Kanya ist von Rauchschwaden eingeschlossen. Vier weitere Leichenfunde, zusätzlich zu denen, die bereits in den Krankenhäusern registriert wurden. Die Seuche mutiert schneller, als sie erwartet hatte. Auch wenn Gi Bu Sen das angedeutet hatte, löst doch erst die gestiegene Zahl der Toten eine böse Vorahnung in ihr aus.
Pai umrundet einen Fischteich. Sie haben große Säcke voll Lauge und Chlor hineingeschüttet. Der Geruch von Säure weht über sie alle hinweg, und sie muss husten. Der Gestank der Angst.
Sie denkt an andere Teiche zurück, die auf diese Weise befüllt wurden, an andere Menschen, die sich zusammenkauerten, während die Weißhemden ihr Dorf einnahmen und alles, alles, einfach alles in Brand setzten. Sie schließt die Augen. Wie sehr sie die Weißhemden damals gehasst hat. Der dortige Jao Por hielt sie für intelligent und ehrgeizig genug, um sie in die Hauptstadt zu schicken, damit sie sich dort freiwillig bei den Weißhemden melden und sich bei ihnen einschmeicheln würde. Ein Dorfpate, der sich mit den Feinden der Weißhemden verbündet hatte, um sich für den Verlust seiner Vormachtstellung zu rächen.
Dutzende andere Kinder zogen ebenfalls gen Süden, um vor den Toren des Ministeriums um Arbeit zu betteln, und sie alle hatten die gleichen Anweisungen erhalten. Von all diesen Kindern war sie die Einzige, die so weit aufsteigen konnte, doch es gibt noch andere wie sie, das ganze Ministerium ist mit ihnen durchsetzt. Andere loyale, verbitterte Kinder.
»Ich vergebe dir«, hört sie Jaidee leise murmeln.
Kanya schüttelt den Kopf und schenkt ihm keine Beachtung. Sie winkt Pai zu, um ihm zu signalisieren, dass die Teiche jetzt endgültig zugeschüttet werden können. Mit etwas Glück wird dieses Dorf vollkommen von der Bildfläche verschwinden. Ihre Männer arbeiten so schnell wie möglich, sie wollen schleunigst wieder von hier verschwinden. Die Masken und Schutzanzüge sind in der brütenden Hitze eher eine Qual denn ein Schutz.
Immer mehr beißende Rauchschwaden wallen auf. Die Dorfbewohner weinen. Dieses Mädchen, Mai, starrt Kanya unverwandt an. Für das Kind ist das ein prägender Moment. Diese Erinnerung wird sich wie eine Fischgräte in ihr festsetzen — sie wird sie niemals abschütteln können.
Kanya kann es ihr nachfühlen. Wenn du doch nur begreifen könntest. Aber sie ist noch viel zu klein, um die Grausamkeit des Lebens erfassen zu können.
Wenn ich doch nur hätte verstehen können.
»Hauptmann Kanya!«
Sie dreht sich um. Ein Mann kommt auf sie zu, stolpert durch den Schlamm der Reisfelder, über Eindeichungen und kostbare Reisschösslinge hinweg. Interessiert blickt auch Pai zu ihm hinüber, doch Kanya scheucht ihn fort. Atemlos kommt der Bote vor ihr zum Stehen. »Buddha lächelt auf Sie und das Ministerium herab.« Erwartungsvolle Stille.
»Sofort?« Kanya starrt ihn an. Blickt zu dem brennenden Dorf zurück. »Ihr benötigt mich jetzt gleich?«
Der Junge blickt nervös umher — mit dieser Reaktion hat er nicht gerechnet. Ungeduldig fährt Kanya mit der Hand durch die Luft. »Sag es noch einmal. Wirklich jetzt?«
»Buddha lächelt auf Sie herab. Und auf das Ministerium. Alle Wege entspringen dem Herzen von Krung Thep. Alle Wege.«
Kanya verzieht das Gesicht und winkt ihren Leutnant herbei. »Pai! Ich muss los.«
»Jetzt?« Nur mit Mühe gelingt es ihm, sein Erstaunen zu verbergen.
