Kriegsrat

Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, schließlich eine geschlagene Minute lang starrte Leonie die uralte Frau auf der anderen Seite nur an, reglos, ohne zu blinzeln, ohne zu atmen, ja sogar ohne zu denken - und dann schlugen die Erinnerungen mit solcher Macht über ihr zusammen, dass sie sich wie unter einem Hieb im Sitz zusammenkrümmte und ein leises, gequältes Wimmern ausstieß. Plötzlich wusste sie wieder alles. Die falschen Erinnerungen, die sie die ganze Zeit über gequält hatten, waren wie weggefegt; zwar noch da, aber bedeutungslos.

Ihre Großmutter war am Leben! Sie war die ganze Zeit über da gewesen, direkt neben ihr, und sie hatte es nicht einmal gemerkt!

»Aber warum?«, wimmerte sie. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen, die sie weder zurückhalten konnte noch wollte. »Warum... warum hast du das getan?«

»Es tut mir so unendlich Leid, mein Schatz«, sagte Großmutter sanft. Sie beugte sich vor. Ihre schmale Hand berührte die Leonies und streichelte sie sanft. Ihre Haut fühlte sich so rau und trocken an wie warmes Sandpapier.

»Aber warum? Warum hast du uns...« Leonies Stimme versagte endgültig.

»... in dem Glauben gelassen, ich wäre tot?« Auch Großmutters Augen schimmerten feucht. »Oh, glaube nicht, dass auch nur eine einzige Sekunde vergangen wäre, in der ich nicht gewusst hätte, welchen Schmerz ich euch allen damit zufüge - und dir vor allem, Leonie. Aber ich hatte keine Wahl.«

»Aber warum?!« Leonie schrie fast.

»Weil sie wusste, dass sie dem Archivar nicht gewachsen ist«, antwortete Wohlgemut an Großmutters Stelle. »Deine Großmutter ist eine sehr tapfere Frau, Leonie, und vielleicht die mächtigste Hüterin, die jemals gelebt hat. Doch auch ihre Kräfte sind nichts im Vergleich zu denen des Archivars. Erinnerst du dich an jenen Tag, an dem ihr gemeinsam zu mir in die Bibliothek gekommen seid?«

Leonie sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. Sie nickte nur. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»Du hast geglaubt, deine Großmutter hätte dich wegen der Praktikantenstelle zu mir gebracht, aber das ist nicht die Wahrheit«, fuhr Wohlgemut fort. »Sie ist gekommen, um mich und die anderen zu warnen.«

»Warnen? Vor wem?«

»Vor dem Archivar, Liebes«, antwortete Großmutter. Sie sah sehr traurig aus und auf eine Weise schuldbewusst, die Leonie fast das Herz brach. »Das alles tut mir so unendlich Leid, dass...«

»Vielleicht sollten wir darüber in aller Ruhe sprechen, meine Liebe, und an einem anderen Ort«, unterbrach sie Fröhlich mit einer sanften Geste. Umständlich griff er in die Tasche seiner altmodischen Weste und förderte eine noch viel altmodischere Taschenuhr zutage, die an einer langen goldenen Kette hing. Nachdem er den Deckel aufgeklappt und einen Moment seine kurzsichtigen Augen zusammengekniffen hatte, um das Ziffernblatt erkennen zu können, sagte er: »Es ist noch ein wenig Zeit. Ich schlage vor, wir setzen die Unterredung in einer etwas gastlicheren Umgebung fort.«

Er klappte die Uhr wieder zu, steckte sie ein und warf einen fragenden Blick in die Runde. Wohlgemut deutete ein Nicken an und auch Großmutter signalisierte ihre Zustimmung, wenn auch nur mit einem entsprechenden Blick. Leonie beschlich ein sonderbares Gefühl. Sie spürte, dass es bei Fröhlichs Vorschlag um mehr ging als um das, was er laut ausgesprochen hatte. Aber sie war noch immer viel zu verwirrt und durcheinander, um auch nur einen einzigen wirklich klaren Gedanken zu fassen.

»Gut«, sagte Fröhlich munter. »Bist du hungrig, Leonie?«

Hungrig?! Leonie starrte ihn fassungslos an. Wie konnte er in einem Moment wie diesem ans Essen denken?

Fröhlich schien ihren erstaunten Blick jedoch als Zustimmung zu werten, denn er beantwortete seine eigene Frage mit einem Nicken, beugte sich aus dem Fenster und rief Vater Gutfried, der vorn auf dem Kutschbock saß, etwas zu. Leonie hatte das Gefühl, dass der Wagen schneller wurde, aber ganz sicher konnte sie nicht sein. So wenig, wie es ihr vorher gelungen war, die Gestalt auf dem Kutschbock eindeutig zu erkennen, war es ihr nun möglich, die Umgebung deutlich auszumachen, die hinter den schmalen Fenstern des Einspänners vorüberglitt. Alles schien wie hinter einem grauen Schleier zu liegen, der die Konturen der Dinge verwischte und den Farben ihre Leuchtkraft nahm. Manchmal war es ihr, als hätten die Umrisse einen ganz sachten, in blassem Grün schimmernden Schatten. Der Gedanke entglitt ihr, bevor sie ihn wirklich fassen konnte, doch Leonie begriff immerhin, dass sie sich wohl nicht in der wirklichen Welt befanden.

Falls es so etwas wie die wirkliche Welt überhaupt jemals gegeben hatte.

Sie fuhren eine ganze Weile durch die noch immer wie ausgestorben daliegende Stadt, und trotz des gleichmachenden grauen Schleiers vor den Fenstern konnte Leonie erkennen, wie sich ihre Umgebung allmählich zu verändern begann. Die Häuser wurden größer und rückten enger zusammen, die Vorgärten begannen zu schrumpfen - blieben allerdings ausnahmslos tadellos gepflegt - und auch die Straße wurde allmählich schmaler. Dafür sah sie jedoch nach einer Weile die ersten Menschen; sonderbar blasse, tiefenlose Gestalten zuerst, die jedoch bald an Substanz und Realität gewannen und auch zahlreicher wurden. Nach einer Weile gesellten sich die ersten Automobile hinzu und hinter den Fenstern der Häuser brannte jetzt Licht. Gleichzeitig wurde die Kutsche wieder langsamer, um sich in den fließenden Verkehr einzureihen, der dichter wurde, je weiter sie sich dem Stadtzentrum näherten.

