8

»Ich habe 30 000 verloren.«

»Fünfzig«, murmelt Otto.

Lucy Nguyen starrt zur Decke. »Hundertfünfundachtzig? Hundertsechsundachtzig?«

»Vierhundert.« Quoile Napier stellt sein warmes Satoglas auf den niedrigen Tisch. »Wegen Carlyles gottverdammtem Luftschiff habe ich vierhunderttausend blaue Scheine verloren. «

Über den Tisch breitet sich bestürztes Schweigen. »Himmel. « Lucy setzt sich auf, völlig ermattet von dem Alkohol, und das am helllichten Nachmittag. »Was haben Sie denn darin geschmuggelt — cibiresistentes Saatgut?«

Die Unterhaltung findet auf der Veranda des Sir Francis Drake statt. Alle fünf, die es sich hier bequem gemacht haben — die »Farang-Phalanx«, wie Lucy sie getauft hat —, alle starren sie in die unbarmherzige Hitze hinaus und betrinken sich sinnlos.

Anderson hat sich zu ihnen gesellt und hört ihren Klagen nur mit halbem Ohr zu, während er sich in Gedanken fortwährend mit der Frage beschäftigt, woher die Ngaw stammt. Zwischen seinen Füßen steht ein weiterer Beutel mit Früchten, und er hat das unbestimmte Gefühl, dass des Rätsels Lösung nicht mehr weit ist. Wenn er nur findig genug wäre dahinterzukommen! Er trinkt warmen Khmer-Whisky und grübelt vor sich hin.

Die Ngaw ist offenbar gegen Rostwelke und Cibiskose immun, auch wenn sie den Erregern direkt ausgesetzt wird; genmanipulierte japanische Rüsselkäfer und die Kräuselkrankheit können ihr ebenso wenig etwas anhaben — anders könnte sie niemals gedeihen. Ein vollkommenes Produkt. Wer auch immer sie geschaffen hat, muss Zugang zu anderem genetischen Material haben als das, was AgriGen und die übrigen Kalorienkonzerne für ihre Genfledderei verwenden.

Irgendwo in dieser Stadt ist eine Samenbank versteckt. Tausende, vielleicht Hunderttausende sorgfältig erhaltener Samen, eine Fundgrube biologischer Diversität. Endlose DNA-Ketten, und jede birgt einen ganz bestimmten potenziellen Nutzen. Und aus dieser Goldmine extrahieren die Thai Lösungen für die verzwicktesten Probleme, um ihr Überleben zu sichern. Wenn Des Moines Zugang zu diesen Samenbanken hätte, dann stünde ihnen über Generationen hinweg genetischer Code zur Verfügung, mit dem sie die Mutationen der schwarzen Seuche zurückdrängen könnten. Für eine kleine Weile würde das ihr Überleben sichern.

Anderson rutscht unruhig in seinem Sessel hin und her, verbeißt sich seinen Ärger und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er ist so nahe dran. Die unterschiedlichsten Nachtschattengewächse sind wiedergeboren worden, und jetzt die Ngaw! Und Gibbons läuft in Südostasien frei herum. Wäre Anderson dem illegalen Aufziehmädchen nicht begegnet, wüsste er davon nicht einmal etwas. Offenbar ist das Königreich außergewöhnlich gut darin, seine operative Sicherheit aufrechtzuerhalten. Wenn er nur den Standort der Samenbank herausfinden könnte, wäre ein nächtlicher Überfall im Rahmen des Möglichen … Seit Finnland haben sie einiges dazugelernt.

Jenseits der Veranda bewegt sich nichts, was über Intelligenz verfügt. Schweißperlen rinnen Lucy aufreizend den Hals hinunter und durchnässen ihre Bluse, während sie über den Verlauf des Kohlekrieges mit Vietnam lamentiert. Sie kann nicht Jagd auf Jade machen, solange die Armee auf alles schießt, was sich bewegt. Quoiles Koteletten sind verfilzt. Kein Lüftchen regt sich.

Draußen auf der Straße drängen sich die Rikschafahrer in den kleinen Schattentümpeln zusammen. Deutlich zeichnen sich ihre Knochen und Gelenke unter der nackten Haut ab — Skelette, deren Fleisch auf ihrem Gerippe straff gespannt ist. Zu dieser Tageszeit verlassen sie den Schatten nur ungern, und wenn, dann verlangen sie das doppelte Fahrgeld.

Die baufällige Bar klammert sich an die Außenmauer eines zerstörten Expansionshochhauses. An einer der Treppen, die zur Veranda hinaufführen, lehnt ein Schild, auf das von Hand die Worte SIR FRANCIS DRAKE’S gekritzelt sind. Im Vergleich zu dem Verfall und den Trümmern ringsumher ist das Schild neueren Ursprungs, von einer Handvoll Farang gemalt, die Wert darauf legten, ihrer Umgebung einen Namen zu geben. Die Narren, die sich den Namen der Bar ausgedacht haben, sind schon vor einiger Zeit ins Landesinnere verschwunden, wurden entweder vom Dschungel verschlungen, während neue Formen der Rostwelke über sie hinwegbrandeten, oder zwischen den Fronten des Krieges um Kohle und Jade zerrieben. Das Schild steht jedoch noch immer da, entweder weil es dem Betreiber der Bar gefällt, der den Namen als Spitznamen angenommen hat, oder weil niemand die Energie aufbringen kann, es zu übermalen. Unterdessen blättert in der Hitze die Farbe ab.

Unbeschadet seiner Herkunft liegt das Drake’s zwischen den Schleusen des Damms und den Fabriken geradezu ideal. Seine baufällige Fassade geht auf das Victory Hotel hinaus, so dass die Farang-Phalanx sich dumm und dusslig saufen kann, während sie im Auge behält, ob irgendwelche neuen Ausländer von Interesse dort ans Ufer gespült werden.

Es gibt noch andere, miesere Spelunken für die Seeleute, denen es gelingt, Zollbehörden, Quarantäne und Entseuchung zu passieren. Aber hier, auf der einen Seite der Pflasterstraße die strahlend weißen Tischdecken des Victory und auf der anderen das Bambusslum des Sir Francis, landen schließlich alle Ausländer, die sich für längere Zeit in Bangkok niederlassen.

»Was haben Sie denn geschmuggelt?«, wiederholt Lucy ihre Frage — sie will von Quoile unbedingt wissen, was genau er verloren hat.

