31

Als Anderson Emiko zusammengekauert vor seiner Haustür vorfindet, ist der sichergeglaubte Schlaf mit einem Mal wieder in weite Ferne gerückt.

Die letzten Tage über hatte er fieberhaft alles für die Invasion vorbereitet, was sich als äußerst schwierig herausgestellt hatte, da er nicht in seine eigene Fabrik durfte — etwas, womit er nie gerechnet hatte. Wegen dieser verfluchten Fehlplanung musste er kostbare Zeit darauf verschwenden, einen sicheren Weg in das SpringLife-Gelände ausfindig zu machen, vorbei an den unzähligen Weißhemden, die das Industriegebiet abriegeln. Wahrscheinlich würde er sich immer noch auf der Suche nach einem Zugang durch finstere Seitengassen drücken, wenn er nicht zufällig auf Hock Sengs Fluchtweg gestoßen wäre.

So aber war Anderson tatsächlich mit geschwärztem Gesicht und einem Wurfhaken im Gepäck durch die Rollläden der SpringLife-Büros eingebrochen und dabei einem alten Mann zu Dank verpflichtet gewesen, der nur wenige Tage zuvor die gesamten Lohngelder der Firma gestohlen hatte.

Der Gestank in der Fabrik war entsetzlich. Sämtliche Algenbäder waren verfault, aber immerhin war niemand zu sehen — ein kleiner Trost. Wenn die Weißhemden hier Wachen aufgestellt hätten … Anderson hielt eine Hand auf den Mund gepresst, während er durch die Haupthalle an der Produktionsstraße entlanglief. Hier wurde der unangenehme Fäulnisgeruch und der Gestank des Megodonten-Dungs noch durchdringender.

Im Schatten der Gittersiebe unter den dunkel aufragenden Stanzmaschinen untersuchte Anderson den Boden. Hier, nahe den Algenbädern, war der Verwesungsgestank kaum noch zu ertragen. So roch das endgültige Scheitern von Yates’ optimistischen Plänen für einen Energiespeicher der Zukunft.

Anderson kniete sich vor einen der Abflüsse und schob ein Paar vertrocknete Algenstränge beiseite. Auf der Suche nach einem Hebel fuhr er mit der Hand die Kanten entlang. Dann hob er den Rost an. Das Eisengitter öffnete sich mit einem Quietschen. So leise wie möglich rollte Anderson die schwere Abdeckung zur Seite und setzte sie mit einem Scheppern auf dem Beton ab. Er legte sich auf den Boden und steckte den Arm in das Abflussloch; dabei bat er inständig darum, weder einen Skorpion noch eine Schlange aufzuschrecken. Suchende Finger im Dunkel. Immer tiefer tastete er in die feuchte Schwärze hinein.

Einen Moment lang dachte er schon, das Päckchen hätte sich vielleicht gelöst und wäre den Abfluss hinuntergetrieben worden, durch die Abwasserkanäle bis zu den königlichen Grundwasserpumpen — doch dann trafen seine Finger auf Öltuch. Er löste es von der Wand und zog es mit einem Lächeln hervor. Ein Code-Buch. Für alle Fälle, wobei er nie so recht geglaubt hatte, dass er es einmal brauchen würde.

Im Dunkel der Büroräume wählte er einige Nummern, die Einsatzleiter in ganz Burma und Indien in Aufregung versetzten. Schickte Sekretärinnen in hektischer Eile auf die Suche nach Codes, die seit Finnland nicht mehr in Gebrauch gewesen waren.

Nur zwei Tage später befand er sich schon auf dem AgriGen zugeteilten Gebiet der Insel Koh Angrit und besprach letzte Einzelheiten des großen Angriffs mit den Verantwortlichen. In wenigen Tagen würden Waffen eintreffen, und die Truppen für den Einmarsch sammelten sich bereits. Geld war ebenfalls unterwegs, jede Menge Gold und Jade, das wankelmütigen Generäle bei der Entscheidung helfen würde, sich gegen ihren alten Freund General Pracha zu stellen.

Doch gerade jetzt, als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, kommt er in die Stadt zurück und findet Emiko wie ein Häufchen Elend vor seiner Haustür vor. Sie ist blutverschmiert. Kaum erblickt sie ihn, wirft sie sich ihm in die Arme und beginnt zu schluchzen.

»Was tust du hier?«, flüstert er. Er birgt sie an seiner Brust, öffnet die Haustür und führt sie hinein. Ihre Haut steht in Flammen. Überall ist Blut. Im Gesicht sieht er Kratzspuren, und auch die Arme sind mit klaffenden Wunden übersät. Schnell schließt er die Tür hinter sich. »Was ist passiert?« Er hält sie von sich weg und besieht sich ihren Zustand genauer. Sie ist der reinste Hochofen, in Blut getränkt, und er erkennt sofort, dass der klebrige Überzug unmöglich allein von den Wunden an ihren Armen und im Gesicht stammen kann. »Wessen Blut ist das?«

Sie schüttelt nur stumm den Kopf. Wird erneut von Weinkrämpfen geschüttelt.

»Dann wollen wir dich erst mal waschen.«

Er führt sie ins Bad, dreht die Dusche auf und stellt sie unter den kalten Strahl. Emiko zittert am ganzen Körper und hat einen panischen Ausdruck in den fiebrig glänzenden, weit aufgerissenen Augen. Sie blickt in Panik um sich und steht offensichtlich vollkommen neben sich. Er versucht, ihr die kurze Jacke auszuziehen, sie von den blutigen Kleidern zu befreien, doch da verzerrt sich ihr Gesicht vor Wut zu einer Fratze.

»Nein!« Sie schlägt nach ihm, und er zuckt zurück, fasst sich an die brennende Wange.

»Was zum Teufel?« Er sieht sie empört an. Himmel, sie war verdammt schnell. Es tut weh. Als er die Hand von der Wange nimmt, ist sie blutverschmiert. »Was in drei Teufels Namen ist denn in dich gefahren?«

Das panische Flackern in ihren Augen erlischt. Sie starrt ihn ausdruckslos an, scheint wieder zu sich zu kommen, nimmt wieder menschliche Züge an. »Es tut mir leid«, flüstert Emiko. »Tut mir so leid.« Sie sackt in sich zusammen und rollt sich in Embryonalstellung unter den Wasserstrahl. »Tut mir leid. Tut mir leid.« Sie verfällt ins Japanische.

Anderson kauert sich neben sie, wobei seine Kleider nass werden. »Mach dir keine Sorgen.« Er spricht mit sanftem Tonfall. »Wie wäre es, wenn du dir selbst die alten Kleider ausziehst. Wir besorgen dir etwas Neues zum Anziehen, in Ordnung? Würdest du das für mich tun?«

Sie nickt teilnahmslos. Schält sich aus der Jacke. Entknotet den Pha Sin. Dann hockt sie nackt im kalten Wasser. Er lässt sie dort zurück. Nimmt die blutigen Sachen und wickelt sie in ein Laken. Trägt das Bündel hinaus in die Dunkelheit. Überall Menschen. Er beachtet sie nicht, sondern geht mit dem Kleiderbündel einfach bis zum nächsten Khlong. Dort wirft er die blutigen Stofffetzen ins Wasser, wo Schlangenkopffische und Bodhi-Karpfen sie mit an Besessenheit grenzender Entschlossenheit verschlingen werden. Im aufgewühlten Wasser zerren die Fische mit viel Geplätscher an der vom Blutgeruch durchtränkten Beute.

Als er wieder in seine Wohnung zurückkommt, ist Emiko bereits fertig mit duschen, und das schwarze Haar klebt ihr im Gesicht. So vollkommen verängstigt, gibt sie ein Bild des Jammers ab. Anderson geht zu seinem Arzneischrank. Tröpfelt Alkohol auf die Wunden und reibt sie danach mit antiviralen Mitteln ein. Sie gibt keinen Mucks von sich. Die Fingernägel sind so stark eingerissen, dass fast nichts mehr von ihnen übrig ist. Auf dem ganzen Körper beginnen sich blaue Flecken zu bilden. Doch wenn man das ganze Blut bedenkt, in das sie gebadet war, als sie hier ankam, dann hat sie erstaunlich wenig Wunden davongetragen.

