Emiko erwacht in der Hitze des Nachmittags. Sie streckt sich und atmet in ihrer Schlafkapsel flach ein und aus.
Es gibt eine Zuflucht für Aufziehmenschen. Das Wissen durchkribbelt ihren ganzen Körper. Ein Grund weiterzuleben.
Sie presst eine Hand gegen die WeatherAll-Planken, die ihr Reich von dem über ihr trennt. Fährt über die Astlöcher. Denkt an das letzte Mal zurück, dass sie so zufrieden war. Erinnert sich an Japan und daran, wie sehr Gendo-sama sie verwöhnte: Sie hatte ihre eigene kleine Wohnung, durch die eine Klimaanlage an heißen Sommertagen kühle Luft blies; leuchtende Dangan-Fische, die wie ein Chamäleon ihre Farbe veränderten, je nach der Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegten: Langsame Fische schillerten blau, schnelle rot. Wie oft hatte sie gegen das Aquarium geklopft und zugeschaut, wie sie dann rot durch das Wasser flitzten — Aufziehfische, die Licht ins Dunkel brachten.
Auch sie war einmal eine Lichtgestalt gewesen. Sie war gut gebaut. Gut ausgebildet. Wusste, wie sie sich als Gefährtin zwischen den Laken zu verhalten hatte, als Sekretärin, Übersetzerin und Beobachterin — Pflichten, denen sie so vortrefflich nachkam, dass ihr Herr und Meister ihr alle Ehre erwies und sie wie eine Taube in den hellen blauen Himmel entließ. Wie glücklich sie doch gewesen war!
Die Astlöcher in der WeatherAll-Planke starren auf sie herab, der einzige Schmuck auf der Trennwand, der sie vom Schlafplatz über ihr abschirmt und den Abfall ihrer Nachbarn daran hindert, auf sie herabzuregnen. Das Holz verströmt den Gestank von Leinöl, ein übelkeiterregender Geruch in dem heißen Loch. In Japan gibt es Vorschriften für den Einsatz solchen Holzes in Wohnräumen. Hier in den Hochhausslums kümmert das niemanden.
Emikos Lungen brennen. Sie atmet flach und lauscht dem Ächzen und Schnarchen der anderen Leiber. Aus dem Sarg über ihr dringt kein Geräusch zu ihr herunter. Puenthai ist also noch nicht zurück. Sonst wäre es ihr längst schlecht ergangen, sie wäre getreten oder gefickt worden. Nur selten übersteht sie einen ganzen Tag, ohne misshandelt zu werden. Puenthai ist noch nicht zu Hause. Vielleicht ist er tot. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, war sein Hals schon fast unter der fa’gan-Wucherung verschwunden gewesen.
Sie windet sich aus ihrem Sarg heraus und richtet sich in dem schmalen Spalt zwischen der Kammer und der Tür auf. Reckt sich noch einmal und streckt dann die Hand aus, um nach ihrer Plastikflasche zu tasten, die vom Alter ganz gelb und dünnwandig geworden ist. Trinkt das blutwarme Wasser. Schluckt krampfhaft — wenn sie doch nur Eis hätte!
Zwei Stockwerke höher gibt eine Brettertür nach, und sie taumelt auf das Dach hinaus. Sonnenlicht und Hitze hüllen sie ein. Obwohl es nirgendwo Schatten gibt, ist es hier kühler als in ihrem Sarg.
Überall um sie herum rascheln Wäscheleinen mit Pha Sin und Hosen in der Meeresbrise. Die Sonne geht bereits unter, und die Spitzen der Wats und Chedi gleißen in dem schwächer werdenden Licht, das Wasser der Khlongs und des Chao Phraya funkelt. Spannfederboote und Trimaranklipper gleiten über rote Spiegel.