Kanya nickt. »Es ist unumgänglich.« Sie deutet auf die feuerroten Bambushütten. »Bringen Sie das hier zu Ende.«
»Was ist mit den Dorfbewohnern?«
»Bindet sie fest. Schickt ihnen Essen. Wenn sich innerhalb einer Woche kein weiterer Krankheitsfall entwickelt, haben wir es möglicherweise überstanden.«
»Meinen Sie wirklich, wir könnten so viel Glück haben?«
Kanya zwingt sich zu einem Lächeln. Wie unnatürlich es sich anfühlt, jemanden mit Pais Erfahrung beruhigen zu müssen! »Wir können zumindest hoffen.« Sie winkt den Jungen heran. »Also dann, bring mich hin.« Sie wirft einen Blick auf Pai. »Sobald Sie hier fertig sind, treffen wir uns im Ministerium. Wir müssen noch einen weiteren Ort in Brand setzen.«
»Die Farang-Fabrik?«
Sein Eifer entlockt Kanya beinahe erneut ein Lächeln. »Wir können doch die Quelle der Verunreinigung nicht verschonen. Ist das nicht unsere Aufgabe?«
»Sie sind ein neuer Tiger!«, ruft Pai aus. Er gibt ihr einen Klaps auf den Rücken, wird sich dann jedoch wieder seines Ranges bewusst. Mit einem entschuldigenden Wai eilt er zur Vernichtung des Dorfes zurück.
»Ein neuer Tiger«, murmelt Jaidee an ihrer Seite. »Wie schön für Sie.«
»Das ist allein Ihre Schuld. Sie haben sie darauf abgerichtet, einem Radikalen zu folgen.«
»Und so fällt die Wahl also auf Sie?«
Kanya seufzt. »Es reicht offensichtlich bereits aus, eine brennende Fackel vor sich herzutragen.«
Darüber muss Jaidee lachen.
Hinter den Deichen steht bereits ein Spannfederroller für sie bereit. Der Junge steigt auf und wartet, bis Kanya hinter ihm zu sitzen kommt. Die Fahrt führt sie mitten ins städtische Straßengewirr hinein, in dem sie sich zwischen Megodonten und Fahrrädern hindurchschlängeln. Ihre kleine Drucklufthupe tutet unentwegt. Die Stadt zieht an ihnen vorüber: Fischverkäufer, Stoffhändler, Männer, die ihre Phra-Seub-Amulette anpreisen, über die Jaidee sich so oft lustig gemacht hat; doch Kanya trägt heimlich selbst eines, an einer schmalen Kette dicht über dem Herzen.
Gerade eben noch, bevor sie das Dorf verließ, hat sie es noch berührt, und sein Kommentar dazu lautete: »Zu viele Götter, bei denen Sie sich einschmeicheln wollen.« Doch sie hat seinen Spott ignoriert und Phra Seub hoffnungsvoll flüsternd um Schutz gebeten, den sie, wie sie wusste, eigentlich nicht verdiente.
Mit einem Schlenker kommt der Roller zum Stehen, und sie springt ab. Das zarte Gold des Stadtschreins funkelt in der Morgensonne. Ringsum bieten Frauen Kränze aus Ringelblumen als Opfergabe feil. Der rituelle Gesang der Mönche vermischt sich mit der Begleitmusik von Khon-Tänzen und wird über die weiß getünchten Mauern nach draußen getragen. Bevor sie dem Jungen danken kann, ist er auch schon wieder verschwunden. Nur einer von vielen, die Akkarat einen Gefallen schulden. Wahrscheinlich war der Roller ein Geschenk, und Loyalität der Preis dafür.
»Und was ist sein Geschenk an dich, teuerste Kanya?«, fragt Jaidee.
»Das wissen Sie doch,« murmelt Kanya. »Ich erhalte das, was ich mir geschworen habe, dass ich es bekommen werde.«
»Und ist es immer noch das, wonach es Sie verlangt?«
Anstatt ihm eine Antwort zu geben, tritt sie über die Schwelle ins Innere des Schreins. Sogar bei Tagesanbruch ist der heilige Ort bereits voller Gläubiger, die alle vor den Buddhastatuen und dem Phra-Seub-Schrein kauern, der einzig dem des Ministeriums an Größe nachsteht. Geschäftig wuseln die Menschen durcheinander, bieten Blumen und Früchte dar, lassen sich die Zukunft mit Hilfe von hölzernen Zeremonienstäben voraussagen — und über alldem erhebt sich der Gesang der Mönche, die die Stadt zu beschützen versuchen mit ihren Gebeten, den Amuletten und dem Sai Sin, der sich vom Schrein bis hin zu den Dämmen und Pumpen spannt. Der heilige Faden schwankt im Zwielicht; dort, wo er auf die Verkehrsstraßen trifft, halten ihn Pfähle empor. Ausgehend von diesem geheiligten Zentrum erstreckt er sich kilometerweit bis zu den Pumpen, von wo er dann einmal um die Deiche herum führt. Der Singsang der Mönche gleicht einem stetigen Summen, das die Stadt der Engel vor den gierigen Wogen bewahrt.