»Was ist geschehen?«, fragt er sanft.

Emiko schmiegt sich an ihn. »Ich bin allein«, haucht sie. »Es gibt keinen Ort für die Neuen Menschen.« Sie bebt am ganzen Körper.

Er zieht sie an sich und kann durch die oberste Hautschicht hindurch die brennende Hitze in ihrem Innern spüren. »Ist ja gut. Bald wird sich alles ändern. Es wird alles anders.«

Sie wiegt den Kopf hin und her. »Nein. Das glaube ich nicht.«

Einen Moment später weicht alle Anspannung einer tiefen Bewusstlosigkeit — sie atmet gleichmäßig und ist eingeschlafen.


Anderson erwacht mit einem Ruck. Dem Kurbelventilator sind die Joule ausgegangen, so dass er jetzt stillsteht. Anderson ist schweißgebadet. Neben ihm wirft sich Emiko stöhnend hin und her; sie ist so heiß wie ein Hochofen. Er wälzt sich von ihr weg und setzt sich auf.

Vom Ozean her zieht eine leichte Brise durch das Apartment und bringt ein wenig Erleichterung. Durch die Moskitonetze hindurch schaut er in die Dunkelheit der Stadt. Nachts werden alle Methanlampen ausgeschaltet. In der Ferne kann er ein schwaches Glimmen ausmachen, dort, wo die schwimmenden Siedlungen von Thonburi liegen, deren Bewohner sich mit ihren Fischfarmen von einer Kreation der Genhacker zur nächsten hangeln, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Jemand ist an der Haustür. Ein hartnäckiges Klopfen.

Emiko reißt die Augen auf. Sie fährt hoch. »Was ist das?«

»Da ist jemand an der Tür.« Er will schon aus dem Bett steigen, doch sie hält ihn so stark fest, dass sich ihm ihre Fingernägel ins Fleisch bohren.

»Nicht aufmachen«, flüstert sie. Ihre blasse Haut schimmert im Mondlicht, und in ihren Augen spiegelt sich nackte Angst. »Bitte.« Die Schläge gegen die Tür werden lauter. Dumpf, beharrlich.

»Warum denn nicht?«

»Ich … «, sie unterbricht sich. »Es sind Weißhemden.«

»Wie bitte?« Andersons Herz setzt für einen Moment aus. »Sind sie dir etwa hierher gefolgt? Warum? Was ist vorgefallen? «

Elendig schüttelt sie den Kopf. Er starrt sie an und fragt sich, was für ein Tier da in sein Leben eingedrungen sein mag. »Was ist gestern Abend wirklich passiert?«

Sie gibt keine Antwort. Behält weiterhin die Tür im Auge, die weiter von Schlägen malträtiert wird. Anderson steigt aus dem Bett und eilt zur Haustür. »Einen Moment!«, ruft er hinaus. »Ich ziehe mir nur schnell etwas an.«

»Anderson!« Die Stimme vor der Tür gehört Carlyle. »Machen Sie auf! Es ist wichtig!«

Anderson wirft Emiko über die Schulter hinweg einen beruhigenden Blick zu. »Keine Weißhemden. Jetzt versteck dich.«

»Nein?« Einen Moment wirkt sie erleichtert. Doch genauso schnell ist dieser Ausdruck auch schon wieder verschwunden. Sie schüttelt den Kopf. »Du irrst dich.«

Anderson starrt sie wütend an. »Hast du dich etwa mit Weißhemden angelegt? Hast du deswegen all diese Verletzungen? «

Wieder schüttelt sie nur stumm den Kopf und rollt sich dann schützend zusammen, wie ein Häufchen Elend.

»Jesus und Noah.« Anderson geht zum Kleiderschrank und zieht ein paar Sachen hervor, die er Emiko zuwirft. Geschenke und zugleich Beweise dafür, wie sehr er von ihr berauscht ist. »Du magst ja bereit sein, das mit uns öffentlich zu machen, aber ich möchte meinen Ruf nicht vollkommen ruinieren. Zieh dich an. Versteck dich im Schrank.«

Wieder schüttelt sie den Kopf. Auch wenn er sich vorkommt, als würde er gegen eine Wand reden, versucht Anderson noch einmal, an ihre Vernunft zu appellieren. Vor ihr kniend, legt er eine Hand unter ihr Kinn und bringt sie dazu, ihn anzuschauen. Er bemüht sich um einen ruhigen Tonfall.