Quoile lehnt sich vor und senkt die Stimme, was alle Anwesenden zwingt, ihm aufmerksam zuzuhören. »Safran. Aus Indien.«

Ein Augenblick des Schweigens, und dann lacht Cobb. »Das lässt sich gut auf dem Luftweg transportieren. Darauf hätte ich auch kommen können.«

»Für Luftschiffe ist es geradezu ideal. Es wiegt nur wenig. Und es ist profitabler als Opium«, erklärt Quoile. »Dem Königreich ist es noch immer nicht gelungen, das Saatgut zu knacken, und alle Politiker und Generäle möchten es für ihre Küchen zu Hause haben. Der Gesichtsverlust ist groß, wenn sie es nicht beschaffen können. Ich hatte zahlreiche Vorbestellungen. Ich wäre reich geworden. Unfassbar reich.«

»Und jetzt sind Sie ruiniert?«

»Vielleicht doch nicht. Ich verhandle gerade mit der Sri-Ganesha-Versicherung — gut möglich, dass sie einen Teil davon übernehmen.« Quoile zuckt mit den Schultern. »Na ja, rund achtzig Prozent. Aber die ganzen Schmiergelder, damit die Lieferung ins Land gelassen wird? Und das, was ich den Zollbeamten gezahlt habe?« Er zieht eine Grimasse. »Das kann ich abschreiben. Trotzdem, vielleicht komme ich noch einmal mit einem blauen Auge davon. In gewisser Hinsicht habe ich sogar Glück gehabt. Die Lieferung ist nur deshalb versichert, weil sie sich noch an Bord des Luftschiffs befand. Ich sollte auf den Piloten anstoßen, weil er den Anstand besaß, im Meer zu ertrinken. Hätten sie die Fracht ausgeladen, und wäre sie von den Weißhemden verbrannt worden, wäre sie als Schmuggelware klassifiziert worden. Dann stünde ich jetzt auf der Straße, zusammen mit den fa’ gan-Bettlern und den Yellow Cards.«

Otto runzelt missmutig die Stirn. »Das ist aber auch das Einzige, was sich zu Carlyles Gunsten sagen lässt. Wenn er sich nicht dauernd in die Politik einmischen würde, wäre nichts von alldem passiert.«

Quoile zuckt mit den Schultern. »Das wissen wir nicht.«

»Das ist doch völlig klar«, wirft Lucy ein. »Carlyle verschwendet die Hälfte seiner Energie darauf, sich über die Weißhemden zu beschweren, und die andere, sich bei Akkarat einzuschmeicheln. Und jetzt hat General Pracha ihm und dem Handelsministerium eine deutliche Botschaft geschickt. Wir dienen ihm nur als Brieftauben.«

»Brieftauben sind ausgestorben.«

»Und Sie glauben, uns wird es besser ergehen? General Pracha würde jeden Einzelnen von uns, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Khlong-Prem-Gefängnis werfen lassen, wenn er der Meinung wäre, dass diese Botschaft bei Akkarat richtig ankommen würde.« Ihr Blick schweift zu Anderson hinüber. »Sie sind äußerst schweigsam, Lake. Haben Sie denn überhaupt nichts verloren?«

Anderson räuspert sich. »Material für die Fabrik. Ersatzteile für die Produktionsstraße. Im Wert von rund hundertfünfzigtausend blauen Scheinen. Mein Sekretär ist noch dabei, den Schaden zu bewerten.« Er wirft einen Blick in Quoiles Richtung. »Unsere Sachen waren bereits entladen. Und damit nicht versichert.«

Die Erinnerung an das Gespräch mit Hock Seng ist ihm noch frisch im Gedächtnis. Erst versuchte der Alte, alles abzustreiten, beklagte sich über die Unfähigkeit der Leute, die für die Ankerplätze zuständig waren, bevor er schließlich eingestand, dass alles verloren war und dass er die Schmiergelder gar nicht ausgezahlt hatte. Eine hässliche Beichte — der Alte hatte Angst, seine Anstellung zu verlieren, und Anderson setzte ihn immer weiter unter Druck, demütigte ihn und schrie den Chinesen an, bis er sich nur noch ängstlich in eine Ecke duckte. Trotzdem war sich Anderson nicht sicher, ob Hock Seng seine Lektion wirklich gelernt hatte oder ob er sich wieder nur verstellte. Anderson verzieht das Gesicht. Wenn der alte Schweinehund ihm nicht so viel Arbeit abnehmen würde, damit er sich um wichtigere Dinge kümmern konnte, hätte er ihn längst in die Expansionshochhäuser zurückgeschickt.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das kein guter Standort für eine Fabrik ist«, sagt Lucy.

»Die Japaner bekommen das doch auch hin.«

»Nur weil sie spezielle Vereinbarungen mit dem Palast getroffen haben.«

»Auch die Chaozhou-Chinesen kommen dort gut klar.«

Lucy verzieht das Gesicht. »Die sind schon seit Generationen hier zu Hause und unterscheiden sich kaum noch von den Thai. Wenn Sie schon Vergleiche ziehen möchten, dann stehen wir den Yellow Cards näher als den Chinesen aus Chaozhou. Ein kluger Farang weiß, dass es besser ist, hier nicht allzu viel zu investieren. Dafür sind die Verhältnisse zu unbeständig. Bevor man sich versieht, wird man Opfer einer Razzia und verliert alles. Oder es kommt zu einem Putsch.«

»Wir spielen eben alle mit den Karten, die uns ausgegeben werden.« Anderson zuckt mit den Schultern. »Und sowieso hat Yates den Standort ausgesucht.«

»Ihm habe ich auch gesagt, dass er ein Narr ist.«

Anderson erinnert sich noch gut daran, wie Yates’ Augen vor Begeisterung leuchteten angesichts der Möglichkeiten einer neuen globalen Wirtschaft. »Vielleicht war er gar nicht so ein Narr. Aber ein Idealist war er auf jeden Fall.« Er trinkt sein Glas leer. Der Barbesitzer ist nirgendwo zu sehen. Er winkt den Kellnern, die ihn sämtlich ignorieren. Mindestens einer von ihnen schläft im Stehen.

»Haben Sie keine Angst, Sie könnten genauso schnell abgezogen werden wie Yates?«, fragt Lucy.

Anderson zuckt mit den Schultern. »Das wäre nicht das Schlimmste, was passieren könnte. Hier ist es verdammt heiß.« Er fasst sich an die Nase, wo ein Sonnenbrand seine Spuren hinterlassen hat. »Ich fühle mich in der Einöde des Nordens wohler.«

Nguyen und Quoile, die beide dunkle Haut haben, lachen laut, aber Otto nickt nur verbissen — auch seine Nase schält sich, ein deutliches Zeichen, dass er ebenso wenig in der Lage ist, sich an die gleißende Äquatorsonne zu gewöhnen.

Lucy kramt eine Pfeife hervor und verscheucht ein paar Fliegen, bevor sie ihre Rauchutensilien ausbreitet, zu denen auch ein Kügelchen Opium gehört. Die Fliegen krabbeln davon, erheben sich aber nicht in die Luft. Selbst die Insekten sind völlig betäubt von der Hitze. Unten in einer Gasse, gleich neben den Trümmern eines Expansionshochhauses, spielen Kinder vor einer Frischwasserpumpe. Lucy beobachtet sie, während sie ihre Pfeife stopft. »Himmel, ich wünschte, ich wäre wieder ein Kind.«

Alle scheinen sie die Kraft verloren zu haben, sich weiter zu unterhalten. Anderson zieht den Beutel mit den Ngaw zwischen seinen Füßen hervor. Nimmt eine heraus und schält sie. Löst das Fruchtfleisch heraus und wirft die borstige Schale auf den Tisch. Steckt sich das Fruchtfleisch in den Mund.

