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Der alte Chinese und das junge Mädchen weichen vor ihr zurück und beobachten wachsam, wie sie das Wasser hinunterstürzt. Es hat Emiko überrascht, dass der alte Mann dem Mädchen erlaubte, ihr über das Balkongeländer zu helfen. Doch jetzt, da sie in Sicherheit ist, hält er die Spannfederpistole auf sie gerichtet, und Emiko ist klar, dass er nicht aus Barmherzigkeit so entschieden hat.

»Hast du sie wirklich umgebracht?«, fragt er.

Emiko hebt mit äußerster Vorsicht das Glas und trinkt erneut. Wenn sie nur nicht solche Schmerzen hätte, dann könnte sie es fast genießen, dass diese beiden solche Angst vor ihr haben. Dank des Wassers fühlt sie sich selbst mit einem geschwollenen, unbrauchbaren Arm im Schoß bereits wesentlich besser. Sie stellt das Glas auf dem Boden ab und umfasst den verwundeten Ellbogen. Ihr Atem geht flach.

»Warst du das?«, fragt er wieder.

Sie zuckt unmerklich mit den Achseln. »Ich war schnell. Sie waren langsam.«

Sie sprechen Mandarin miteinander, eine Sprache, die sie seit ihrer Zeit bei Gendo-sama nicht mehr gebraucht hat. Englisch, Thai, Französisch, Mandarin-Chinesisch, Buchhaltung, diplomatische Etikette, Bewirtung und Gastfreundlichkeit … So viele Fähigkeiten, die sie nicht mehr anwenden kann. Es hat zwar einige Minuten gedauert, bis die Erinnerung an die Sprache zurückkehrt, doch dann war alles wieder da — wie bei einem verkümmerten Körperteil, der lange nicht benutzt worden war und sich plötzlich wie durch ein Wunder als kräftig erweist. Sie fragt sich, ob ihr gebrochener Arm vielleicht auch so problemlos heilen wird; ob ihr Körper vielleicht noch weitere Überraschungen für sie bereithält.

»Sie sind der Yellow-Card-Assistent aus der Fabrik«, stellt sie fest. »Hock Seng, richtig? Anderson-sama hat mir erzählt, dass Sie geflüchtet sind, als die Weißhemden kamen.«

Der alte Mann zuckt mit den Achseln. »Ich bin wieder zurückgekommen. «

»Warum?«

Er lächelt ein freudloses Lächeln. »Wir klammern uns an jedes Stückchen Treibgut, das uns bleibt.«

Draußen grollt eine Explosion. Sie alle drehen sich nach dem Geräusch um.

»Ich glaube, es hört auf«, murmelt das Mädchen. »Das war die Erste seit über einer Stunde.«

Emiko vermutet, dass sie die beiden selbst mit gebrochenem Arm problemlos töten könnte, jetzt, da sie abgelenkt sind. Aber sie ist so müde. Und sie ist die ganze Gewalt leid. Sie hat genug von dem Blutvergießen. Jenseits des Balkons liegt die rauchende Stadt unter einem sich aufhellenden Himmel. Eine ganze Stadt wurde in Stücke gerissen, nur weil … Weswegen eigentlich? Wegen eines Aufziehmädchens, das sich nicht mit seiner Rolle abfinden wollte.

Beschämt schließt Emiko die Augen. Fast kann sie Mizumi-sensei vor sich sehen, wie diese missbilligend die Stirn krauszieht. Sie ist überrascht, dass ihre Lehrerin immer noch solche Macht über sie besitzt. Vielleicht wird sie sich niemals von ihr lösen können. Mizumi ist ein Teil von ihr, genau wie die elendige Porenstruktur. »Wollen Sie die Belohnung kassieren, die auf mich ausgesetzt ist?«, fragt sie. »Sie möchten eine Mörderin fangen und den Profit dafür einstreichen?«

»Die Thai wollen dich um jeden Preis.«

Das Türschloss klappert. Sie alle blicken auf, als Anderson-sama und noch ein anderer Gaijin durch die Wohnungstür stolpern. Obwohl die Gesichter der beiden Ausländer von blauen Flecken bedeckt sind, lächeln sie und sind bester Laune. Beide halten unvermittelt inne. Anderson-samas Blick schweift zwischen ihr und dem alten Mann hin und her; dann bleibt er an der Pistole hängen, die jetzt auf ihn gerichtet ist.