»Es ist einer meiner Geschäftspartner. Das hier hat mit dir nichts zu tun. Aber ich möchte trotzdem, dass du dich so lange versteckst, bis er wieder fort ist. Er soll uns nicht zusammen sehen. Damit hätte er ein Druckmittel gegen mich in der Hand.«

Langsam verliert sich der blinde Ausdruck in Emikos Augen. Auch das fatalistische Flackern in ihrem Blick lässt nach. Carlyle hämmert erneut gegen die Tür. Emikos Blick huscht von der Tür zu Anderson. »Es sind Weißhemden«, haucht sie. »Viele von ihnen. Ich kann sie hören.« Mit einem Mal wirkt sie ganz gefasst. »Da kommen Weißhemden. Sich zu verstecken hilft nicht.«

Anderson unterdrückt den Wunsch, sie anzuschreien. »Das sind nicht die Weißhemden.«

Das hämmernde Klopfgeräusch lässt nicht nach. »Verflucht nochmal, Anderson, jetzt machen Sie endlich auf!«

»Eine Sekunde noch!«, ruft Anderson zurück. Er zieht eine Hose aus dem Schrank und wirft Emiko einen wütenden Blick zu. »Das sind nicht die verdammten Weißhemden. Carlyle würde sich lieber eigenhändig die Kehle durchschneiden, als mit ihnen gemeinsame Sache zu machen.«

Carlyles Stimme dringt durch die Tür. »Gottverdammt, nun machen Sie endlich auf!«

»Komme schon!« Er wendet sich Emiko zu und schlägt einen Befehlston an. »Versteck dich! Sofort.« Der Wechsel von einer Bitte zum Befehl zielt direkt auf ihr genetisches Erbe und auch auf ihre Konditionierung.

Ihr Körper erstarrt, doch dann fährt plötzlich wieder Leben in sie. Ein Nicken. »Ja. Ich werde tun, was du verlangst. «

Sie ist bereits dabei, sich anzuziehen. Ihre abgehackten Bewegungen sind so blitzartig, dass sie vor seinen Augen zu verschwimmen scheinen. Ihre Haut schimmert hell, während sie sich ein Paar weite Hosen und eine Bluse überzieht. Sie ist geradezu bestürzend schnell. Ihre Bewegungen werden fließender, auf seltsame Art anmutig.

»Verstecken hilft nicht«, sagt sie wie zu sich selbst. Dann dreht sie sich um und sprintet in Richtung Balkon.

»Was hast du vor?«

Sie dreht sich zu ihm um und schenkt ihm ein Lächeln, als wollte sie noch etwas sagen, doch stattdessen stürzt sie sich einfach über die Brüstung und verschwindet in der Dunkelheit.

»Emiko!« Anderson rennt auf die Veranda.

Unten ist nichts zu sehen. Keine Menschenseele. Kein Schrei ist zu hören, kein gedämpfter Aufschlag, keine empörten Ausrufe, die ihr Aufklatschen auf der Straße begleiten. Rein gar nichts. Nur Leere. Als hätte die Nacht sie verschluckt. Das Klopfen an der Tür hört nicht auf.

Andersons Herz schlägt ihm dumpf gegen den Brustkorb. Wo ist sie? Wie hat sie das gemacht? Es ist widernatürlich! Am Ende war sie so schnell, so entschlossen. Im einen Moment stand sie noch auf dem Balkon, dann war sie auch schon fort. Anderson späht in die Dunkelheit. Ausgeschlossen, dass sie einen der anderen Balkone erreichen könnte, und doch … Ist sie hinuntergestürzt? Ist sie tot?

Mit einem lauten Krach fliegt die Tür aus den Angeln. Anderson fährt herum. Carlyle stolpert in den Raum.