Otto legt neugierig den Kopf schräg. »Was haben Sie denn da?«

Anderson holt noch mehr aus seinem Beutel und verteilt sie. »Ich weiß nicht so genau. Die Thai nennen sie Ngaw.«

Lucy hält in ihrer Bewegung inne. »Die habe ich auch schon gesehen. Sie sind überall zu kaufen. Haben sie keine Rostwelke?«

Anderson schüttelt den Kopf. »Bisher nicht. Die Frau, die sie verkauft hat, sagte, sie wären einwandfrei. Sie hatte die nötigen Zertifikate.«

Alle lachen, aber Anderson tut ihren Zynismus mit einem Schulterzucken ab. »Ich habe sie eine Woche liegen lassen. Nichts. Sie sind sauberer als U-Tex.«

Die anderen folgen seinem Beispiel und essen die Früchte, die er ihnen gegeben hat. Reißen die Augen auf. Lächeln. Anderson hält den Beutel weit auf und setzt ihn auf dem Tisch ab. »Bedienen Sie sich. Ich habe eh schon zu viel davon gegessen. «

Der Beutel wird geplündert. Der Haufen mit Schalen in der Mitte des Tisches wird immer größer. Quoile kaut versonnen. »Erinnert mich irgendwie an Litschis.«

»Ach ja?« Anderson versucht, seine Neugier nicht zu zeigen. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«

»Klar. Ich hab mal was getrunken, das in etwa so schmeckte. Als ich das letzte Mal in Indien war. Ein Vertriebsmensch von PurCal hat mich in eines seiner Restaurants eingeladen, als ich mich wegen der Safranimporte umhörte.«

»Sie glauben also, dass … dass das hier Litschis sind?«

»Schon möglich. Jedenfalls hat er das Getränk ›Litschi‹ genannt. Vielleicht heißt die Frucht völlig anders.«

»Wenn es ein PurCal-Produkt ist, wie kommt es dann, dass es hier auftaucht?«, gibt Lucy zu bedenken. »Die müssten doch draußen auf Koh Angrit lagern, unter Quarantäne, bis das Umweltministerium tausendundeine Möglichkeit findet, die Dinger zu besteuern.« Sie spuckt den Kern in ihre Hand und wirft ihn vom Balkon auf die Straße hinunter. »Die gibt es wirklich überall. Sie müssen von hier stammen.« Sie greift in den Beutel und nimmt sich noch eine. »Wissen Sie, wer uns da weiterhelfen könnte …?« Sie lehnt sich zurück und ruft in die dämmerige Bar hinein: »Hagg! Sind Sie noch da? Sind Sie wach?«

Als der Name fällt, werden die anderen unruhig und setzen sich aufrecht hin, wie Kinder, die von strengen Eltern bei etwas ertappt wurden. Anderson fröstelt es. »Das hätten Sie nicht tun sollen«, murmelt er.

Otto zieht eine Grimasse. »Ich dachte, er wäre gestorben.«

»Die Auserwählten sind gegen die Rostwelke gefeit — wussten Sie das nicht?«

Alle unterdrücken ein Lachen, als eine Gestalt aus der Düsternis geschlurft kommt. Haggs Gesicht ist gerötet und von Schweiß bedeckt. Er mustert die Phalanx mit ernster Miene. »Hallo zusammen.« Er wendet sich Lucy zu. »Sie machen also immer noch Geschäfte mit denen?«

Lucy zuckt mit den Achseln. »Wie es sich eben ergibt.« Sie deutet auf einen Sessel. »Stehen Sie nicht so herum. Trinken Sie ein Glas mit uns. Erzählen Sie uns Ihre Geschichten.« Sie zündet die Opiumpfeife an und zieht an ihr, während der Mann einen Sessel heranzieht und sich hineinfallen lässt.

Hagg ist ein stämmiger, wohlgenährter Mann. Nicht zum ersten Mal registriert Anderson interessiert, dass bei grahamitischen Priestern im Vergleich zu ihren Schäfchen immer reichlich Hüftspeck aus der eigenen Nische herausquillt. Hagg winkt und bestellt einen Whisky, und zur Überraschung aller taucht sofort ein Kellner an seinem Ellenbogen auf.

»Ohne Eis«, sagt dieser.

»Nein, kein Eis. Natürlich nicht.« Hagg schüttelt emphatisch den Kopf. »Das ist doch nur eine Verschwendung von Kalorien.«

Als der Kellner zurückkehrt, nimmt Hagg das Glas entgegen und leert es in einem Zug. Sofort bestellt er noch eins. »Es tut gut, wieder in der Stadt zu sein«, sagt er. »Die Freuden der Zivilisation misst man nur ungern.« Er prostet ihnen allen mit seinem zweiten Glas zu und kippt es ebenfalls hinunter.

»Wie weit draußen waren Sie?«, fragt Lucy, wobei sie die Pfeife nicht aus dem Mund nimmt. Allmählich bekommt sie glasige Augen.

» In der Nähe der alten Grenze zu Burma, am Drei-Pagoden-Pass. Er mustert die Anwesenden mit mürrischer Miene, als hätten sie die Sünden begangen, denen er nachspürt. »Ich wollte wissen, inwieweit sich dort die Elfenbeinkäfer ausbreiten.«

»Da oben soll es nicht sicher sein, habe ich gehört«, sagt Otto. »Wer ist Ihr Jao Por?«

»Ein Mann namens Chanarong. Mit ihm gab es nicht die geringsten Schwierigkeiten. Ganz im Unterschied zu dem Kadaverkönig oder den unbedeutenderen Jao Por in der Stadt. Nicht allen Paten geht es nur um Macht und Profit.« Hagg mustert seine Tischgenossen vielsagend. »Für uns, die wir es nicht darauf abgesehen haben, das Königreich um Kohle und Jade zu erleichtern, ist es auf dem Land allemal sicher.« Er zuckt mit den Schultern. »Jedenfalls wurde ich von Phra Kritipong eingeladen, sein Kloster zu besuchen. Um nach Veränderungen im Verhalten der Elfenbeinkäfer Ausschau zu halten.« Er schüttelt den Kopf. »Die Verheerungen sind gewaltig. Ganze Wälder ohne ein einziges Blatt. Kudzu, sonst nichts. Das gesamte Oberholz ist weg, alle Stämme umgefallen. «

Otto blickt interessiert auf. »Irgendwas zu retten?«

Lucy mustert ihn angewidert. »Da waren Elfenbeinkäfer am Werk, du Idiot. Damit will hier niemand etwas zu tun haben.«