»Hock Seng?«

Der andere Gaijin weicht zurück und versteckt sich hinter Anderson-sama. »Was zum Teufel?«

»Gute Frage.« Anderson-sama versucht, die Situation einzuschätzen.

Ganz automatisch verbeugt sich das kleine Mädchen vor dem Gaijin. Emiko muss beinahe lächeln, als sie sich selbst in ihr wiedererkennt. Auch sie kennt den reflexartigen Drang, sich respektvoll zu verhalten.

»Was haben Sie hier zu suchen, Hock Seng?«, fragt Anderson-sama.

Hock Seng schenkt ihm ein schmales Lächeln. »Freuen Sie sich denn nicht, den Mörder des Somdet Chaopraya zu fassen?«

Anderson-sama antwortet nicht, sondern blickt von Hock Seng zu Emiko und dann wieder zurück. »Wie sind Sie hier reingekommen?«, fragt er schließlich.

Hock Seng zuckt mit den Schultern. »Immerhin war ich es, der diese Wohnung für Mr Yates gefunden hat. Ich habe ihm eigenhändig die Schlüssel übergeben.«

Anderson-sama wiegt den Kopf hin und her. »Er war ein Dummkopf, nicht wahr?«

Hock Seng neigt den Kopf.

Emiko läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als ihr klar wird, dass diese Konfrontation nur zu ihren Ungunsten ausgehen kann. Sie ist hier die Einzige, die entbehrlich ist. Wenn sie schnell genug ist, könnte sie dem alten Mann die Waffe entwenden. Genau wie sie den trägen Leibwächtern die Pistolen abgenommen hat. Das würde wehtun, aber sie kann es schaffen. Der alte Mann ist ihr in keiner Hinsicht gewachsen.

Der andere Gaijin schlüpft ohne ein weiteres Wort durch die Tür hinaus. Emiko ist überrascht, dass Anderson-sama sich nicht ebenso davonmacht. Stattdessen nähert er sich ihnen vorsichtig, mit erhobenen Händen und nach außen weisenden Handflächen. Eine seiner Hände ist verbunden. Seine Stimme klingt besänftigend.

»Was wollen Sie, Hock Seng?«

Hock Seng weicht zurück, um zwischen sich und dem Gaijin den Abstand zu wahren. »Gar nichts.« Hock Seng zuckt kaum merklich mit den Achseln. »Die Mörderin des Somdet Chaopraya ihrer gerechten Strafe zuführen. Das ist alles.«

Anderson-sama lacht auf. »Ausgezeichnet.« Er dreht sich um und lässt sich vorsichtig auf der Couch nieder. Während er sich nach hinten lehnt, stöhnt er auf und zuckt zusammen. Dann lächelt er wieder.

»Also, was wollen Sie wirklich?«

Die Lippen des alten Mannes zucken, als hätte Anderson-sama einen Witz erzählt, den nur sie beide verstehen. »Das, was ich immer schon wollte. Eine Zukunft.«

Anderson-sama nickt nachdenklich. »Und Sie gehen davon aus, dass dieses Mädchen Ihnen eine verschaffen kann? Eine saftige Belohnung?«

»Für die Ergreifung einer solchen Mörderin bekomme ich bestimmt genug Geld, um meine Familie wiederaufzubauen.«

Anderson-sama erwidert nichts, sondern sieht Hock Seng nur ausdruckslos aus kalten blauen Augen an. Dann richtet sich sein Blick auf Emiko. »Hast du ihn umgebracht? Wirklich? «

Am liebsten würde sie lügen. Ihm ist anzusehen, dass ihm das auch lieber wäre, doch sie bringt es einfach nicht über sich, die Worte auszusprechen. »Es tut mir leid, Anderson-sama. «

