restlichen Rückfahrt immer schweigsamer geworden, doch über ihr Gesicht unter der Sonnenbrille waren schon wieder Tränen gelaufen, und bei allem Schmerz, den auch Leonie über den Tod ihrer Großmutter empfand, begann sie sich doch allmählich ernsthafte Sorgen um ihre Mutter zu machen.

Sie wusste, dass Mutter und Großmutter ein sehr inniges Verhältnis zueinander gehabt hatten, und entsprechend groß war natürlich auch Mutters Trauer. Aber es war eine Sache, um einen geliebten Menschen zu trauern, und eine völlig andere, drei Tage praktisch ununterbrochen zu weinen und das Leben ringsum Stück für Stück zu vergessen. Sie hatte schon zweimal daran gedacht, mit ihrem Vater darüber zu reden, es dann aber doch nicht getan. Doch nun nahm sie sich vor, dieses Gespräch spätestens heute nach dem Abendessen nachzuholen, sollte sich der Zustand ihrer Mutter bis dahin nicht wenigstens ein bisschen gebessert haben.

Sie ging in ihr Zimmer hinauf, das den gesamten ausgebauten Dachstuhl der weitläufigen Jugendstilvilla einnahm und die Dimensionen eines kleinen Saales gehabt hätte, wäre es nicht durch eine Anzahl geschickt verteilter Regale und Schränke in mehrere unterschiedlich große Bereiche geteilt worden. Die Wände zierten gerahmte Fotos, einige Kunstdrucke und eine Hand voll Poster, aus denen sie schon seit Jahren herausgewachsen war und die sie bisher nur wegzuwerfen vergessen hatte. Dazwischen hing noch eine ganze Anzahl verschiedener Schul- und Sportabzeichen. Seit Leonie zur Schule ging, gab es praktisch keinen Wettbewerb, den sie nicht gewonnen, und keine Auszeichnung, die sie nicht errungen hätte. Sowohl Leonie selbst als auch ihre Eltern hatten sich stets geweigert, das Wort Wunderkind in den Mund zu nehmen, aber Tatsache war nun einmal, dass sie bisher zwei Klassen übersprungen hatte und das Abitur also mindestens zwei Jahre früher als normal machen würde. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin, hatte im vergangenen Jahr ganz nebenbei die Landesmeisterschaften im Radfahren gewonnen und betrieb seit achtzehn Monaten Taekwondo, eine koreanische Variante des Karate. Unnötig zu sagen, dass sie in diesen Sommerferien für die Schwarz-Gurt-Prüfung angemeldet war, die sie vermutlich mit Auszeichnung ablegen würde.

Nichts von alledem bedeutete ihr noch etwas. Seit dem Tod ihrer Großmutter schien auch aus ihrem Leben etwas verschwunden zu sein, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass es da war, solange sie es besaß; wie es einem oft mit den wirklich wertvollen Dingen im Leben ergeht.

Sie schaltete leise Musik ein und sofort wieder aus, weil es ihr plötzlich unpassend erschien, in einem Augenblick wie diesem Musik zu hören. Stattdessen legte sie sich aufs Bett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte die schräge Decke über sich an. Es war... verwirrend. Noch vor ein paar Tagen hatte sie ein Leben geführt, von dem die allermeisten Menschen nur träumen konnten, doch seit Großmutters Tod war einfach nichts mehr so, wie es sein sollte.

Es war nicht nur der Umstand, dass ihre Großmutter gestorben war. Das war zwar schrecklich und der damit einhergehende Schmerz war noch schrecklicher, aber der Tod gehörte nun einmal zum Leben dazu und ihre Großmutter war schon seit Jahren krank gewesen und außerdem sehr alt.

Doch etwas hatte sich... verändert. Leonie konnte nicht sagen was, aber sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass ihr gesamtes Leben plötzlich anders geworden war; schlimmer noch: dass es irgendwie... gar nicht mehr ihr eigenes Leben war, das sie führte. Sie kam sich vor wie ein Eindringling, der nicht hierher gehörte.

Sie schüttelte den Gedanken hastig ab. Nicht dass sie auch nur im Entferntesten glaubte, an diesem Unsinn könnte irgendetwas dran sein, aber allein dass sie so etwas dachte, erschreckte sie bis ins Mark. Leonie war immer und zu Recht stolz auf ihren messerscharfen Verstand und ihr Gefühl für Logik gewesen - so etwas passte einfach nicht zu ihr.