Im Norden verliert sich der Blick im Dunst der Dungfeuer und im Wabern der schwülen Luft. Aber irgendwo dort, wenn man dem blassen Farang mit der Narbe Glauben schenken kann, leben Aufziehmenschen. Irgendwo jenseits der Armeen, die um Kohle und Jade und Opium Kriege führen, wartet ihr verschollener Stamm auf sie. Sie war nie eine Japanerin, sondern immer ein Aufziehmädchen. Und jetzt kann sie sich ihrem wahren Klan anschließen, wenn sie nur einen Weg zu ihm findet.
Sie starrt noch einen Moment lang sehnsüchtig nach Norden und geht dann zu dem Eimer, den sie gestern Abend hier abgestellt hat. In den oberen Stockwerken gibt es kein Wasser — dafür reicht der Druck nicht —, und das Risiko, an den öffentlichen Pumpen zu baden, ist zu groß, also kämpft sie sich jede Nacht mit ihrem Wassereimer die Treppe hinauf und lässt ihn für den nächsten Tag hier stehen.
Hier oben im Freien, im Schein der untergehenden Sonne ist sie für sich. Die sorgfältige Reinigung ist zu einem Ritual geworden. Ein Eimer Wasser, ein winziges Stück Seife. Sie geht neben dem Eimer in die Hocke und schöpft das warme Wasser über sich. Ihre Bewegungen sind zielstrebig und präzise, ein choreografierter Tanz wie Jo No Mai, jede einzelne Handlung wohldurchdacht, eine Anbetung des Mangels.
Sie schöpft sich eine Kelle Wasser über den Kopf. Es rinnt ihr übers Gesicht, über Brüste und Rippen und Schenkel, tropft auf den heißen Beton. Noch eine Kelle, um ihr schwarzes Haar zu tränken. Wasser läuft ihr das Rückgrat hinunter und über die Pobacken. Noch eine Kelle. Wasser ergießt sich über ihre Haut wie Quecksilber. Und dann die Seife — sie reibt sie sich ins Haar und in die Haut, reinigt sich von den Kränkungen der letzten Nacht, bis sie ganz in fahlen Schaum eingehüllt ist. Und wieder der Eimer und die Kelle — sie spült die Seife ebenso vorsichtig ab, wie sie sich eben noch nass gemacht hat.
Das Wasser wäscht die Seife und den Schmutz fort und sogar einen Teil der Scham. Selbst wenn sie sich eintausend Jahre lang schrubben würde, wäre sie nie ganz sauber, aber sie ist müde, und es ist ihr gleichgültig, und sie hat sich an die Narben gewöhnt, die sie nicht abspülen kann. Den Schweiß, den Alkohol, das feuchte Salz, das Sperma und die Erniedrigung — all das kann sie beseitigen. Und das genügt. Sie ist zu müde, um fester zu schrubben. Immer ist ihr zu heiß, und immer ist sie zu müde.
Nachdem sie fertig ist, stellt sie erfreut fest, dass noch ein wenig Wasser in dem Eimer übrig ist. Sie schöpft eine Kelle voll und trinkt hastig. Und dann, in einer verschwenderischen, zügellosen Geste, dreht sie den Eimer um und lässt das Wasser in einem einzigen erlösenden Guss über sich rauschen. In diesem einen Moment, während das Wasser ihren Körper entlangströmt, bevor es zwischen ihren Zehen auf den Betonboden trifft, ist sie sauber.
Draußen auf der Straße versucht sie, sich unauffällig in das alltägliche Treiben einzufügen. Mizumi-sensei hat ihr beigebracht, auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu gehen, die ihre ruckartigen Bewegungen betont und zur Geltung bringt. Wenn Emiko sich jedoch große Mühe gibt und gegen ihre Wesensart und ihre Konditionierung ankämpft — wenn sie einen Pha Sin trägt und nicht mit den Armen schlenkert —, fällt sie fast nicht auf.
Entlang der Gehwege hocken Schneiderinnen neben Nähmaschinen und warten auf abendliche Kunden. Essensverkäufer stapeln die Reste ihrer Waren ordentlich aufeinander und warten auf die letzten Gäste des Tages. Garküchen stellen Bambushocker und -tische für die Nacht hinaus — die rituelle Vereinnahmung der Straße, die in einer tropischen Stadt anzeigt, dass der Tag zu Ende ist und das Leben wiedererwacht.