Leonie drehte sich vom Fenster weg und wollte eine entsprechende Frage an ihre Großmutter richten, fing aber im letzten Moment einen warnenden Blick aus Fröhlichs Augen auf.

Sie wäre auch nicht sicher gewesen, ob Großmutter ihre Worte überhaupt verstanden hätte. Die alte Frau saß leicht vornüber gebeugt und mit hängenden Schultern da. Ihr Gesicht war vollkommen unbewegt, aber in ihren Augen stand ein Ausdruck von so unendlich tiefer Trauer und Verzweiflung geschrieben, dass Leonie ein eisiger Schauer über den Rücken lief und sich ihr schlechtes Gewissen bemerkbar machte. Wie kam sie eigentlich auf die Idee, das alleinige Recht auf Schmerz und Enttäuschung für sich zu reklamieren? Hastig wandte sie den Blick wieder ab und sah für den Rest der Fahrt wortlos aus dem Fenster.

Sie dauerte nicht mehr allzu lange. Im gleichen Maße, in dem der Verkehr zunahm, wurden die Häuser größer und die Lichter strahlender, und schließlich rollte die Kalesche nur noch im Schritttempo durch eine hell erleuchtete, dicht bevölkerte Innenstadt, die Leonie so fremd vorkam, als befände sie sich nicht nur in einem anderen Land, sondern gleich auf einem anderen Planeten.

Das änderte sich auch nicht, als die Droschke schließlich an den Straßenrand rollte und Fröhlich ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen gab, dass sie ihr Ziel erreicht hatten und sie aussteigen sollte.

Leonie war die Erste, die umständlich aus dem altmodischen Gefährt kletterte und auf den breiten Bürgersteig trat. Staunend sah sie sich um.

Die Droschke hatte am Straßenrand zwischen zwei flachen, eleganten Sportflitzern angehalten, aber niemand schien von dem altertümlichen Gefährt nur Notiz zu nehmen. Die Leute waren hier sowieso irgendwie komisch, fand Leonie - wenn auch auf eine durchaus angenehme Art. Obwohl der Bürgersteig voller Menschen war, gab es kein Gedränge, nirgendwo entstand ein Stau, auf keinem Gesicht war auch nur ein Anflug von Unmut zu erblicken. Ganz in Gegenteil: So ungeschickt, wie sich Leonie anstellte, wäre sie um ein Haar mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die ihr im letzten Augenblick gerade noch ausweichen konnte und dabei beinahe gestolpert wäre. Statt jedoch verärgert zu reagieren, lächelte sie Leonie nur verzeihend an und setzte ihren Weg dann unbeeindruckt fort. Leonie sah ihr vollkommen fassungslos hinterher.

»Es leben wirklich freundliche Menschen in dieser Stadt, nicht wahr?«, fragte Fröhlich. Etwas an der Art, wie er die Frage aussprach, gefiel Leonie nicht, aber sie hätte nicht sagen können, was es war, und sah Fröhlich nur irritiert an.

Mittlerweile waren auch Leonies Großmutter und der Professor aus dem Wagen gestiegen, nur Vater Gutfried machte keine Anstalten, von seinem Kutschbock herunterzukommen. Ganz im Gegenteil: Kaum hatte Wohlgemut die Tür hinter sich geschlossen, ließ er die Zügel knallen und der Wagen setzte sich knarrend wieder in Bewegung. Ein Auto, das gerade zügig hinter ihm angefahren kam, musste scharf abbremsen, doch statt der erwarteten Schimpfkanonade lächelte der Fahrer nur und geduldete sich, bis die Droschke ganz auf die Straße hinausgefahren war und Fahrt aufnahm.

»Ich dachte, wir sollten uns unauffällig verhalten«, murmelte Leonie.

»Oh, keine Sorge«, antwortete Fröhlich lächelnd. »Für alle anderen hier ist das ein ganz normales Automobil.«

Was immer man hier unter normal verstehen mochte, dachte Leonie verwirrt. Sie trat wortlos an einen der beiden Sportwagen heran, zwischen denen die Droschke gestanden hatte, und beugte sich vor, um einen Blick ins Innere zu werfen. Der Wagen sah genauso aus, wie sie es erwartet hatte - Leder, verchromte Armaturen und elegantes, dunkles Holz -, mit einer einzigen Ausnahme: Der Tachometer reichte nur bis einhundertzehn.

Stirnrunzelnd trat sie zurück und wandte ihre Aufmerksamkeit dem übrigen Verkehr zu. Die Straße war voller großer, eleganter Automobile, die mit nahezu lautlos summenden Elektromotoren dahinglitten, ohne dass sie sich jemals auch nur nahe zu kommen schienen. Leonie hatte noch niemals so disziplinierte Autofahrer gesehen.

»Hast du Lust auf einen kleinen Schaufensterbummel?«, fragte Fröhlich. »Das Restaurant ist nur zwei Straßen entfernt.«

Es war keine Frage, das war Leonie klar. Fröhlich wandte sich dann auch um, ohne ihre Antwort abzuwarten, und ging in gemächlichem Tempo los - allerdings erst, nachdem sich Großmutter und der Professor in Bewegung gesetzt und ein paar Schritte Vorsprung hatten. Leonie wollte zu ihnen aufschließen, aber Fröhlich legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf.