»Und auch die Leibgarde?«

»Sie haben mir wehgetan.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe es nicht glauben wollen. Ich war mir sicher, dass Akkarat dahintersteckt. Bis du vom Balkon gesprungen bist.« Seine verstörend blauen Augen halten sie gefangen. »Bist du zum Töten geschaffen worden?«

»Nein!« Der Verdacht lässt sie zurückschrecken. Hastig beginnt sie zu erklären. »Ich wusste das nicht. Sie haben mir wehgetan. Ich war wütend. Ich wusste nicht …« Sie spürt den unbezwingbaren Drang, sich vor ihm niederzuwerfen. Sie muss versuchen, ihn von ihrer Loyalität zu überzeugen. Sie kämpft gegen ihre Instinkte an, denn sie weiß, dass es nur ihre genetischen Anlagen sind, die ihr diese Unterwerfungsgeste einflüstern.

»Du bist also keine ausgebildete Attentäterin?«, hakt er nach. »Kein militärisches Aufziehwesen?«

»Nein. Kein Militär. Bitte. Glauben Sie mir.«

»Gefährlich bist du trotzdem. Du hast dem Somdet Chaopraya den Kopf abgerissen.«

Emiko möchte einwenden, dass das nicht sie war, dass sie keine solche Kreatur ist, aber aus ihrem Mund kommen keine Worte. Sie bringt nur ein Flüstern zustande: »Ich habe ihm nicht den Kopf abgerissen.«

»Trotzdem könntest du uns alle umbringen, wenn du wolltest. Noch bevor wir wissen, wie uns geschieht. Hock Seng hätte nicht einmal mehr Gelegenheit, die Waffe zu heben.«

Bei diesen Worten reißt Hock Seng die Waffe wieder herum, um sie auf Emiko zu richten. Jämmerlich langsam.

Sie schüttelt den Kopf. »Das will ich gar nicht«, sagt sie. »Ich möchte nur weg von hier. In den Norden. Das ist alles.«

»Das ändert nichts daran, dass du ein gefährliches Wesen bist«, sagt Anderson-sama. »Eine Gefahr für mich. Für andere. Wenn wir jetzt zusammen gesehen würden …« Er schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht. »Tot bist du mehr wert als lebendig.«

Emiko macht sich auf den unerträglichen Schmerz gefasst. Zuerst ist der Chinese dran, dann Anderson-sama. Das kleine Mädchen kann sie vielleicht verschonen …

»Tut mir wirklich leid, Hock Seng«, sagt Anderson-sama unvermittelt. »Ich kann sie Ihnen nicht überlassen.«

Emiko starrt den Gaijin bestürzt an.

Der Chinese lacht. »Wollen Sie mich aufhalten?«

Anderson-sama schüttelt den Kopf. »Die Zeiten ändern sich, Hock Seng. Meine Leute sind auf dem Weg hierher. In großer Zahl. Unser aller Geschick wird sich wenden. Bald wird es nicht mehr nur die Fabrik geben. Sondern Kalorien-Verträge, Frachtgut, das verschifft werden muss, Zentren für Forschung und Entwicklung, wirtschaftliche Absprachen … Vom heutigen Tag an wird sich alles ändern.«

»Und diese steigende Flut soll auch mein Schiff emportragen? «

Anderson-sama lacht, zuckt dann zusammen und fasst sich an die Rippen. »Höher als je zuvor, Hock Seng. Leute wie Sie werden wir brauchen, und zwar dringend.«

Der Blick des alten Mannes wandert von Anderson-sama zu Emiko hinüber. »Und was ist mit Mai?«

Anderson-sama hustet. »Hören Sie auf, sich über Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen, Hock Seng. Sie werden über ein nahezu unbegrenztes Spesenkonto verfügen können. Stellen Sie sie ein. Heiraten Sie sie. Mir ist das egal. Tun Sie, was Sie wollen. Zum Teufel, ich bin mir sogar sicher, dass Carlyle etwas für sie finden könnte, falls Sie sie nicht auf Ihrer Gehaltsliste haben wollen.« Er lehnt sich weiter zurück und ruft in den Flur hinaus: »Ich weiß, dass Sie immer noch da sind, Sie elender Feigling. Kommen Sie wieder rein!«

Die Stimme des Gaijin Carlyle dringt von draußen herein. »Haben Sie tatsächlich vor, dieses Aufziehmädchen zu schützen? « Misstrauisch lugt er um die Ecke.