Nein, es lag nicht an ihr, es lag an diesem Tag und an all diesen seltsamen und verwirrenden Dingen, die sie erlebt und gehört hatte. Sie musste mit ihrem Vater sprechen. Sicher hatte er sich mittlerweile beruhigt und würde ihr wenigstens ein paar von den zahllosen Fragen beantworten, die ihr auf der Seele brannten. Sie stand wieder auf, verließ das Zimmer und ging ins Erdgeschoss zurück.

Leonie fand ihren Vater in seinem Arbeitszimmer, wie sie vermutet hatte. Er hatte mittlerweile aufgehört zu telefonieren und saß auch nicht mehr an seinem Schreibtisch, sondern hatte sich vor dem Safe in die Hocke sinken lassen und drehte der Tür den Rücken zu; und damit auch ihr. Leonie konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber die Tür des kühlschrankgroßen Safes stand offen und er schien irgendetwas, das darin lag, konzentriert anzublicken.

Sie wartete eine geraume Weile darauf, dass er ihre Anwesenheit bemerkte oder sich überhaupt irgendwie rührte, doch das geschah nicht. Schließlich räusperte sie sich, machte einen Schritt in den Raum hinein und räusperte sich noch einmal, diesmal lauter, als er auch darauf nicht reagierte.

Ihr Vater fuhr so erschrocken herum, dass er in der unsicheren hockenden Stellung, in der er dasaß, um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und sich mit der linken Hand auf dem Boden abstützen musste. Er wirkte so betroffen, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Leonie warf ganz automatisch einen Blick in den offenen Tresor hinter ihm. Darin befand sich jedoch nichts Aufregenderes als einige Akten, ein schmales Bündel Geldscheine und ein großes ledergebundenes Buch.

»Leonie! Du bist es nur.« Ihr Vater atmete sichtbar erleichtert auf, drehte sich jedoch hastig um und schloss mit einiger Anstrengung die schwere Safetür, bevor er aufstand und sich wieder zu ihr umwandte. Leonie sah, dass er einen altmodischen schwarz-goldenen Füllfederhalter in der Hand hielt.

»Hast du jemand anderen erwartet?«, fragte sie.

Ihr Vater war ihrem Blick gefolgt, und abermals wirkte es seltsam verstohlen, als er den Füller einsteckte; eine Spur zu hastig, wie Leonie fand. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ich war nur... in Gedanken.«

»Was waren das denn für Gedanken?«, fragte Leonie.

Das Geräusch der Türglocke bewahrte ihren Vater davor, antworten zu müssen. Hastig drehte er sich zum Schreibtisch um und betätigte eine Taste. Der flache Computermonitor, der an der Wand darüber angebracht war, schaltete sich ein und zeigte das Bild der Überwachungskamera im Eingangsbereich.

Ein elegant gekleideter, grauhaariger Fremder in mittleren Jahren war vor der Haustür aufgetaucht und streckte gerade die Hand aus, um ein zweites Mal zu klingeln. Aber er tat es nicht, sondern ließ den Arm plötzlich wieder sinken, hob stattdessen den Kopf und blickte direkt ins Objektiv der Kamera. Leonie war einigermaßen überrascht. Die Kamera war nicht nur winzig, sondern auch so versteckt angebracht, dass man sie selbst dann kaum sah, wenn man wusste, wo man zu suchen hatte. Dennoch konnte Leonie in seinen Augen lesen, dass es kein Zufall war. Im Gegenteil: Sie hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, dass dieser sonderbare Fremde ihren Vater und sie über den Computermonitor ebenso aufmerksam musterte wie sie umgekehrt ihn.

»Herr Kammer?«, fragte er.

»Ja?«

Der Grauhaarige machte eine Bewegung, als lüfte er einen nicht vorhandenen Hut. »Bitte verzeihen Sie die Störung, aber ich müsste Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen«, erklärte er gestelzt.

Leonies Vater überlegte einen Moment, dann nickte er. »Einen kleinen Augenblick. Ich komme zur Tür.« Er schaltete den Bildschirm ab und trat vom Schreibtisch zurück, machte aber dann noch einmal kehrt und zog eine Schublade auf. Leonies Augen weiteten sich ungläubig, als sie die kleine Pistole sah, die er herausnahm und rasch in der Jackentasche verschwinden ließ. Sie hatte bis jetzt noch gar nicht gewusst, dass ihr Vater eine Waffe besaß!

»Was... was soll das?«, fragte sie stockend.