»Gib ihr einen kleinen Moment«, bat er, wobei er so leise sprach, dass Großmutter und Wohlgemut die Worte nicht hören konnten. »Deine Großmutter leidet sehr. Sie ist womöglich die tapferste Frau, die ich jemals kennen lernen durfte, aber sie weiß auch, was sie dir und deinen Eltern angetan hat. Sie hat große Angst vor dem Moment gehabt, in dem sie dir die Wahrheit sagen musste.« Er zwang ein zuversichtliches Lächeln auf sein Gesicht, was ihm nur halb gelang. »Aber keine Sorge. Wohlgemut kümmert sich um sie. Er ist der beste Freund, den man sich wünschen kann.«

Leonie sah ihn nur wortlos an, aber ihr wurde spätestens jetzt klar, dass Fröhlich sie keineswegs zu diesem Spaziergang eingeladen hatte, um einen Schaufensterbummel zu machen. Er wollte mit ihr reden, und zwar ohne dass ihre Großmutter hörte, was er zu sagen hatte.

»Ich war damals selbst erbost, als sie zu mir kam und mir von ihrem Vorhaben berichtete«, fuhr Fröhlich fort, als er nach ein paar Augenblicken zu begreifen schien, dass sie nicht antworten würde. Er lächelte flüchtig. »Du hast ja unseren kleinen Streit belauscht.«

Leonie nickte, fragte sich aber zugleich, woher Fröhlich das eigentlich wusste. Bisher war sie der Meinung gewesen, dass weder er noch Großmutter ihre kleine Lauschaktion mitbekommen hatten.

»Im Nachhinein muss ich deiner Großmutter Abbitte tun«, erklärte Fröhlich weiter. »Ihr war im Gegensatz zu uns schon damals der wirkliche Ernst der Lage klar. Der Archivar war bereits auf sie aufmerksam geworden, weißt du. Und niemand, dessen Fährte dieses Geschöpf einmal aufgenommen hat, vermag ihm jemals wieder zu entkommen. Sie musste ihn in dem Glauben lassen, dass sie tot ist.«

»Aber warum so?«, fragte Leonie bitter. »Warum hat sie es nicht wenigstens uns gesagt?«

»Weil er es gewusst hätte«, erwiderte Fröhlich ernst. »Der Archivar ist ein Geschöpf der Dunkelheit, Leonie. Schmerz und Kummer sind sein Lebenselixier. Er kann sie spüren. Glaube nicht, dass es deiner Großmutter leicht gefallen wäre, euch so viel Leid zuzufügen. Aber sie musste es tun, um den Archivar davon zu überzeugen, dass sie wirklich tot ist. Kannst du das verstehen?«

Leonie nickte zwar, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Sie konnte nachvollziehen, wieso ihre Großmutter zu dieser List Zuflucht gesucht hatte, denn sie war nicht nur eine äußerst liebenswerte, sondern auch eine sehr kluge Frau. Aber zugleich weigerte sie sich auch beharrlich zu glauben, dass Großmutter den Menschen, die sie von allen auf der Welt am meisten liebte, einen solchen Schmerz zufügen würde, ganz egal aus welchem Grund.

»Wer ist der Archivar?«, fragte sie, wenn auch in Wirklichkeit nur, um das Thema zu wechseln und die nagenden Zweifel zu verdrängen, die Fröhlichs Worte in ihr geweckt hatten.

»Das weiß niemand wirklich«, antwortete Fröhlich nach einigen Sekunden. »Vielleicht so etwas wie der Teufel des Archivs.« Er hob die Schultern. »Er war schon immer da und es wird ihn wohl auch immer geben. Vielleicht ist es einfach so, dass es für jede Kraft im Universum auch eine Gegenkraft geben muss. Ich glaube nicht, dass man ihn jemals wirklich besiegen kann.«

»Welchen Sinn hat es dann, gegen ihn zu kämpfen?«, fragte Leonie.

Fröhlich lächelte, als hätte er genau diese Frage erwartet. »Würdest du Vater Gutfried fragen, welchen Sinn es hat, gegen den Teufel zu kämpfen?«, gab er zurück und schüttelte zugleich den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten. »Gewiss nicht. Und doch bekämpfen die Menschen das Böse - die meisten jedenfalls.«

»Aber was will er?«, fragte Leonie. »Worum geht es ihm?«

»Um das, worum es immer geht«, erklärte Fröhlich. »Das Einzige, was überhaupt zählt. Um Macht. Macht über das Buch und damit über das Schicksal aller Menschen.«

»Aber warum nimmt er es sich nicht einfach?«, wunderte sich Leonie. »Wenn er der Herr des Archivs ist, dann ist es doch bereits in seinem Besitz!«

»Weil es so einfach eben nicht ist«, erwiderte Fröhlich. »Keines der Geschöpfe des Archivs hat Macht über das Buch, der Archivar selbst so wenig wie der geringste seiner Diener. Sie zeichnen nur auf, was geschieht. Sie können das Buch nicht verändern. Nur der rechtmäßige Besitzer des Buches ist dazu in der Lage.«

Das erschien Leonie wenig glaubhaft. »Ach, und wer sagt das?«, fragte sie in leicht spöttischem Ton. »Ich meine: Hat jemand eine Archiv-Hausordnung aufgestellt oder gibt es einen Knigge für Scriptoren?«

Fröhlich blieb ernst. »Es gibt auch dort Gesetze und Regeln«, entgegnete er. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich als Jurist dürfte es eigentlich nicht zugeben, aber niemand von uns versteht sie alle und niemand weiß, wer sie aufgestellt hat. Aber es gibt sie und selbst der Archivar muss sie beachten. Nur der, in dessen rechtmäßigem Besitz sich das Buch befindet, hat die Macht, es zu verändern.«

Es dauerte nicht einmal eine Sekunde, bis Leonie der fundamentale Fehler in diesem Gedanken auffiel. »Und was will der Archivar dann damit?«, fragte sie. »Ich meine, wenn er doch gar nichts damit anfangen kann?«

Spätestens jetzt wurde Leonie klar, dass Fröhlich dieses Frage-und-Antwort-Spielchen ganz bewusst spielte, anstatt ihr einfach zu erzählen, was genau geschehen war - warum auch immer. Der grauhaarige Notar wirkte gleichermaßen zufrieden darüber, dass sie von selbst auf diese Frage gekommen war, wie auch besorgt.

