»500, 1000, 5000, 7500 …«
Das Königreich vor allen Infektionen der Natur beschützen zu wollen, gleicht dem Versuch, den Ozean in einem Netz zu fangen. Eine gewisse Anzahl von Fischen mag man erwischen, aber der Ozean ist ewig und strömt durch die Maschen.
»10 000, 12 500, 15 000 … 25 000 …«
Hauptmann Jaidee Rojjanasukchai ist sich dessen mehr als bewusst, wie er da mitten in der schwülheißen Nacht unter dem gewaltigen Rumpf des Luftschiffs der Farang steht. Über ihm drehen sich surrend die Turbopropeller. Die Fracht liegt verstreut auf dem Flugfeld, die Kisten aufgebrochen, der Inhalt über den ganzen Ankerplatz verteilt, als hätte ein Kind mit seinem Spielzeug um sich geworfen. Verschiedenste Kostbarkeiten und verbotene Ware.
»30 000, 35 000 … 50 000 …«
Um ihn herum erstreckt sich der frisch renovierte Flugplatz von Bangkok, der von an Spiegeltürmen montierten Hochleistungs-Methanlampen erleuchtet wird: Auf der riesigen, in grünes Licht getauchten Freifläche reihen sich die Ankerplätze aneinander; darüber schweben die gewaltigen Ballons der Farang. An den Rändern soll der dichte Bestand von HiGro-Bambus und gesponnenem Stacheldraht die internationalen Grenzen markieren.
» 60 000, 70 000, 80 000 …«
Das Königreich Thailand wird verschlungen. Jaidee lässt müßig den Blick über die Verwüstung schweifen, die seine Leute angerichtet haben — es ist nicht zu übersehen. Sie werden vom Ozean verschlungen. Fast jede Kiste enthält etwas Verdächtiges. Wobei die Kisten nur symbolisch für andere, allgegenwärtige Probleme stehen: In Chatuchak werden Chemikalien-Bäder vom grauen Markt verkauft, und im Dunkel der Nacht staken Männer in ihren Booten den Chao Phraya hinauf, den Rumpf voller Ananasfrüchte der nächsten Generation. Unaufhörlich weht Blütenstaub über die Halbinsel und bringt die neusten Genom-Konstrukte von AgriGen und PurCal mit sich, während die Cheshire fast unsichtbar in den Abfällen der Soi wühlen und Jingjok2-Eidechsen die Eier von Nachtschwalben und Pfauen rauben. Elfenbeinkäfer bohren sich durch die Wälder des Khao Yai, während die Pflanzenwelt und die dicht gedrängten Menschenmassen von Krung Thep von Cibiskose-Zuckern, Rostwelke und der fa’ gan-Wucherung durchseucht werden.
Es ist der Ozean, der all dies mit sich bringt. Der Träger allen Lebens.
»90 … 100 000 … 110 … 125 …«
Große Denker wie Premwadee Srisati und Apichat Kunikorn mögen über die besten Schutzmaßnahmen oder über die Vorteile der UV-Sterilisierung als Barriere entlang der Grenzen des Königreichs im Vergleich zur nächsten Präventivmutation der Genhacker diskutieren, doch das sind Jaidees Ansicht nach alles Idealisten. Der Ozean findet immer einen Weg.
»126 … 127 … 128 … 129 …«
Jaidee beugt sich über die Schulter von Leutnant Kanya Chirathivat und schaut ihr dabei zu, wie sie die Bestechungsgelder zählt. Zwei Zollinspektoren stehen steif daneben und warten darauf, dass sie ihre Autorität zurückerhalten.
»130 … 140 … 150 …« Kanyas Stimme ist ein gleichmäßiger Sprechgesang. Ein Loblied auf den Reichtum, auf Schmiergelder, auf neue Geschäfte in einem alten Land. Ihre Stimme ist klar und pedantisch. Sie wird sich niemals verzählen.
Jaidee lächelt. Gegen ein kleines Geschenk, das guten Willen zeigt, ist nie etwas einzuwenden.
Auf dem nächsten Ankerplatz zweihundert Meter entfernt brüllen Megodonten, während sie die Ladung aus dem Bauch eines Luftschiffs schleppen und alles aufhäufen, damit es sortiert und vom Zoll überprüft werden kann. Turbopropeller kreisen, um das gewaltige Luftschiff, das über ihnen steht, im Gleichgewicht zu halten. Der Ballon dreht sich und hat Schlagseite. Sandige Böen und Megodonten-Dung fegen über Jaidees Weißhemden, die in Reih und Glied stehen. Kanya legt eine Hand auf die Baht, die sie zählt. Die übrigen Männer warten ungerührt, die Hände auf den Macheten, während der Wind sie umpeitscht.
Der von den Turbopropellern ausgelöste Windstoß lässt nach. Kanya stimmt wieder ihren Gesang an. »160 … 170 … 180 …«
Die Zollbeamten schwitzen. Selbst in dieser heißen Jahreszeit gibt es keinen Grund, so stark zu schwitzen. Jaidee schwitzt nicht. Aber schließlich ist er auch nicht gezwungen, ein zweites Mal Schutzgelder zu entrichten, die vermutlich schon beim ersten Mal äußerst hoch waren.
Fast tun sie Jaidee leid. Diese armen Männer wissen nicht, welche Behörde gerade das Sagen hat, ob vielleicht Zahlungen umgeleitet worden sind; ob Jaidee vielleicht eine neue Macht repräsentiert oder eine rivalisierende; wissen nicht, was für einen Stellung er innerhalb der Schichten aus Bürokratie und Beziehungen einnimmt, aus denen das Umweltministerium besteht. Also bezahlen sie. Er ist überrascht, dass es ihnen so kurzfristig gelungen ist, das nötige Bargeld aufzutreiben. Ebenso überrascht, wie sie es wohl waren, als seine Weißhemden die Türen des Zollamtes eintraten und den Flugplatz in ihre Gewalt brachten.
