35

»Pracha war es nicht! Er hat nichts damit zu tun!«

Kanya schreit in ihr Kurbeltelefon, doch genauso gut könnte sie hinter Gefängnisgittern stehen und wirres Zeug brüllen. Narong scheint nicht einmal richtig zuzuhören. Aus der Leitung dringt Stimmengewirr und das Brummen schwerer Maschinen. Allem Anschein nach redet Narong mit jemand anderem, und sie kann kein Wort von dem verstehen, was er sagt.

Dann knackt es in der Leitung, und mit einem Mal dringt Narongs Stimme laut und deutlich aus dem Telefon und übertönt alle Hintergrundgeräusche. »Tut mir leid. Wir haben anderweitige Informationen.«

Wütend starrt Kanya auf die Flüsterblätter, die vor ihr ausgebreitet auf dem Schreibtisch liegen. Pai hat sie vorhin mit einem grimmigen Lächeln vorbeigebracht. In einigen von ihnen wird über den ermordeten Somdet Chaopraya berichtet, in anderen über General Pracha. Sie alle sprechen von einem Aufziehmädchen, das den Anschlag ausgeführt hat. Eildrucke von Sawatdee Krung Thep! überfluten die Stadt. Kanya überfliegt die Artikel. Sie sind voller leidenschaftlicher Empörung über Weißhemden, die Ankerplätze und Häfen schließen, aber nicht in der Lage sind, den Somdet Chaopraya vor einem einzigen Eindringling zu schützen.

»Diese Flüsterblätter sind also Ihr Werk?«, fragt sie.

Narongs Schweigen genügt ihr als Antwort.

»Warum haben Sie mich dann überhaupt erst aufgefordert zu ermitteln?« Es gelingt ihr nicht, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu verbergen. »Sie hatten das doch bereits in die Wege geleitet.«

Narongs frostige Stimme dringt knackend aus dem Hörer. »Sie sind nicht in der Position, Fragen zu stellen. «

Sein Tonfall lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. »Hat Akkarat es getan?«, flüstert sie angsterfüllt. »Ist er dafür verantwortlich? Pracha sagt, dass Akkarat irgendwie mit drinhängt. Hat er es getan?«

Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung. Denkt er nach? Sie weiß es nicht. Endlich gibt Narong eine Antwort. »Nein. Das kann ich beschwören. Wir sind nicht dafür verantwortlich.«

»Und deshalb gehen Sie davon aus, dass es Pracha gewesen sein muss?« Sie schiebt die behördlichen Genehmigungen und Konzessionsschreiben, die vor ihr liegen, hin und her. »Aber ich versichere Ihnen, er war es nicht! Ich habe alle Unterlagen über dieses Aufziehmädchen vor mir liegen. Pracha hat mir diese Untersuchung höchstpersönlich aufgetragen. Um jede noch so kleine Spur zu finden. Ich habe die Einreisepapiere von Mishimoto. Genau wie die Abtretungsunterlagen. Und die Visa. Alles.«

»Wer hat die Abtretungspapiere unterzeichnet?«

Sie kämpft mit ihrer Enttäuschung. »Ich kann die Unterschrift nicht entziffern. Ich brauche mehr Zeit, um herauszufinden, wer zum damaligen Zeitpunkt dafür zuständig war.«

»Und bis Sie das getan haben, wird derjenige längst tot sein.«

»Aber warum hat Pracha mir dann den Befehl erteilt, all diese Informationen zusammenzutragen? Das ergibt doch keinen Sinn! Ich habe mit den Beamten gesprochen, die die Bestechungsgelder des Nachtclubbesitzers entgegengenommen haben. Nichts als ein paar dumme Jungen, die sich ein bisschen Geld dazuverdienen wollten.«

»Das zeigt nur, wie gerissen er ist. Er hat all seine Spuren verwischt.«

»Wieso hassen Sie Pracha so sehr?«

»Warum lieben Sie ihn? Er hat schließlich angeordnet, dass Ihr Dorf dem Erdboden gleichgemacht werden soll.«

»Aber doch nicht aus Bosheit.«

»Ach nein? Hat er nicht kurz darauf einem anderen Dorf ganz in der Nähe eine Fischzuchtkonzession erteilt? Und den Gewinn aus dem Verkauf in die eigene Tasche gesteckt?«