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete ihr Vater mit einem beruhigend gemeinten Lächeln, das aber eher das Gegenteil bewirkte. »Man kann nie wissen.«

»Aber wer ist denn das?«

»Ich weiß es nicht.« Vater verließ sein Arbeitszimmer und Leonie konnte ein eisiges Schaudern nicht mehr ganz unterdrücken. Sie spürte, dass ihr Vater die Wahrheit gesagt hatte; aber wenn er es für sicherer hielt, eine Waffe mitzunehmen, obwohl er diesen Fremden gar nicht kannte, dann machte das die Sache eher noch schlimmer.

Sie folgte ihrem Vater in geringem Abstand, als er zur Tür ging. Der Umriss des Fremden war als schwarzer Schatten hinter dem bunten Tiffany-Glas der Haustür zu erkennen. Er kam ihr viel größer vor, als er auf dem Computermonitor gewirkt hatte, und auf seltsame Weise bedrohlich. Und ihrem Vater schien es ganz ähnlich zu gehen, denn seine Schritte wurden zunehmend langsamer, während er sich der Tür näherte. Seine Hand lag wie zufällig auf der Tasche, in der er die Pistole trug. Leonies Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen, als er endlich stehen blieb und die Tür öffnete.

Dahinter kam jedoch nichts Bedrohlicheres zum Vorschein als eben jener elegant gekleidete schlanke Mann, dessen graues Haar ihn möglicherweise älter erscheinen ließ, als er war. Er trug eine altmodische Aktentasche in der linken Hand, mit der anderen reichte er ihrem Vater eine weiße Visitenkarte mit goldener Schrift.

»Guten Tag«, sagte er.

Leonies Vater beließ es bei einem kühlen »Ja?« Er rührte keinen Finger, um die Karte anzunehmen.

»Herr Kammer?« Der Grauhaarige steckte die Karte ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit wieder ein. Er bekam keine Antwort, was ihn aber nicht daran hinderte, einen kurzen Blick in Leonies Richtung zu werfen. »Hallo, Leonie.«

»Was kann ich für Sie tun, Herr...?«, fragte ihr Vater.

»Leichner«, stellte sich der Fremde vor. »Magister Leichner. Ich bin Advokat und suche im Auftrag von...«

»Ich kann mir ungefähr denken, in wessen Auftrag Sie hier sind«, fiel ihm Leonies Vater ins Wort. »Aber ich glaube nicht, dass ich mit Ihnen reden möchte. Wenn es um juristische Fragen geht. Dann klären Sie das doch bitte mit meinem Rechtsanwalt.«

Advokat?, dachte Leonie verwirrt. Das war ein altertümlicher Ausdruck für Rechtsanwalt, den bestimmt seit fünfzig Jahren niemand mehr benutzte.

»Genau um eine derartige Eskalation zu vermeiden, bin ich gekommen«, seufzte Leichner. »Bitte, Herr Kammer, schenken Sie mir fünf Minuten Ihrer Zeit. Möglicherweise bleibt uns allen dann eine Menge Kummer und Leid erspart.« Er lächelte ganz sacht. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht hier bin, um Ihnen oder Ihrer Familie irgendeine Unbill zuzufügen, und die Waffe, die Sie in Ihrer rechten Jackentasche tragen, werden Sie gewiss nicht benötigen.«

Leonie fuhr erschrocken zusammen, und auch ihr Vater riss ungläubig die Augen auf und ließ die Hand, die noch immer auf seiner Jackentasche lag, so hastig sinken, als wäre die Pistole darin plötzlich glühend heiß geworden.

Aber dann tat er etwas sehr Seltsames: Statt Leichner endgültig rauszuwerfen oder gleich vom Grundstück zu jagen, trat er widerwillig einen Schritt zurück und machte eine abgehackte Handbewegung. »Also gut«, meinte er barsch. »Aber damit das klar ist: Ich bitte Sie nicht herein. Ich gewähre Ihnen freies Geleit ins Haus, bis Sie Ihr Sprüchlein aufgesagt haben, und wieder hinaus, aber das ist dann auch schon alles.«

Leichner lachte ganz leise. »Sie verwechseln da etwas, mein Lieber. Vampire darf man nicht ins Haus bitten, wenn man nicht Gefahr laufen will, ihrer Macht zu erliegen. Gegen Advokaten hilft das nicht.«

»Sehr witzig«, sagte Vater kalt. Er wiederholte seine auffordernde Geste. »Fünf Minuten und keine Sekunde länger.«

Das Lächeln verschwand ebenso abrupt von Leichners Gesicht, wie es darauf erschienen war. Er ergriff seine Aktentasche und folgte Leonie und ihrem Vater ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer. Leonie warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, bekam aber nur ein angedeutetes Achselzucken als Antwort.