»Die Situation hat sich geändert«, erklärte er. »Es ist etwas gesehen, was noch nie zuvor geschehen ist. Das Buch wurde aus dem Archiv entfernt.«

»Vater«, murmelte Leonie.

Fröhlich nickte sehr ernst. »Zum allerersten Mal befindet sich das Buch nicht mehr an seinem angestammten Platz. Und der, der es besitzt, verfügt nicht über die Gabe.«

»Also will er es meinem Vater stehlen?«

»Das würde ihm nichts nutzen«, verneinte Fröhlich. »Es hilft nicht, das Buch zu stehlen. Nur der legitime Erbe hat auch Macht über seinen Inhalt.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment, bevor er in fast beiläufigem Ton fortfuhr: »Allerdings könnte er es deinem Vater abkaufen.«

»Abkaufen?« Beinahe hätte Leonie laut gedacht. »Unsinn! Er würde das Buch niemals verkaufen. Und schon gar nicht diesem... Ding!«

»Und wenn er etwas hätte, wogegen es sich zu tauschen lohnt?«, fragte Fröhlich.

»Unsinn!«, sagte Leonie noch einmal und mit noch größerem Nachdruck. »Was sollte es denn geben, das...?« Sie brach mitten im Satz ab und sie konnte selbst spüren, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

»Mich«, hauchte sie.

»Ja«, antwortete Fröhlich. Er wehrte ab, als Leonie eine weitere Frage stellen wollte. »Deine Großmutter wird dir alles erklären. Es steht mir nicht zu, noch mehr zu offenbaren. Vielleicht habe ich schon mehr gesagt, als ich eigentlich dürfte. Aber ich wollte, dass du weißt, weshalb deine Großmutter so gehandelt hat. Sie hat euch sicher großen Schmerz zugefügt, aber ebenso sicher hat sie dir und deinen Eltern damit das Leben gerettet.«

Es war die pure Gewalt zwingender Logik, die Leonie beeindruckte, nicht unbedingt Fröhlichs Erklärung. Der Anwalt hatte Recht, mit jedem einzelnen Wort, daran gab es nicht den leisesten Zweifel, und doch weigerte sich etwas in Leonie noch immer beharrlich, diese rein logischen Gründe zu akzeptieren. Die Vorstellung einer Frau, die so kühl und berechnend vorging, wollte so gar nicht zu dem Bild passen, das Leonie von ihrer Großmutter hatte.

Leonie rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie war noch immer verbittert und voller Groll über den Schmerz, den man ihr zugefügt hatte. Sie musste aufpassen, dass sie ihren gerechten Zorn auch an dem Richtigen ausließ. Ihre Großmutter hatte gar nicht anders handeln können.

»Ist es noch weit?«, fragte sie.

»Ein paar Dutzend Schritte«, antwortete Fröhlich. Er deutete auf die dezente Leuchtreklame eines Restaurants, vielleicht vierzig oder fünfzig Meter entfernt. »Dort vorne, siehst du?«

Leonie nickte zwar, aber sie war nicht ganz sicher, ob sie begeistert sein sollte. Obwohl sie das Restaurant nicht kannte, sagte ihr doch allein schon die Art der Leuchtreklame genug. Ihr Vater schleppte sie ab und zu in solche Nobelschuppen und glaubte wahrscheinlich auch noch, dass er ihr einen besonderen Gefallen damit tat. »Es kann auch was Einfacheres sein«, sagte sie. »McDonald’s oder KFC tun’s auch.«

Fröhlich lächelte, als hätte sie einen besonders guten Witz zum Besten gegeben. »Ich fürchte, so etwas gibt es nicht mehr«, meinte er und wedelte gleichzeitig mit der Hand. »Komm, schau dir die Auslagen an. Ich bin sicher, dass sie dir gefallen.«

Womit er Recht hatte. Leonie gehorchte fast widerwillig und lenkte ihre Blicke auf die Schaufenster, an denen sie vorübergingen, aber schon nach wenigen Schritten schlug sie das, was sie sah, doch in seinen Bann. Offensichtlich befanden sie sich in einer der teuersten Einkaufsstraßen der Stadt. Noble Boutiquen wechselten sich mit Schmuck- und edlen Möbelgeschäften ab, Uhrengeschäfte mit Hi-Fi- und Computerläden, teuren Schuhgeschäften und gemütlichen Cafes. Trotz der fortgeschrittenen Stunde waren sämtliche Geschäfte noch geöffnet.

»Noble Gegend«, bemerkte sie anerkennend, aber Fröhlich schüttelte den Kopf.

»Eine ganz normale Gegend«, behauptete er.

Leonie hätte selbst nicht sagen können warum, aber diese Worte erschreckten sie zutiefst. Sie sah den alten Notar fragend an, aber Fröhlich schüttelte nur abermals den Kopf und forderte sie mit einer entsprechenden Geste auf, sich weiter umzusehen. Nicht dass es noch nötig gewesen wäre. Sie hatte längst begriffen, was er ihr zeigen wollte. Sie wollte es nur noch nicht wahrhaben, das war alles.

Wohlgemut und ihre Großmutter gingen nun etwas langsamer, sodass sie das Restaurant gleichzeitig erreichten.