Auch Kanya kauft Weihrauch und Früchte als Opfergaben und geht über die marmornen Stufen hinab in die kühlen Innenräume des Schreins. Dort kniet sie vor der Stadtsäule Ayutthayas, das geplündert wurde, und vor der größeren Säule Bangkoks. Der Ort, von dem aus alle Strecken gemessen werden. Das Herz von Krung Thep und gleichzeitig das Haus der Geister, die über die Stadt wachen. Wenn sie sich in den Türrahmen des Schreins stellt und in Richtung Dämme blickt, kann sie die hoch aufragenden Schutzwälle erkennen. Es ist nicht zu übersehen, dass sie in den Tiefen einer Badewanne hausen. Auf jeder Seite von Wasser umschlossen. Dieser Schrein … Sie zündet die Räucherstäbchen an und zollt den Göttern ihren Respekt.
»Fühlt es sich nicht verlogen an, ausgerechnet hierher zu kommen, nur weil die vom Handelsministerium es so wollen? «
»Seien Sie still, Jaidee.«
Jaidee kniet sich neben sie. »Na ja, wenigstens bringen Sie gute Früchte mit.«
»Seien Sie still.«
Sie würde gerne beten, doch solange Jaidee sie nicht in Ruhe lässt, ist das vergebliche Liebesmüh. Nach einer weiteren Minute gibt sie es auf und geht wieder hinaus in die aufsteigende Hitze und Helligkeit des neuen Tags. Narong ist bereits da; an einen der Pfähle gelehnt, sieht er den Khon-Tänzen zu. Im Rhythmus der Trommeln vollführen die Tänzer stilisierte Drehungen, und ihre hohen Stimmen wetteifern mit dem tiefen Brummen der im Hof aufgereihten Mönche. Kanya gesellt sich zu ihm.
Narong hebt eine Hand. »Warten Sie bis zum Ende.«
Während sie sich einen Sitzplatz sucht, gelingt es ihr, den aufsteigenden Ärger zu bezwingen. Die Geschichte von Rama entfaltet sich vor ihren Augen. Endlich nickt Narong zufrieden. »Großartig, nicht wahr?« Er deutet mit dem Kopf in Richtung des Schreins. »Haben Sie Ihre Opfergaben bereits dargebracht?«
»Interessiert Sie das?«
Es haben sich noch andere Weißhemden im Hof versammelt, die, jeder für sich, den Göttern huldigen. Sie bitten um Beförderungen, mehr Geld. Wünschen sich Erfolg für ihre Nachforschungen. Erbitten sich Schutz vor den Krankheiten, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben. Auf seine Weise ist dieser Schrein wie für das Umweltministerium geschaffen. Er ist fast genauso bedeutend wie der von Phra Seub, dem Märtyrer der Artenvielfalt. Es macht sie nervös, diese Unterhaltung mit Narong in aller Öffentlichkeit zu führen, doch ihm scheint das überhaupt nichts auszumachen.
»Wir alle lieben diese Stadt«, sagt er. »Auch Akkarat würde alles tun, um sie zu verteidigen.«
Kanya schneidet eine Grimasse. »Was wollen Sie von mir?«
»So ungeduldig! Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen.«
Sie zieht ein verdrießliches Gesicht. Narong scheint es in keinster Weise eilig zu haben, und doch hat er sie abbeordert, als würde es sich um einen Notfall handeln. »Ist Ihnen klar, von wo Sie mich weggeholt haben?«, fragt sie mit mühsam unterdrückter Wut.
»Erzählen Sie mir davon, während wir ein Stück gehen.«
»Ich habe ein Dorf mit fünf Toten, ohne dass wir die Ursache isolieren konnten.«
Er wirft ihr einen interessierten Blick zu. »Eine neue Cibiskose? « Er führt sie an den Blumenverkäuferinnen vorbei hinaus auf die Straßen. Läuft immer weiter.