»Also?« Ihr Vater machte sich nicht die Mühe, Leichner einen Platz anzubieten. »Was wollen Sie?«

»Ich würde es vorziehen, wenn Sie Ihre Frau Gemahlin zu diesem Gespräch bitten würden«, sagte Leichner, aber Vater schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich bedaure«, erwiderte er. »Meine Gemahlin ist unpässlich.«

Im ersten Moment sah Leonie ihren Vater nur perplex an, dann aber wurde ihr klar, dass er ganz bewusst zu dieser altmodisch-gestelzten Art des Redens übergegangen war, um Leichner zu verhöhnen. Der Advokat war aber auch wirklich eine seltsame Erscheinung. Er war durchaus modern gekleidet - sein Anzug war wahrscheinlich keinen Tag älter als ein Jahr -, aber gewisse Kleinigkeiten erzeugten einen altertümlichen Eindruck: nicht nur seine skurrile Art zu reden, sondern auch die altmodische Aktentasche, die er anstelle der heute üblichen schmalen Aktenköfferchen trug, und die goldene Taschenuhr, deren Kette aus seiner Westentasche ragte. Leonie konnte die Uhr selbst zwar nicht sehen, aber sie war einfach sicher, dass sie da war. Und schließlich das Unheimlichste überhaupt: Dieser seltsame Advokat wusste Dinge, die er gar nicht wissen konnte.

»Das ist bedauerlich«, sagte Leichner. Es klang ehrlich. »Ich hoffe, dass es Ihrer verehrten Gemahlin bald wieder besser geht.«

»Danke«, meinte Vater. »Eine Minute ist übrigens schon vorbei. Also kommen Sie lieber zur Sache.«

Leichner verschenkte noch einmal weitere kostbare fünf Sekunden seiner verbleibenden Zeit, um ihn vorwurfsvoll anzublicken, beließ es dann aber dabei. »Also gut«, sagte er schließlich. »Sie wissen, warum ich hier bin. Meine Mandanten lassen Sie inständig bitten, sich Ihre Entscheidung noch einmal zu überlegen.«

»Es geht hier nicht um meine Entscheidung«, erklärte Leonies Vater betont. »Als... Advokat sollten Sie wissen, dass es gar nicht in meiner Macht steht, an diesem Testament irgendetwas zu ändern.«

»Sie können es ausschlagen«, sagte Leichner rundheraus. »Kein Gericht der Welt verpflichtet Sie, das Erbe anzutreten. Dann würde Leonie automatisch in der Erbfolge aufrücken.«

»Aber was macht denn das für einen Unterschied?«, mischte sich Leonie ein. »Ich will das alles doch gar nicht! Weder das Geld noch das Geschäft.«

»Es geht doch nicht um Geld, mein liebes Kind«, entgegnete Leichner. »Und auch nicht um das Geschäft. Es geht darum, dass deine Großmutter dir alles hinterlassen hat, was sie besitzt.« Er wandte sich wieder an ihren Vater. »Sie wissen, wovon ich rede.«

»Sie haben noch zwei Minuten, das ist alles, was ich weiß«, antwortete Vater kalt. Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Sie sollten sie nicht verschwenden.«

»Ich beschwöre Sie!«, rief Leichner. Wenn er schauspielerte, dann perfekt, fand Leonie. Seine Beinaheverzweiflung war jedenfalls durchaus überzeugend. »Es liegt wirklich nicht in meiner Absicht, die Situation in irgendeiner Form zu verschärfen, aber...«

»Sie sind nicht der erste Anwalt, mit dem ich es zu tun bekomme, Leichner«, unterbrach ihn Vater mit schneidender Stimme. »Und wenn ich dabei eines gelernt habe, ist es, dass Leute wie Sie nur solche versöhnlichen Töne anschlagen, wenn sie ganz genau um die Aussichtslosigkeit ihrer Position wissen.«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Meine Frau und ich sind uns einig: Wir werden das Erbe antreten.«

»Wenn es Ihnen nur um Geld geht«, versuchte es Leichner auf andere Weise, »so sind meine Mandanten bereit, Sie äußerst großzügig abzufinden.«

»Sie wissen genau, dass es uns nicht darum geht«, sagte Vater. Er trat hinter Leonie und legte ihr beschützend (oder besitzergreifend?) die Hände auf die Schultern. »Wenn das alles ist, würde ich Sie jetzt bitten zu gehen.«

Leichner rührte sich nicht von der Stelle. »Bitte, nehmen Sie doch Vernunft an. Wenn schon nicht Ihretwegen, dann wegen Ihrer Tochter. Ich will Ihnen weiß Gott nicht drohen, aber Ihre rechtliche Position ist vielleicht nicht ganz so sicher, wie Sie anzunehmen scheinen.«

»So?«, fragte Vater.