Die Erwartung, die die Leuchtreklame in Leonie geweckt hatte, wurde vollständig erfüllt. Der Raum war an sich sehr groß, wurde jedoch von zahlreichen spanischen Wänden und gemauerten Raumteilern in viele kleinere Bereiche unterteilt, sodass trotz seiner Größe sofort ein Eindruck von Behaglichkeit entstand. Wertvolle kristallene Lüster und eine Unzahl kleiner Wand- und Tischlämpchen sorgten für ein gedämpftes, anheimelndes Licht, und aus verborgenen Lautsprechern drang dezente Gitarrenmusik, die gerade laut genug war, dass man ihr lauschen konnte, wenn einem danach zumute war, ohne ansonsten aber zu stören. »Schick«, sagte Leonie, machte aber sofort eine abwehrende Geste in Fröhlichs Richtung. »Nein, sagen Sie es nicht. Ich weiß: ganz normal.«

Fröhlich lächelte. »Nun, nicht unbedingt. Aber nicht wirklich außergewöhnlich.«

Eine junge Kellnerin in einem eleganten Kostüm trat auf sie zu, um sie zu einem Tisch zu geleiten, an dem bereits gedeckt war - zu Leonies Erstaunen allerdings nur für vier Personen. »Komme ich ungelegen?«, fragte sie. »Ich meine: Ich kann später wiederkommen, wenn ihr in Ruhe essen wollt.«

Professor Wohlgemut sah sie fast bestürzt an, aber Fröhlich lachte leise. »Nein, das hat schon seine Richtigkeit«, erwiderte er. »Wir sind nur zu viert, oder?«

»Ich dachte, Vater Gutfried käme noch nach«, erklärte Leonie.

»Das hier ist nicht seine Welt«, antwortete Fröhlich. »Er würde sich... deplatziert fühlen. Darüber hinaus ist er... beschäftigt.«

Leonie nahm zögernd Platz. Die Kellnerin wartete, bis auch alle anderen sich gesetzt hatten, dann verteilte sie die Speisekarte und ging. Leonie geduldete sich mit Mühe und Not, bis sie außer Hörweite war, aber dann platzte sie heraus: »Also, was soll das hier? Ihr habt mich doch nicht hierher gebracht, weil ihr Hunger habt, oder?«

»Es ist ein sicherer Ort«, antwortete Wohlgemut.

»Das habe ich heute Abend schon ein paarmal gehört«, knurrte Leonie. »Aber irgendwie hat es nie gestimmt.«

»Manchmal ist die Öffentlichkeit das beste Versteck«, beharrte Wohlgemut. »Dein Vater muss längst gemerkt haben, dass du weg bist. Er wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen um dich zu finden. Wir können an keinen der Orte gehen, die wir kennen, denn das würde automatisch bedeuten, dass er sie auch kennt.«

»Und dieses Restaurant hier nicht?«

»Keiner von uns war jemals zuvor hier«, sagte Fröhlich. Er hob die Schultern. »Das ist alles andere als ein perfekter Schutz, aber trotzdem der beste, den wir haben.«

Leonie brachte es auf den Punkt. »Ihr seid auf der Flucht.«

Weder ihre Großmutter noch die beiden alten Männer antworteten auf ihre Frage, aber Leonie hätte schon blind sein müssen, um die betretenen Blicke nicht zu bemerken, die sie untereinander tauschten.

»Aber das ist doch... ich meine, das kann doch gar nicht stimmen«, sagte sie hilflos. »Warum sollte Vater euch etwas tun? Außerdem hätte er es längst gekonnt, wenn...« Sie verstummte. Ihre Augen wurden groß, während ihr Blick immer hektischer von einem Gesicht zum anderen irrte.

»Ihr seid erst seit heute auf der Flucht, habe ich Recht?«, fragte sie. Nach einer kurzen, aber bedeutungsschweren Pause und noch leiser fügte sie hinzu: »Meinetwegen.«

Wieder vergingen endlose Augenblicke, in denen sich Großmutter, Professor Wohlgemut und Doktor Fröhlich nur betreten ansahen. Schließlich erwiderte Großmutter traurig ihren Blick und schüttelte den Kopf. »Nicht deinetwegen, Liebes.« Sie machte eine ausholende Geste, die das gesamte Lokal einschloss. Einer der anderen Gäste sah hoch, durch die Bewegung aufmerksam geworden, und nickte ihr lächelnd zu. Großmutter erwiderte dieses Lächeln und sagte: »Deswegen.«

»Das verstehe ich nicht«, bekannte Leonie.

»Warum bestellst du dir nicht etwas zu trinken?«, fragte Fröhlich. Er klappte die Speisekarte auf und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, dasselbe zu tun.

Leonie sah ihn mehr als nur ein wenig irritiert an, dann sagte sie unwillig: »Eine Cola. Ist das jetzt wirklich wichtig?«

Fröhlich sah sie nur an. Leonie griff widerwillig nach der Speisekarte, klappte sie auf und blätterte ärgerlich darin herum. Nach einem Moment erschien ein Ausdruck von Überraschung auf ihrem Gesicht, der sich schnell in Bestürzung verwandelte.

»Keine Cola?«

»Und kein Bier«, ergänzte Wohlgemut. »Kein Wein oder Champagner. Wenn ich es mir recht überlege, überhaupt kein Alkohol.«

»Und sieh dir erst einmal die Speisekarte an«, fügte Großmutter hinzu.

Leonie gehorchte, aber diesmal brauchte sie einen Moment um es zu bemerken. »Was ist daran nicht in Ordnung?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete Fröhlich. »Nur gesundes, ausgewogenes Essen, wie überall. Das ist es ja gerade.« Er seufzte. »Nicht dass ich nicht um die Gefahren von Alkohol, Cholesterin und Schwermetallen und all diesen Dingen wüsste, aber eine kleine Sünde dann und wann macht das Leben doch erst lebenswert.« Er machte eine unauffällige Kopfbewegung zum Nachbartisch hin. »Fällt dir nichts auf?«

»Nein«, sagte Leonie wahrheitsgemäß.

»Lauter glückliche, gesunde und freundliche Leute«, meinte Großmutter bitter. »Hast du unser Gespräch auf der Galerie vergessen, Leonie?«

Das hatte Leonie tatsächlich, auch wenn es ihr im ersten Moment selbst unglaublich erschien. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, die alte Frau, die ihr gegenübersaß, mit der lebenslustigen, quirligen Theresa in Verbindung zu bringen, die gemeinsam mit ihr die Gefangenschaft im Reich des Archivars und die Flucht vor seinen Kriegern überlebt hatte und wie sie in den klinischen Computersaal geblickt hatte, in den ihr Vater das Scriptorium verwandelt hatte. Dennoch nickte sie nach ein paar Sekunden.