»Sie sagten, das Kloster hätte Sie eingeladen?«, fragt Anderson. »Obwohl Sie bekennender Grahamite sind?«

»Phra Kritipong ist ein Mensch ohne Vorurteile — er weiß, dass weder Jesus Christus noch die Nischenlehren eine Gefahr für seinesgleichen darstellen. Die Wertvorstellungen der Buddhisten und der Grahamiten überschneiden sich in vielen Bereichen. Noah und der Märtyrer Phra Seub sind komplementäre Gestalten.«

Anderson verbeißt sich ein Lachen. »Wenn Ihr Mönch sehen würde, wie die Grahamiten in ihrer Heimat agieren, würde er es sich vielleicht anders überlegen.«

Hagg wirkte sichtlich beleidigt. »Ich bin nicht irgendein Prediger, der dazu aufruft, Felder niederzubrennen. Ich bin ein Mann der Wissenschaft.«

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Anderson holt eine Ngaw aus seinem Beutel und bietet sie Hagg an. »Das könnte Sie interessieren. Wir haben Sie auf dem Markt entdeckt. «

Hagg begutachtet die Ngaw überrascht. »Auf dem Markt? Auf welchem?«

»Überall«, sagt Lucy.

»Die sind aufgetaucht, während Sie weg waren«, fügt Anderson hinzu. »Versuchen Sie mal — die sind nicht übel.«

Hagg nimmt die Frucht entgegen und untersucht sie genauer. »Ganz außergewöhnlich.«

»Wissen Sie, was das ist?«, fragt Otto.

Anderson schält sich eine weitere Ngaw, hört dabei aber aufmerksam zu. Er selbst würde einem Grahamiten nie eine solche Frage stellen, lässt aber gerne andere die Arbeit machen.

»Quoile hält sie für eine Litschi«, sagt Lucy. »Hat er Recht?«

»Nein, eine Litschi ist das nicht. Dessen bin ich mir sicher. « Hagg dreht sie hin und her. »Sieht so aus, als könnte es etwas sein, was in den alten Texten eine ›Rambutan‹ genannt wird.« Hagg grübelt nach. »Wenn ich mich recht erinnere, sind sie allerdings miteinander verwandt.«

»Rambootan?« Anderson gibt sich betont freundlich und neutral. »Das ist ein seltsamer Name. Die Thai sagen Ngaw dazu.«

Hagg isst die Frucht und spuckt den fetten Kern in seine Hand. Begutachtet den schwarzen Samen, der vor Speichel glänzt. »Ich frage mich, ob sie reinerbig ist oder ob es sich um eine Hybride handelt.

»Sie könnten den Kern in einen Blumentopf stecken und es herausfinden.«

Hagg wirft ihm einen verärgerten Blick zu. »Wenn sie nicht von den Kalorienkonzernen stammt, ist sie reinerbig. Die thailändischen Genhacker stellen keine sterilen Produkte her..«

Anderson lacht. »Ich wusste nicht, dass die Kalorienkonzerne tropische Früchte herstellen.«

»Sie produzieren Ananas.«

»Stimmt. Das habe ich vergessen.« Anderson legt eine kurze Pause ein. »Woher wissen Sie so viel über Obstsorten?«

»Ich habe an der Alabama New University Biosystematik und Ökologie studiert.«

»Das ist die grahamitische Hochschule, richtig? Ich dachte, da lernt man nur, wie man Felder niederbrennt.«

Die anderen halten die Luft an, aber Hogg mustert sein Gegenüber nur mit eisiger Miene. »Versuchen Sie nicht, mich zu provozieren. So einer bin ich nicht. Wenn es uns jemals gelingen soll, Eden wiederherzustellen, werden wir das Wissen der Jahrhunderte benötigen. Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich mich mit den südostasiatischen Ökosystemen aus der Zeit vor der Großen Kontraktion vertraut gemacht.« Er greift über den Tisch und nimmt sich noch eine Frucht. »Das wird die Kalorienkonzerne maßlos ärgern.«

Lucy folgt seinem Beispiel. »Glauben Sie, wir könnten einen Klipper damit vollkriegen und zurück übers Meer schicken? Den Spieß umdrehen, verstehen Sie? Ich möchte wetten, dass die Leute dafür ein Vermögen hinblättern würden. Eine neue Geschmacksrichtung? Was für ein Luxus!«

Otto schüttelt den Kopf. »Erst müssten Sie sie überzeugen, dass sie nicht von Rostwelke befallen sind. Die rote Schale würde die Leute nervös machen.«

Hagg nickt zustimmend. »Das ist keine gute Idee.«

»Aber die Kalorienkonzerne machen es doch genauso«, gibt Lucy zu bedenken. »Sie transportieren Samen und Früchte überallhin. Sie treiben Handel auf der ganzen Welt. Warum sollten wir nicht dasselbe versuchen?«

»Weil es gegen alles verstößt, was in der Nischenlehre steht«, erwidert Hagg in sanftem Tonfall. »Die Kalorienkonzerne haben sich ihren Platz in der Hölle längst verdient. Sie sollten nicht versuchen, es ihnen gleichzutun.«

Anderson lacht. »Jetzt kommen Sie schon, Hagg. Sie werden doch nicht ernsthaft etwas gegen ein wenig Unternehmergeist haben? Lucy ist da an etwas dran. Wir könnten sogar Ihr Gesicht außen auf die Kisten drucken.« Er vollführt den grahamitischen Segen. »Sie wissen schon — von der Heiligen Kirche genehmigt und dergleichen mehr. So sicher wie Soy-PRO. « Er grinst. »Was würden Sie davon halten?«

»An einer solchen Blasphemie würde ich mich niemals beteiligen. « Hagg zieht ein finsteres Gesicht. »Nahrungsmittel sollten aus ihrem Ursprungsland kommen und auch dort bleiben. Sie sollten nicht um des Profits willen kreuz und quer über den Globus verfrachtet werden. Diesem Weg sind wir schon einmal gefolgt, und er hat in den Ruin geführt.«

»Und noch mehr Nischenlehre.« Anderson schält noch eine Ngaw. »Irgendwo in dem ganzen orthodoxen Gedankengut der Grahamiten muss doch auch eine Nische für Geld sein. Ihre Kardinäle sind ja schließlich reichlich fett.«

»Die Lehre ist ohne Fehl, selbst wenn die Gemeinde in die Irre geht.« Hagg steht unvermittelt auf. »Vielen Dank für die Gesellschaft.« Er wirft Anderson einen wütenden Blick zu, greift jedoch über den Tisch und nimmt sich eine Ngaw, bevor er davonstolziert.