Leichner schien einen Moment ernsthaft darüber nachzudenken, was er als Nächstes sagen sollte - und das vermutlich aus gutem Grund. Leonie kannte ihren Vater lange genug, um sich von seiner vorgetäuschten Ruhe nicht beirren zu lassen. In Wahrheit stand er kurz vor der Explosion.

Der Advokat trat ein Stück zur Seite und gab dabei den Blick auf den großen Flachbildfernseher frei, der wie ein modern gerahmtes Bild an der Wand über dem Kamin hing. Er war ausgeschaltet, aber für einen winzigen Moment, vielleicht nur die Zeitspanne eines Blinzelns, glaubte Leonie, doch etwas darauf zu sehen. Zuckende Flammen. Ein rotes Inferno, das vom Himmel regnete und brennende Trümmerstücke in alle Richtungen spie, das flackernde Blaulicht von Krankenwagen und Löschzügen, verweinte Gesichter und das durcheinander schrillende Jaulen von Sirenen.

Leonie blinzelte erneut und die unheimliche Vision war verschwunden. Leichner sagte: »Diese Tradition, von der Sie verächtlich reden, ist sehr alt. Mit ihr wurde nie gebrochen, und es gibt sehr viele Zeugen mit einem ausgezeichneten Leumund, die aussagen werden, dass Ihre verehrte Frau Schwiegermutter zeit ihres Lebens beteuert hat, an dieser Tradition festhalten zu wollen. Ich bin nicht so sicher wie Sie, dass die Gerichte dies alles mit einem Federstrich abtun werden.«

»Sie wollen mir also doch drohen«, erwiderte Vater. »Eine Minute.«

»Keineswegs«, beteuerte Leichner. »Ich zähle nur Tatsachen auf. Es ist bekannt, dass Ihre Frau Schwiegermutter lange sehr krank gewesen ist. Die letzten Jahre war sie an den Rollstuhl gefesselt, nicht wahr? Und mit ihrer geistigen Gesundheit stand es auch nicht mehr zum Besten, soweit ich informiert bin.«

Vaters Gesicht verdüsterte sich, und diesmal war Leonie sicher, dass er explodieren würde, aber sie kam ihm zuvor. »Was reden Sie da?«, fragte sie empört. »Meine Großmutter war der gesündeste Mensch, den ich je gekannt habe. Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen!«

»Was für ein Unfall?«, fragte Leichner.

»Na, dieser... dieser schreckliche Flugzeugabsturz.« Leonie deutete aufgeregt auf den Fernseher. »Sie bringen doch seit zwei Tagen kaum noch etwas anderes!«

»Flugzeugabsturz?«, fragte Leichner wieder. »Was für ein Flugzeugabsturz?«

Ja, dachte Leonie. Was für ein Flugzeugabsturz? Sie erinnerte sich nicht an ein solches Unglück in letzter Zeit, vor allem an keines, in das ihre Großmutter verwickelt war. Und sie konnte sich auch nicht erklären, warum sie das gerade eben gesagt hatte.

»Verzeihen Sie meiner Tochter, Herr Leichner«, mischte sich ihr Vater jetzt ein. »Sie ist... ein wenig verwirrt. Es war alles zu viel für sie - genau wie für uns übrigens.«

»Ja, das... scheint mir auch so«, antwortete Leichner unsicher. Sein Blick wanderte noch einmal zu dem ausgeschalteten Fernseher und wieder zurück zu Leonies Gesicht, dann riss er sich mit sichtlicher Mühe los und wandte sich wieder an ihren Vater. »Ich bedaure aufrichtig, dass wir nicht zu einer gütlichen Einigung zu gelangen scheinen, Herr Kammer, und ich muss gestehen, dass ich Ihren Standpunkt nicht nachvollziehen kann.«

»Ach?«, fragte Vater. »Dreißig Sekunden. Dann rufe ich die Polizei. Der Begriff Hausfriedensbruch ist Ihnen doch sicher geläufig, oder?«