»Das wissen wir nicht.« Sie wischt ihre Enttäuschung beiseite. »Im Moment verhindern Sie allerdings, dass ich der Sache weiter nachgehe, und auch wenn es Ihnen vielleicht Vergnügen bereiten mag, mich wie einen Hund herbeizupfeifen …«
»Wir haben ein Problem«, unterbricht Narong sie. »Wenn Sie denken, Ihr kleines Dorf sei von Bedeutung, so ist das doch gar nichts im Vergleich mit dieser Sache. Es hat einen Todesfall gegeben. Eine führende Persönlichkeit. Wir benötigen Ihre Hilfe bei den Nachforschungen.«
Sie lacht auf. »Ich gehöre nicht zur Polizei.«
»Das ist auch keine Polizeiangelegenheit. Es ist ein Aufziehmensch im Spiel.«
Kanya bleibt unvermittelt stehen. »Ein was?«
»Die Mörderin. Wir vermuten, dass jemand sie geschickt hat. Eine militärische Aufzieheinheit. Eine Heechy-Keechy.«
»Wie ist das möglich?«
»Das ist eines der Dinge, die wir herauszufinden versuchen. « Narong sieht sie mit ernster Miene an. »Und wir sind nicht in der Lage, der Frage nachzugehen, da General Pracha das Aufziehmädchen zur verbotenen Kreatur erklärt und somit die Leitung der Ermittlungen an sich gerissen hat. Als handelte es sich hier um eine Cheshire oder einen Yellow-Card-Flüchtling. « Er lacht freudlos. »Uns sind die Hände gebunden. Sie werden für uns Nachforschungen anstellen.«
»Das ist nicht so einfach. Dieser Fall ist mir nicht zugeteilt worden. Pracha wird nicht …«
»Er vertraut Ihnen.«
»Mir in Hinsicht auf meine Arbeit zu vertrauen und mir zu gestatten, dass ich mich in einen solchen Fall einmische, sind zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe.« Schulterzuckend wendet sie sich ab. »Das ist unmöglich.«
»Nein!« Narong packt sie und zerrt sie zu sich heran. »Es ist überlebenswichtig! Wir müssen alle Einzelheiten herausbekommen! «
Kanya wirbelt herum und schüttelt Narongs Hand ab. »Warum? Was ist so wichtig an diesem Fall? Jeden Tag sterben Menschen in Bangkok, überall. Wir finden mehr Leichen, als wir in die Methankomposter hineinschaufeln können. Was ist ausgerechnet an diesem Todesfall so besonders, das es rechtfertigen würde, dem General in die Quere zu kommen?«
Narong zieht sie wieder näher zu sich heran. »Es handelt sich um den Somdet Chaopraya. Wir haben den Beschützer der Krone verloren.«
Kanyas Knie geben nach. Narong hält sie aufrecht und redet immer weiter auf sie ein, zornig, drängend. » In der Politik wird mit weit härteren Bandagen vorgegangen, seit ich bei diesem Spiel mitmische.« Das Lächeln auf seinem Gesicht täuscht Kanya nicht über die schwelende Wut hinweg, die darunter lauert. »Sie sind ein braves Mädchen, Kanya. Wir haben uns immer an unseren Teil der Abmachung gehalten. Deswegen sind Sie schließlich hier. Ich weiß, dass es schwierig wird. Sie fühlen sich Ihren Vorgesetzten im Umweltministerium gegenüber zur Loyalität verpflichtet. Sie beten zu Phra Seub. Das ist ehrenhaft. Sie machen das richtig so. Doch jetzt benötigen wir Ihre Hilfe. Selbst wenn Sie Akkarat mittlerweile nichts mehr abgewinnen können — der Palast verlangt, dass Sie handeln.«
»Was wollen Sie?«
»Wir müssen wissen, ob Pracha dahintersteckt. Er hat die Ermittlung, ohne zu zögern, an sich gerissen. Wir müssen einfach wissen, ob er derjenige war, der das Messer führte. Ihr Patron und die Sicherheit des Königshauses hängen davon ab. Möglicherweise möchte Pracha etwas verbergen. Es könnten einige seiner Leute vom zwölften Dezember sein, die uns angreifen.«
»Das ist nicht möglich …«
»Es kommt ihm einfach zu gelegen. Weil der Täter ein Aufziehmädchen ist, sind wir völlig außen vor.« Narongs Stimme überschlägt sich plötzlich vor Erregung. »Wir müssen erfahren, ob diese Kreatur von Ihrem Ministerium eingeschleust wurde.« Er reicht ihr ein Bündel Geldscheine. »Bestechen Sie jeden, der Ihnen in die Quere kommt«, sagt er.