»Zweihunderttausend.« Kanya blickt zu ihm hoch. »Alles da.«
Jaidee lächelt breit. »Ich habe Ihnen gesagt, dass sie zahlen würden.«
Kanya erwidert das Lächeln nicht, aber das tut Jaidees Schadenfreude keinen Abbruch. Die Nacht ist angenehm heiß, sie haben eine Menge Geld verdient, und zu allem Überfluss haben sie auch noch Zollbeamte schwitzen sehen. Kanya fällt es stets schwer zu akzeptieren, wenn sie Glück hat. Irgendwann in ihrem jungen Leben ist ihr die Fähigkeit abhandengekommen, sich an etwas zu freuen. Die Hungersnot im Nordosten. Der Tod ihrer Eltern und Geschwister. Die schwere Wanderung nach Krung Thep. Irgendwann in dieser Zeit hat sie den Sinn für Sanuk, die Freude am Leben, verloren. Nicht einmal die Tatsache, dass es ihnen gelungen ist, das Handelsministerium um ein erkleckliches Sümmchen zu erleichtern, oder das Songkran-Fest — beides Gründe für Sanuk mak, große Freude — können sie noch begeistern. Wenn Kanya dem Handelsministerium also 200 000 Baht abknöpft und nicht einmal mit der Wimper zuckt, außer um den Staub der Ankerplätze loszuwerden, wenn sie nicht einmal andeutungsweise lächelt, lässt Jaidee nicht zu, dass das seine Gefühle verletzt. Kanya hat eben nichts für Spaß übrig, das ist ihr Kamma.
Trotzdem, sie tut Jaidee leid. Selbst die Ärmsten lächeln hin und wieder. Kanya dagegen fast nie. Geradezu unnatürlich, das. Sie lächelt nicht, wenn ihr etwas peinlich ist, wenn sie etwas ärgert, wenn sie wütend ist oder sich über etwas freut. Anderen Leuten ist dieser völlige Mangel an gesellschaftlichen Umgangsformen unangenehm, weshalb sie letztlich auch in Jaidees Einheit gelandet ist. Niemand sonst hält es mit ihr aus. Sie beide bilden ein seltsames Paar — Jaidee, der immer etwas findet, über das er lächeln kann, und Kanya, deren Gesicht so ausdruckslos ist, dass es ebenso gut aus Jade geschnitzt sein könnte. Jaidee grinst erneut und lässt seinen Leutnant an seiner guten Laune teilhaben. »Na denn, wir sind hier wohl fertig.«
»Sie haben Ihre Befugnisse überschritten«, murmelt einer der Zollbeamten.
Jaidee zuckt selbstgefällig mit den Achseln. »Das Umweltministerium ist für alles zuständig, was das Königreich gefährden könnte. Das ist der Wille Ihrer Majestät, der Königin.«
Die Augen des Mannes sind ausdruckslos, obwohl er sich zwingt, freundlich zu lächeln. »Sie wissen, was ich meine.«
Jaidee grinst und tut die Feindseligkeit des Beamten mit einer Handbewegung ab. »Jetzt schauen Sie nicht so verzweifelt. Ich hätte das Doppelte verlangen können, und Sie hätten trotzdem bezahlt.«
Kanya packt das Geld ein, während Jaidee mit der Spitze seiner Machete in den Trümmern einer Kiste stochert. »Schauen Sie sich doch all die wichtigen Frachtgüter an, die beschützt werden müssen!« Er dreht ein Bündel Kimonos um. Wahrscheinlich an die Frau eines japanischen Managers adressiert. Und Damenunterwäsche, die mehr wert ist, als er in einem Monat verdient. »Wir wollen doch nicht, dass irgendein schmieriger Beamter in diesen ganzen Sachen wühlt?« Mit einem Grinsen wendet er sich an Kanya. »Möchten Sie davon etwas? Die sind aus echter Seide. Die Japaner haben noch Seidenwürmer, müssen Sie wissen.«
Kanya blickt nicht von den Geldscheinen auf. »Das ist nicht meine Größe. Diese Frauen der japanischen Manager sind alle fett von den Gentech-Kalorien, weil sie mit AgriGen Geschäfte machen.«
»Stehlen würden Sie auch noch?« Das Gesicht des Zollbeamten ist eine Maske aus kaum beherrschtem Zorn und einem Lächeln mit zusammengebissenen Zähnen.
»Offenbar nicht.« Jaidee zuckt mit den Schultern. »Mein Leutnant scheint einen besseren Geschmack zu haben als die Japaner. Ihren Profit werden Sie schon wieder reinholen, da habe ich keine Zweifel. Das alles ist bestimmt nur eine kleine Unannehmlichkeit.«
»Und was ist mit dem Schaden? Wie sollen wir den erklären? « Der andere Zollbeamte deutet auf einen Wandschirm im Stil von Sony, der halb zerfetzt ist.
Jaidee betrachtet das kitschige Machwerk. Darauf ist das Äquivalent einer Samurai-Familie im 21. Jahrhundert zu sehen: ein Manager von Mishimoto Fluid Dynamics, der Aufzieharbeiter auf einem Feld überwacht … Haben die Arbeiter etwa zehn Hände? Jaidee erschauert angesichts dieser bizarren Blasphemie. Die kleine natürliche Familie am Rand des Feldes scheint das alles nicht zu stören. Aber schließlich handelt es sich um Japaner: Die lassen sogar ihre Kinder mit Aufziehaffen spielen.
Jaidee verzieht das Gesicht. »Ihnen wird bestimmt etwas einfallen. Vielleicht sind die Lastenmegodonten in Panik geraten. « Er klopft dem Zollbeamten auf den Rücken. »Warum so niedergeschlagen? Setzen Sie Ihre Fantasie ein! Nehmen Sie es einfach als Möglichkeit, sich verdient zu machen.«
Kanya hat inzwischen das ganze Geld eingepackt. Sie schließt die Stofftasche und hängt sie sich über die Schulter.