Emiko bemüht sich, nicht alles anzustarren; es ist lange her, seit sie sich das letzte Mal getraut hat, bei helllichtem Tag auf die Straße zu gehen. Als Raleigh ihren Schlafsarg erwarb, erteilte er ihr strikte Anweisungen. Er konnte sie nicht in Ploenchit wohnen lassen — selbst Huren und Zuhälter und Drogenabhängige haben ihre Grenzen —, also brachte er sie in einem Slum unter, wo die Bestechungsgelder niedriger und die Nachbarn nicht wählerisch waren, was den Abschaum betraf, der neben ihnen wohnte. Aber seine Befehle waren unmissverständlich gewesen: Geh nur nachts hinaus, halte dich im Dunkeln, komm auf direktem Wege in den Club und geh auf direktem Wege nach Hause zurück. Sonst konnte er für nichts garantieren.
Die Härchen in ihrem Nacken richten sich auf, während sie durch die Menschenmassen schlüpft. Den meisten Leuten ist sie gleichgültig. Ein Vorteil ist, dass die Leute bei Tageslicht viel zu beschäftigt sind, um auf ein Geschöpf wie sie irgendwelche Gedanken zu verschwenden, wenn sie ihre seltsamen Bewegungen denn überhaupt bemerken. Wenn im Dunkel der Nacht die grünen Methanlampen flackern, gibt es weniger Augenpaare, aber sie sind müßig, ganz high von Yaba oder Lao Lao und haben Zeit und Gelegenheit, ihr nachzustellen.
Eine Frau, die vom Umweltministerium zertifizierte Papayaschnitze verkauft, beobachtet sie misstrauisch. Emiko zwingt sich, nicht in Panik zu geraten. Sie geht weiter die Straße entlang, setzt affektiert einen Fuß vor den anderen und versucht sich einzureden, dass sie exzentrisch wirkt und nicht wie eine genetische Missgeburt. Das Herz pocht ihr gegen die Rippen.
Du gehst zu schnell. Schön langsam. Du hast Zeit. Nicht so viel, wie du gerne hättest, aber doch genug, um Fragen zu stellen. Langsam. Hab Geduld. Verrate dich nicht. Dir darf nicht zu heiß werden!
Ihre Handflächen sind schweißnass — der einzige Teil ihres Körpers, der sich jemals kühl anfühlt. Sie streckt die Finger aus, als wären ihre Hände Fächer. An einer öffentlichen Pumpe bleibt sie stehen, spritzt sich Wasser auf die Haut und trinkt in tiefen Zügen, froh darüber, dass die Neuen Menschen von bakteriellen oder parasitären Infektionen wenig zu befürchten haben.
Wäre sie kein Neuer Mensch, würde sie einfach in den Bahnhof Hua Lamphong hineinstolzieren, einen Fahrschein für einen Spannfederzug kaufen, damit in die Bergregionen von Chiang Mai fahren und sich von dort aus in die Wildnis durchschlagen. Nichts leichter als das. Stattdessen muss sie listig sein. Die Straßen sind bestimmt bewacht. Jeder Weg, der nach Nordosten und zum Mekong führt, wird mit Soldaten verstopft sein, die zwischen der Ostfront und der Hauptstadt hin und her transportiert werden. Ein Neuer Mensch würde Aufmerksamkeit erregen, zumal aufseiten der vietnamesischen Armee Aufziehmenschen kämpfen.
Aber es gibt einen anderen Weg. Aus ihrer Zeit bei Gendo-sama weiß sie, dass ein Großteil der Frachtgüter des Königreichs auf dem Fluss befördert werden.