Sie schüttelt ihre Bestürzung ab, nimmt das Geld an sich und stopft es in die Taschen. Er berührt sie sanft. »Es tut mir wirklich leid, Kanya. Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich brauche Sie, um unsere Feinde aufspüren, damit wir sie unschädlich machen können.«
Mitten am Tag herrscht in den Türmen von Ploenchit eine brütende Hitze. Aufgrund der vielen Ermittlungsbeamten, die sich in den düsteren Räumen des Nachtclubs drängen, heizt sich die drückende Schwüle noch weiter auf. Es ist ein schlechter Ort zum Sterben. Ein Ort des Hungers, der Verzweiflung und der ungestillten Begierden. In den Gängen versammeln sich Palastangestellte. Während Prachas Leute ihre Spurensuche durchführen, warten sie darauf, den Leichnam des Somdet Chaopraya für die Einäscherung abholen zu können. Sie beobachten alles und beratschlagen sich. In diesem schmachvollen und beängstigenden Moment ist die Luft von Sorge und Wut erfüllt, und jegliche Höflichkeit ist zu einer messerscharfen Waffe geworden. Die Spannung, die in diesen Räumen herrscht, gleicht der kurz vor Monsunbeginn, wenn sich die Luft unter düster dahinziehenden Wolken auflädt.
Die erste Leiche liegt im Barbereich auf der Erde, ein älterer Farang, unwirklich und fremd. Er weist kaum Spuren äußerlicher Gewalteinwirkung auf, sieht man von den Blutergüssen am Hals ab. Ihm ist die Kehle zerschmettert worden, unter Qualen muss er an seiner zertrümmerten Luftröhre erstickt sein. Er liegt aufgebläht neben der Bar hingestreckt und ähnelt dabei einer Wasserleiche, die gerade aus dem Fluss gezogen wurde. Ein Ganove, der jetzt nur noch als Fischköder taugt. Der alte Mann sieht sie aus weit aufgerissenen blauen Augen an — zwei ausdruckslose Seen. Wortlos nimmt Kanya die Zerstörung zur Kenntnis; dann lässt sie sich von General Prachas Sekretär in die inneren Gemächer führen.
Dort stockt ihr der Atem.
Alles ist mit Blut vollgespritzt. Es klebt an den Wänden und hat sich über den Boden verteilt. Leichen liegen wild übereinander. Und unter diesen Leichen befindet sich auch der Somdet Chaopraya. Sein Hals ist nicht eingedrückt wie der des alten Farang, ihm wurde vielmehr die Kehle herausgerissen, als wäre er einem Tiger zum Opfer gefallen. Seine mehrere Mann starke Leibwache liegt ebenfalls tot da — einem von ihnen steckt die Scheibe einer Federpistole in der Augenhöhle, ein anderer hält seine eigene Waffe immer noch fest umklammert, ist aber mit Scheiben übersät.
»Kot Rai«, haucht Kanya. Sie zögert unsicher; was ist wohl angesichts eines solchen Gemetzels zu tun? Elfenbeinkäfer rudern durch den blutigen Schaum. Überall dort, wo sie entlanggekrabbelt sind, ziehen sich ihre kleinen Spuren durch die geronnene Masse.
Pracha ist ebenfalls hier und berät sich gerade mit seinen Untergebenen. Als er hört, wie Kanya ungläubig nach Luft schnappt, blickt er auf. In den Gesichtern der anderen spiegeln sich Schock, Furcht und Scham. Allein der Gedanke, dass Pracha so ein Blutbad planen könnte, lässt Kanya erschaudern. Die Ungeheuerlichkeit dieser Tat dreht ihr den Magen um, auch wenn der Somdet Chaopraya kein Freund des Umweltministeriums war. Es ist eine Sache, einen Staatsstreich zu planen oder eine Untergrundbewegung ins Leben zu rufen, eine andere, den Palast anzugreifen. Sie fühlt sich wie ein Bambusblatt, das in den Stromschnellen einer reißenden Flut versinkt.