»Was zum …?«

Carlyle wird von Schwarzen Panthern, die hinter ihm in die Wohnung strömen, beiseitegeschleudert. Das trübe Licht fängt sich in ihren Kampfanzügen. Schattensoldaten. Einer von ihnen packt Anderson, wirbelt ihn herum und stößt ihn gegen die Wand. Er wird durchsucht. Als er Gegenwehr leistet, drischt der Soldat Andersons Gesicht gegen die Wand. Immer mehr Männer ergießen sich in die Wohnung. Türen werden aufgetreten, Holz splittert. Um ihn herum hallt das dumpfe Stampfen schwerer Stiefel wider. Eine Lawine aus Leibern. Glas splittert. Das Geschirr in der Küche geht zu Bruch.

Anderson verrenkt sich den Hals, um etwas erkennen zu können. Doch sofort fährt ihm eine Hand ins Haar und drückt sein Gesicht wieder gegen die Wand. In seinem Mund breitet sich ein heftiger Schmerz aus, er schmeckt Blut. Er hat sich auf die Zunge gebissen. »Was zum Teufel geht hier vor? Wissen Sie, wen Sie vor sich haben?«

Sein Redefluss bricht ab, als Carlyle neben ihm auf den Boden geworfen wird. Jetzt erst bemerkt er, dass der Mann gefesselt ist. Sein Gesicht ist von blauen Flecken übersät. Ein Auge ist komplett zugeschwollen, und rund um die Augenhöhle kleben schwarze Blutkrusten. Auch das braune Haar ist voller Blut.

»Herrgott nochmal.«

Die Einsatzkräfte zerren ihm beide Arme hinter den Rücken und binden sie dort zusammen. Mit einer Hand im Haar reißen sie ihn wieder herum. Ein Soldat schreit ihn an, doch weil der Mann so schnell spricht, kann er ihn nicht verstehen. Er sieht zornig aus, seine Augen sind weit aufgerissenen. Spucke fliegt ihm ins Gesicht. Endlich kann er ein Wort ausmachen: Heechy-Keechy.

»Wo ist das Aufziehmädchen? Wo ist sie? Wo? Wo?«

Die Panther nehmen seine ganze Wohnung auseinander. Gewehrkolben brechen sämtliche Schlösser und Türen auf. Große, schwarze Aufziehdoggen drängen bellend und sabbernd in alle Räume, schnüffeln an allem herum und nehmen unter lautem Jaulen eine Spur auf. Wieder schreit ihm ein Mann ins Gesicht, ein Hauptmann offenbar.

»Was geht hier vor?«, begehrt Anderson erneut auf. »Ich habe Freunde …«

»Nicht besonders viele.«

Akkarat tritt ins Zimmer.

»Akkarat!« Anderson versucht sich ihm zuzuwenden, doch der Panther unterbindet seinen Vorstoß. »Was geht hier vor?«

»Das möchten wir gerne von Ihnen wissen.«

Akkarat wechselt ins Thailändische und ruft den Männern, die Andersons Apartment auf den Kopf stellen, Befehle zu. Anderson schließt die Augen, und in diesem Moment ist er unbeschreiblich dankbar dafür, dass sich das Aufziehmädchen nicht wie von ihm vorgeschlagen im Schrank versteckt hat. Wenn diese Leute sie hier gefunden hätten, gemeinsam mit ihm …

Einer der Panther bringt Andersons Federpistole herbei.

Akkarat verzieht missbilligend das Gesicht. »Haben Sie eine Genehmigung für diese Waffe?«

»Wir sind gerade dabei, eine Revolution in Gang zu setzen, und Sie fragen mich nach Genehmigungen?«

Akkarat nickt seinen Männern zu. Anderson kracht erneut gegen die Wand. Ihm explodiert fast der Schädel vor Schmerz. Der Raum versinkt in Finsternis, und er verliert den Halt. Schwankend hält er sich auf den Beinen. »Worum zum Henker geht es hier überhaupt?«

Akkarat deutet auf die Pistole. Nimmt sie an sich. Schwer und stumpf liegt die große Waffe in seiner Hand; fast beiläufig zieht er sie auf. »Wo ist das Aufziehmädchen?«

Anderson spuckt Blut. »Was interessiert Sie das? Sie sind weder ein Weißhemd noch ein Grahamit.«

Wieder nageln die Panther Anderson an die Wand. Vor seinen Augen tanzen bunte Flecken.