»Alles klar«, sagt sie.
Ein Stück weit weg setzt ein neues Luftschiff zur Landung an; die gewaltigen Spannfedern verbrauchen die letzten Joule, um den Rumpf über die Anker zu manövrieren. Von Bleigewichten beschwerte Taue sinken zu Boden. Auf dem Ankerplatz stehen Arbeiter mit erhobenen Händen bereit, um das schwebende Ungeheuer an ihren Megodonten-gespannen festzumachen; sie sehen aus, als würden sie zu einem riesenhaften Gott beten. Jaidee schaut fasziniert zu. »Auf jeden Fall weiß die Wohltätige Vereinigung pensionierter Beamter des königlichen Umweltministeriums Ihre Amtshilfe zu schätzen. Sie haben sich um Sie verdient gemacht, so oder so.« Er hebt seine Machete und wendet sich an seine Männer.
»Khun-Offiziere«, ruft er über das Surren der Propeller und die Schreie der Lastenmegodonten hinweg. »Ich habe eine Aufgabe für euch.« Er deutet mit der Machete auf das Luftschiff, das gerade landet. »Der Erste, der eine Kiste aus dem Laderaum dieses Fluggefährts durchsucht, bekommt von mir zweihunderttausend Baht! Auf, auf! Dort drüben! Aber schnell!«
Die Zollbeamten starren ihn fassungslos an. Sie versuchen zu sprechen, aber das Brüllen der Propeller übertönt ihre Stimmen. Ihre Rufe sind nur zu erahnen: »Mai tum! Mai tum! Mai tawng tum! Nein nein neinneinnein!« Sie fuchteln mit den Armen, aber Jaidee rennt bereits über den Landeplatz, schwingt seine Machete und stürzt sich brüllend auf sein neues Opfer.
Seine Weißhemden folgen ihm, ohne zu zögern, einer nach dem anderen. Sie weichen Kisten und Arbeitern aus, springen über Ankertaue, ducken sich unter dem Bauch von Megodonten hindurch. Seine Männer. Seine treuen Kinder. Seine Söhne. Diese närrischen Idealisten und Anhänger der Königin, die seinem Ruf folgen, die nicht bestechlich sind, die die ganze Ehre des Umweltministeriums in ihrem Herzen bewahren.
»Dort drüben! Dort drüben!«
Blassen Tigern gleich eilen sie über das Flugfeld und lassen die Kadaver japanischer Frachtcontainer hinter sich zurück wie Trümmer nach einem Taifun. Die Stimmen der Zollbeamten werden immer leiser. Jaidee hat sie längst vergessen — er verliert sich in dem großartigen Gefühl, seine Beinmuskeln zu spüren, auf der Jagd zu sein, eine eindeutige, ehrenhafte Aufgabe zu haben. Immer schneller rennt er, seine Männer dicht hinter sich. Im Adrenalinrausch spurten sie über den Platz; sie sind nun Krieger und sonst nichts. Die Macheten und Äxte hoch erhoben, stürmen sie auf die riesige Maschine zu, die da gerade landet, sich über ihnen erhebt wie der dreitausend Meter große Dämonenkönig Tosacan, und langsam herabsinkt. Der Größte aller Megodonten, und auf seinem Rumpf prangen Farang-Schriftzeichen, die Worte CARLYLE & SONS.
Jaidee ist sich nicht bewusst, dass er einen Freudenschrei ausgestoßen hat. Carlyle & Sons! Dieser nervtötende Farang, der so beiläufig darüber spricht, das System der Schadstoffguthaben zu ändern, die Quarantäneinspektionen abzuschaffen und alles wegzurationalisieren, was das Königreich am Leben erhalten hat, während andere Länder einen Kollaps erlitten — der Ausländer, der sich unablässig bei Handelsminister Akkarat einschmeichelt und beim Somdet Chaopraya, dem Beschützer der Krone. Das ist wahrhaftig ein guter Fang! Jaidee wird eins mit der Jagd. Er greift nach den Landetauen, während seine Männer an ihm vorbeidrängen; jünger und schneller und loyal bis zum Fanatismus, halten sie begierig auf die Beute zu.
Aber dieses Luftschiff ist klüger als das davor.
Als der Pilot sieht, wie die Weißhemden unter ihm über den Landeplatz schwärmen, richtet er die Turbopropeller neu aus. Jaidee wird von dem Luftstoß fast umgerissen. Die Propeller heulen auf, während der Pilot viele Gigajoule auf den Versuch verschwendet, wieder abzuheben. Die Landetaue des Luftschiffes peitschen einwärts, wickeln sich auf Kurbelspindeln auf wie ein Krake, der seine Tentakel einzieht. Die Turbopropeller gehen auf volle Leistung und werfen Jaidee zu Boden.
Das Luftschiff gewinnt an Höhe.
Jaidee stemmt sich hoch, kneift im heißen Wind die Augen zusammen und blickt dem Luftschiff nach, das in der nächtlichen Finsternis immer kleiner wird. Er fragt sich, ob das Ungeheuer vom Kontrollturm oder von der Zollbehörde gewarnt wurde. Vielleicht war aber auch der Pilot schlau genug, um zu begreifen, dass eine Inspektion durch die Weißhemden seinen Herren nichts Gutes einbringen würde.
Jaidee verzieht das Gesicht. Richard Carlyle. Entschieden zu klug, der Kerl. Ständig konferiert er mit Akkarat, ständig zeigt er sich bei öffentlichen Benefizveranstaltungen für die Opfer von Cibiskose, wirft mit Geld nur so um sich und redet stets über die Vorteile des Freihandels. Er ist nur einer von einem Dutzend Farang, die wie Quallen nach einer Bitterwasserepidemie an die Küsten zurückkehren, aber Carlyle ist der Lauteste von allen. Derjenige, dessen Lächeln Jaidee am meisten auf die Palme bringt.