Sobald er fort ist, entspannen sich alle. »Herrgott, Lucy, was soll das?«, fragt Otto. »Der Kerl ist mir unheimlich. Ich habe den Compact verlassen, damit mir keine grahamitischen Priester mehr über die Schulter blicken. Und du lädst einen an unseren Tisch?«

Quoile nickt missmutig. »Ich habe gehört, dass sich an der gemeinschaftlichen Botschaft auch einer herumtreibt.«

»Die sind überall. Wie die Fliegen.« Lucy schlägt nach ebensolchen. »Gib mir noch eine von diesen Früchten.«

Sie fallen wieder über die Ngaw her. Anderson schaut ihnen dabei zu und fragt sich, ob einer dieser weit gereisten Menschen eine Ahnung hat, woher sie stammen. Die Rambutan ist allerdings eine interessante Möglichkeit. Trotz der schlechten Nachrichten über die zerstörten Algentanks und Nährstofflösungen verläuft der Tag besser als erwartet. Rambutan. Ein Wort, das er den Forschern in Des Moines übermitteln kann. Eine Spur, die sie bei ihren Nachforschungen über das geheimnisvolle botanische Objekt verfolgen können. Irgendwo existieren bestimmt Aufzeichnungen darüber. Er muss sich wieder seinen Büchern zuwenden, um herauszufinden …

»Schaut mal, wer da kommt«, murmelt Quoile.

Alle drehen sich um. Richard Carlyle steigt in einem makellos gebügelten Leinenanzug die Treppe hinauf. Im Schatten angekommen, nimmt er den Hut ab und fächelt sich Luft zu.

»Scheiße, ich hasse diesen Kerl«, murmelt Lucy. Sie hält ein Streichholz über ihre Pfeife und saugt daran.

»Was lächelt der denn so?«, fragt Otto.

»Weiß der Teufel. Dabei hat er doch gerade ein Luftschiff verloren.«

Carlyle bleibt im Schatten stehen, lässt den Blick über die Gäste schweifen und nickt allen zu. »Ziemlich heiß, was?«, sagt er laut.

Otto starrt ihn wütend an; sein Gesicht ist rot angelaufen, und die Augen drohen ihm aus den Höhlen zu treten. »Wenn er die Finger von der Politik gelassen hätte, wäre ich jetzt ein reicher Mann.«

»Regen Sie sich ab.« Anderson steckt sich noch eine Ngaw in den Mund. »Lucy, lassen Sie den Mann mal an Ihrer Pfeife ziehen. Ich will nicht, dass Sir Francis uns wegen einer Prügelei rauswirft.«

Lucys Augen sind von dem Opium ganz glasig, aber sie wedelt mit der Pfeife in die ungefähre Richtung von Otto. Anderson langt über den Tisch, nimmt sie ihr aus der Hand und gibt sie Otto, bevor er aufsteht und nach seinem leeren Glas greift. »Will sonst noch jemand etwas?« Alle schütteln halbherzig den Kopf.

Carlyle grinst, als Anderson an die Bar tritt. »Hat sich Otto wieder beruhigt?«

Anderson erwidert seinen Blick. »Das Opium, das Lucy raucht, hat es in sich. Ich bezweifle, dass er in der Lage sein wird zu laufen, geschweige denn sich mit irgendjemandem zu streiten.«

»Eine Teufelsdroge, das.«

Anderson prostet ihm mit dem leeren Glas zu. »Das und der Schnaps.« Er späht über den Rand der Bar.«

»Wo zum Teufel steckt Sir Francis?«

»Ich dachte, die Frage könnten Sie mir beantworten.«

»Sieht nicht so aus«, erwidert Anderson. »Haben Sie viel verloren?«

»Einiges.«

»Wirklich? Sie wirken nicht weiter bedrückt.« Anderson macht eine Handbewegung, die die ganze Phalanx einschließt. »Alle anderen jammern und heulen, weil Sie sich andauernd in die Politik einmischen und bei Akkarat und dem Handelsministerium einschmeicheln. Und jetzt stehen Sie hier und grinsen breit. Sie könnten ein Thai sein.«

Carlyle zuckt mit den Schultern. Sir Francis, elegant gekleidet und sorgfältig frisiert, taucht aus einem Hinterzimmer auf. Carlyle bestellt einen Whisky, und Anderson hält sein leeres Glas hoch.

»Kein Eis«, sagt Sir Francis. »Die Mulitreiber verlangen mehr Geld fürs Pumpen.«

»Dann geben Sie es Ihnen eben.«

Sir Francis nimmt Andersons Glas und schüttelt den Kopf. »Wenn die einem an die Eier gehen, darf man nicht verhandeln, sonst wird das nur zur Gewohnheit. Und im Unterschied zu Farang wie Ihnen kann ich das Umweltministerium nicht bestechen, um Zugang zum Kohlenetz zu erhalten.«

Er dreht sich um, nimmt eine Flasche Khmer-Whisky vom Regal und schenkt mit geübter Hand ein. Anderson fragt sich, ob an den Gerüchten über diesen Mann irgendetwas Wahres dran ist.

Otto, der inzwischen unzusammenhängendes Zeug über »verdammte Luftschiffe« murmelt, behauptet, Sir Francis sei ein alter Chaopraya gewesen, ein hochrangiger Ratgeber des Königs, der bei einem Machtkampf aus dem Palast gedrängt wurde. Diese Theorie hat ebenso viel für sich wie das Gerücht, er sei ein ehemaliger Diener des Kadaverkönigs im Ruhestand oder ein Prinz der Khmer im Exil, der unter falschem Namen lebt, seit sich das Königreich Thailand ausgedehnt und die östlichen Gebiete vereinnahmt hat. Alle sind sich einig, dass er von edler Abstammung sein muss — das ist die einzige Erklärung für die Verachtung, die er seinen Gästen gegenüber zur Schau stellt.

»Bezahlen Sie jetzt gleich«, sagt er, als er die Gläser auf die Bar stellt.

Carlyle lacht. »Sie wissen, dass wir kreditwürdig sind.«

Sir Francis schüttelt den Kopf. »Sie haben beide auf den Ankerplätzen viel verloren. Alle wissen das. Bezahlen Sie jetzt gleich.«

Carlyle und Anderson lassen Münzen auf die Theke fallen. »Ich dachte, wir würden uns besser kennen«, beschwert sich Anderson.

»So ist das nun mal in der Politik.« Sir Francis lächelt. »Vielleicht sind Sie morgen wieder hier. Vielleicht aber werden Sie fortgespült wie der Plastikmüll aus der Expansionszeit an einem Strand. An allen Straßenecken kann man Flüsterblätter kaufen und darin die Forderung lesen, Hauptmann Jaidee solle Chaopraya-Ratgeber im Palast werden. Wenn er berufen wird, dann ist es mit Farang wie Ihnen …« Er wedelt mit der Hand, als würde er jemanden fortscheuchen. »… aus und vorbei.« Er zuckt mit den Schultern. »General Prachas Radiosender bezeichnen Jaidee als Tiger und Helden, und die Studentenverbände fordern, dass das Handelsministerium geschlossen und den Weißhemden unterstellt wird. Das Handelsministerium hat an Gesicht verloren. Farang und das Ministerium sind so untrennbar miteinander verbunden wie Farang und Flöhe.«

»Sehr hübsch.«

Sir Francis zuckt mit den Schultern. »Sie riechen eben.«

Carlyle blickt ihn finster an. »Hier riecht jeder. Gottverdammt nochmal, es ist heiß!«

Anderson geht dazwischen. »Dann werden sie im Handelsministerium wohl schäumen, wenn sie so sehr das Gesicht verloren haben.« Er nippt an dem warmen Whisky und verzieht das Gesicht. Bevor er hierherkam, hat ihm Schnaps bei Zimmertemperatur geschmeckt.