»Ich mache mir schwere Vorwürfe, Leonie«, sagte Großmutter. »Ich habe alles verdorben bei diesem Gespräch. Es ist alles meine Schuld.«

»Was?«, fragte Leonie verständnislos.

»Das alles hier!«, antwortete Großmutter heftig und so laut, dass etliche Gäste an den Nebentischen und auch eine der Kellnerinnen die Köpfe wandten und in ihre Richtung sahen. Leonie lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie in ihre Gesichter blickte. Sie entdeckte nirgendwo ein missbilligendes Stirnrunzeln, keinen abfälligen Blick, kein verärgertes Verziehen der Lippen, allenfalls einen Ausdruck leiser Verwunderung, und wohin sie auch sah, schenkte man ihr ein freundliches Lächeln. Plötzlich wurde ihr wirklich klar, was Großmutter gemeint hatte. Diese Leute waren so glücklich, dass es schon fast widerlich war.

»Ich habe einfach die Beherrschung verloren«, fuhr Großmutter - leiser - fort. »Es tut mir Leid. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich ruhig mit ihm gesprochen hätte. Ich kenne deinen Vater. Er ist trotz allem ein vernünftiger Mann. Aber ich habe ihm keine Chance gegeben, zur Besinnung zu kommen, weil ich die Beherrschung verloren und mich wie eine Wilde aufgeführt habe.« Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich hätte es besser wissen müssen. Ich kenne deinen Vater und weiß, wie er reagiert, wenn man versucht ihn unter Druck zu setzen. Ich habe alles verdorben.«

Wohlgemut legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm. »Es ist nicht Ihre Schuld, meine Liebe«, sagte er leise. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es wäre in jedem Fall genau so gekommen und das wissen Sie auch.«

Leonie begann sich immer unbehaglicher zu fühlen. Es machte ihr zu schaffen, ihre Großmutter so leiden zu sehen, und darüber hinaus erregte Großmutter mittlerweile immer mehr Aufsehen - auch wenn die Blicke, die sie trafen, ausnahmslos verwirrt und überrascht waren. Diese Leute hier, begriff Leonie, waren es einfach nicht gewohnt, einen unglücklichen Menschen zu sehen.

»Ich verstehe deine Erregung ja, meine Liebe«, sagte Fröhlich mit gesenkter Stimme und einem mahnenden Blick in Großmutters Gesicht. »Aber über begangene Fehler zu jammern hat noch nie sonderlich viel gebracht. Wir sollten die Zeit, die uns noch bleibt, nutzen, um nach einer Lösung unseres Problems zu suchen.«

»Und wie genau soll die aussehen?«, fragte Leonie. »Wir können nicht gegen den Archivar kämpfen.«

»Der Archivar«, antwortete Wohlgemut ernst, »ist nicht unser Problem, Leonie. Ich glaube nicht, dass er noch einmal versuchen wird dich zu entführen.«

»Wieso nicht?«

»Weil er in dieser Welt über keine wirklich Macht mehr verfügt«, erklärte Großmutter. Sie hatte sich jetzt wieder in der Gewalt und sprach mit leiser, gefasster Stimme und auch ihr Gesicht wirkte nahezu unbewegt. Nur der Schmerz in ihren Augen schien eher noch größer geworden zu sein.

»Den Eindruck hatte ich nicht unbedingt«, bemerkte Leonie säuerlich.

»Das hier ist das Problem, Leonie«, sagte Wohlgemut eindringlich. »Nicht der Archivar. Deine Großmutter hat Recht! Seine Macht schwindet. Der Überfall vorhin war vielleicht so etwas wie eine letzte Verzweiflungstat.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ginge es nur um den Archivar, so brauchten wir dich nur für ein paar Tage zu verstecken und abzuwarten. Das Problem ist das alles hier, Leonie.« Er warf Großmutter einen raschen, wie um Vergebung bittenden Blick zu, dem diese mit allen Anzeichen von Schuldbewusstsein auswich, bevor er in leicht verändertem Tonfall fortfuhr: »Ich weiß, es ist trotz allem immer noch dein Vater, über den wir reden - aber sieh dir doch an, was er bereits getan hat! Schau dir diese Welt an, die er mit seinen Computern und Maschinen erschaffen hat!«

Die beiden Worte Computer und Maschinen hatte er fast wie einen Fluch ausgespien, und vielleicht war dies der einzige Grund, aus dem Leonie noch ein letztes Mal widersprach. Das - und die Tatsache, die Wohlgemut ja eben gerade selbst ausgesprochen hatte: dass der Mann, über den alle hier sprachen, als wäre er der verabscheuungswürdigste Schwerverbrecher aller Zeiten, noch immer ihr Vater war.

»Und was ist so schlimm an dem, was er getan hat?«

Wohlgemut erbleichte für einen Moment und holte dann tief Luft für eine geharnischte Antwort, aber Doktor Fröhlich kam ihm mit einer raschen Geste zuvor. »Nein, nein, Leonie hat vollkommen Recht«, sagte er - nicht nur zu Leonies Verblüffung. »Lassen Sie mich für einen Moment den Advocatus Diaboli spielen. Was ist so schlimm an dieser neuen Welt, die dein Vater nach seinen eigenen Vorstellungen erschaffen hat?« Er wandte sich direkt an Leonie. »Ich verstehe deine Zweifel, Leonie. Diese Welt ist zweifellos besser als die, die wir alle kennen. Es gibt keine Kriege mehr, keine Verbrechen, keine Armut und keine Ungerechtigkeit. Fast alle Krankheiten sind besiegt, es gibt keine Arbeitslosigkeit und keine politischen Querelen. Die ganze Welt lebt in Frieden miteinander. Die Menschen sind glücklich.« Er zögerte einen ganz kurzen - und Leonie war vollkommen sicher: genau berechneten - Moment und fuhr dann fort: »Jedenfalls sollte man meinen, dass sie es sind. Was meinst du? Sind sie es? Schau dich um.«

Das brauchte Leonie nicht. Sie kannte die Antwort. Sie hatte es schon draußen gespürt, lange bevor sie hierher gekommen waren. »Nein«, murmelte sie. Ihre Augen wollten sich mit Tränen füllen, und sie brauchte all ihre Kraft um sie zurückzuhalten.