Jaidee erhebt sich und klopft sich seine weiße Hanfuniform ab. Es spielt keine Rolle. Das Luftschiff wird zurückkehren. Wie der Ozean, der über den Strand brandet, ist es unmöglich, die Farang fernzuhalten. Land und Meer müssen zusammenlaufen. Diese Männer, in deren Herzen sich der Profit eingenistet hat, haben keine andere Wahl, sie müssen vorschnell handeln, komme, was da wolle, und er wird immer bereit sein, sie zu empfangen.
Kamma.
Langsamen Schrittes kehrt Jaidee zu dem verstreuten Inhalt der inspizierten Frachtkisten zurück. Er wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht, und sein Atem geht schwer. Mit einer Handbewegung bedeutet er seinen Männern, mit ihrer Arbeit fortzufahren. »Dort! Brecht die dort drüben ebenfalls auf! Ich möchte, dass jede einzelne Kiste untersucht wird.«
Die Zollbeamten warten auf ihn. Er stochert mit der Spitze seiner Machete in den Trümmern einer Kiste herum, während die beiden Männer näherkommen. Sie sind wie Hunde. Man wird sie erst dann los, wenn man sie gefüttert hat. Einer von ihnen versucht Jaidee daran zu hindern, mit seiner Machete eine weitere Kiste zu spalten.
»Wir haben bezahlt! Wir werden eine Beschwerde einreichen. Es wird Untersuchungen geben. Wir befinden uns auf internationalem Boden!«
Jaidee verzieht das Gesicht. »Warum sind Sie überhaupt noch hier?«
»Wir haben einen angemessenen Preis für Ihren Schutz bezahlt!«
»Mehr als angemessen.« Jaidee drängt sich an den beiden Männern vorbei. »Aber ich bin nicht hier, um mich über diese Dinge zu streiten. Es ist Ihr Damma, sich zu beschweren. Und es ist das meine, unsere Grenzen zu beschützen, und wenn das bedeutet, dass ich Ihren ›internationalen Boden‹ betreten muss, um unser Land zu retten, dann soll es so sein.« Er schwingt seine Machete, und eine weitere Kiste platzt auf. WeatherAll-Holz zerbirst.
»Sie haben den Bogen überspannt!«
»Gut möglich. Aber da werden Sie wohl jemanden vom Handelsministerium schicken müssen, um mir das zu sagen. Jemanden, der mehr Macht hat als Sie.« Nachdenklich lässt er seine Machete kreisen. »Oder möchten Sie das jetzt mit mir und meinen Männern ausdiskutieren?«
Die beiden zucken zusammen. Jaidee glaubt, ein Lächeln auf Kanyas Lippen bemerkt zu haben. Überrascht blickt er zu ihr hinüber, aber die Miene seines Leutnants ist wieder völlig ausdruckslos. Es ist schön zu sehen, wie ihre Zähne aufblitzen. Jaidee fragt sich, ob es vielleicht noch etwas gibt, womit er seiner mürrischen Untergebenen ein Lächeln entlocken kann.
Leider haben es sich die Zollbeamten noch einmal anders überlegt; sie weichen vor seiner Machete zurück.
»Glauben Sie nicht, dass Sie uns beleidigen können, ohne dass das Folgen hat.«
»Natürlich nicht.« Jaidee hackt wieder auf die Frachtkiste ein, und sie geht endgültig in die Brüche. »Aber so oder so weiß ich Ihre Geldspende sehr zu schätzen.« Er mustert sie eingehend. »Wenn Sie Ihre Beschwerde einreichen, dann vergessen Sie nicht, dass ich, Jaidee Rojjanasukchai, all das getan habe.« Erneut grinst er. »Und vergessen Sie nicht zu erwähnen, dass Sie wirklich und wahrhaftig versucht haben, den Tiger von Bangkok zu bestechen.«
Seine Männer lachen laut über diesen Witz. Der Boden ist mit den Splittern der Balsaholzkisten bedeckt. Sie sind leicht und stabil konstruiert, und das Bretterwerk ist gut dafür geeignet, Frachtgüter zu transportieren — solange niemand mit einer Machete darauf losgeht.
Die Arbeit geht schnell vonstatten. Waren werden aus Kisten gerissen und in ordentlichen Reihen ausgelegt. Die Zollbeamten weichen den Weißhemden nicht von der Seite und notieren sich ihre Namen, bis Jaidees Männer schließlich mit erhobenen Macheten auf sie losgehen. Daraufhin ziehen die Beamten sich zurück und beobachten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Jaidee muss an Tiere denken, die sich um einen Kadaver streiten. Seine Männer fallen über die Abfälle fremder Länder her, während die Aasfresser immer wieder Vorstöße unternehmen — die Raben und Cheshire und Hunde warten alle auf ihre Gelegenheit, sich auf das zu stürzen, was übrig bleibt. Die Vorstellung bedrückt ihn.
Die Zollbeamten lassen sie nicht aus den Augen.
Jaidee inspiziert die aufgereihten Güter. Kanya bleibt ihm dicht auf den Fersen. Jaidee fragt: »Was haben wir denn da, Leutnant?«
»Agarlösungen. Nährstofflösungen. Irgendwelche Aufzuchttanks. PurCal-Zimt. Papayasamen, die bei uns nicht zugelassen sind. Eine Neuauflage von U-Tex, die wahrscheinlich jede Reissorte sterilisiert, mit der sie in Berührung kommt.« Sie zuckt mit den Achseln. »In etwa das, was wir erwartet haben.«
Jaidee klappt den Deckel einer Frachtkiste auf und schaut hinein. Überprüft die Adresse. Eine Firma im Gewerbeviertel der Farang. Er versucht, die Bedeutung der fremden Schriftzeichen zu ergründen, gibt dann aber auf. Das Logo sieht er, wenn er sich nicht täuscht, heute zum ersten Mal. Er betastet den Inhalt der Kiste — Säcke von etwas, das wie Proteinpulver aussieht. »Also nichts Großartiges. Keine neue Spielart von Rostwelke, die uns aus AgriGen- oder PurCal-Kisten entgegenspringt.«
»Nein.«
»Schade, dass wir das letzte Flugschiff nicht erwischt haben. Die haben wirklich schnell die Flucht ergriffen. Die Fracht von Khun Carlyle hätte ich wirklich gerne unter die Lupe genommen.«
Kanya zuckt mit den Achseln. »Die kommen wieder.«
»Das tun sie immer.«
»Wie Hunde zu einem Kadaver«, sagt sie.
Jaidee folgt Kanyas Blick zu den Zollbeamten, die weiterhin ihren Sicherheitsabstand wahren. Es macht ihn traurig, dass ihre Weltsicht so sehr der seinen gleicht. Ob er Kanya wohl beeinflusst? Oder sie ihn? Früher hat ihm seine Arbeit viel mehr Spaß gemacht. Allerdings waren seine Aufgaben da auch eindeutiger definiert. Er ist es nicht gewohnt, sich durch die graue Zwischenwelt zu pirschen, in der Kanya zu Hause ist. Aber ganz lässt er sich die Freude an seiner Arbeit nicht nehmen.
Einer seiner Männer reißt ihn aus seinen Gedanken. Somchai kommt herbeigeschlendert, fährt beiläufig mit der Machete durch die Luft. Ein tüchtiger Bursche, genauso alt wie Jaidee, aber ohne jegliche Illusionen, nachdem er miterleben musste, wie die Rostwelke das dritte Mal in einer einzigen Anbausaison den Norden heimsuchte. Ein guter Mann, und loyal. Und clever.
»Wir werden beobachtet«, murmelt Somchai, als er sich ihnen nähert.
»Von wem?«
Somchai bewegt kaum merklich den Kopf. Jaidee lässt den Blick über das Gewimmel auf dem Flugfeld schweifen. Neben ihm erstarrt Kanya.
Somchai nickt. »Sehen Sie ihn?«
»Kha.« Sie nickt zustimmend.
Schließlich bemerkt auch Jaidee den Mann, der ein gutes Stück weit entfernt steht und die Weißhemden ebenso wie die Zollbeamten beobachtet. Als wäre er ein Arbeiter, trägt er einen einfachen orangenen Sarong und ein violettes Leinenhemd, aber er rührt keinen Finger. Und wirkt wohlgenährt. Keine Rippen, die sich unter dem Hemd abzeichnen, und keine eingefallenen Wangen wie bei den meisten Arbeitern. Er lehnt lässig an einem Ankerhaken und schaut sich um. »Vom Handelsministerium?«, fragt Jaidee.
»Oder von der Armee?«, vermutet Kanya. »Er wirkt sehr selbstbewusst.«
Als würde er Jaidees Blick auf sich spüren, dreht sich der Mann um und schaut ihm in die Augen.
»Mist.« Somchai runzelt die Stirn. »Er hat uns gesehen.« Er und Kanya machen nun ebenfalls keine Anstalten mehr, ihre Neugierde zu verbergen. Der Fremde ist völlig unbeeindruckt.
Er spuckt einen roten Schwall zerkauter Betelnüsse aus, dreht sich um und schlendert davon. Schließlich verschwindet er in dem geschäftigen Treiben der Arbeiter.
»Soll ich ihm folgen?«, fragt Somchai. »Ihn zur Rede stellen? «
Jaidee reckt den Hals und versucht, noch einen Blick auf den Mann zu erhaschen. »Kanya, was meinst du?«
Sie zögert. »Haben wir heute nicht genug Kobras gereizt?«
Jaidee lächelt andeutungsweise. »Die Stimme der Vernunft und der Zurückhaltung hat gesprochen.«
Somchai nickt zustimmend. »Die im Handelsministerium werden sowieso schon sauer auf uns sein.«
»Das wollen wir doch hoffen.« Jaidee gibt Somchai mit einer Handbewegung zu verstehen, er möge sich wieder den Kisten zuwenden. Während sie ihm nachblicken, sagt Kanya: »Vielleicht haben wir den Bogen dieses Mal tatsächlich überspannt.«
»Sie meinen, ich habe ihn überspannt.« Jaidee grinst. »Verlieren Sie den Mut?«
»Nicht den Mut.« Ihr Blick schweift zu dem Luftschiff, hinter dem der Fremde verschwunden ist. »Es gibt größere Fische als uns, Khun Jaidee. Die Ankerplätze …« Kanya spricht den Satz nicht zu Ende. Schließlich sagt sie, nachdem sie sichtlich um die richtigen Worte gerungen hat: »Wir haben sie auch ganz schön provoziert.«
»Sind Sie sicher, dass Sie keine Angst haben?«
»Nein!« Sie stockt, beherrscht sich wieder.
Im Stillen bewundert Jaidee sie dafür, dass sie in der Lage ist, so kaltherzig zu sein. Er selbst war nie so vorsichtig mit dem, was er sagte oder tat. Immer stürzt er sich wie ein Megodont in den Kampf und kümmert sich erst im Nachhinein darum, den niedergetrampelten Reis wieder aufzurichten. Nicht so sehr Jai yen, sondern eher Jai rawn. Ein heißes Herz und kein kaltes. Kanya dagegen …
Schließlich sagt sie: »Vielleicht war das nicht der beste Ort, um zuzuschlagen.«
»Seien Sie nicht so pessimistisch! Einen besseren Ort als die Ankerplätze gibt es nicht. Die beiden Rüsselkäfer da drüben haben 200 000 Baht ausgespuckt, ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. So viel Geld zahlt man nur, wenn man etwas zu verbergen hat.« Jaidee grinst breit. »Ich hätte schon viel früher hierherkommen und diesen Heeya eine Lektion erteilen sollen. Das ist besser, als den Fluss in einem Spannfederboot abzusuchen und Kinder zu verhaften, weil sie Saatgut mit gefleddertem Genom schmuggeln. Das ist wenigstens ehrliche Arbeit.«
»Aber das Handelsministerium wird sich bestimmt in die Sache einschalten. Von Gesetzes wegen ist das hier ihr Revier. «
»Wenn die Gesetze vernünftig wären, dürfte nichts von alldem importiert werden.« Jaidee macht eine wegwerfende Handbewegung. »Gesetze sind verwirrende Dokumente. Sie stehen nur der Gerechtigkeit im Weg.«
»Die Gerechtigkeit bleibt immer auf der Strecke, wenn das Handelsministerium sich einmischt.«
»Das wissen wir beide nur zu gut. So oder so, es ist mein Kopf, den ich hier riskiere. Niemand wird Sie belangen. Sie hätten mich nicht aufhalten können, selbst wenn Sie gewusst hätten, wohin wir heute unterwegs waren.«
»Ich hätte nie … «, entgegnet Kanya.
»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Es ist an der Zeit, dass jemand dem Handelsministerium und seinem Lieblings-Farang die Grenzen aufzeigt. Wer so selbstzufrieden ist, muss daran erinnert werden, dass er dem Geist unserer Gesetze hin und wieder Khrab schuldet.« Jaidee hält inne und betrachtet noch einmal die Trümmer der Kisten. »Sonst steht wirklich nichts auf der schwarzen Liste?«
Kanya zuckt mit den Achseln. »Nur der Reis. Alles andere ist harmlos, auf dem Papier jedenfalls. Keine Zuchtexemplare. Keine Genom-Suspensionen.«
»Aber?«
»Mit vielen von diesen Dingen wird man üble Dinge anstellen. Nährstofflösungen dienen bestimmt keinem guten Zweck.« Kanya stellt wieder ihre ausdruckslose Miene zur Schau. »Sollen wir alles wieder einpacken?«
Jaidee verzieht das Gesicht, zögert einen Moment und schüttelt dann den Kopf. »Nein. Verbrennen Sie es.«
»Wie bitte?«
»Verbrennen Sie alles. Wir wissen beide, was hier los ist. Geben wir den Farang etwas, das sie bei ihren Versicherungen geltend machen können. Die sollen ruhig merken, dass sie nicht machen können, was sie wollen.« Jaidee grinst. »Verbrennen Sie alles. Jede einzelne Kiste.«
Als die Frachtkisten in Flammen aufgehen, als sich das WeatherAll-Öl entzündet und Funken himmelwärts schickt wie Gebete, erlebt Jaidee zum heute zweiten Mal voller Genugtuung, wie Kanya lächelt.
Bis Jaidee nach Hause kommt, ist es fast schon Morgen. Das Ji Ji Ji der Jingjok-Eidechsen bildet einen Kontrapunkt zum Gesang der Zikaden und dem hohen Surren der Moskitos. Er zieht die Schuhe aus und steigt die Treppe hinauf. Unter seinen Füßen knarrt Teak, während er sich in sein Stelzenhaus hineinschleicht, und er spürt das glatte Holz unter seinen Fußsohlen, weich und auf Hochglanz poliert.
Er öffnet die Fliegengittertür und schlüpft hinein, wobei er die Tür rasch hinter sich schließt. Der Khlong ist nur wenige Meter entfernt, und das Wasser ist brackig. Moskitoschwärme überall.
Drinnen brennt eine einzige Kerze und wirft ihr Licht auf Chaya, die auf dicken Schlafmatten liegt, schläft und wartet. Er lächelt zärtlich und schlüpft ins Badezimmer, um sich rasch auszuziehen und sich Wasser über die Schultern zu gießen. Er bemüht sich, leise zu sein und sich zu beeilen, aber das Wasser spritzt dumpf auf das Holz. Er schöpft noch einmal und gießt es sich über den Rücken. Selbst mitten in der Nacht ist es so warm, dass ihm das Wasser nicht zu kühl vorkommt. Während der heißen Jahreszeit ist alles eine Erleichterung.
Als er, einen Sarong um die Taille geschlungen, aus dem Bad kommt, ist Chaya wach und blickt mit nachdenklichen braunen Augen zu ihm auf. »Du bist spät dran«, sagt sie. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Jaidee grinst. »Du weißt doch, dass das nicht nötig ist. Ich bin ein Tiger.« Er schmiegt sich an sie und küsst sie sanft.
Chaya verzieht das Gesicht und schiebt ihn weg. »Glaub bloß nicht alles, was in der Zeitung steht. Ein Tiger.« Sie schneidet eine Grimasse. »Du riechst nach Rauch.«
»Ich habe gerade gebadet.«
»Er hängt in deinen Haaren.«
Er lässt sich auf die Fersen zurückfedern. »Es war eine äußerst erfolgreiche Nacht.«
Sie lächelt, und ihre weißen Zähne blitzen in der Dunkelheit; ihre Mahagonihaut glänzt matt. »Hast du eine Lanze für unsere Königin gebrochen?«
»Ja, und damit habe ich dem Handelsministerium einen gehörigen Schlag versetzt.«
Sie zuckt zusammen. »Ah.«
Er berührt sie am Arm. »Früher hast du dich immer gefreut, wenn ich wichtige Leute wütend gemacht habe.«
Sie rückt von ihm weg, steht auf und zieht ihre Kissen gerade. Ihre Bewegungen sind hastig, gereizt. »Das war früher. Jetzt mache ich mir immer Sorgen um dich.«
»Dafür gibt es keinen Grund.« Jaidee weicht zur Seite, während sie den Schlafplatz zurechtmacht. »Warum hast du überhaupt auf mich gewartet? Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich schlafen gehen und etwas Schönes träumen. Keiner versucht mehr, mich zu kontrollieren — ich bin einfach ein fester Posten in den Ausgaben geworden. Ich bin beim Volk zu beliebt, deshalb sind ihnen die Hände gebunden. Sie schicken mir Spione auf den Hals, die mich beobachten, aber sie legen mir keine Steine mehr in den Weg.«
»Ein Volksheld und ein Dorn im Auge des Handelsministeriums. Mir wäre es lieber, wir wären mit Handelsminister Akkarat befreundet und das Volk würde uns hassen. Dann wären wir sicherer.«
»Als wir geheiratet haben, warst du anderer Meinung. Dir hat es gefallen, dass ich ein Kämpfer war. Dass ich im Lumphini-Stadion so oft gewonnen habe. Weißt du noch?«
Sie antwortet ihm nicht. Stattdessen fängt sie wieder an, die Kissen neu zu ordnen, und hält ihm weiterhin den Rücken zugedreht. Jaidee seufzt, legt ihr eine Hand auf die Schulter und zieht sie zu sich hoch, so dass er ihr in die Augen schauen kann. »Und überhaupt, warum bringst du das jetzt zur Sprache? Bin ich nicht hier? Geht es mir nicht gut?«
»Als sie dich angeschossen haben, ging es dir nicht so gut.«
»Das ist doch Schnee von gestern.«
»Nur weil sie dich hinter einen Schreibtisch gesetzt haben und General Pracha Entschädigungen gezahlt hat.« Sie hebt die Hand und zeigt ihm ihren fehlenden Finger. »Erzähl mir nicht, dass dir keine Gefahr droht. Ich war dabei. Ich weiß, wozu sie fähig sind.«
Jaidee verzieht das Gesicht. »Sicher sind wir so oder so nicht. Wenn es nicht das Handelsministerium ist, dann die Rostwelke oder Cibiskose oder irgendetwas anderes, etwas Schlimmeres. Wir leben nicht mehr in einer vollkommenen Welt. Die Expansion ist vorbei.«
Sie öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, schließt ihn dann aber wieder und dreht sich weg. Jaidee wartet, bis sie ihre Selbstbeherrschung zurückerlangt. Als sie sich ihm erneut zuwendet, hat sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. »Nein. Du hast Recht. Niemand von uns ist sicher. Ich wünschte, es wäre anders.«
»Ebenso gut kannst du zum Ta-Prachan-Markt rennen und ein Amulett kaufen — wünschen hat noch nie etwas geholfen.«
»Das habe ich getan. Eins mit Phra Seub darauf. Aber du trägst es ja nie.«
»Weil ich nicht abergläubisch bin. Was auch immer mir widerfährt, ist Kamma. Ein magisches Amulett wird daran nichts ändern.«
»Aber es schadet doch nichts.« Sie hält inne. »Mir ginge es besser, wenn du es tragen würdest.«
Jaidee lächelt und will gerade einen Witz darüber machen, aber als er ihren Gesichtsausdruck sieht, überlegt er es sich anders. »Na gut. Wenn es dich glücklich macht. Dann trage ich eben deinen Phra Seub.«
Aus den Schlafräumen hallt ein rasselnder Husten herüber. Jaidee erstarrt. Chaya beißt sich auf die Lippen und wirft einen Blick über die Schulter. »Das ist Surat.«
»Bist du mit ihm zu Ratana gegangen?«
»Es ist nicht ihre Aufgabe, kranke Kinder zu untersuchen. Sie hat auch so schon Arbeit genug. Echte Gentech-Schweinereien, um die sie sich sorgen muss.«
»Warst du dort oder nicht?«
Chaya seufzt. »Sie sagt, es sei kein Upgrade. Nichts, worum wir uns Sorgen machen müssten.«
Jaidee bemüht sich, seine Erleichterung zu verbergen. »Gut.« Wieder hören sie das Husten. Es erinnert ihn an Num, die tot und begraben ist. Er schiebt die Trauer beiseite.
