Der Tod ist nur eine Etappe. Ein Durchgangsstadium auf dem Weg in ein späteres Leben. Wenn Kanya lange genug über diese Vorstellung meditiert, wird sie irgendwann begreifen, was damit gemeint ist — so hofft sie jedenfalls. Aber das ändert nichts daran, dass Jaidee tot ist, dass sie sich nie wiedersehen werden, und ganz gleich, was Jaidee sich für sein nächstes Leben verdient hat, wie viel Räucherstäbchen Kanya auch anzündet und wie viele Gebete sie auch spricht, Jaidee wird nie wieder Jaidee sein, seine Frau wird nicht zurückkehren, und seine beiden Söhne werden mit der Erfahrung leben müssen, ihre Eltern verloren zu haben.
Leid und Schmerz sind die einzigen Wahrheiten. Für Kinder ist es jedoch besser, eine Weile zu lachen und die Sonnenseiten des Lebens kennenzulernen; und wenn das Bedürfnis, ein Kind zu verhätscheln, die Eltern an das Rad des Daseins fesselt, so sei es. Ein Kind sollte verwöhnt werden. Das sind Kanyas Gedanken, während sie durch die Stadt zum Ministerium und den Baracken radelt, in denen Jaidees Söhne untergebracht sind: Ein Kind sollte verwöhnt werden.
Überall auf den Straßen gehen Weißhemden Streife. Tausende ihrer Kollegen, die die Kronjuwelen des Handelsministeriums abriegeln und nur mit Mühe ihren Zorn beherrschen, den alle im Ministerium empfinden.
Der Sturz des Tigers. Der Tod ihres Vaters. Der lebende Heilige ist gefallen.
Es schmerzt so sehr, als hätten sie Seb Nakhasathien noch ein weiteres Mal verloren. Das Umweltministerium trauert, und die Stadt wird mit ihm trauern. Und wenn alles nach Generals Prachas Plänen verläuft, wird auch das Handelsministerium trauern. Akkarat hat den Bogen überspannt. Sogar Bhirombhakdi sagt, dass für diese Beleidigung jemand bezahlen muss.
Am Tor des Ministeriums zeigt sie ihren Ausweis und radelt weiter, den geklinkerten Weg zwischen Teak- und Bananenbäumen entlang zu den Wohnunterkünften. Jaidees Familie hat schon immer in bescheidenen Verhältnissen gelebt. So bescheiden wie Jaidee selbst. Doch jetzt muss sie sich mit noch weniger zufriedengeben. Ein bitteres Ende für einen großen Mann. Er hätte etwas Besseres verdient als diese vom Schimmel befallenen Betonbaracken.
Kanyas Häuschen ist größer als das, in dem Jaidee wohnte, und sie lebt allein. Sie lehnt ihr Fahrrad gegen eine Wand und starrt zu der Baracke hinüber — eine von einer ganzen Reihe von Gebäuden, die vom Ministerium nicht mehr benutzt werden. Direkt davor steht eine kaputte Schaukel auf einer von Unkraut überwucherten Wiese. Unmittelbar daneben befindet sich ein ungepflegter Takraw-Platz, auf dem die Soldaten manchmal spielen. Um diese Tageszeit liegt es jedoch verlassen da, und in der Hitze hängt das Netz schlaff herab.
Kanya steht vor dem baufälligen Gebäude und schaut den spielenden Kindern zu. Jaidees Söhne sind nicht darunter. Offenbar halten sich Surat und Niwat im Haus auf. Wahrscheinlich treffen sie Vorbereitungen für seine Urne, damit die Mönche ihre Gesänge anstimmen und ihm die Reise in seine nächste Inkarnation glückt. Sie atmet tief durch. Wahrlich, eine unangenehme Aufgabe.
Warum ich, fragt sie sich. Warum ich? Warum bin ich gezwungen, für den Bodhisattva zu arbeiten? Warum ich und kein anderer?
Sie ist sich relativ sicher, dass Jaidee über die Nebeneinnahmen Bescheid wusste, die ihr und den Männern zugutekamen. Aber Jaidee blieb das leuchtende Vorbild: unfehlbar, unangreifbar. Er glaubte an den Wert seiner Arbeit. Nicht wie Kanya. Die zynische Kanya. Die zornige Kanya. Nicht wie die anderen, die sich hatten anwerben lassen, weil man damit gut verdienen konnte und weil hübsche Mädchen Gefallen an weißen Uniformen finden und an einem Mann, der außerdem über die Macht verfügt, ihren Pad-Thai-Stand zuzumachen.
Jaidee kämpfte wie ein Tiger und starb wie ein Dieb. Entmannt, ausgeweidet, den Hunden und Cheshire und Krähen vorgeworfen, bis fast nichts mehr von ihm übrig war. Jaidee, mit seinem eigenen Schwanz im Mund, das Gesicht blutverschmiert — ein Paket, das im Umweltministerium abgegeben wurde. Eine Kriegserklärung. Wenn nur Klarheit darüber bestünde, wer der Feind ist! Alle Gerüchte sprechen vom Handelsministerium, aber nur Kanya kennt die Wahrheit. Sie hat ihr Wissen über Jaidees letzte Mission für sich behalten.
Bei dem Gedanken schießt ihr die Schamesröte ins Gesicht. Langsam steigt sie die Treppe hinauf. Das Herz hämmert ihr in der Brust. Warum konnte dieser verfluchte, ehrenhafte Jaidee das Handelsministerium nicht in Ruhe lassen? War er nicht gewarnt worden? Und nun muss sie seinen Söhnen einen Besuch abstatten. Den tapferen Jungen erklären, dass ihr Vater ein guter Kämpfer war und ein reines Herz hatte. Und jetzt hätte ich gerne seine Ausrüstung. Vielen Dank auch. Schließlich gehört sie dem Ministerium.
Kanya klopft an der Tür. Tritt einen Schritt zurück, um der Familie Zeit zu geben, sich zu fassen. Einer der Jungen — Surat, glaubt sie — öffnet ihr, vollführt einen tiefen Wai und ruft laut in die Wohnung hinein: »Es ist Ältere Schwester Kanya. « Jaidees Schwiegermutter eilt herbei. Kanya verneigt sich ebenfalls, die alte Frau erwidert die Geste und bittet sie herein.
»Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss.«
»Sie stören nicht.« Ihre Augen sind rot. Die beiden Jungen mustern Kanya ernst. Allen ist die Situation unangenehm. Schließlich sagt die alte Frau: »Sie möchten bestimmt seine Sachen haben.«
Kanya ist viel zu verlegen, um zu antworten, aber sie bringt ein Nicken zustande. Die Schwiegermutter führt sie in ein Schlafzimmer. Die allgemeine Unordnung spricht eine deutliche Sprache — die alte Frau trauert. Die Jungen lassen Kanya nicht aus den Augen. Die alte Frau deutet auf einen kleinen Schreibtisch in einer Ecke, auf dem eine Kiste steht. Akten, an denen er gearbeitet hat. »Das ist alles?«, fragt Kanya.
Die alte Frau zuckt mit den Achseln. »Mehr hat er nicht behalten, nachdem das Haus abgebrannt ist. Ich habe nichts angerührt. Er hat das hierhergebracht, bevor er in den Wat ging.«
Kanya versucht ihre Beschämung mit einem Lächeln zu überspielen. »Kha. Ja. Natürlich. Tut mir leid.«
»Warum haben sie ihm das angetan? Hatte er noch nicht genug durchgemacht?«
Kanya zuckt ohnmächtig mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Werden Sie sie finden? Werden Sie Rache an ihnen nehmen? «
Sie zögert. Niwat und Surat mustern sie ernst. Ihre Munterkeit ist völlig verschwunden. Ihnen ist nichts mehr geblieben. Kanya senkt den Kopf und verneigt sich tief. »Ich werde sie finden. Das schwöre ich. Und wenn ich mein ganzes Leben dafür brauche.«
»Müssen Sie seine Sachen mitnehmen?«
Kanya lächelt unsicher. »Das ist so vorgeschrieben. Ich hätte schon früher kommen sollen. Aber …« Sie bringt den Satz nicht zu Ende. »Wir hatten gehofft, dass sich das Blatt noch wendet. Dass er wieder zu uns zurückkehren würde. Wenn irgendwelche persönlichen Dinge darunter sind, bringe ich sie Ihnen natürlich zurück. Aber seine Ausrüstung brauche ich.«
»Natürlich. Sie ist wertvoll.«
Kanya nickt. Sie kniet sich neben die WeatherAll-Kiste. Darin herrscht ein heilloses Durcheinander — Schriftstücke, Umschläge, Dienstliches. Ein Ersatzmagazin für eine Federpistole. Ein Schlagstock. Seine Handschellen. Akten.
Kanya sieht Jaidee vor sich, wie er diese Kiste packt. Chaya hatte er da bereits verloren, und bald würde er alles verlieren. Kein Wunder, dass er damit nicht besonders behutsam umgegangen war. Sie kramt in der Kiste. Findet eine Fotografie von Jaidee aus Kadettentagen: Er steht neben Pracha, und beide wirken sie äußerst jung und selbstbewusst. Nachdenklich nimmt sie das Bild heraus und legt es auf den Tisch.
Sie blickt auf. Die alte Frau hat das Zimmer verlassen, aber Niwat und Surat beobachten sie noch immer, wie ein Krähenpärchen. Sie hält ihnen die Fotografie hin. Niwat greift schließlich danach und zeigt sie seinem Bruder.
Kanya sieht rasch den Rest der Kiste durch. Alles andere scheint dem Ministerium zu gehören. Sie verspürt eine gewisse Erleichterung; also wird sie nicht hierher zurückkehren müssen. Da stößt sie auf eine kleine Teakschatulle. Sie öffnet sie. Medaillen von Jaidees zahlreichen Turniersiegen leuchten ihr entgegen. Schweigend reicht sie sie den Jungen, die sie staunend betrachten, während Kanya die letzten Unterlagen durchgeht.
