17

Wie viele Nächte hat er jetzt schon nicht mehr geschlafen? Eine? Zehn? Zehntausend? Jaidee kann sich nicht mehr erinnern. Hellwach bei Mondschein und traumverloren, wenn die Sonne am Himmel stand, ist ihm jegliches Zeitgefühl abhandengekommen, ein Tag folgt auf den anderen, gleichförmig und bar jeder Hoffnung. Opfergaben und Sühnegebete, die unbeantwortet bleiben. Wahrsager und ihre Prophezeiungen. Generäle und ihre Beteuerungen. Morgen. Ganz bestimmt in drei Tagen. Einiges spricht dafür, dass sie nachgeben, und es gehen Gerüchte um über den Aufenthaltsort einer Frau.

Geduld.

Jai yen.

Kaltes Blut.

Nichts.

Entschuldigungen und Demütigungen in den Zeitungen. Eine Beichte von seiner eigenen Hand. Noch mehr falsche Geständnisse, die von Habgier und Korruption berichten. 200 000 Baht, die er nicht zurückzahlen kann. Leitartikel und Schmähreden in den Flüsterblättern. Von seinen Feinden verbreitete Geschichten, er habe gestohlenes Geld für Huren ausgegeben, für einen privaten Vorrat U-Tex-Reis, den er für seine Familie angelegt hat, falls eine Hungersnot eintritt. Der Tiger war auch nur einer von zahllosen korrupten Weißhemden.

Geldbußen werden auferlegt. Sein ganzer Besitz beschlagnahmt. Sein Haus niedergebrannt, ein Scheiterhaufen, während seine Schwiegermutter laut wehklagt und seine Kinder, längst seines Namens beraubt, mit ausdrucksloser Miene zuschauen.

Laut Beschluss wird er seine Buße nicht in einem nahe gelegenen Kloster ableisten. Stattdessen wird er in die Wälder von Phra Kritipong verbannt, wo die Elfenbeinkäfer das Land in eine Wüste verwandelt haben und neue Versionen der Rostwelke von Burma herüberwehen. In der Einöde soll er über sein Damma nachdenken. Ihm wurden die Augenbrauen abrasiert, und sein Kopf ist kahlgeschoren. Falls er seine Buße überleben sollte, wird er für den Rest seines Lebens im Süden die Flüchtlingslager der Yellow Cards bewachen: eine Arbeit, die den rangniedrigsten Weißhemden vorbehalten ist.

Und noch immer keine Nachricht von Chaya.

Ist sie am Leben? Ist sie tot? Steckt das Handelsministerium dahinter? Oder jemand anderes? Ein Jao Por, angesichts von Jaidees Dreistigkeit erzürnt? Oder jemand vom Umweltministerium? Bhirombhakdi, der verärgert ist, dass Jaidee sich nicht an die Spielregel gehalten hat? War es eine Geiselnahme oder Mord? Wurde sie getötet, als sie um ihre Freiheit kämpfte? Befindet sie sich noch immer in dem Raum mit den Betonwänden, in dem das Foto aufgenommen wurde, irgendwo in der Stadt, in einem überhitzten Hochhaus, und wartet darauf, dass er sie rettet? Oder liegt ihre Leiche in einer dunklen Gasse, wo Cheshire über sie herfallen? Schwimmt sie vielleicht im Chao Phraya, Futter für die Bodhi-Karpfen Rev 2.3, die das Ministerium mit solchem Erfolg gezüchtet hat? Ihm ist nichts geblieben außer Fragen. Er ruft in den Brunnenschacht hinein, aber kein Echo antwortet ihm.

Und so sitzt er nun im ärmlichen Kuti eines Mönches auf dem Gelände der Tempelanlage von Wat Bowonniwet und wartet auf eine Antwort aus dem Kloster in Phra Kritipong, ob die Mönche dort bereit sind, sich seiner anzunehmen. Er trägt das Weiß eines Novizen. Er wird kein Orange für ihn geben. Niemals. Er ist kein Mönch. Ihm ist eine besondere Buße auferlegt. Sein Blick schweift über die rostigen Wasserflecken an der Wand, den Flaum von Schimmel und Fäulnis.

Auf eine Wand ist ein Bobaum gemalt, unter dem der Buddha sitzt und der Erleuchtung harrt.

Leiden. Alles ist Leiden. Jaidee starrt den Bobaum an. Ein weiteres Relikt der Vergangenheit. Das Ministerium hat ein paar davon künstlich konserviert — einige wenige, die nicht unter dem Ansturm der sich in ihrem Inneren vermehrenden Elfenbeinkäfer zerfallen sind. Die Käfer haben sich in den verschlungenen Stamm gegraben, dort sind ihre Jungen geschlüpft, und von dort sind sie ausgeschwärmt, immer weiter zum nächsten Opfer …

Alles ist vergänglich. Nicht einmal Bobäume sind da eine Ausnahme.

Jaidee fasst sich an die Brauen, streicht über die blassen Halbmonde über seinen Augen, wo früher Haare wuchsen. Er hat sich noch immer nicht an seinen glattrasierten Kopf gewöhnt. Alles verändert sich. Er starrt zu dem Bobaum und dem Buddha hinauf.

Ich habe geschlafen. Die ganze Zeit über habe ich geschlafen und nichts begriffen.

Doch jetzt, während er den gemalten Bobaum betrachtet, verschiebt sich etwas.

Nichts währt ewig. Ein Kuti ist eine Zelle. Er sitzt in einem Gefängnis, während diejenigen, die Chaya entführt haben, leben und trinken und huren und lachen. Nichts ist von Dauer. Das ist die zentrale Lehre des Buddha. Keine Karriere, keine Institution, keine Ehefrau, kein Baum … Alles ist Veränderung; Veränderung ist die einzige Wahrheit.

Er streckt die Hand nach dem Gemälde aus und fährt die abblätternde Farbe mit dem Finger nach. Ob derjenige, der es gemalt hat, wohl einen lebenden Bobaum vor Augen hatte? Hat er in einer weit zurückliegenden, glücklicheren Zeit gelebt? Oder musste er eine Fotografie verwenden? Eine Kopie von einer Kopie anfertigen?

Wird in tausend Jahren noch irgendjemand wissen, was ein Bobaum war? Werden die Enkel von Niwat und Surat wissen, dass es noch andere Feigenbäume gab, die auch alle längst ausgestorben sind? Werden sie wissen, dass es viele, viele Bäume gab und viele verschiedene Arten von Bäumen? Nicht nur Gates-Teak und transgene PurCal-Bananen, sondern noch viele, viele andere Pflanzen?

Werden sie begreifen, dass wir nicht schnell genug und nicht klug genug waren, um sie alle zu retten? Dass wir uns entscheiden mussten?

Die Grahamiten, die auf den Straßen von Bangkok predigen, reden alle von ihrer Heiligen Schrift und den Geschichten über Erlösung, die darin zu finden sind: Geschichten über ihren Noah Bodhisattva, der auf seinem großen Bambusfloß alle Tiere und Bäume und Blumen gerettet und ihnen geholfen hat, das Wasser zu überqueren; auf sein Floß hatte er alles gehäuft, was auf der Welt in die Brüche gegangen war, und dann hatte er sich auf die Suche nach Land begeben. Aber jetzt gibt es keinen Noah Bodhisattva mehr. Jetzt gibt es nur noch Phra Seub, der den Schmerz angesichts des Verlustes fühlt, aber nur wenig dagegen tun kann, und die kleinen Lehmbuddhas des Umweltministeriums, die das ansteigende Wasser nur mit bloßem Glück zurückhalten.

Der Bobaum verschwimmt. Jaidees Wangen sind nass von Tränen. Noch immer starrt er zu dem meditierenden Buddha hinauf. Wer hätte erwartet, dass die Kalorienkonzerne Feigen angreifen würden? Wer hätte erwartet, dass auch die Bobäume absterben würden? Die Farang haben vor nichts Respekt, außer vor Geld. Jaidee wischt sich das Wasser aus dem Gesicht. Es ist töricht zu glauben, irgendetwas würde ewig währen. Vielleicht ist sogar der Buddhismus vergänglich.

Er steht auf, rafft sein weißes Novizengewand zusammen und verbeugt sich vor der abblätternden Farbe des Buddhas unter seinem verschwundenen Baum.

Draußen scheint hell der Mond. Einige wenige Methanlampen glimmen; sie werfen nur ein schwaches Licht auf den Pfad, der durch die wiedererschaffenenTeakbäume zu den Toren des Klosters führt. Es ist töricht, nach Dingen zu streben, die nicht wiederzuerlangen sind. Alles stirbt einmal. Für ihn ist Chaya schon dahin. Das ist das Wesen des Wandels.

Die Tore sind unbewacht. Offenbar geht man davon aus, dass er gehorsam ist. Dass er sich mit letzter Kraft an die Hoffnung klammert, Chaya könnte zurückkehren. Dass er sich demütig in sein Schicksal fügt. Wahrscheinlich kümmert es niemanden, was letztlich aus ihm wird. Er hat seinen Zweck erfüllt. Er hat General Pracha einen schweren Schlag versetzt, und das ganze Umweltministerium hat wegen ihm sein Gesicht verloren. Was für eine Rolle spielt es da, ob er bleibt oder geht?

Er tritt auf die nächtlichen Straßen der Stadt der Engel hinaus und eilt durch die sich leerenden Straßen nach Süden, dem Fluss entgegen, dem Großen Palast und den funkelnden Lichtern der Stadt. Zu den Deichen, die die Stadt davor bewahren, unter dem Fluch der Farang zu ertrinken.

Vor ihm erhebt sich der Schrein der Stadtsäulen mit seinen funkelnden Dächern. Vor den Bildnissen des Buddha brennen Opfergaben, von denen süßlicher Rauch aufsteigt. Hier hat Rama XII. verkündet, dass die Stadt Krung Thep nicht aufgegeben würde. Dass sie nicht den Farang anheimfallen würde, so wie Ayutthaya sich vor so vielen Jahrhunderten den Burmesen ergeben hatte.

Während neunhundertundneunundneunzig Mönche ihren Gesang anstimmten, erklärte der König, die Stadt würde gerettet, und von dem Augenblick an betraute er das Umweltministerium mit ihrer Verteidigung. Betraute sie mit dem Bau der großen Deiche und Gezeitenbecken, die die Stadt vor dem Ansturm der Monsunfluten und Taifunwellen schützen sollten. Krung Thep würde standhalten.

Jaidee geht weiter und lauscht dem gleichförmigen Gesang der Mönche, die den ganzen Tag über beten und die Mächte der Geisterwelt um Beistand anrufen. Es gab Zeiten, da kniete auch er auf dem kühlen Marmor des Schreins, verneigte sich vor den Stadtsäulen und flehte den König und die Geister und die Lebenskraft der Stadt um Hilfe an, bevor er sich an seine Arbeit begab. Die Stadtsäulen, so glaubte er damals, verfügten über magische Kräfte. Sie bestärkten ihn in seinem Glauben.

Jetzt geht er in seinem weißen Gewand an ihnen vorüber und würdigt sie keines zweiten Blickes.

Alle Dinge sind vergänglich.

Er setzt seinen Weg fort, läuft durch die dicht besiedelten Viertel hinter dem Charoen Khlong. Das Wasser plätschert leise vor sich hin. Kein Boot gleitet so spätnachts den Kanal entlang. Da sieht er auf einer Veranda eine Kerze flackern. Er schleicht zu ihr hinüber.

»Kanya!«

Seine ehemalige Untergebene dreht sich überrascht um. Sie reißt sich zusammen, aber nicht schnell genug, als dass Jaidee nicht ihre Bestürzung über das erkennen kann, was da vor ihr steht: ein Mann mit geschorenem Kopf und rasierten Augenbrauen, der sie mit einem irren Grinsen begrüßt. Er zieht die Sandalen aus und steigt wie ein weißes Gespenst die Stufen hinauf. Jaidee weiß nur zu gut, wie er aussieht, aber er kann nicht anders, er empfindet auch die Komik der Situation. Rasch öffnet er die Verandatür und schlüpft hindurch.

»Ich dachte, Sie wären längst unterwegs in den Wald«, sagt Kanya.

Jaidee lässt sich neben ihr nieder und zupft sein Gewand zurecht. Er starrt auf das stinkende Wasser des Khlong hinaus. Die Äste eines Mangobaums spiegeln sich in dem vom Mondschein erhellten flüssigen Silber. »Es dauert lange, ein Kloster zu finden, das sich mit meinesgleichen beschmutzen möchte. Sogar Phra Kritipong scheint es sich noch einmal überlegen zu wollen, wenn es um einen Feind des Handelsministeriums geht.«

Kanya verzieht das Gesicht. »Alle reden davon, dass Akkarat immer mehr an Einfluss gewinnt. Er spricht bereits offen darüber, den Import von Aufziehmenschen zu erlauben.«

Jaidee schaut sie erschrocken an. »Davon habe ich noch nichts gehört. Ein paar Farang vielleicht, aber …«

»Bei allem Respekt für die Königin, aber Aufziehmenschen zetteln keinen Aufruhr an«, zitiert Kanya mit gequälter Miene. Sie drückt den Daumen in die harte Schale einer Mangostan und löst deren violette Haut ab, die in der Dunkelheit fast schwarz erscheint. »Torapee, der in die Fußstapfen seines Vaters tritt.«

Jaidee zuckt mit den Schultern. »Alles verändert sich.«

Kanya beißt sich auf die Unterlippe. »Wie soll man gegen so viel Geld etwas ausrichten? Geld ist Macht. Wer denkt da noch an seinen Patron oder an seine Verpflichtungen, wenn das Geld sich so hoch auftürmt wie die Wellen vor den Deichen? « Ihre Augen funkeln wütend. »Wir kämpfen nicht gegen das ansteigende Meer, sondern gegen Geld.«

»Geld ist verlockend.«

Kanya zieht eine Grimasse. »Nicht für Sie. Sie waren schon ein Mönch, bevor man Sie in eine Zelle geworfen hat.«

»Vielleicht gebe ich deshalb einen so schlechten Novizen ab.«

»Sollten Sie nicht inzwischen den Kuti tragen?«

Jaidee grinst. »Darin hab ich mich so eingeengt gefühlt.«

Kanya erstarrt und mustert ihn eindringlich. »Sie lassen sich nicht weihen?«

»Ich bin ein Kämpfer, kein Mönch.« Er zuckt mit den Schultern. »Was soll das bringen, wenn ich in meiner Zelle sitze und meditiere? Für eine Weile wusste ich nicht mehr ein noch aus. Dass ich Chaya verloren habe, hat mir den Verstand geraubt.«

»Sie wird zurückkehren. Davon bin ich überzeugt.«

Jaidee lächelt seinen Schützling traurig an. Welcher Glaube! Welche Hoffnung! Erstaunlich, dass eine Frau, die so selten lächelt und eine Welt voller Melancholie vor Augen hat, in diesem Fall — gerade in diesem Fall — glauben kann, dass sich die Ereignisse zum Positiven wenden.

»Nein. Das wird sie nicht.«

»Natürlich wird sie das!«

Jaidee schüttelt den Kopf. »Und ich dachte immer, Sie wären die Skeptikerin.«

Kanya ist anzusehen, wie sehr sie das alles peinigt. »Sie haben alles getan, um ihre Kapitulation öffentlich zu machen. Sie haben gänzlich das Gesicht verloren. Sie müssen sie einfach freilassen!«

»Das werden sie nicht. Ich fürchte, sie war schon innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden tot. Ich habe mich nur an die Hoffnung geklammert, weil ich verrückt nach ihr bin.«

»Sie wissen nicht mit Sicherheit, dass sie tot ist. Vielleicht halten Sie sie noch gefangen.«

»Wie Sie richtig bemerkt haben — ich habe vollständig das Gesicht verloren. Wenn es ihnen darauf angekommen wäre, hätten sie sie bereits freigelassen. Aber ganz offensichtlich hatten sie anderes im Sinn.« Jaidee betrachtet die stille Wasseroberfläche des Klong. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«

»Alles, was Sie wollen.«

»Leihen Sie mir Ihre Federpistole.«

Kanya reißt die Augen auf. »Khun …«

»Keine Sorge. Ich bring sie zurück. Sie müssen mich auch nicht begleiten. Ich brauche nur eine gute Waffe.«

»Ich …«

Jaidee grinst. »Ich komm schon klar. Es gibt keinen Grund, zwei Karrieren zu ruinieren.«

»Sie haben es auf das Handelsministerium abgesehen.«

»Akkarat muss begreifen, dass der Tiger noch immer Zähne hat.«

»Sie wissen nicht mit Sicherheit, dass diejenigen, die Kanya entführt haben, für das Handelsministerium arbeiten.«

»Für wen sonst?« Jaidee zuckt mit den Schultern. »Ich habe mir viele Feinde gemacht, aber letztlich kommt dafür nur einer infrage.«

»Ich werde Sie begleiten.«

»Nein. Sie bleiben schön hier. Sie müssen ein Auge auf Niwat und Surat haben. Das ist alles, worum ich Sie bitte, Leutnant.«

»Bitte tun Sie das nicht. Ich werde Pracha anflehen, dass er …«

Jaidee fällt ihr ins Wort, bevor sie etwas Hässliches ausspricht. Es gab eine Zeit, da hätte er zugelassen, dass sie ihm gegenüber das Gesicht verliert, dass ihre Entschuldigungen aus ihr herausströmen wie ein Wasserfall während des Monsuns. Aber damit ist es jetzt vorbei.

»Mehr wünsche ich mir gar nicht«, sagt er. »Ich bin es zufrieden. Ich werde dem Handelsministerium einen Besuch abstatten, und ich werde sie büßen lassen. All das ist Kamma. Es war mir nicht bestimmt, Chaya für immer behalten zu dürfen, und auch sie hatte eine andere Bestimmung. Aber ich glaube, dass wir trotzdem noch etwas bewirken können, wenn wir an unserem Damma festhalten. Wir haben alle unsere Pflichten, Kanya. Unserem Patron und unseren Männern gegenüber.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich habe viele verschiedene Leben gelebt. Ich war ein Junge und ein Muay-Thai-Champion, ein Vater und ein Hauptmann der Weißhemden.« Er senkt den Blick und betrachtet die Falten seines Novizengewandes. »Und sogar ein Mönch.« Er grinst. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich muss noch eine ganze Reihe von Stadien durchlaufen, bevor ich mit diesem Leben abschließe und Chaya nachfolge.« Seine Stimme wird rau. »Erst muss ich noch etwas erledigen, und bevor ich das nicht getan habe, hält mich niemand auf.«

Kanya sieht ihn mit traurigem Blick an. »Sie können nicht alleine gehen.«

»Nein. Ich werde Somchai mitnehmen.«


Das Handelsministerium: Ungestraft haben sie ihn verspottet, seine Frau geraubt und ein Loch von der Größe einer Durian in ihm zurückgelassen.

Chaya.

Jaidee betrachtet das Gebäude eingehend. Angesichts der gleißenden Lichter kommt er sich vor wie ein Wilder im Dschungel, wie der Medizinmann eines Bergstammes, der einer heranrückenden Armee von Megodonten entgegenblickt. Für einen Moment sinkt ihm fast der Mut.

Ich sollte die Jungs besuchen, denkt er bei sich. Ich könnte nach Hause gehen.

Aber er bleibt hier in der Dunkelheit stehen und beobachtet das hell erleuchtete Handelsministerium, wo Kohle verbrannt wird, als hätte die Große Kontraktion nie stattgefunden, als müsste der Ozean nicht von Deichen zurückgehalten werden.

Irgendwo in diesem Gebäude sitzt ein Mann und schmiedet Pläne. Der Mann, der ihn — wie lange ist das jetzt her? — auf den Ankerplätzen beobachtet hat. Der Betelsaft ausgespuckt hat und davongeschlendert ist, als wäre Jaidee nicht mehr als eine Kakerlake, die es zu zerquetschen galt. Der neben Akkarat saß und schweigend Jaidees Sturz mit ansah. Dieser Mann wird Jaidee zu Chayas letzter Ruhestätte führen. Dieser Mann ist der Schlüssel. Und er hält sich hinter diesen Mauern verborgen.

Jaidee zieht sich in die Dunkelheit zurück. Somchai und er tragen schwarze Straßenkleidung ohne irgendwelche Kennzeichen, um besser mit der Nacht zu verschmelzen. Somchai ist schnell. Einer der Besten. Auf engstem Raum gefährlich, und leise. Er kennt sich mit Schlössern aus, und wie Jaidee ist er hochmotiviert.

Somchai betrachtet das Ministerium mit ernster Miene. Fast wirkt er so ernst wie Kanya, denkt Jaidee. Anscheinend nehmen sie alle irgendwann dieses Gebaren an. Berufsrisiko. Jaidee fragt sich, ob die Thai wirklich jemals gelächelt haben, wie es die Legende erzählt. Jedes Mal, wenn er seine Söhne lachen hört, hat er das Gefühl, im Wald sei eine wunderschöne Orchidee erblüht.

»Die geben sich nicht eben große Mühe«, murmelt Somchai.

Jaidee nickt. »Ich kann mich noch erinnern, wie das Handelsministerium nur eine kleine Unterabteilung des Landwirtschaftsministeriums war. Und jetzt schau dir das an.«

»So alt sind Sie doch noch gar nicht. Das war schon immer ein großes Ministerium.«

»Nein, die waren winzig. Ein Witz!« Jaidee deutet auf den neuen Gebäudekomplex mit seiner hochmodernen Konvektionslüftung, mit seinen Vordächern und Säulengängen. »Wir leben wirklich in einer neuen Welt.«

Als wollten sie ihn verhöhnen, springt ein Cheshirepärchen auf eine Balustrade, um sich zu putzen. Gerade sind sie noch zu sehen, und gleich darauf verschwinden sie wieder, als wäre es ihnen gleichgültig, ob jemand sie entdeckt. Jaidee zieht seine Federpistole und zielt. »Das haben wir dem Handelsministerium zu verdanken. Die sollten Cheshire zu ihrem Wappentier machen.«

»Bitte nicht.«

Er blickt Somchai an. »Dabei geht kein Karma verloren. Sie haben keine Seele.«

»Sie bluten wie alle anderen Tiere auch.«

»Dasselbe könnten Sie von Elfenbeinkäfern behaupten.«

Somchai senkt den Kopf, erwidert jedoch nichts. Jaidee runzelt die Stirn und steckt seine Federpistole ins Holster zurück. Es wäre sowieso Munitionsverschwendung. Es gibt zu viele davon.

»Ich hab mal eine Zeit lang zum Giftkommando gehört«, sagt Somchai schließlich. »Wir haben Jagd auf Cheshire gemacht. «

»Jetzt machen Sie sich älter, als Sie sind.«

Somchai zuckt mit den Schultern. »Damals hatte ich noch eine Familie.«

»Das wusste ich nicht.«

»Cibiskose. 118.Aa. Es ging schnell.«

»Daran kann ich mich noch gut erinnern. Auch mein Vater ist daran gestorben. Die Version war übel.«

Somchai nickt. »Ich vermisse sie. Hoffentlich haben sie nun ein besseres Leben.«

»Bestimmt.«

Somchai beißt sich auf die Lippen. »Die Hoffnung ist alles, was uns bleibt. Ihnen zuliebe bin ich ins Kloster gegangen. Ich habe mich für ein ganzes Jahr weihen lassen. Ich habe gebetet. Und Opfergaben verbrannt.« Er schweigt einen Moment. »Die Hoffnung ist alles, was uns bleibt.«

Das Jaulen der Cheshire hallt durch die Nacht. »Ich habe Tausende von ihnen umgebracht. Tausende. In meinem ganzen Leben habe ich sechs Menschen getötet und es nie bereut. Aber ich habe Tausende von Cheshire umgebracht und mich nie wohlgefühlt damit.« Er kratzt sich an einer fa’gan-Narbe hinter dem Ohr. »Manchmal frage ich mich, ob es ausgleichende Gerechtigkeit war, dass sich meine Familie mit Cibiskose angesteckt hat.«

»Unmöglich. Diese Viecher sind nicht natürlich!«

Somchai zuckt mit den Schultern. »Sie pflanzen sich fort. Sie essen. Sie leben. Sie atmen.« Er lächelt. »Wenn man sie streichelt, schnurren sie.«

Jaidee verzieht angewidert das Gesicht.

»Das stimmt wirklich! Ich habe sie angefasst. Sie sind real. Genauso wie Sie oder ich.«

»Sie sind nur leere Gefäße. Sie haben keine Seele.«

»Vielleicht sind sogar die schlimmsten Monstrositäten der Japaner in gewisser Hinsicht lebendig. Ich mache mir Sorgen, Noi und Chart und Malee und Prem könnten im Körper eines Aufziehmenschen wiedergeboren worden sein. Nicht jeder von uns ist gut genug, um als Phii durch die Städte zu geistern. