13

Jaidee erinnert sich noch gut daran, wie er Chaya zum allerersten Mal begegnete. Er hatte gerade einen seiner frühen Muay-Thai-Kämpfe hinter sich gebracht; er hat vergessen, gegen wen er angetreten war, aber er weiß noch, wie er aus dem Ring stieg, wie die Leute ihm gratulierten, wie alle sagten, er wüsste sich sogar besser zu bewegen als Nai Khanom Tom. In jener Nacht trank er Laolao und taumelte dann mit seinen Freunden auf die Straße hinaus. Sternhagelvoll, wie sie waren, kickten sie lachend einen Takraw-Ball durch die Gegend, ganz außer sich über Jaidees Sieg und von dem großartigen Gefühl, am Leben zu sein.

Und dann sah er Chaya, die gerade dabei war, das Ladengeschäft ihrer Eltern zu schließen und die Holzvertäfelung vor den Schaufenstern zu befestigen, in denen Ringelblumen auslagen und wiedererschaffene Jasminblüten, die als Tempelgabe dienten. Als er sie anlächelte, musterte sie ihn und seine Freunde nur angewidert. Jaidee dagegen kam es so vor, als hätte er sie bereits in einem früheren Leben gekannt, als würden sich zwei Liebende begegnen, die füreinander bestimmt waren.

Er hatte sie angestarrt, völlig fassungslos, was seinen Freunden natürlich nicht entgangen war — Suttipong und Jaiporn und die anderen, die alle starben, als die Furchen-Epidemie ausbrach und sie in die Pufferzone abkommandiert wurden, um die Dörfer niederzubrennen, die bereits befallen waren, alle lange tot —, aber er weiß noch gut, dass sie seinen entgeisterten Blick bemerkten, seine plötzliche alberne Verliebtheit, und wie sie sich über ihn lustig machten. Chaya musterte ihn mit ostentativer Verachtung, bis er schließlich davonstolperte.

Jaidee war es immer leichtgefallen, sich eine Freundin anzulachen; entweder bewunderten die Mädchen seine Tapferkeit beim Kickboxen, oder ihnen gefiel seine weiße Uniform. Aber Chaya hatte einfach nur durch ihn hindurchgeblickt und sich abgewandt.

Es dauerte Monate, bis er den Mut aufbrachte, sich ihr wieder zu nähern. Als er dem Geschäft ihrer Eltern zum ersten Mal einen Besuch abstattete, zog er sich gut an, kaufte Tempelgaben, nahm sein Wechselgeld entgegen und ging wortlos hinaus. Im Laufe der darauffolgenden Wochen schaute er öfter vorbei und unterhielt sich hin und wieder mit ihr, stets darum bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Anfangs dachte er, dass sie in ihm den betrunkenen Narren wiedererkannte, der versuchte, seine Entgleisung wiedergutzumachen. Im Laufe der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass sie den arroganten Kerl, der ihr in jener Nacht auf der Straße über den Weg gelaufen war, vollständig vergessen hatte.

Jaidee erzählte ihr nie von jener ersten Begegnung, nicht einmal, nachdem sie geheiratet hatten. Zu beschämend war es, was sie in jener Nacht auf der Straße in ihm gesehen hatte. Wie konnte er zugeben, dass der Mann, den sie liebte, mit diesem Dummkopf identisch war?

Und jetzt sieht er sich gezwungen, etwas weit Schlimmeres zu tun. Niwat und Surat schauen ihm dabei zu, wie er seine weiße Ausgehuniform anzieht. Sie wirken sehr ernst, während er sich auf etwas vorbereitet, was seine Söhne als Erniedrigung erleben werden. Er kniet vor sie hin.

»Was auch immer ihr heute erlebt — denkt stets daran, es gibt nichts, wofür ihr euch schämen müsst.«

Sie nicken feierlich, aber er weiß, dass sie ihn nicht verstanden haben. Sie sind zu jung, um zu begreifen, wie sehr er unter Druck steht und wozu ihn die Umstände zwingen. Er drückt sie an sich, und dann geht er in das grelle Sonnenlicht hinaus.

Kanya wartet in einer Fahrradrikscha auf ihn, die Augen voller Mitleid. Doch sie ist viel zu höflich, um auszusprechen, was ihr auf dem Herzen liegt.

Schweigend fahren sie durch die Straßen. Vor ihnen taucht das Ministerium auf, und sie rollen durch das Tor. Diener mit ihren Rikschas drängen sich in der Einfahrt und warten, bis ihre Herren zurückkehren. Also sind die Zeugen bereits eingetroffen.

Ihre Rikscha drängelt sich an den parkenden Fahrzeugen vorbei bis zum Tempel. Wat Phra Seub wurde auf dem Gelände des Ministeriums errichtet, um den Märtyrer der Biodiversität zu ehren. Hier legen die Weißhemden ihr Gelübde ab, hier werden sie in aller Form zu Hütern des Königreichs geweiht, bevor sie ihren ersten Dienstgrad erhalten. Und hier …

Jaidee zuckt zusammen, und fast wäre er vor Wut aufgesprungen. Überall auf den Stufen des Tempels laufen Farang umher. Ausländer auf dem Gelände des Ministeriums! Kaufleute und Fabrikbesitzer und Japaner — schwitzende, stinkende Kreaturen mit Sonnenbrand, die in das Allerheiligste des Ministeriums eindringen.

»Jai yen yen«, murmelt Kanya. »Darauf hat Akkarat bestanden. Es ist Teil der Abmachungen.«

Jaidee kann seine Entrüstung nicht verbergen. Aber es kommt noch schlimmer: Neben dem Somdet Chaopraya steht Akkarat und sagt etwas zu ihm — vielleicht erzählt er ihm einen Witz. Die beiden sind viel zu gut miteinander befreundet. Jaidee wendet den Blick ab und entdeckt auf der obersten Stufe des Tempels General Pracha, der mit ausdrucksloser Miene alles beobachtet. An ihm vorbei in den Tempel hinein strömen die Brüder und Schwestern, mit denen zusammen Jaidee gearbeitet und gekämpft hat. Bhirombhakdi ist ebenfalls da; er lächelt breit, weil er sich nun für die verlorenen Einnahmen rächen kann.

Die Leute bemerken, dass Jaidee eingetroffen ist. Schweigen senkt sich auf die Menge herab.

»Jai yen yen«, murmelt Kanya erneut, und dann steigen sie aus, und er wird hineineskortiert.

Goldene Statuen des Buddha und von Phra Seub blicken voller Gelassenheit auf die Versammlung herab. Die Bildteppiche an den Wänden des Tempels zeigen Szenen vom Untergang des Alten Reiches: wie die Farang ihre Seuchen auf die Erde loslassen, wie Tiere und Pflanzen zugrunde gehen, als ganze Ökosysteme zerfallen; wie Seine Majestät König Rama XII. seine jämmerlichen Streitkräfte zur letzten Schlacht aufmarschieren lässt, von Hanuman und seinen Affenkriegern flankiert. Bilder von Krut und Kirtimukha und einer Armee halbmenschlicher Kala, die sich der ansteigenden Meere und allgegenwärtigen Seuchen zu erwehren suchen. Jaidees Blick schweift über die Vertäfelung — er weiß noch gut, wie stolz er war, als er hier geweiht wurde.

Nirgendwo auf dem Gelände des Ministeriums sind Kameras erlaubt, aber die Schreiberlinge der Flüsterblätter stehen alle mit ihren Bleistiften bereit. Jaidee zieht die Schuhe aus und tritt ein, gefolgt von geifernden Schakalen, die ihren größten Feind den Garaus machen möchten. Der Somdet Chaopraya kniet neben Akkarat.

Jaidee mustert den designierten Beschützer der Königin und fragt sich, wie es möglich ist, dass ein so überragender Mann wie der letzte König sich so sehr hat täuschen lassen, dass er den Somdet Chaopraya zum Beschützer Ihrer Majestät der Kindskönigin erklärte. An dem Mann ist nur wenig Gutes. Bei dem Gedanken, dass jemand, der sich bekanntermaßen der Finsternis verschrieben hat, der Königin so nahesteht, überläuft Jaidee ein Schauder …

Unvermittelt holt er tief Luft. Der Mann vom Ankerplatz kniet neben Akkarat. Ein schmales Rattengesicht, wachsam und arrogant.