Sir Francis zählt die Münzen in seine Geldkassette. »Minister Akkarat stellt noch immer ein Lächeln zur Schau, aber die Japaner verlangen Entschädigungen für ihre Verluste, und da sind sie bei den Weißhemden an der falschen Adresse. Entweder bezahlt Akkarat also aus seiner eigenen Tasche für das, was der Tiger von Bangkok getan hat, oder er wird auch den Japanern gegenüber das Gesicht verlieren.«

»Glauben Sie, dass die Japaner gehen werden?«

Sir Francis beißt sich wütend auf die Unterlippe. »Die Japaner sind wie die Kalorienkonzerne — die suchen immer nach Mitteln und Wegen, sich einzunisten. Verschwinden werden die nie.« Er schlendert zum anderen Ende der Bar und lässt sie allein zurück.

Anderson zieht eine Ngaw hervor und bietet sie Carlyle an. »Wollen Sie eine?«

Carlyle nimmt die Frucht, hält sie hoch und betrachtet sie eingehend. »Was zum Teufel ist das?«

»Eine Ngaw.«

»Erinnert mich an Kakerlaken.« Er verzieht das Gesicht. »Sie experimentieren gerne, das muss ich Ihnen lassen.« Er reicht die Ngaw zurück und wischt sich die Hände an der Hose ab.

»Angst?«, fragt Anderson.

»Meine Frau hat auch gern neue Sachen gegessen. Sie konnte einfach nicht anders. Sie war einfach verrückt nach neuen Geschmacksrichtungen. Hat alles ausprobiert, was neu auf den Markt kam.« Carlyle zuckt mit den Schultern. »Ich warte lieber ab, ob Sie nächste Woche Blut spucken.«

Sie lehnen sich auf ihren Hockern zurück und blicken durch den Staub und die Hitze zum Victory Hotel hinüber. In einer Gasse hat eine Frau neben den Trümmern eines alten Hochhauses mehrere Zuber mit Wäsche aufgestellt. Eine andere wäscht sich selbst, wobei sie den Sarong anbehält, der nass an ihrer Haut klebt. Kinder laufen nackt durch den Schmutz und springen über Betonbrocken, die während der Großen Expansion vor über einhundert Jahren gegossen wurden. Weiter die Straße hinunter erheben sich die Deiche und halten das Meer zurück.

»Wie viel haben Sie verloren?«, fragt Carlyle schließlich.

»Genug. Und Sie sind schuld daran.«

Carlyle tut so, als hätte er nichts gehört. Er trinkt sein Glas aus und bestellt mit einer Handbewegung ein weiteres. »Wirklich kein Eis?«, fragt er Sir Francis. »Oder glauben Sie, wir sind morgen ohnehin verschwunden?.«

»Fragen Sie mich das morgen.«

»Wenn ich morgen immer noch da bin, haben Sie dann Eis?«, fragt Carlyle.

Sir Francis bleckt die Zähne und grinst. »Kommt darauf an, wie viel Sie den Mulis und den Megodonten bezahlen, damit sie die Schiffe entladen. Alle reden davon, reich zu werden, indem sie für die Farang Kalorien verbrennen … Also bekommt Sir Francis kein Eis.«

»Aber wenn wir weg sind, trinkt hier auch niemand etwas. Auch wenn Sir Francis alles Eis der Welt hat.«

Sir Francis zuckt mit den Schultern. »Da haben Sie wohl Recht.«

Carlyle starrt wütend auf den Rücken des Thai. »Megodontengewerkschaften, Weißhemden, Sir Francis. Wohin man auch schaut, hält jemand die Hand auf.«

»Geschäft ist eben Geschäft«, entgegnet Anderson. »Trotzdem, so wie Sie gelächelt haben, als Sie hereinkamen, hatte ich den Eindruck, Sie hätten überhaupt nichts verloren.«

Carlyle greift nach seinem zweiten Whisky. »Ich freue mich einfach, Sie alle hier auf der Veranda zu sehen, mit Gesichtern, als wäre ihr Hund an Cibiskose gestorben. Aber sei’s drum, auch wenn wir Verluste hinnehmen mussten, noch hat uns niemand in eine Zelle im Khlong Prem geworfen. Also gibt es keinen Grund, nicht zu lächeln.« Er beugt sich zu Anderson hinüber. »Die Sache ist noch lange nicht gegessen. Akkarat hat noch einige Asse im Ärmel.«

»Wenn man die Weißhemden zu sehr unter Druck setzt, wehren sie sich irgendwann«, gibt Anderson zu bedenken. »Sie und Akkarat haben ein ziemliches Trara veranstaltet, über Tarife geredet und über Änderungen im System der Schadstoffguthaben. Sogar über Aufziehmenschen! Und jetzt erzählt mir mein Assistent dasselbe, was auch Sir Francis gerade gesagt hat: Alle Zeitungen der Stadt bezeichnen unseren Freund Jaidee als einen Tiger der Königin. Und lassen ihn hochleben.«

»Ihr Assistent? Sie meinen diese paranoide Yellow-Card-Spinne, die Sie in Ihrem Büro halten?« Carlyle lacht. »Das ist das Problem mit Ihnen! Sie sitzen alle hier herum, meckern und wünschen sich, die Dinge wären anders, während ich damit beschäftigt bin, die Regeln des Spiels zu ändern. Sie denken immer noch wie zur Zeit der Großen Kontraktion.«

»Immerhin habe ich kein Luftschiff verloren.«

»Bei jedem Geschäft fallen Unkosten an.«

»Ich würde meinen, dass ein Fünftel Ihrer Flotte mehr ist als nur Unkosten.«

Carlyle verzieht das Gesicht. Er beugt sich noch weiter vor und senkt die Stimme. »Hören Sie mal, Anderson. Hinter diesem Scharmützel mit den Weißhemden steckt mehr, als es den Anschein hat. Einige Leute haben nur darauf gewartet, dass sie zu weit gehen.« Er hält inne, um sicherzugehen, dass seine Worte Gehör finden. »Manche von uns haben sogar darauf hingearbeitet. Ich komme gerade von einem persönlichen Gespräch mit Akkarat, und ich kann Ihnen versichern, dass bald erfreulichere Dinge in den Zeitungen stehen werden.«

Anderson muss sich ein Lachen verkneifen, aber Carlyle hebt einen mahnenden Finger. »Na los, schütteln Sie nur den Kopf, aber bevor Sie sich versehen, werden Sie mir die Füße küssen und sich bei mir für die neuen Tarifstrukturen bedanken. Und wir alle werden Entschädigungszahlungen auf unseren Konten haben.«

»Die Weißhemden zahlen nie Entschädigungen. Nicht, wenn sie eine Farm niederbrennen, und nicht, wenn sie Frachtgüter beschlagnahmen. Niemals.«

Carlyle zuckt mit den Schultern. Er schaut in das grelle Licht der Veranda hinaus. »Der Monsun kommt«, stellt er fest.