Und so müssen wir alle sterben, denkt sie. Am Ende sind auch die Reichsten und Mächtigsten unter uns nicht mehr als Futter für die Cheshire. Wir sind alle nur wandelnde Leichen, und es ist töricht, diese Tatsache zu vergessen. Wenn du über das Wesen von Leichen nachsinnst, wirst du das verstehen.
Und doch verunsichert es sie, mit der Sterblichkeit eines Wesens konfrontiert zu werden, das sie für unsterblich gehalten hat — ja, es versetzt sie geradezu in Panik. General, was haben Sie nur getan? Es ist einfach zu entsetzlich, um es auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Strömung droht sie zu verschlingen.
»Kanya?« Pracha winkt sie zu sich. Sie sucht sein Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen von Schuldbewusstsein ab, doch er wirkt einfach nur verwirrt. »Was tun Sie hier?«
»Ich …« Eigentlich hatte sie sich etwas zurechtgelegt. Eine Entschuldigung. Doch hier, in Gegenwart der Leichen des Beschützers der Krone und seines Gefolges, kann sie sich nicht mehr daran erinnern. Prachas Blick folgt dem ihren hin zum Leichnam des Somdet. Er fasst sie behutsam am Arm. Seine Stimme wird sanft. »Kommen Sie. Das ist zu viel für Sie.« Er führt sie hinaus.
»Ich …«
Pracha schüttelt den Kopf. »Sie haben es also bereits erfahren. « Er seufzt auf. »Heute Abend wird es die ganze Stadt wissen.«
Endlich findet Kanya die Sprache wieder und lässt ihre Lügen vom Stapel, um die Rolle zu erfüllen, für die Narong sie vorgesehen hat. »Ich wollte nicht glauben, dass es wahr ist.«
»Nicht nur das.« Ein grimmiges Kopfschütteln. »Der Täter ist auch noch ein Aufziehwesen.«
Kanya zwingt sich dazu, überrascht zu wirken. Sie wirft einen Blick zurück zum Ort des Blutvergießens. »Ein Aufziehmensch? Nur ein einziger?« Ihr Blick folgt den Scheiben, die sich überall in die Wand gegraben haben. Eines der Opfer erkennt sie wieder, es ist der Sohn eines Patriarchen zweiten Ranges — ein hochrangiger Mitarbeiter des Handelsministeriums. Ein anderer gehörte dem Chaozhou-Clan an, einer Fabrikanten-Familie, und Presseberichten zufolge war er ein aufsteigender Stern am Wirtschaftshimmel. Lauter Gesichter aus den Flüsterblättern. Sie alle waren große Tiger. »Es ist einfach furchtbar.«
»Noch dazu scheint es unmöglich, nicht wahr? Sechs Leibwächter. Drei weitere Männer. Und nur ein einziges Aufziehmädchen, wenn wir den Zeugenaussagen Glauben schenken können.« Pracha schüttelt den Kopf. »Dagegen ist selbst die Cibiskose ein sauberer Tod.«
Der gesamte Hals Seiner Exzellenz des Somdet Chaopraya war zerfetzt, aufgerissen und abgebissen worden, so dass die immer noch intakte Wirbelsäule wie ein Scharnier wirkte und weniger wie eine Stütze. »Es sieht aus, als hätte ihn ein Dämon zerfleischt.«
»Oder zumindest ein wildes Tier. Etwas im Dienst des Militärs, von einem Genhacker erschaffen. Dergleichen haben wir auch schon im Norden erlebt, dort, wo die Vietnamesen agieren. Sie setzen japanische Aufziehmenschen als Späher und Stoßtrupps ein. Wir können von Glück sagen, dass sie nur wenige davon haben.« Er sieht Kanya eindringlich an. »Das wird auf uns zurückfallen. Das Handelsministerium wird behaupten, wir hätten versagt. Wir hätten diese Bestie ins Land gelassen. Sie werden versuchen, die Situation auszunutzen. Sie werden es als Vorwand nehmen, um noch mehr Macht an sich zu reißen.« Seine Miene verdüstert sich. »Wir müssen herausfinden, was das Aufziehmädchen hier zu suchen hatte. Ob es sich um eine von Akkarat gestellte Falle handelt, mit dem Somdet Chaopraya als Faustpfand für mehr Einfluss.«
»Er würde niemals …«
Pracha Gesicht nimmt einen geringschätzigen Ausdruck an. »Die Politik ist ein schmutziges Geschäft. Unterschätzen Sie nie, was moralisch verwerfliche Männer zu tun imstande sind, um an die Macht zu gelangen. Wir vermuten, dass Akkarat schon einmal hier gewesen ist. Einige der Angestellten scheinen sein Bild wiederzuerkennen, sie erinnern sich an …« Er zuckt die Achseln. »Natürlich haben sie alle große Angst. Keiner will zu viel verraten. Aber dennoch sieht es so aus, als habe Akkarat mit einem seiner Farang-Handelskumpane den Somdet Chaopraya zu dieser Heechy-Keechy gebracht.«
Stellt er mich etwa auf die Probe? Weiß er, dass ich für Akkarat arbeite? Kanya schiebt ihre Befürchtungen beiseite. Wenn er davon wüsste, hätte er mich niemals befördert und an Jaidees Stelle gesetzt.