»Behalten Sie ein kühles Herz«, murmelt Kanya, während sie ihn weiterführt. »Chaya zuliebe.«

Jaidee zwingt seinen Zorn hinunter, seine Bestürzung darüber, diesen Mann hier zu sehen. Er beugt sich zu Kanya hinüber. »Das ist der Kerl, der sie entführt hat. Den ich auf dem Landeplatz gesehen habe. Dort drüben! Neben Akkarat!«

Kanya folgt seinem Blick. »Selbst wenn das stimmt, müssen wir das hier jetzt hinter uns bringen. Es gibt keinen anderen Weg.«

»Glauben Sie das wirklich?«

Kanya besitzt den Anstand, den Kopf zu senken. »Es tut mir leid, Jaidee. Ich wünschte …«

»Schon gut, Kanya.« Er deutet mit einer Kopfbewegung auf Akkarat und seinen Begleiter. »Aber prägen Sie sich die beiden gut ein. Und vergessen Sie nie — die schrecken vor nichts zurück.« Er sieht sie an. »Haben Sie das verstanden?«

»Ja, das habe ich.«

»Schwören Sie es bei Phra Seub?«

Obwohl er sie offenbar in Verlegenheit gebracht hat, nickt sie. »Wenn ich mich dreifach vor Ihnen verneigen könnte, würde ich das jetzt tun.«

Sie bleibt zurück, und er glaubt, Tränen in ihren Augen zu sehen. Die Menge verstummt, als der Somdet Chaopraya sich erhebt und vortritt, um dem Verfahren beizuwohnen. Vier Mönche stimmen einen Gesang an. Bei glücklicheren Anlässen — einer Hochzeit oder einer Grundsteinlegung — wären es sieben oder neun. Heute sind die Mönche hier, um seiner Demütigung beizuwohnen.

Minister Akkarat und General Pracha treten vor die Versammelten. Weihrauch erfüllt den Raum ebenso wie der Gesang der Mönche, ein eintöniges Brummen in Pali, das alle daran erinnert, dass die Welt eine vorübergehende ist, dass sogar Phra Seub in seiner Verzweiflung zu dieser Einsicht gelangte, obschon ihn seine Leidenschaft für die natürliche Welt zu überwältigen drohte.

Der Gesang der Mönche verstummt. Der Somdet Chaopraya bedeutet Akkarat und Pracha, vor ihn zu treten. Ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen. Der Somdet Chaopraya schaut mit ausdrucksloser Miene zu, wie die beiden Erzfeinde sich vor der einzigen Sache verbeugen, die sie miteinander verbindet: dem Königshaus und dem Palast.

Der Somdet Chaopraya ist ein hochgewachsener, wohlgenährter Mann, und er überragt sie beide. Tiefe Falten haben sich in sein Gesicht gegraben. Gerüchte kreisen um ihn, über seine Vorlieben, seine Abgründe. Trotzdem, ihm ist es bestimmt, Ihre Majestät die Kindskönigin zu beschützen, bis sie den Thron besteigt. Er gehört nicht dem Königshaus an und wird es auch nie. Bei der Vorstellung, dass die Königin seinem Einfluss unterworfen ist, packt Jaidee nacktes Entsetzen. Wäre das Schicksal dieses Mannes nicht so eng mit dem ihren verbunden, dann würde er wahrscheinlich … Jaidee unterdrückt den geradezu blasphemischen Gedanken, als Pracha und Akkarat auf ihn zukommen.

Jaidee kniet nieder. Um ihn herum kratzen die Bleistifte der Flüsterblattschreiberlinge hektisch über Papier, während er sich demütig vor Akkarat zu Boden wirft. Akkarat lächelt befriedigt, und Jaidee muss sich zusammenreißen, um sich nicht auf ihn zu stürzen. Das werde ich dir heimzahlen, wenn meine Zeit gekommen ist. Langsam steht er auf.

Akkarat beugt sich zu ihm vor. »Sehr schön, Herr Hauptmann. Man könnte fast meinen, es täte Ihnen wirklich leid.«

Jaidee verzieht keine Miene. Als er sich umdreht, um zu den Versammelten zu sprechen, bleibt ihm fast das Herz stehen — seine Söhne sind ebenfalls anwesend, um mitanzusehen, wie ihr Vater gedemütigt wird.

»Ich habe meine Kompetenzen überschritten.« Er blickt zu General Pracha hinüber, der am Rande des Podiums steht und ihn teilnahmslos anschaut. »Ich habe meinem Patron, General Pracha, Schande gebracht, und ich habe dem Umweltministerium Schande gebracht. Das Ministerium war mein ganzes Leben lang mein Zuhause. Ich schäme mich, dass ich die Macht des Ministeriums zu meinem eigenen Nutzen missbraucht habe. Dass ich meine Kameraden ebenso getäuscht habe wie meine Patrone. Dass ich moralisch versagt habe.« Er zögert. Niwat und Surat, von ihrer Großmutter — Chayas Mutter — gehalten, schauen zu ihm auf. »Ich bitte um Verzeihung. Für nichts wäre ich dankbarer als für eine Möglichkeit, meine Fehler wiedergutzumachen.«

General Pracha schreitet gemessenen Schrittes auf ihn zu. Jaidee lässt sich erneut auf die Knie fallen und wirft sich zu Boden. General Pracha schenkt ihm keine Beachtung, sondern geht nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei. Er wendet sich an die Versammelten.