»Woher kommt das Aufziehmädchen?«, fragt Akkarat.

»Sie ist Japanerin. Aus Kyoto, soweit ich weiß!«

Akkarat hält Anderson die Pistole an den Kopf. »Wie haben Sie sie ins Land schaffen können?«

»Wie bitte?«

Akkarat versetzt ihm einen Schlag mit dem Pistolenknauf. Die Welt versinkt in Dunkelheit.

Wasser klatscht ihm ins Gesicht. Anderson hustet und spuckt. Er sitzt auf dem Boden. Akkarat drückt ihm die Federpistole an die Kehle und zwingt ihn so wieder auf die Beine, bis er zitternd auf den Zehenspitzen steht. Der Druck der Pistole an seiner Kehle lässt ihn würgen.

»Wie haben Sie sie ins Land schaffen können?«, wiederholt Akkarat seine Frage.

Andersons Augen brennen vor lauter Blut und Schweiß. Blinzelnd schüttelt er den Kopf. »Ich habe sie nicht hergebracht. « Er spuckt Blut. »Sie wurde von den Japanern ausrangiert. Wie sollte ich wohl auch an einen Aufziehmenschen kommen?«

Akkarat lächelt und spricht mit seinen Männern. »Eine militärische Aufzieheinheit soll von den Japanern ausrangiert worden sein?« Er wiegt den Kopf hin und her. »Wohl kaum.« Er schlägt Anderson mit dem Pistolenlauf gegen die Rippen. Einmal. Ein weiteres Mal. Auf jeder Seite knackt es laut. Anderson jault auf, krümmt sich zusammen und versucht hustend zurückzuweichen. Akkarat zieht ihn wieder hoch. »Was könnte eine militärische Aufzieheinheit in unserer Stadt der Engel verloren haben?«

»Sie gehört nicht zum Militär«, wendet Anderson ein. »Sie ist nur eine Sekretärin … war nicht mehr als eine …«

Akkarat verzieht keine Miene. Er dreht Anderson um und drückt sein Gesicht gegen die Wand, bis Knochen knirschen. Andersons Kiefer fühlt sich an, als sei er gebrochen. Er spürt, wie Akkarat ihm die Finger auseinanderspreizt. Da begreift er, was jetzt kommen wird, und versucht noch, schützend die Hand zu ballen. Doch Akkarats Hände sind stark und zwingen seine Faust wieder auseinander. Anderson wird von einem kribbelnden Gefühl der Hilflosigkeit erfüllt.

Sein Finger verdreht sich unter Akkarats Griff. Bricht.

Andersons Schrei hallt von der Wand wider. Würde Akkarat ihn nicht stützen, wäre er zusammengebrochen.

Als das Zittern und Wimmern nachlässt, packt Akkarat ihn an den Haaren und biegt Andersons Kopf so weit zurück, dass sie einander in die Augen blicken können. Akkarats Stimme ist fest.

»Sie ist eine Kampfmaschine, eine Mörderin, und Sie sind derjenige, der sie dem Somdet Chaopraya vorgestellt hat. Wo ist sie jetzt?«

»Eine Mörderin?« Anderson schüttelt den Kopf, versucht angestrengt nachzudenken. »Aber sie ist ein Nichts! Mishimoto-Ausschussware. Japanischer Schrott …«

»In einer Sache stimme ich mit dem Umweltministerium überein. Euch AgriGen-Bestien kann man einfach nicht trauen. Damit eure Attentäterin an den Beschützer der Königin herankommt, stellt ihr ein Aufziehmädchen als Sexspielzeug vor.« Mit zornig blitzenden Augen beugt er sich zu Anderson vor. »Das kommt einem Anschlag auf das Königshaus gleich.«

»Aber das ist unmöglich!« Anderson unternimmt erst gar nicht den Versuch, die Hysterie in seiner Stimme zu bekämpfen. Der gebrochene Finger pocht vor Schmerz, und wieder sammelt sich Blut in seinem Mund. »Sie ist doch nur Ausschussware. Niemals wäre sie zu so etwas fähig. Sie müssen mir glauben.«

»Sie hat drei Männer und deren Leibwächter auf dem Gewissen. Acht ausgebildete Männer. Dieser Beweis ist unanfechtbar. «

Bilder von Emiko, die blutverschmiert auf seiner Schwelle kauerte, drängen sich in sein Bewusstsein. Acht Männer? Er muss an den Sprung vom Balkon denken, daran, wie geisterhaft sie in die Dunkelheit entschwunden ist. Und wenn es wahr ist?