Anderson-sama zuckt mit den Schultern. »Ohne das Mädchen hätten wir keinen Vorwand für unseren Staatsstreich gehabt. « Er schenkt ihr ein schiefes Lächeln. »Das muss doch etwas wert sein.«

Dann blickt er wieder zu Hock Seng hinüber. »Also, was halten Sie davon?«

» Würden Sie darauf schwören?«, fragt der alte Mann.

»Wenn wir nicht Wort halten, können Sie sie ja später immer noch anzeigen. Alle Welt hält nach einer Aufziehmörderin Ausschau, da wird sie sowieso erst mal nirgendwo untertauchen können. Wenn wir uns einig werden, haben alle etwas davon. Jeder von uns. Also los, Hock Seng. Ausnahmsweise einmal gewinnen alle Beteiligten.«

Hock Seng zögert, dann nickt er entschieden und lässt die Pistole sinken. Emiko fühlt, wie sie eine Welle der Erleichterung durchströmt. Anderson lächelt. Als er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwendet, werden seine Gesichtszüge ganz weich. »Bald wird sich vieles ändern. Aber im Moment darf dich niemand sehen. Es gibt zu viele Leute, die dir nie vergeben werden. Begreifst du das?«

»Ja. Niemand darf mich sehen.«

»Schön. Wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, werden wir sehen, ob wir dich von hier wegbekommen. Aber vorerst bleibst du hier. Wir werden den Arm schienen. Ich sorge dafür, dass eine Kiste Eis geliefert wird. Würde dir das gefallen?«

Das erlösende Gefühl ist überwältigend. »Ja. Vielen Dank. Sie sind sehr freundlich.«

Anderson-sama lächelt. »Carlyle, wo ist der Whisky? Wir wollen anstoßen.« Er steht auf, wobei er immer wieder zusammenzuckt, und kommt kurz darauf mit Gläsern und einer Flasche zurück.

Hustend stellt er alles auf einen kleinen Beistelltisch.

»Dieser verfluchte Akkarat«, murmelt er; dann beginnt er erneut zu husten, ein tiefes und heiseres Bellen.

Mit einem Mal krümmt er sich. Ein weiterer Hustenkrampf schüttelt ihn, gefolgt von einer ganzen Reihe feucht-rasselnder Anfälle. Anderson-sama streckt die Hand aus, um sich am Tisch festzuhalten, doch er greift daneben und wirft ihn um.

Emiko sieht, wie die Whiskyflasche und alle Gläser auf den Rand zurutschen. Während sie langsam zu Boden fallen, schimmern sie in der aufgehenden Sonne. Das ist wirklich schön, denkt Emiko bei sich. So makellos und strahlend.

Beim Aufprall zersplittern sie auf den Boden. Anderson-samas Hustenanfall will nicht enden. Er sinkt zwischen den Scherben auf die Knie. Versucht aufzustehen, doch ein weiterer Anfall überwältigt ihn. Er dreht sich auf die Seite.

Als der Husten endlich nachlässt, fällt sein Blick auf Emiko; seine blauen Augen liegen tief in den Höhlen.

»Akkarat hat mir wirklich ganz schön zugesetzt«, sagt er.

Hock Seng und Mai weichen vor ihm zurück. Carlyle hat einen Arm über den Mund gelegt und blickt aus angsterfüllten Augen zu ihnen hinüber.

»Genau wie in der Fabrik«, sagt Mai leise.

Emiko kauert sich neben den Gaijin.

Plötzlich kommt er ihr so klein und zerbrechlich vor. Sie ergreift die Hand, die er nach ihr ausstreckt. Seine Lippen sind voller Blutspritzer.

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