Emiko biegt in die Thanon Mongkut, die zu den Docks und den Deichen führt, und bleibt unvermittelt stehen. Weißhemden. Sie drückt sich gegen eine Wand, während die beiden vorbeischlendern. Sie schauen sie nicht einmal an — wenn sie sich nicht bewegt, verschmilzt sie mit ihrer Umgebung —, aber trotzdem, kaum sind sie außer Sichtweite, verspürt sie den Drang, sich wieder in ihrem Hochhaus zu verkriechen. Die meisten Weißhemden dort sind geschmiert. Aber diese hier … Ein Schauer läuft ihr den Rücken hinunter.
Endlich erreicht sie die Lagerhäuser und Handelsniederlassungen der Gaijin, das neu errichtete Geschäftsviertel. Sie steigt den Damm hinauf. Oben angekommen, erstreckt sich der Ozean vor ihr — Klipper werden entladen, Dockarbeiter und Kulis schleppen Kisten und Säcke, Mahout spornen Megodonten zu noch mehr Leistung an, während die Tiere Paletten von den Schiffen wuchten und auf riesige Wagen mit Reifen aus laotischem Kautschuk, die sie in die Lagerhäuser bringen. Vieles von dem, was sie hier sieht, erinnert sie an ihr früheres Leben.
Ein Fleck am Horizont kennzeichnet die Quarantäneinsel Koh Angrit, wo die Gaijin-Händler und Agrarmanager zwischen ihren Kalorienvorräten kauern und geduldig auf die nächste Missernte warten oder auf die nächste Seuche, die das Königreich zwingen werden, die Handelsbeschränkungen aufzuheben. Gendo-sama hat sie einmal auf diese schwimmende Insel der Bambusflöße und Lagerhäuser mitgenommen. Er stand auf den sanft schlingernden Planken und ließ sie übersetzen, während er den Ausländern selbstbewusst Verbesserungen in der Segeltechnologie verkaufte, die den Transport von patentiertem SoyPRO um die ganze Welt beschleunigen würden.
Emiko seufzt und duckt sich unter den Saisin-Leinen hindurch, die den Deich krönen. Der heilige Faden verläuft in beide Richtungen und verschwindet in der Ferne. Jeden Morgen segnen ihn die Mönche unterschiedlicher Tempel und fügen dem materiellen Wasserwehr, das die hungrige See zurückhält, ihre spirituelle Unterstützung hinzu.
In ihrem früheren Leben, als Gendo-sama sie mit Genehmigungen und Gefälligkeiten versorgte, die es ihr gestatteten, sich in der Stadt frei zu bewegen, hatte Emiko die Gelegenheit, der jährlichen Zeremonie beizuwohnen, bei der die Deiche und Pumpen gesegnet wurden und auch die Saisin, die alles miteinander verbinden. Während der erste Monsunregen auf die versammelten Menschen herabprasselte, sah Emiko zu, wie Ihre hochverehrte Majestät, die Kindskönigin, die Hebel umlegte, welche die heiligen Pumpen unter lautem Getöse zu neuem Leben erweckten; neben den Maschinen, die ihre Vorfahren geschaffen hatten, wirkte ihre zarte Gestalt geradezu winzig. Mönche sangen und spannten neue Saisin von der Stadtsäule, dem spirituellen Herzen Krung Theps, zu allen zwölf kohlebetriebenen Pumpen, die um die Stadt herum angeordnet waren, und dann beteten sie alle um den Fortbestand ihrer zerbrechlichen Stadt.
Jetzt, während der Trockenzeit, wirkt der Saisin vernachlässigt, und die Pumpen schweigen fast alle. Die schwimmenden Docks, die großen Frachtkähne und kleinen Boote tanzen im roten Sonnenlicht.