»Es muss eine andere Erklärung geben. Sie ist doch nur ein verdammtes Aufziehmädchen. Es liegt in ihrer Natur zu gehorchen.«

Emiko auf seinem Bett, zusammengerollt, schluchzend. Der ganze Körper voller Schrammen und Schürfwunden.

Anderson atmet tief durch und versucht, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Ich bitte Sie. Sie müssen mir glauben. Wir würden niemals so viel aufs Spiel setzen. AgriGen nützt es gar nichts, wenn der Somdet Chaopraya stirbt. Niemand profitiert davon. Einzig das Umweltministerium hätte dadurch einen Vorteil gewonnen. Für uns hängt doch alles von einer guten Zusammenarbeit ab.«

»Und doch haben Sie ihn mit seiner Mörderin bekannt gemacht.«

»Aber das ist doch Wahnsinn. Wie sollte irgendjemand eine Kampfmaschine hierherbringen können, ohne dass es auffliegt? Dieses Aufziehmädchen lebt doch schon seit Jahren hier. Da können Sie jeden fragen. Es ist wahr. Ihr Papasan hat die Weißhemden schon ewig geschmiert, um sie auftreten lassen zu können …«

Während er vor sich hinstammelt, begreift er, dass Akkarat mittlerweile wirklich zuhört. Die kalte Wut in seinen Augen ist fort. Er wirkt nachdenklich. Anderson spuckt das Blut aus und blickt Akkarat direkt in die Augen. »Ja, ich habe ihm diese Kreatur vorgestellt. Aber nur, weil es sich bei ihr um etwas sehr Ungewöhnliches handelt. Und sein Ruf ist schließlich hinlänglich bekannt.« Er schreckt zurück, als er sieht, wie Akkarat vor Wut die Gesichtszüge entgleisen. »Bitte hören Sie mich an. Sie können das überprüfen. Wenn Sie Nachforschungen anstellen, werden Sie herausfinden, dass wir nichts mit der Sache zu tun haben. Es muss eine andere Erklärung geben. Wir hatten keine Ahnung …« Erschöpft bricht er ab. »Lassen Sie einfach Nachforschungen anstellen.«

»Das wird nicht möglich sein. Das Umweltministerium wurde mit dem Fall betraut.«

»Wie bitte?« Anderson kann seine Verblüffung nicht verbergen. »Wer hat das angeordnet?«

»Das Aufziehmädchen wurde als invasiv eingestuft. Dadurch wird es automatisch ein Fall für das Umweltministerium. «

»Und Sie denken, ich stecke dahinter? Wenn diese Scheißkerle die Untersuchungen leiten?«

Anderson versucht alle damit verbundenen Verflechtungen zu entwirren, fahndet nach Beweggründen, Entschuldigungen, irgendetwas, durch das er Zeit gewinnen könnte. »Denen ist nicht zu trauen. Pracha und seine Leute …« Er hält inne. »Pracha könnte uns eine Falle gestellt haben. Er würde nicht eine Sekunde zögern. Vielleicht hat er von unseren Plänen Wind bekommen und geht in diesem Moment zum Gegenangriff über. Dieser Fall könnte als Vorwand dienen. Wenn er gewusst hat, dass der Somdet Chaopraya vorhatte, sich gegen ihn zu stellen …«

»Niemand wusste von unseren Plänen.«

»Es ist unmöglich, so etwas geheim zu halten. Jedenfalls in den Sphären, in denen wir uns bewegen. Einer der Generäle könnte seinem alten Freund einen Tipp gegeben haben. Dann hätte er mit einem Schlag drei von uns aus dem Weg geräumt und gleichzeitig erreicht, dass wir uns gegenseitig nicht mehr über den Weg trauen.«

Akkarat denkt nach. Anderson wartete mit angehaltenem Atem.