Chaya berührt ihn am Kinn, damit er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwendet. Lächelt ihn an. »Also, wie kommt es, dass du nach Rauch riechst, edler Krieger, Verteidiger von Krung Thep? Warum bist du so selbstzufrieden?«
Jaidee lächelt leicht. »Das kannst du morgen in den Flüsterblättern lesen.«
Sie schürzt die Lippen. »Ich mache mir Sorgen um dich. Wirklich.«
»Du hast eben ein zu gutes Herz. Aber dazu gibt es keinen Grund. Die trauen sich nicht mehr, mit harten Bandagen gegen mich vorzugehen. Das letzte Mal sahen sie ganz schlecht aus dabei. Den Zeitungen und Flüsterblättern gefiel die Geschichte viel zu sehr. Und unsere hoch verehrte Königin hat bekundet, dass sie meine Arbeit gutheißt. Die werden sich schon von mir fernhalten. Wenigstens respektieren sie noch Ihre Majestät, die Königin.«
»Du hattest Glück, dass es ihr überhaupt gestattet war, davon zu erfahren.«
»Selbst der Beschützer der Krone, dieser Heeya, kann nicht alles vor ihr verbergen.«
Bei diesen Worten erstarrt Chaya. »Jaidee, bitte. Nicht so laut. Der Somdet Chaopraya hat zu viele Ohren.«
Jaidee zieht eine Grimasse. »Siehst du? So weit ist es schon gekommen. Ein Beschützer der Krone, der seine Zeit damit zubringt, sich Gedanken darüber zu machen, wie er in die inneren Gemächer des Großen Palastes eindringen kann. Ein Handelsminister, der mit den Farang konspiriert, um unsere Wirtschaft zugrunde zu richten und unsere Quarantänegesetze zu umgehen. Und wir bemühen uns, nicht zu laut zu sprechen!«
Er hält einen Moment inne. »Ich bin froh, dass ich den Ankerplätzen heute einen Besuch abgestattet habe. Du hättest sehen sollen, wie viel Geld diese Zollbeamten scheffeln. Dabei stehen sie nur tatenlos herum und lassen alles und jeden passieren. Die nächste Cibiskose-Mutation hätte in Ampullen direkt vor ihrer Nase stehen können, und sie hätten nur die Hand aufgehalten, um abzukassieren. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir wieder in den Tagen des alten Ayutthaya leben.«
»Sei nicht melodramatisch.«
»Die Geschichte wiederholt sich. Zum Schutz von Ayutthaya hat auch niemand das Schwert erhoben.«
»Und was heißt das? Dass du ein Wiedergeborener aus Bang Rajan bist? Der sich der Flut der Farang entgegenwirft? Und bis zum letzten Mann kämpft? Etwas in der Art?«
»Wenigstens haben sie gekämpft! Wer ist dir lieber? Die Bauern, die sich monatelang gegen die birmanische Armee behauptet haben, oder die Minister des Königreichs, die weggerannt sind und zugelassen haben, dass die Hauptstadt eingenommen wird?« Er beißt die Zähne zusammen. »Wenn ich klug wäre, würde ich den Ankerplätzen jeden Abend einen Besuch abstatten und Akkarat und den Farang eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht wieder vergessen. Es muss doch noch jemanden geben, der bereit ist, für Krung Thep zu kämpfen!«
Eigentlich hätte er erwartet, dass Chaya ihm widerspricht, um seine heißblütigen Worte etwas abzukühlen, doch sie schweigt. Schließlich fragt sie: »Glaubst du, dass wir immer hier wiedergeboren werden, an diesem Ort? Müssen wir zurückkehren und alles noch einmal durchmachen, komme, was da wolle?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Jaidee. »Diese Frage hätte von Kanya stammen können.«
»Das ist vielleicht ein mürrisches Geschöpf! Ich sollte ihr auch ein Amulett besorgen. Damit sie wenigstens hin und wieder lächelt.«
»Sie ist ein wenig seltsam.«
»Ich dachte, Ratana wollte ihr einen Antrag machen?«
Kanya und die hübsche Ratana mit ihrer Atemmaske und ihrem Leben in den unterirdischen Hochsicherheitslaboren des Ministeriums — Jaidee kann sich das nur schwer vorstellen. »Ich schnüffle nicht in ihrem Privatleben herum.«
»Sie würde öfter lächeln, wenn sie einen Mann hätte.«
»Wenn jemand wie Ratana sie nicht glücklich machen kann, dann hat kein Mann auch nur die geringste Chance.« Jaidee grinst. »Und wenn sie einen Mann hätte, wäre der die ganze Zeit eifersüchtig auf die Männer, die sie in meiner Einheit befehligt. All die gut aussehenden Kerle …« Er beugt sich vor, um Chaya zu küssen, aber sie weicht ihm aus.
»Igitt. Du riechst auch noch nach Whisky.«
»Whisky und Rauch. Wie ein echter Mann eben.«
»Geh ins Bett. Du weckst noch Niwat und Surat. Und Mutter.«
Jaidee zieht sie zu sich heran und legt ihr die Lippen ans Ohr. »Sie hätte bestimmt nichts gegen ein weiteres Enkelkind. «
Chaya schiebt ihn lachend von sich weg. »Wenn du sie weckst, wahrscheinlich schon.«
Er streicht ihr über die Hüfte. »Ich werde ganz leise sein.«
Sie schlägt seine Hand beiseite, aber gibt sich nicht besonders viel Mühe. Er hält ihre Hand fest. Ertastet den Stumpf, wo ihr ein Finger fehlt, liebkost ihre Knöchel. Plötzlich sind sie beide wieder ernst. Sie holt tief Luft und schluckt. »Wir haben so viel verloren. Ich könnte es nicht ertragen, auch noch dich zu verlieren.«
»Das wirst du auch nicht. Ich bin ein Tiger. Kein Narr.«
Sie drückt ihn an sich. »Das hoffe ich. Wirklich.« Er spürt ihre Wärme und ihren gleichmäßigen Atem, ihre Sorge um ihn. Dann richtet sie sich wieder auf und sieht ihn ernst an, ihre dunklen Augen voller Liebe.
»Ich weiß, was ich tue«, sagt er.
Sie nickt, ohne ihm jedoch wirklich zuzuhören. Stattdessen mustert sie ihn, seine Augenbrauen, sein Lächeln, seine Narben. Der Augenblick scheint sich ewig hinzuziehen, und fast hat er den Eindruck, dass sie versucht, sich seine Gesichtszüge einzuprägen. Schließlich nickt sie, als würde sie auf etwas lauschen, das sie sich selbst einredet, und ihre sorgenvolle Miene lichtet sich. Sie lächelt und zieht ihn zu sich heran, drückt ihm die Lippen ans Ohr. »Du bist ein Tiger«, flüstert sie, als wäre sie eine Wahrsagerin. Ihr Körper entspannt sich, und sie schmiegt sich an ihn. Voller Erleichterung spürt er, wie sie endlich wieder zueinanderfinden.
Er drückt sie noch fester an sich. »Ich habe dich vermisst«, flüstert er.
»Komm mit.« Sie befreit sich aus seiner Umarmung und nimmt ihn an der Hand. Führt ihn zu ihrem Bett. Zieht das Moskitonetz beiseite und schlüpft unter den hauchzarten Baldachin. Kleider rascheln, gleiten zu Boden.
»Du riechst noch immer nach Rauch«, sagt die Schattenfrau neckisch.
Jaidee schiebt das Netz beiseite. »Und Whisky. Vergiss den Whisky nicht.«