Emiko kämpft sich durch das Gewühl und hält Ausschau nach einem freundlichen Gesicht. Die Menschen eilen an ihr vorbei, und sie hält ganz still, um sich nicht zu verraten. Schließlich nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und ruft einem Tagelöhner zu: »Kathorh kha. Bitte, Khun. Kannst du mir sagen, wo ich Fahrscheine für die Fähren nach Norden kaufen kann?«
Der Mann ist von Kopf bis Fuß mit Staub und Schweiß bedeckt, aber er lächelt. »Wie weit nach Norden?«
Sie riskiert es, den Namen einer Stadt zu nennen, obwohl sie nicht weiß, ob sich diese in der Nähe des Ortes befindet, von dem der Gaijin gesprochen hat. »Phitsanulok?«
Er verzieht das Gesicht. »Dorthin fährt nichts, hinter Ayutthaya ist Schluss. Die Flüsse führen nicht genug Wasser. Manche Leute benutzen Mulis, um weiter nach Norden zu gelangen. Andere Spannfederboote. Und der Krieg …« Er zuckt mit den Achseln. »Wenn du nach Norden musst, solltest du die Straßen nehmen — sie sind noch eine Weile trocken.«
Sie weiß ihre Enttäuschung zu verbergen und bedankt sich mit einem tiefen Wai. Der Fluss kommt also nicht infrage. Die Straße oder gar nichts. Wenn Sie den Fluss nehmen könnte, hätte sie auch eine Möglichkeit, sich abzukühlen. Auf der Straße … Sie stellt sich vor, wie sie in der tropischen Glut der Trockenzeit die weite Entfernung zurücklegt. Vielleicht sollte sie die Regenzeit abwarten. Mit dem Monsun fallen die Temperaturen, und die Flüsse steigen …
Emiko geht wieder zurück über den Damm und durch die Slums, in denen die Familien der Dockarbeiter wohnen und die Seeleute, die aus der Quarantäne entlassen wurden. Die Straße also. Es war töricht, überhaupt hierherzukommen. Wenn es ihr gelänge, in einen Spannfederzug einzusteigen — aber dafür bräuchte sie einen Passierschein. Viele, viele Passierscheine, um auch nur die Stadt verlassen zu können. Wenn sie aber jemanden bestechen könnte oder als blinder Passagier mitfahren … Sie zieht eine Grimasse. Alle Wege führen zu Raleigh. Sie wird mit ihm sprechen müssen. Und die alte Krähe um etwas bitten, das er ihr zu geben keinen Grund hat.
Ein Mann, der sich einen Drachen auf den Bauch und eine Takraw-Kugel auf die Schulter tätowiert hat, starrt sie an, als sie an ihm vorbeigeht. »Heechy-Keechy«, murmelt er.
Emiko läuft weiter, dreht sich nicht um, doch sie bekommt eine Gänsehaut.
Der Mann folgt ihr. »Heechy-Keechy«, wiederholt er.
Sie wirft einen raschen Blick über die Schulter. Seine Miene ist unfreundlich. Außerdem fehlt ihm eine Hand, wie sie entsetzt feststellt. Er streckt den Stumpf aus und stupst damit ihre Schulter an. Sie zuckt zurück, und ihre abgehackte Bewegung verrät, was sie ist. Er lächelt und entblößt dabei seine Zähne, die schwarz sind vom Betelnusskauen.
Emiko biegt in eine Soi und hofft, seiner Aufmerksamkeit entfliehen zu können. Wieder hört sie seine Stimme: »Heechy-Keechy. «
Emiko duckt sich in die nächste enge Gasse und beschleunigt ihre Schritte. Ihr Körper wird immer wärmer. Ihre Hände sind ganz glitschig vor Schweiß. Sie atmet schnell, um die zunehmende Hitze auszustoßen. Der Mann folgt ihr noch immer. Er ruft ihr nichts mehr nach, doch sie hört seine Schritte. Sie biegt noch einmal ab. Cheshire stieben vor ihr auseinander, flimmernde Schatten, aufgescheucht wie Kakerlaken. Wenn sie sich doch nur ebenso in Luft auflösen könnte, sich gegen die Wand drücken und den Mann vorbeilassen.