»Wohl kaum.« Anderson lässt mit mürrischer Miene den Blick über die Straßen schweifen. »Er ist bereits zwei Monate überfällig.«

»Ach, das wird schon. Vielleicht nicht diesen Monat. Vielleicht nicht den nächsten. Aber er kommt.«

»Und?«

»Das Umweltministerium erwartet eine Lieferung mit Ersatzteilen für die Deichpumpen. Ersatzteile, die dringend gebraucht werden. Für sieben Pumpen.« Er hält inne. »Und wo, glauben Sie, lagern all diese Teile?«

»Klären Sie mich auf.«

»Weit weg, auf der anderen Seite des Indischen Ozeans.« Carlyle bleckt die Zähne und lächelt sein Haifischlächeln. »In einem ganz bestimmten Hangar in Kalkutta, der zufällig mir gehört.«

Alle Luft scheint aus der Bar gewichen zu sein. Anderson schaut sich um, aber es ist niemand in der Nähe. »Himmel, Sie verrückter Mistkerl. Meinen Sie das ernst?«

Jetzt begreift er alles. Carlyles Prahlerei, sein selbstbewusstes Auftreten. Der Mann war schon immer bereit, Risiken einzugehen, bei denen es einen Freibeuter gefröstelt hätte. Aber bei Carlyle ist es schwierig, Aufschneiderei von Ehrlichkeit zu unterscheiden. Wenn er behauptet, er hätte das Ohr von Akkarat, spricht er vielleicht nur mit dessen Sekretären. Alles nur Gerede. Dies jedoch …

Anderson will gerade etwas sagen, sieht jedoch, wie Sir Francis zu ihnen herüberkommt, beißt sich auf die Unterlippe und wendet sich ab. Carlyles Augen funkeln unheilverkündend. Sir Francis stellt ein volles Glas Whisky neben seine Hand, doch Anderson hat die Lust darauf verloren. Sobald sich Sir Francis zurückzieht, beugt er sich vor.

»Sie erpressen die Stadt?«

»Die Weißhemden scheinen vergessen zu haben, dass sie auf Außenstehende angewiesen sind. Wir befinden uns mitten in einer neuen Expansion, und jeder Faden ist mit allen anderen Fäden verknüpft. Und trotzdem denken sie noch wie ein Ministerium zur Zeit der Großen Kontraktion. Sie wollen nicht begreifen, wie abhängig sie bereits von den Farang sind.« Er zuckt mit den Schultern. »Im Moment sind sie nur Bauern auf einem Schachbrett. Sie haben keine Ahnung, wer die eigentliche Macht hat, und selbst wenn sie es versuchen würden, aufhalten können sie uns nicht.«

Er kippt einen weiteren Whisky hinunter, zieht eine Grimasse und knallt das Glas auf die Theke. »Wir alle sollten diesem Schweinehund von Jaidee Blumen schicken. Besser hätte er es gar nicht machen können. Und da die Hälfte der städtischen Kohlepumpen vom Netz sind …« Er zuckt mit den Achseln. »Das Nette an den Thai ist, dass sie ein so feinfühliges Volk sind. Ich muss nicht einmal eine Drohung aussprechen. Sie werden alles von ganz alleine begreifen und das Nötige in die Wege leiten.«

»Ein gewagtes Spiel.«

»Ist das nicht immer so?« Carlyle schenkt Anderson ein zynisches Lächeln. »Vielleicht hat uns morgen schon alle eine Neuauflage der Rostwelke dahingerafft. Oder wir sind die reichsten Leute im ganzen Königreich. Alles ist ein Spiel. Und den Thai ist es sehr ernst damit. Wir sollten uns nicht anders verhalten.«

»Ich sollte Ihnen eine Federpistole an die Stirn setzen und Ihren Kopf gegen die Pumpen eintauschen.«

»Das ist die richtige Einstellung!« Carlyle lacht. »Jetzt denken Sie wie ein Thai. Aber auch in dieser Hinsicht habe ich vorgesorgt.«

»Inwiefern? Haben Sie einen Deal mit dem Handelsministerium gemacht?« Anderson verzieht das Gesicht. »Akkarat hat nicht genug Einfluss, um Sie zu beschützen.«

»Noch besser. Er weiß die Generäle auf seiner Seite.«

»Sie sind ja wohl besoffen! Die Freunde von General Pracha sitzen bei der Armee an allen Schaltstellen. Die Weißhemden herrschen nur deshalb noch nicht über das ganze Land, weil der alte König das letzte Mal eingegriffen hat, bevor Pracha Akkarat zerquetschen konnte.«

»Die Zeiten ändern sich. Prachas Weißhemden und die Schmiergelder, die er eingesteckt hat, haben viele Leute wütend gemacht. Die Leute wollen, dass sich etwas ändert.«

»Reden Sie jetzt von einer Revolution?«

»Ist es eine Revolution, wenn der Befehl dazu aus dem Palast kommt?« Carlyle langt unbekümmert über die Theke, nimmt sich die Flasche und schenkt sich nach. Er dreht sie ganz auf den Kopf, muss sich jedoch mit weniger als einem halben Glas zufriedengeben. Dann zieht er eine Augenbraue hoch und sieht Anderson an. »Aha. Jetzt habe ich Ihr Interesse geweckt.« Er deutet auf Andersons Glas. »Trinken Sie das noch?«

»Wie weit wird das gehen?«

»Möchten Sie mit einsteigen?«

»Warum bieten Sie mir das an?«

»Das fragen Sie noch?« Carlyle zuckt mit den Schultern. »Als Yates Ihre Fabrik einrichtete, hat er die Löhne der Megodontengewerkschaft für Joule verdreifacht. Er hat mit Geld nur so um sich geworfen. Derartige finanzielle Mittel sind nur schwer zu übersehen.«

Er nickt zu den anderen freiwilligen Exilanten hinüber, die lustlos Poker spielen und darauf warten, dass die Hitze des Tages nachlässt, damit sie wieder an die Arbeit zurückkönnen oder zu ihren Huren. Um schließlich wieder auf den nächsten Tag zu warten. »Die anderen, das sind alles Kinder. Kleine Kinder, die die Kleider von Erwachsenen tragen. Sie dagegen — Sie sind eine andere Nummer.«

»Glauben Sie, wir sind reich?«

»Ach, hören Sie doch auf. Meine Luftschiffe transportieren Ihre Fracht.« Carlyle mustert Anderson vielsagend. »Ich weiß, woher Ihre Lieferungen ursprünglich kommen. Bevor sie in Kalkutta eintreffen.«