»Warum wollen Sie alles aufs Spiel setzen?«, fragte Leichner kopfschüttelnd. »Sie haben alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann: Geld, eine bezaubernde Frau, eine wunderschöne, intelligente Tochter, die ihre Eltern liebt und...«

Er brach ab. Der größte Teil der Frist, die Vater ihm gewährt hatte, verstrich, während er einfach dastand und Leonie aus aufgerissenen Augen anstarrte, in denen aus einem ungläubigen Verdacht allmählich schreckliche Gewissheit wurde. Dann keuchte er, fuhr herum und starrte den Fernseher an und schließlich wieder Leonie. »Was hast du über deine Großmutter gesagt, Leonie?«, fragte er. »Sie... sie ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen?«

»Nein«, antwortete Leonie. »Natürlich nicht. Ich... ich weiß nicht, warum ich diesen Unsinn erzählt habe.«

Leichners Augen weiteten sich noch mehr. »Nein«, hauchte er. »Das haben Sie nicht getan! Bitte sagen Sie mir, dass Sie das nicht getan haben!«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte Vater. »Aber ich will es auch nicht. Bitte gehen Sie!«

»Sie haben es getan«, seufzte Leichner. Er klang erschüttert. »Wissen Sie denn nicht, welchen Schaden Sie damit anrichten können? Vielleicht haben Sie das sogar schon. Wir werden es nie erfahren.«

»Dann kann er ja auch nicht so schlimm sein, nicht wahr?«, fragte Vater. »Bevor Sie reden: Ich verstehe es nicht und es interessiert mich auch nicht. Und jetzt gehen Sie - bitte!«

Leichner schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann konnte Leonie regelrecht sehen, wie alle Kraft aus ihm wich. Er fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht und für eine winzige Zeitspanne war die Aura von Würde und Autorität dahin, die ihn bisher umgeben hatte. Er wirkte nur noch müde, fast wie zerbrochen. »Sie hätten das nicht tun dürfen«, murmelte er. Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort oder auch nur einen Blick des Abschieds um und ging. Nach allem, was sie gerade gehört hatte, rechnete Leonie fest damit, dass ihr Vater ihn zur Haustür begleiten und sich davon überzeugen würde, dass er auch wirklich ginge, aber er blieb einfach stehen und starrte ihm nach.

Erst als sie das Geräusch der Haustür hörte, die ins Schloss fiel, streifte Leonie seine Hände, die immer noch auf ihren Schultern lagen, ab und drehte sich um. Ihr Vater starrte noch immer in die Richtung, in die Leichner verschwunden war.

»Was hat er damit gemeint?«, fragte sie. »Was hättest du nicht tun dürfen?«

»Nichts«, antwortete ihr Vater ausweichend. »Mach dir keine Sorgen.«

»Die mache ich mir aber«, erklärte Leonie, »und zwar umso mehr, je länger ihr mir jedes Mal ausweicht, wenn ich eine ganz bestimmte Art von Fragen stelle.«

Zu ihrer Überraschung lächelte ihr Vater. »Ja, du hast Recht«, gestand er. »Wir hätten es dir schon lange sagen sollen. Und das werden wir auch tun. Heute noch.«

»Das heißt im Klartext: nicht jetzt«, vermutete Leonie.

»Ich muss nur noch einmal mit deiner Mutter reden«, antwortete Vater ausweichend, hob aber gleichzeitig besänftigend beide Hände, als Leonie auffahren wollte. »Es dauert nur ein paar Minuten. Ehrenwort. Warte einfach hier und wir kommen gleich zurück. Dann erfährst du alles.«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern ging. Leonie setzte dazu an, ihm nachzulaufen, aber sie machte nur einen einzigen Schritt, bevor sie wieder stehen blieb. Ihr Vater hatte versucht ruhig zu klingen, und jeder, der ihn nicht so gut kannte wie sie, wäre vielleicht sogar darauf hereingefallen, aber sie nicht. Sie hatte die Panik gesehen, die in seinen Augen flackerte.

Unschlüssig ging sie wieder ins Wohnzimmer zurück. In ein paar Minuten, hatte ihr Vater gesagt. Sie sah auf die Uhr und beschloss, ihm allerhöchstens eine Viertelstunde zu geben, danach würde sie Mutter und ihn endgültig zur Rede stellen, und diesmal würde sie sich nicht mit irgendwelchen Ausreden abspeisen lassen.

Ganz bestimmt nicht.

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