»Wohin willst du denn, Aufziehmädchen?«, ruft der Mann. »Ich möchte dich doch nur anschauen.«
Wäre Gendo-sama noch ihr Herr, würde sie diesem Mann selbstbewusst gegenübertreten, beschützt von Importstempeln und Eigentumsgenehmigungen, von Konsulaten und der entsetzlichen Vergeltung, die ihr Meister üben würde. Eine Sache, die jemandem gehörte, das schon, aber trotzdem würde man ihr Achtung entgegenbringen. Sie könnte sogar zu den Weißhemden oder der Polizei gehen. Mit Stempeln und einem Pass war sie kein Verstoß gegen Nische und Natur, sondern ein außergewöhnlich wertvoller Gegenstand.
Die Gasse führt auf eine breite Straße hinaus, die von den Lagerhäusern und Handelsniederlassungen der Gaijin gesäumt ist, doch bevor sie diese erreicht, packt der Mann sie am Arm. Ihr ist heiß. Panik steigt in ihr auf. Verzweifelt schaut sie sich um, aber hier stehen nur Bretterbuden, und die Gaijin, die am Straßenrand herumlungern, werden ihr auch nicht helfen. Grahamiten sind die Letzten, mit denen sie es tun bekommen möchte.
Der Mann zerrt sie in die Gasse zurück. »Wohin so eilig, Aufziehmädchen?«
Seine Augen funkeln eisig. Er kaut etwas — ein Amphetaminstäbchen. Yaba. Die Kulis benutzen sie, um weiterarbeiten zu können, um Kalorien zu verbrennen, die sie nicht haben. Seine Augen leuchten, als er sie am Handgelenk packt. Er zieht sie tiefer in die Gasse hinein, wo niemand sie sehen kann. Ihr ist zu heiß, um wegzurennen. Und wohin hätte sie sich auch wenden sollen?
»Stell dich an die Wand«, sagte er. »Nein.« Er dreht sie um. »Schau mich nicht an.«
»Bitte!«
Plötzlich hält er ein Messer in der gesunden Hand. Die Klinge glänzt. »Halt’s Maul«, sagt er. »Bleib so stehen.«
Seine Stimme klingt gebieterisch, und obwohl sie es besser weiß, gehorcht sie ihm. »Bitte. Lassen Sie mich doch gehen«, flüstert sie.
»Ich hab gegen deinesgleichen gekämpft. Im Norden, im Dschungel. Da war alles voller Aufziehkerle. Heechy-Keechy-Soldaten. «
»So eine bin ich nicht«, flüstert sie. »Ich bin kein Militärmodell. «
»Alles Japaner, so wie du auch. Wegen deinesgleichen hab ich eine Hand verloren. Und viele gute Freunde.« Er zeigt ihr seinen Stumpf und drückt ihn ihr gegen die Wange. Sein Atmen streicht ihr heiß über den Nacken, als er sie am Hals packt und ihr das Messer an die Gurgel legt. Ihr die Haut aufritzt.
»Bitte. Lassen Sie mich gehen.« Sie schmiegt sich in seinen Schritt. »Ich mach alles, was Sie wollen.«
»Glaubst du, ich würde mich derart besudeln?« Er stößt sie gegen die Wand, und sie schreit erschrocken auf. »Mit einem Tier wie dir?« Ein kurze Pause, dann: »Knie dich hin.«
Auf der Straße klappern Fahrradrischkas über Pflastersteine. Leute fragen lauthals nach den Preisen von Hanfseilen und ob jemand weiß, wann der Muay-Thai-Kampf im Lumphini stattfindet. Das Messer schmiegt sich an ihren Hals, und die Spitze findet ihren Puls. »Ich musste mit ansehen, wie alle meine Freunde im Wald starben, und das nur wegen diesen japanischen Aufziehsoldaten.«
Sie schluckt und wiederholt leise: »So eine bin ich nicht.«
Er lacht. »Natürlich nicht. Du bist etwas ganz anderes. Du gehörst zu den Teufeln, die sie sich in den Schiffswerften auf der anderen Seite des Flusses halten. Unser Volk verhungert, und ihr nehmt uns den Reis weg.«
Der Druck der Klinge wird stärker. Er will sie töten, davon ist sie überzeugt. Sein Hass ist groß, und sie ist nichts weiter als Abfall. Er ist high und zornig und gefährlich, und sie ist nichts. Nicht einmal Gendo-sama hätte sie jetzt beschützen können. Sie schluckt und spürt dabei, wie sich die Klinge gegen ihren Adamsapfel presst.