Anderson tut so, als ginge ihn das alles nichts an. »Und?«

»Ein erstaunlich großer Teil der Lieferungen stammt aus Des Moines.«

»Sie möchten Geschäfte mit mir machen, weil ich Investoren im Mittleren Westen habe? Sucht sich nicht jeder seine Investoren, wo das Geld ist? Na schön, da möchte eine reiche Witwe eben mit Spannfedern experimentieren. Und wenn? Sie messen Kleinigkeiten eine zu große Bedeutung bei.«

»Tatsächlich?« Carlyle schaut sich kurz um und beugt sich dann vor. »Die Leute reden über Sie!«

»Inwiefern?«

»Sie erzählen, dass Sie sich für Samen interessieren.« Er wirft einen vielsagenden Blick auf die Ngaw. »Heutzutage sind wir alle Genspäher. Aber Sie sind der Einzige, der für Informationen bezahlt. Der Einzige, der sich nach Weißhemden und Genfledderern erkundigt.«

Anderson lächelt eisig. »Sie haben mit Raleigh gesprochen. «

Carlyle neigt den Kopf. »Wenn es Sie tröstet — es war nicht einfach. Er wollte nicht über Sie reden. Unter keinen Umständen. «

»Er hätte sich etwas mehr Mühe geben sollen.«

»Ohne mich kommt er nicht an seine Altersbehandlungen heran.« Carlyle zuckt mit den Schultern. »Meine Speditionen haben Vertretungen in Japan. Sie, Herr Anderson, haben ihm kein weiteres Jahrzehnt unbeschwerten Lebens geboten.«

Anderson zwingt sich zu einem Lachen. »Natürlich.« Er lächelt, aber innerlich schäumt er. Er wird sich um Raleigh kümmern müssen. Und jetzt vielleicht auch um Carlyle. Er war nachlässig. Angewidert betrachtet er die Ngaw. Er hat wirklich jedem unter die Nase gerieben, für was er sich gerade interessiert. Sogar einem Grahamiten. Und jetzt das. Er ist nachlässig geworden und hat sich mehr als eine Blöße gegeben. Und jetzt hat Carlyle ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt.

»Wenn ich nur mit gewissen Leuten reden und gewisse Angebote unterbreiten könnte …«, sagt Carlyle gerade. Seine braunen Augen suchen nach Anzeichen von Zustimmung in Andersons Miene. »Mir ist gleichgültig, für welche Firma Sie arbeiten. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind unsere Ziel nicht so unterschiedlich.«

Anderson trommelt nachdenklich mit den Fingern auf die Bar. Falls Carlyle verschwinden sollte, würde das für Aufsehen sorgen? Vielleicht könnte er sogar übereifrigen Weißhemden die Schuld in die Schuhe schieben …

»Glauben Sie, dass Sie eine Chance haben?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass die Thai ihre Regierung gewaltsam reformiert haben. Das Victory Hotel würde es gar nicht geben, hätte Premierminister Surawong nicht bei dem Putsch am 12. Dezember seinen Kopf und seine Villa verloren. Die Geschichte Thailands kennt zahlreiche Regierungswechsel. «

»Ich mache mir etwas Sorgen, dass Sie, wenn Sie mit mir sprechen, auch mit anderen sprechen könnten.«

»Mit wem denn?« Carlyle deutet mit einer Kopfbewegung auf den Rest der Farang-Phalanx. »Die sind bedeutungslos. Auf sie würde ich nicht eine Sekunde lang einen Gedanken verschwenden. Ihre Leute dagegen …« Carlyle lässt den Satz ausklingen, überlegt einen Moment und räuspert sich.

»Schauen Sie, Akkarat hat mit dergleichen einige Erfahrung. Die Weißhemden habe sich zahlreiche Feinde gemacht. Und nicht nur unter den Farang. Unser Projekt muss nur noch etwas an Dynamik gewinnen.«

Er nippt an seinem Whisky, lässt ihn sich die Kehle hinunterrinnen und stellt das Glas auf die Theke zurück. »Wenn alles nach Plan verläuft, wären die Konsequenzen äußerst vorteilhaft für uns.« Er blickt Anderson direkt in die Augen. »Äußerst vorteilhaft für Sie. Und Ihre Freunde im Mittleren Westen.«

»Und was haben Sie davon?«

»Aufträge, natürlich.« Carlyle grinst. »Wenn sich Thailand öffnet, anstatt immer nur in die Defensive zu gehen, wächst mein Unternehmen. Es ist nur vernünftig, dass ich so denke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Auftraggeber sich gerne auf Koh Angrit die Beine in den Bauch stehen und um jede Tonne U-Tex und SoyPRO feilschen, die sie dem Königreich verkaufen dürfen, wenn die Ernte schlecht ist. Sie hätten endlich freien Handel, anstatt auf dieser Insel unter Quarantäne festzusitzen. Ich würde doch meinen, dass Sie das interessiert. Für mich würde das mit Sicherheit einiges an Profit bedeuten.«

Anderson mustert Carlyle und fragt sich, ob er ihm trauen kann. Seit zwei Jahren kennen sie sich — hin und wieder trinken sie etwas miteinander oder gehen in ein Bordell, und Speditionsaufträge besiegeln sie für gewöhnlich mit Handschlag. Allerdings weiß Anderson nur wenig über Carlyle. Die Zentrale hat eine Akte über ihn angelegt, aber die ist sehr dünn. Anderson grübelt nach. Die Samenbank ist irgendwo dort draußen und wartet auf ihn. Mit einer nachgiebigen Regierung …

»Welche Generäle stehen denn hinter Ihnen?«

Carlyle lacht. »Wenn ich Ihnen das verriete, würden Sie mich für einen Narren halten, der kein Geheimnis wahren kann.«

Alles nur Geschwätz, denkt Anderson. Er muss dafür sorgen, dass Carlyle verschwindet, und zwar bald und möglichst unauffällig, bevor seine Tarnung auffliegt. »Das klingt interessant. Vielleicht sollten wir uns irgendwo zusammensetzen und noch etwas über unsere gemeinsamen Ziele sprechen.«

Carlyle will etwas erwidern, hält jedoch inne und mustert sein Gegenüber. Schließlich lächelt er und schüttelt den Kopf. »Nein, nein. Sie glauben mir nicht.« Er zuckt mit den Schultern. »Na gut. Dann warten Sie eben ab. In zwei Tagen werden Sie Ihre Meinung geändert haben. Dann unterhalten wir uns noch einmal.« Er wirft Anderson einen vielsagenden Blick zu. »Und zwar an einem Ort, den ich bestimme.« Er trinkt sein Glas aus.

»Warum warten? Was verändert sich bis dahin?«

Carlyle setzt sich seinen Hut auf und lächelt. »Alles, mein lieber Farang. Alles.«

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