»Das stimmt«, sagte Fröhlich sanft. Von wegen Advocatus Diaboli! Er hatte sie hereingelegt. Aber was erwartete sie von einem Rechtsanwalt?

»Aber warum?«, flüsterte sie hilflos.

»Weil nicht unglücklich sein nicht automatisch bedeutet, glücklich zu sein«, antwortete ihre Großmutter leise. »Das ist es, was dein Vater getan hat, Leonie. Ich weiß, dass es in bester Absicht geschah, und doch hat er einen schrecklichen Fehler gemacht. Und du weißt es auch. Du hast es so deutlich gespürt wie ich, als wir dort oben auf der Galerie gestanden sind. Habe ich Recht?«

Leonie nickte. Sie hatte den Kampf gegen die brennende Nässe in ihren Augen längst verloren, aber auch das war ihr mittlerweile egal. »Die Computer«, murmelte sie. »Wohlgemut hat Recht. Sie sind... wie Roboter. Wie glückliche Roboter, vielleicht. Aber dennoch nicht mehr als Roboter.«

Auch wenn sie immer noch nicht verstand warum.

»Das war die einzige Möglichkeit, all diese gewaltigen Veränderungen und Verbesserungen vorzunehmen, all diese Millionen und Abermillionen von Leben zu verändern«, bestätigte Großmutter. »Kein lebendes Wesen wäre in der Lage, all die kleinen und großen Unterschiede im Auge zu behalten. Du änderst eine Winzigkeit im Leben eines Menschen, und es hat Auswirkungen auf die Schicksale jedes einzelnen anderen Menschen, dem er fortan jemals begegnet ist. Und dasselbe gilt auch für diese Menschen, und so weiter. Es ist eine Kettenreaktion universellen Ausmaßes, an deren Ende eine unvorstellbare Katastrophe stehen könnte. Es hat einen guten Grund, warum es den Scriptoren nicht erlaubt ist, auch nur ein Komma im Buch eines Menschenlebens zu ändern. Kein lebendes Wesen wäre in der Lage, diese Aufgabe zu bewältigen. Nicht einmal der Archivar selbst.«

»Aber Vaters Computer können es.«

»Wie es aussieht, ja«, bestätigte Wohlgemut an Großmutters Stelle. Er klang fast widerwillig. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber anscheinend sind sie der Aufgabe gewachsen.«

»Und warum funktioniert es dann trotzdem nicht?«, fragte Leonie.

»Weil Computer keine Seele haben«, antwortete Großmutter. »So wenig wie all die Menschen hier. Computer machen keine Fehler, aber es ist nun einmal die Natur der Menschen, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Nimm ihnen dieses Recht und du nimmst ihnen ihre Menschlichkeit.«

Leonie schüttelte zwar impulsiv den Kopf, aber sie spürte sogar selbst, dass es nichts als eine hilflose Abwehrreaktion auf eine Wahrheit war, die sie längst verinnerlicht hatte. All diese Menschen, hier im Restaurant, aber auch draußen auf der Straße, die gut gekleidet, gesund und ordentlich waren, stets vernünftig und gut gelaunt und so entsetzlich glücklich - im Grunde waren sie nichts anderes als künstlich programmierte Maschinen.

»Und was können wir jetzt tun?«, fragte sie.

»Vielleicht gar nichts mehr«, erwiderte Großmutter traurig. »Solange dein Vater im Besitz des Buches ist, gibt es rein gar nichts, was wir tun können, weder du noch ich.«

»Und wenn ich mit ihm reden würde?«, fragte Leonie. »Er ist immerhin mein Vater!«

»Das wäre sinnlos«, sagte Fröhlich ernst. »Hast du schon vergessen, dass er erst gerade wieder versucht hat, deine kompletten Erinnerungen auszutauschen und dich in ein vollkommen fremdes und gar nicht zu dir passendes Leben zu pressen? Wenn du noch einmal zu deinem Vater gehst, dann wird er dafür sorgen, dass du die Erinnerungen an dein wirkliches Leben endgültig verlierst. Du wirst nicht mehr wissen, wer wir sind. Du würdest nicht einmal mehr wissen, dass es uns je gegeben hat.«

Leonie dachte an die Zeit vor dem Überfall der Archivkrieger zurück und ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab. Die Erinnerungen waren so echt gewesen! Sie wusste, dass Fröhlich Recht hatte. Und dennoch weigerte sie sich noch immer zu glauben, dass ihr eigener Vater ihr das antun würde.

»Dann gibt es gar nichts mehr, was wir noch tun könnten?«, fragte sie.

»Er ist im Moment sein rechtmäßiger Besitzer«, erklärte Fröhlich. »Und damit ist er der Einzige, der Macht über das Buch hat. Allerdings, wenn du...« Er verstummte. Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Ja?«, fragte Leonie, als er nicht weitersprach.

»Bedenkt man die... äh... etwas fragwürdigen Umstände, unter denen dein Vater in den Besitz des Buches gelangt ist, könnte ich mir vorstellen, dass es ausreicht, wenn du es seiner legitimen Besitzerin zurückgibst«, antwortete Fröhlich ausweichend.

Es dauerte einen Moment, bis Leonie wirklich begriff, was er damit sagen wollte. »Sie meinen, ich soll ihm das Buch stehlen!«

Fröhlich fuhr sichtbar zusammen und sah sich hastig und erschrocken um, als hätte er Angst, dass irgendjemand am Nebentisch Leonies Worte gehört hatte. Sie hatte auch wirklich sehr laut gesprochen. »Also ich als Jurist würde dir natürlich niemals einen solchen Rat geben«, sagte er mit einem nervösen Lächeln, »aber...« Er hob seufzend die Schultern.

»Außergewöhnliche Situationen bedingen manchmal auch außergewöhnliche Maßnahmen. Streng genommen hat deine Großmutter dir das Buch vermacht. Dass das Testament wegen irgendeiner Spitzfindigkeit nicht in Kraft trat, ändert nichts an der Tatsache, dass sie ihrem freien Willen deutlich Ausdruck verliehen hat.«

»Das sind doch juristische Haarspaltereien«, sagte Wohlgemut ärgerlich.

»Das mag sein«, gestand Fröhlich unumwunden. »Aber ich habe mein Lebtag von juristischen Haarspaltereien gelebt, und das nicht schlecht.« Er grinste und brachte Wohlgemutes Protest mit einem entschiedenen Kopfschütteln zum Verstummen. »Im Ernst, mein Lieber: Wenn dies hier ein normaler Rechtsstreit wäre, würde ich mir vor jedem Gericht eine gute Chance ausrechnen, mit meiner Argumentation zum Ziel zu gelangen.«

»Ist es aber nicht«, erwiderte Wohlgemut patzig.

Fröhlich setzte seinerseits zu einer Antwort an, doch zu Leonies Erleichterung kam in diesem Moment die Kellnerin, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen. Sie gaben ihre Bestellung auf, und als die junge Frau ging, war der schwelende Streit zwischen Fröhlich und dem Professor wieder erloschen. Dennoch war die gereizte Stimmung zwischen den beiden hochbetagten Männern deutlich zu spüren.

»Bitte hört auf«, sagte Großmutter leise. Sie warf Leonie einen Verzeihung heischenden Blick zu. »Dieser Streit ist ohnehin müßig. Es gibt keine Möglichkeit, an das Buch heranzukommen. Dein Vater hat den Zugang verschlossen. Du hast es selbst gesehen.«

»Seit wann halten mich Türen auf?«, fragte Leonie.

»Die magischen Türen des Archivs vielleicht nicht«, antwortete Fröhlich trocken. »Eine fünf Tonnen schwere Tür aus Stahl aber sehr wohl. Dein Vater hat sich etwas dabei gedacht, dieses Monstrum in eurem Keller einbauen zu lassen.«

»Dann suchen wir uns einen anderen Eingang«, meinte Leonie.

Ihre Großmutter lächelte traurig. »Das geht nicht, Liebes. Es gibt für jede Hüterin immer nur einen Weg ins Archiv. Die Tür, durch die deine Mutter und du gegangen seid, ist die einzige, die wir benutzen können. Das ist der Grund, aus dem sich unsere Buchhandlung seit Generationen am gleichen Ort befindet.«

»Dann suchen wir einen anderen Eingang«, sagte Leonie noch einmal. »Irgendeinen!« Allmählich begann sich so etwas wie Verzweiflung in ihr breit zu machen. Es musste doch einfach einen Weg geben! »Wir gehen einfach zu einer der anderen Hüterinnen und...«

»Es gibt keine anderen mehr«, unterbrach sie Wohlgemut.

Leonie starrte ihn an. »Was?«

»Das war das Erste, was dein Vater geändert hat«, erklärte Fröhlich mit ernstem Gesichtsausdruck. »Es gibt niemanden mehr, der über die Gabe verfügt. Nur deine Großmutter und dich. Deine Großmutter, weil er nicht weiß, dass sie überhaupt noch lebt, und du, weil du seine Tochter bist. Auch wenn der gute Professor das vielleicht anders sieht, bin ich doch sicher, dass er dir niemals ein Leid zufügen würde.«

»Das hat er ja auch gar nicht nötig«, sagte Wohlgemut spitz. Fröhlich schenkte ihm einen giftigen Blick, den der Professor mit eisiger Miene erwiderte. Leonie war verwirrt. Sie war bisher davon ausgegangen, dass die beiden Männer, die ja auch aussahen wie Brüder, gute Freunde waren, aber so ganz schien das nicht zu stimmen.

Überhaupt kam ihr die Situation immer unwirklicher vor. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung. Es war Leonie nicht möglich, das Gefühl in Worte zu kleiden, aber tief in ihr war ein nagender Zweifel, der mit jedem Moment stärker wurde. Da war etwas an dem, was ihre Großmutter gesagt hatte, etwas, das mit...

Großmutter sah ihr tief in die Augen und schenkte ihr ein trauriges Lächeln, das Leonie sich schäbig und gemein vorkommen ließ. Natürlich stimmte mit dieser Situation etwas nicht. Mit der ganzen Welt, in der sie sich befanden, stimmte etwas nicht! Sie sollte sich schämen, so über ihre Großmutter zu denken, nach allem, was die alte Frau ihretwegen auf sich genommen und erlitten hatte!

»Aber wenn Vater das Buch in sicherem Gewahrsam hat«, sagte Leonie, statt weiter diesen sinnlosen Gedanken nachzuhängen, »wie sollen wir dann in seinen Besitz kommen? Ich kann doch schlecht zu meinem Vater gehen und ihn um das Buch bitten...«

Wohlgemut riss verblüfft die Augen auf und Großmutter zuckte zusammen, und bevor Leonie begriff, was geschehen war, sagte jemand hinter der halbhohen spanischen Wand, vor der Wohlgemut und sie saßen: »Warum solltest du das nicht können?«

Leonie fuhr so erschrocken zusammen, dass der Stuhl unter ihr hörbar knarrte, und Fröhlich stieß einen kleinen, ächzenden Schrei aus, als Frank hinter der spanischen Wand hervorkam und dann beinahe gemächlich an ihren Tisch trat. In der rechten Hand trug er eine Pistole. »Und wisst ihr was, ihr komischen Vögel?«, fuhr er mit einem bösen Grinsen fort. »Ich tue euch sogar den Gefallen und bringe euch direkt zu eurem ominösen Buch!«

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