Wirst du so sterben? Ist das deine Bestimmung? Einfach ausgeblutet zu werden wie ein Schwein?
Zorn lodert in ihr auf, ein Gegengift gegen die Verzweiflung.
Wirst du nicht einmal um dein Überleben kämpfen? Haben die Wissenschaftler dich so dumm gemacht, dass du nicht einmal einen Versuch unternimmst, dich zu retten?
Emiko schließt die Augen und betet zu Mizuko Jizo Bodhisattva und dann sicherheitshalber zu Bakeneko, dem Geist der Cheshire. Sie holt tief Luft und schlägt dann mit ganzer Kraft die Hand mit dem Messer beiseite. Die Klinge fährt ihr über den Hals, ein brennender Schnitt.
»Arai wai?!«, ruft der Mann aus.
Emiko versetzt ihm einen Stoß und weicht dem Messer aus, das durch die Luft zuckt. Als sie in Richtung Straße sprintet, hört sie hinter sich ein Ächzen und einen dumpfen Schlag. Sie blickt nicht zurück. Sie stürzt auf die Straße, und dabei ist es ihr gleichgültig, dass sie sich als Aufziehmädchen zu erkennen gibt, es ist ihr egal, dass sie, wenn sie rennt, sich überhitzen und sterben wird. Sie ist wild entschlossen, dem Dämon, der sie verfolgt, zu entkommen. Sie wird brennen, aber sie wird nicht sterben, ohne sich zu wehren, wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wird.
Sie flieht die Straße hinunter, weicht Pyramiden aus Durianfrüchten aus und springt über zusammengerollte Hanfseile. Diese selbstmörderische Flucht ist unsinnig, aber sie bleibt nicht stehen. Sie drängt einen Gaijin beiseite, der um Jutesäcke mit einheimischem U-Tex-Reis feilscht. Er fährt herum, stößt einen Schreckensschrei aus, doch sie ist schon vorbei.
Überall um sie herum scheint der Verkehr auf der Straße nur noch dahinzukriechen. Emiko schlüpft unter dem Bambusgerüst einer Baustelle hindurch. Es fällt ihr seltsam leicht zu rennen. Die anderen Menschen scheinen in Honig festzustecken. Nur sie bewegt sich. Als sie einen Blick über die Schulter wirft, sieht sie, dass ihr Verfolger weit zurückgefallen ist. Er ist überraschend langsam. Erstaunlich, dass sie überhaupt Angst vor ihm hatte. Sie lacht, so absurd ist diese Welt, in der alles stillsteht …
Sie stößt mit einem Arbeiter zusammen und schlägt lang hin, wobei sie ihn mit sich reißt. »Arai wa!«, ruft der Mann. »Pass doch auf!«
Emiko stemmt sich auf die Knie hoch, ihre Hände aufgeschürft und taub. Sie versucht aufzustehen, aber die Welt verschwimmt ihr vor den Augen und kippt zur Seite hin weg. Sie stürzt erneut zu Boden. Rappelt sich wieder auf wie betrunken; die Hitze in ihrem Innern droht sie zu überwältigen. Der Boden neigt sich und dreht sich im Kreis, doch es gelingt ihr sich aufzurichten. Sie lehnt sich gegen die sonnenheiße Wand, während der Mann, mit dem sie zusammengestoßen ist, sie anschreit. Sein Zorn brandet über sie hinweg, doch das kümmert sie nicht. Finsternis und Hitze dringen auf sie ein. Sie verbrennt.