»Das kann man nie wissen«, flüstert Jaidee ihr ins Ohr. »Eine Schlange im Nest ist besser als eine Schlange, die frei im Dschungel umherstreift. So weiß er wenigstens immer genau, wo Sie sind.«
»Ich möchte, dass Sie ins Archiv gehen«, sagt Pracha. »Wir können nicht riskieren, dass wichtige Informationen verschwinden, nur weil es gewissen Leuten nützt. Haben Sie verstanden? Das Handelsministerium hat Agenten in unsere Reihen eingeschleust. Suchen Sie also alle Informationen zusammen, und bringen Sie sie mir. Finden Sie heraus, wie es möglich war, dass dieses Aufziehmädchen hier unbehelligt gelebt hat. Sobald die Sache bekannt wird, werden die Vertuschungsaktionen beginnen. Beamte werden lügen. Unterlagen werden verschwinden. Trotz all unserer Gesetze gibt es Leute, die dieser Kreatur geholfen haben. Das Ministerium wird dadurch angreifbar. Irgendjemand hat Bestechungsgelder angenommen. Jemand hat eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Ich will wissen, wer das war und ob derjenige auf Akkarats Gehaltsliste steht.«
»Warum gerade ich?«
Pracha lächelt traurig. »Nur Jaidee habe ich mehr als Ihnen vertraut.«
»Er will Ihnen eine Falle stellen«, bemerkt Jaidee. »Als Maulwurf sind Sie das perfekte Werkzeug, um dem Handelsministerium etwas anzuhängen.«
Prachas Gesicht verrät keinerlei Arglist, aber er ist schließlich auch ein gerissener Mann. Wie viel weiß er?
»Bringen Sie mir die entsprechenden Informationen«, weist er sie an. »Persönlich. Und bewahren Sie strengstes Stillschweigen.«
»Das werde ich«, antwortet sie und fragt sich insgeheim, ob diese Unterlagen überhaupt noch existieren. So viele Menschen könnten aus dieser Sache einen Nutzen ziehen. Die Vertuschungsaktion nimmt bestimmt schon ihren Lauf. Wenn es sich wirklich um ein Mordkomplott gegen den Beschützer der Krone handeln sollte, würden die Schmiergelder auf allen Ebenen fließen. Sie zittert bei dem Gedanken daran, wer wohl zu so etwas fähig wäre. Politische Morde sind eine Sache. Doch das Königshaus auf diese Weise zu schädigen … Wut und Enttäuschung drohen sie zu überwältigen. Sie zwingt beides nieder. »Was wissen wir bis jetzt über das Aufziehmädchen?«
»Sie hat angegeben, von den Japanern zurückgelassen worden zu sein. Die anderen Mädchen sagen, sie hätte schon seit Jahren hier gearbeitet.«
Kanya verzieht angewidert das Gesicht. »Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass jemand sich derart beschmutzen …« Sie unterbricht sich. Beinahe hätte sie den Somdet Chaopraya verunglimpft. Ein Wirrwarr aus Ekel und Traurigkeit ergreift von ihr Besitz. Sie verbirgt ihr Unbehagen hinter einer weiteren Frage. »Wie ist der Beschützer hierhergekommen?«
»Wir wissen nur, dass er von Akkarats Entourage begleitet wurde.«
»Werden Sie Akkarat vernehmen?«
»Wenn wir ihn finden.«
»Er ist verschwunden?«
»Überrascht Sie das etwa? Akkarat war schon immer gut darin, sich selbst zu schützen. Das ist auch der Grund, warum er so oft überlebt hat.« Pracha zieht eine Grimasse. »Wie eine Cheshire. Niemand bekommt ihn zu fassen.« Pracha blickt sie noch einmal eindringlich an. »Wir müssen unbedingt herausfinden, wer dieser Aufziehkreatur so lange Zeit Schutz geboten hat. Wie sie in die Stadt kam. Wie genau der Anschlag durchgeführt wurde. Momentan tappen wir im Dunkeln, und solange wir das tun, sind wir angreifbar. Diese Neuigkeiten werden alles aus dem Gleichgewicht bringen.«
Kanya verbeugt sich tief. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun.« Auch wenn Jaidee ihr dabei über die Schulter schaut und sie auslacht. »Wahrscheinlich werde ich weitere Informationen benötigen. Um den Kreis der Verdächtigen enger ziehen zu können.«
»Für den Anfang haben Sie genug in der Hand. Finden Sie heraus, woher dieses Aufziehmädchen gekommen ist. Wer die Bestechungsgelder kassiert hat. Das sind die Dinge, die ich wissen muss.«
»Und was ist mit Akkarat und diesem Farang, der sie dem Beschützer vorgestellt hat?«
Ein flüchtiges Lächeln umspielt Prachas Lippen. »Darum werde ich mich kümmern.«
»Aber …«
»Kanya, ich kann verstehen, dass Sie gerne mehr tun möchten. Uns allen liegt das Wohl des Königshauses und des Königreiches am Herzen. Aber zunächst müssen wir alle Informationen über dieses Aufziehwesen sammeln und sichern.«
Kanya beherrscht sich. »Ja. Natürlich. Ich werde mich um die Schmiergeldempfänger kümmern.« Vor dem nächsten Satz hält sie kurz inne. »Wird ein Zeichen des Bedauerns eingefordert werden?«
Pracha verzieht das Gesicht. »Wir reden hier nicht von einem harmlosen kleinen Zusatzverdienst. Es ist nicht gerade ein ertragreiches Jahr für das Umweltministerium gewesen. Aber das hier?« Er schüttelt den Kopf.
»Ich erinnere mich an Zeiten, in denen wir hoch angesehen waren«, sagt sie leise.
Pracha sieht sie an. »Ach ja? Ich dachte, diese Zeiten wären schon vorbei gewesen, als Sie zu uns gestoßen sind.« Er seufzt. »Machen Sie sich keine Sorgen. Hier wird nichts vertuscht — diese Sache wird gesühnt werden. Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen. Zweifeln Sie nicht an meiner Loyalität dem Königreich oder Ihrer Majestät der Königin gegenüber. Der Schuldige wird seiner Strafe nicht entgehen.«
Kanya geht noch einmal in den düsteren Raum zurück, um sich den Leichnam des Beschützers genauer anzusehen. Ein Aufziehmädchen. Eine Hure und noch dazu ein Aufziehwesen. Der Gedanke verursacht ihr Übelkeit. Ein Aufziehmensch. Wie konnte es sein, dass jemand sich an … Sie schüttelt den Kopf. Eine widerliche Angelegenheit. Ein Schachzug, der alles durcheinanderbringt. Und jetzt werden einige junge Männer dafür bezahlen müssen. Alle, die in Ploenchit Schmiergelder genommen haben, und vielleicht auch noch andere.
Wieder auf der Straße, winkt Kanya eine Fahrradrikscha heran. Aus dem Augenwinkel erhascht sie einen Blick auf die Panther des Palasts, die sich an der Tür formiert haben. Eine Meute Schaulustiger hat sich versammelt und sieht neugierig zu. Innerhalb weniger Stunden werden sich die Gerüchte über diese Angelegenheit in der ganzen Stadt verbreitet haben.
»Zum Umweltministerium, so schnell es geht.«
Sie wedelt mit Akkarats Bestechungsgeld vor den Augen des Rikschafahrers herum, um ihn zu größerer Eile anzutreiben, und fragt sich noch im selben Moment, im Namen welches Dienstherrn sie das eigentlich tut.