»Hier ist was drin«, sagt Niwat. Er hält einen Umschlag hoch. »Ist das auch für uns?«
»Lag das bei den Medaillen?« Kanya zuckt mit den Schultern und fährt fort, in der Kiste zu kramen. »Was ist es denn?«
»Bilder.«
Kanya blickt verwirrt auf. »Zeigt mal her.«
Niwat gibt sie ihr. Kanya schaut sie durch. Allem Anschein nach Aufnahmen von Verdächtigen, an denen Jaidee interessiert war. Auf vielen ist Akkarat zu sehen. Farang. Viele Fotos von Farang. Fotos von lächelnden Männern und Frauen, die den Minister umkreisen wie Gespenster, die ihm das Blut aussaugen möchten. Akkarat lächelt nichtsahnend, wirkt, als freue er sich, ihnen Gesellschaft zu leisten. Kanya blättert weiter in den Fotos. Männer, die sie nicht kennt. Farang, bei denen es sich vermutlich um Kaufleute handelt. Ein Fettsack, der sich mit Kalorien aus dem Ausland den Bauch vollgeschlagen hat, vielleicht ein Vertreter von PurCal oder AgriGen, der auf einen Besuch von Koh Angrit herübergekommen ist, um sich einzuschmeicheln — schließlich öffnet das Königreich seine Tore, und das Handelsministerium gewinnt immer mehr an Macht. Und dann dieser Carlyle, der sein Luftschiff verloren hat. Kanya muss lächeln. Das hat bestimmt wehgetan. Sie schiebt das Bild nach hinten … und kann ein lautes Keuchen nicht unterdrücken.
»Was ist?«, fragt Niwat. »Was ist los?«
»Nichts.« Kanya bemüht sich, ruhig zu bleiben. »Alles in Ordnung.«
Es ist ein Foto von ihr selbst: Sie steht auf einem Vergnügungsschiff — neben Akkarat. Die Aufnahme ist verschwommen, aber Kanya ist deutlich zu erkennen.
Jaidee wusste Bescheid.
Kanya starrt das Foto lange an und zwingt sich weiterzuatmen. Ihre Gedanken kreisen um Kamma und Pflicht, während Jaidees Söhne sie mit ernster Miene mustern. Ihr Patron hat das Foto mit keinem Wort erwähnt. Jaidee wusste viel, aber preisgegeben hat er nur wenig. Er hat alles für sich behalten — und teuer dafür bezahlt. Nachdenklich betrachtet sie die Aufnahme. Schließlich zieht sie sie aus dem Stapel und steckt sie ein. Den Rest schiebt sie zurück in den Umschlag.
»War das ein Indiz?«
Kanya nickt ernst. Die Jungen tun es ihr nach. Sie stellen keine weiteren Fragen. Brave Jungs.
Sie durchsucht das ganze Zimmer nach Hinweisen, die sie vielleicht übersehen hat, findet jedoch nichts. Schließlich beugt sie sich vor, um die Kiste hochzuheben. Sie ist schwer, aber noch schwerer lastet das Foto auf ihr, das jetzt in ihrer Brusttasche steckt, wie eine zusammengerollte Kobra.
Draußen an der frischen Luft zwingt sie sich, tief durchzuatmen. Der Gestank der Schande lässt sich, jedoch nicht vertreiben. Sie ist nicht in der Lage, sich umzudrehen und zu den beiden Jungen hinüberzuschauen, die im Hauseingang stehen. Zu den Waisen, die den Preis für die unbeugsame Tapferkeit ihres Vaters entrichten. Sie büßen dafür, weil ihr Vater sich für einen Gegner entschieden hatte, der seiner wert war. Statt Garküchen und Nachtmärkte zu erpressen, suchte er sich einen echten Feind, einen unerbittlichen, unversöhnlichen. Kanya schließt die Augen.
Ich habe versucht, es dir zu sagen. Du hättest nicht gehen sollen. Ich habe es versucht.
Sie spannt die Kiste auf den Gepäckträger ihres Fahrrads und radelt durch das Gelände des Ministeriums. Bis sie das Hauptgebäude der Verwaltung erreicht hat, hat sie sich wieder etwas beruhigt.
General Pracha steht im Schatten eines Bananenbaums und raucht eine Gold Leaf. Zu ihrer Überraschung kann sie ihm nicht in die Augen blicken. Sie nähert sich ihm und verbeugt sich tief.
Der General erwidert Kanyas Begrüßung mit einer knappen Kopfbewegung. »Haben Sie alles?«
Kanya nickt.
»Und haben Sie seine Söhne angetroffen?«
Sie nickt erneut.
Er runzelt wütend die Stirn. »Sie pissen in unser Haus. Lassen seinen Leichnam auf unserer Schwelle zurück. Das dürfte gar nicht möglich sein, und doch fordern sie uns hier heraus, in unserem eigenen Ministerium!« Er drückt die Zigarette aus.
»Sie übernehmen jetzt das Kommando, Hauptmann Kanya. Jaidees Männer unterstehen künftig Ihnen. Es ist Zeit, dass wir so kämpfen, wie Jaidee es wollte. Das Handelsministerium soll bluten, Hauptmann. Wir haben etwas wiedergutzumachen. «