Auf der Straße, im Gewirr der Mulikarren und Fahrräder, entdeckt sie das Gesicht des Gaijin. Sie blinzelt die Finsternis beiseite und stolpert einen Schritt vorwärts. Ist sie verrückt? Treibt der Bakeneko-Cheshire seine Späße mit ihr? Sie packt den Mann, der sie anschreit, an der Schulter, starrt in den Verkehr hinaus, um die Halluzination, die ihr siedendes Gehirn ihr vorgegaukelt hat, wiederzufinden. Der Arbeiter stößt einen Schrei aus und weicht vor ihr zurück, doch sie bemerkt es kaum.
Wieder erhascht sie einen kurzen Blick auf das blasse Gesicht. Es ist der Gaijin, der mit der Narbe aus Raleighs Club. Der ihr gesagt hat, sie solle nach Norden gehen. Seine Rikscha ist kurz zu sehen, bevor sie hinter einem Megodonten verschwindet. Und dann ist sie wieder da, auf der anderen Seite, und er blickt in ihre Richtung. Es ist derselbe Mann. Dessen ist sie sich sicher.
»Haltet sie fest! Lasst die Heechy-Keechy nicht entkommen!«
Ihr Angreifer, der schreit und mit dem Messer wedelt, während er durch das Bambusgerüst kraxelt. Sie staunt, wie langsam er ist, so viel langsamer, als sie erwartet hätte. Verwirrt blickt sie ihm entgegen. Vielleicht ist er von seiner Zeit im Krieg auch an den Füßen verkrüppelt. Aber nein, sein Gang ist tadellos — alles um sie herum ist langsam: die Leute, der Verkehr. Sonderbar. Surreal und langsam.
Der Arbeiter packt sie. Emiko lässt zu, dass er sie wegzerrt, wobei sie weiter den Verkehr nach dem Gaijin absucht. Hat sie sich das nur eingebildet?
Dort! Dort ist er wieder! Emiko streift die Hände des Arbeiters ab und stürzt auf die Straße. Mit letzter Kraft duckt sie sich unter dem Bauch eines Megodonten hindurch — fast wäre sie in seine riesigen Säulenbeine hineingelaufen —, und schon ist sie auf der anderen Seite, wo sie neben der Rikscha des Gaijin herläuft, die Hände zu ihm hochstreckt wie ein Bettler …
Er betrachtet sie mit kaltem Blick, als ginge ihn das alles nichts an. Sie stolpert und hält sich an der Rikscha fest, obwohl sie weiß, dass er sie zurückstoßen wird. Sie ist nur ein Aufziehmädchen. Wie töricht sie doch war zu glauben, dass er in ihr einen Menschen sehen könnte, eine Frau und nicht nur ein Stück Abfall.
Plötzlich packt er ihre Hand und zieht sie zu sich herauf. Der Gaijin ruft seinem Fahrer zu, er solle sich beeilen, mit aller Kraft in die Pedale treten — gan cui chi che, kuai kuai kuai! Er speit Wörter in drei verschiedenen Sprachen aus, und schließlich beschleunigen sie, wenn auch langsam.
Ihr Angreifer springt auf die Rikscha. Er schlitzt ihr die Schulter auf. Emiko sieht, wie ihr Blut auf die Sitze spritzt. Tropfen wie Edelsteine, die im Sonnenlicht funkeln. Er hebt erneut das Messer. Sie versucht, sich zu verteidigen, ihn abzuwehren, aber sie ist zu müde. Sie ist ganz schwach vor Erschöpfung und Hitze. Der Mann stößt einen Schrei aus und geht erneut auf sie los.
Emiko schaut zu, wie das Messer herabfährt, eine Bewegung, die so langsam ist wie Honig, der im Winter ausgegossen wird. Unfassbar langsam. Unfassbar weit weg. Ihre Haut platzt auf. Alles verschwimmt. Sie wird ohnmächtig. Das Messer fährt erneut herab.
Plötzlich wirft sich der Gaijin dazwischen. In seiner Hand schimmert eine Federpistole. Emiko schaut zu, vage erstaunt, dass der Fremde eine Waffe bei sich trägt. Doch der Kampf zwischen dem Gaijin und dem Yabasüchtigen ist so klein und so weit weg. Alles wird schwarz … Die Hitze schlägt über ihr zusammen.