Sie verstummt. Narong mäßigt seinen Tonfall. »Es tut mir leid, Kanya. Es gibt nichts, was wir tun könnten. Wir sind uns sicher, dass er dahintersteckt. Der Palast hat uns autorisiert, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.«

»Indem Sie einen Aufruhr provozieren?« Sie fegt die Flüsterblätter von ihrem Schreibtisch. »Indem Sie die Stadt in Brand stecken? Bitte. Ich kann das verhindern. Es ist gar nicht notwendig. Ich finde die erforderlichen Beweise. Ich kann belegen, dass dieses Aufziehwesen nicht von Pracha gelenkt wurde. Ich kann es beweisen.«

»Sie stecken zu tief drin. Ihre Loyalitäten sind unklar.«

»Ich bin unserer Königin treu ergeben. Geben Sie mir nur eine Chance, diesen Wahnsinn aufzuhalten.«

Wieder Schweigen. »Sie haben drei Stunden. Wenn Sie bis zum Sonnenaufgang nichts vorzuweisen haben, dann kann ich nichts mehr für Sie tun.«

»Aber bis dahin werden Sie warten?«

Sie kann das Lächeln am anderen Ende der Leitung erahnen. »Das werde ich.« Dann ist die Verbindung unterbrochen. Und sie ist allein in ihrem Büro.

Jaidee macht es sich auf dem Schreibtisch bequem. »Nur so aus Neugier: Wie wollen Sie Prachas Unschuld beweisen? Schließlich ist es mehr als offensichtlich, dass er das Mädchen beauftragt hat.«

»Warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe?«, fragt Kanya ihn.

Jaidee lächelt. »Weil es Sanuk ist. Wirklich äußerst amüsant, wie Sie sich krummlegen, um zwei Herrchen gleichzeitig hinterherzuhecheln. « Er zögert und beobachtet sie einen Moment lang. »Aus welchem Grund liegt es Ihnen am Herzen, was mit General Pracha geschieht? Er ist doch gar nicht Ihr eigentlicher Patron.«

Kanya sieht ihn hasserfüllt an. Sie deutet auf die Flüsterblätter, die überall im Büro umherfliegen. »Wir sind in genau derselben Situation wie vor fünf Jahren.«

»Damals waren es Pracha und Premierminister Surawong. Die Versammlungen vom zwölften Dezember.« Jaidee besieht sich die Flüsterblätter genauer. »Doch diesmal hat sich Akkarat unser Ministerium vorgenommen. Es ist also nicht ganz dasselbe.«

Vor ihrem Bürofenster brüllt ein Megodont, und Jaidee lächelt erneut. »Hören Sie das? Wir rüsten uns für die Schlacht. Sie werden diese zwei alten Bullen nicht davon abhalten können, miteinander zu kämpfen. Ich verstehe noch nicht einmal, warum Sie das überhaupt wollen. Pracha und Akkarat provozieren sich doch schon seit Jahren gegenseitig wie die Tiere. Es wird Zeit für einen richtigen Kampf.«

»Wir sind hier aber nicht beim Muay-Thai, Jaidee.«

»Nein. Da haben Sie Recht.« Sein Lächeln wirkt plötzlich traurig.

Kanya starrt auf die Flüsterblätter und die gesammelten Unterlagen, die den Import des Aufziehmädchens belegen. Sie ist verschwunden. Trotzdem, sie kam eindeutig mit den Japanern hierher. Kanya liest noch einmal die Einreisedokumente durch: Sie kam per Luftschiff aus Japan. Eine Assistentin des Managements …

»Und eine Mörderin«, wirft Jaidee ein.

»Seien Sie still. Ich denke nach.«

Ein japanischer Aufziehmensch. Ein von dem Inselstaat im Stich gelassenes Geschöpf. Unvermittelt springt Kanya auf, greift nach ihrer Spannfederpistole und schiebt sie in den Halfter, während sie die Unterlagen einsammelt.

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragt Jaidee.

Sie schenkt ihm ein schwaches Lächeln. »Wenn ich Ihnen das verraten würde, wäre es doch kein Sanuk mehr.«

Jaidees Phii grinst breit. »Allmählich begreifen Sie, wie die Dinge laufen!«

Загрузка...