Dann schüttelt Akkarat den Kopf. »Nein. Pracha würde niemals das Königshaus angreifen. Er mag ein Halunke sein, aber er ist immer noch ein Thai.«

»Aber ich stecke auch nicht dahinter!« Er wirft einen Blick auf Carlyle. »Wir haben nichts damit zu tun! Es muss eine andere Erklärung geben.« Ein panisches Husten schüttelt ihn und wächst sich zu einem unkontrollierbaren Hustenanfall aus. Es dauert lange, bis es nachlässt. Ihm tun die Rippen weh. Während er Blut spuckt, fragt er sich, ob durch die harten Schläge vielleicht einer der Lungenflügel perforiert wurde.

Dann blickt er zu Akkarat auf und versucht, seine Worte sorgsam zu wählen. Von ihnen hängt alles ab. Er muss vernünftig klingen. »Es muss doch einen Weg geben herauszufinden, was wirklich mit dem Somdet Chaopraya geschehen ist. Irgendeine Verbindung. Da muss etwas sein.«

Einer der Panther lehnt sich zu Akkarat vor und flüstert ihm etwas ins Ohr. Anderson glaubt den Mann wiederzuerkennen. Er war damals mit auf dem Prahm. Einer der Männer des Somdet Chaopraya. Ein brutaler Kerl mit Raubtiervisage und leeren Augen. Er flüstert immer noch. Akkarat nickt einmal kurz. »Khap.« Dann bedeutet er seinen Männern, Anderson und Carlyle in den Nebenraum zu schaffen.

»In Ordnung, Khun Anderson. Wir werden sehen, was wir herausfinden können.« Sie stoßen ihn neben Carlyle zu Boden. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, sagt Akkarat. »Ich habe meinen Männern zwölf Stunden Zeit gegeben, um Nachforschungen anzustellen. Beten Sie am besten zu Ihrem grahamitischen Gott, dass Ihre Version der Geschichte sich bestätigt.«

Anderson schöpft Hoffnung. »Versuchen Sie, so viel wie möglich herauszufinden. Sie werden feststellen, dass wir nichts damit zu tun haben. Sie werden schon sehen.« Er saugt an der aufgeplatzten Lippe. »Dieses Aufziehmädchen ist nichts weiter als ein japanisches Spielzeug. Für all das ist irgendjemand anderes verantwortlich. Die Weißhemden versuchen wahrscheinlich, uns gegeneinander aufzuhetzen. Die Chancen stehen zehn zu eins, dass es sich um einen Schachzug der Weißhemden handelt, der uns schaden soll.«

»Wir werden sehen.«

Anderson lässt den Kopf gegen die Wand sinken, doch innerlich ist er von einer nervösen Energie und jeder Menge Adrenalin erfüllt. Ein pochender Schmerz strahlt von seiner Hand aus. Der unbrauchbar gewordene gebrochene Finger baumelt an ihr herab. Zeit. Er hat sich etwas Zeit verschaffen können. Jetzt heißt es abwarten. Und vielleicht einen weiteren seidenen Faden finden, der das Weiterleben sichert. Wieder muss er husten, und der heftige Schmerz in den Rippen lässt ihn zusammenzucken.

Neben ihm entfährt Carlyle ein Stöhnen, doch er ist immer noch bewusstlos. Anderson hustet erneut und fixiert die Wand, während er sich innerlich für einen weiteren Schlagabtausch mit Akkarat rüstet. Doch als er die Angelegenheit aus sämtlichen Perspektiven betrachtet und zu begreifen versucht, wie sich die Umstände so unglaublich schnell verändern konnten, drängt sich ein anderes Bild in sein Bewusstsein. Wie das Aufziehmädchen auf den Balkon zurannte und in die Dunkelheit abtauchte, schneller als alles, was er je zuvor gesehen hat. Eine geisterhafte Verkörperung von Bewegungskraft und wilder Anmut. Schnell und geschmeidig. Und in ihrer Geschwindigkeit geradezu beängstigend schön.

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