»Ein unabhängiger Ermittlungsausschuss hat Hauptmann Jaidee für schuldig erkannt, Schmiergelder genommen und seine Macht missbraucht zu haben.« Er blickt kurz zu Jaidee hinunter. »Es wurde entschieden, dass er nicht länger geeignet ist, dem Ministerium zu dienen. Er wird einem Orden beitreten und neun Jahre lang Buße tun. Seine Besitztümer werden eingezogen. Seine Söhne werden der Aufsicht des Ministeriums unterstellt; der Name ihrer Familie jedoch wird ausgelöscht.«

Er senkt erneut den Blick. »Wenn der Buddha dir gnädig ist, wirst du irgendwann einsehen, dass dir dein Stolz und deine Habgier zum Verhängnis wurden. Wir hoffen, dass, wenn du schon in diesem Leben nicht zur wahren Erkenntnis gelangst, du in deinem nächsten Leben die Chance erhältst, es besser zu machen.« Er wendet sich ab und lässt Jaidee auf dem Boden liegend zurück.

Akkarat ergreift das Wort. »Wir nehmen die Entschuldigung des Umweltministeriums an, auch für das Versagen General Prachas. Wir sehen einer verbesserten Zusammenarbeit freudig entgegen. Nachdem dieser Schlange nun die Zähne gezogen wurden.«

Der Somdet Chaopraya bedeutet den beiden mächtigen Männern der Regierung, dass sie einander ihren Respekt erweisen sollen. Jaidee rührt sich nicht. Ein Seufzer läuft durch die Zuschauermenge. Dann strömen die Menschen hinaus, um zu erzählen, was sie gesehen haben.

Erst nachdem der Somdet Chaopraya gegangen ist, wird Jaidee von zwei Mönchen aufgefordert sich zu erheben. Ihre Köpfe sind rasiert, ihre safranfarbenen Gewänder alt und fadenscheinig. Sie mustern ihn mit ernster Miene und geben ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er ihnen folgen soll. Er ist jetzt einer von ihnen. Neun Jahre der Buße, nur weil er das Richtige getan hat.

Akkarat tritt ihm in den Weg. »Nun denn, Khun Jaidee. Mir scheint, Sie sind endlich einmal an Ihre Grenzen gelangt. Wirklich schade, dass Sie nicht auf unsere Warnungen gehört haben. Das alles war so unnötig.«

Jaidee zwingt sich zu einer Verbeugung. »Sie haben erreicht, was Sie wollten«, murmelt er. »Lassen Sie Chaya gehen. «

»Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Jaidee blickt seinem Gegenüber in die Augen und fragt sich, ob er lügt. Ihm ist nichts anzumerken.

Bist du mein Feind? Oder steckt ein anderer dahinter? Ist sie bereits tot? Oder lebt sie noch, in das Gefängnis eines deiner Freunde geworfen, eine namenlose Gefangene unter vielen? Lebt sie, oder ist sie tot?

Er bemüht sich, seiner Verzweiflung Herr zu werden. »Lassen Sie sie frei, oder ich werde Sie jagen und zur Strecke bringen wie ein Mungo eine Kobra.«

Akkarat zuckt nicht mit der Wimper. »Halten Sie sich besser zurück, Jaidee. Es wäre schade, wenn Sie noch etwas anderes verlieren würden.« Sein Blick schweift kurz zu Niwat und Surat hinüber.

Jaidee läuft es eiskalt über den Rücken. »Lassen Sie die Finger von meinen Kindern.«

»Ihren Kindern?« Akkarat lacht. »Sie haben keine Kinder mehr. Sie haben überhaupt nichts mehr. Und Sie können von Glück reden, dass General Pracha zu Ihnen hält. Ich an seiner Stelle hätte die beiden Rotznasen auf die Straße gejagt, damit sie um Rostwelkereste betteln können. Das wäre Ihnen vielleicht eine Lehre gewesen.«

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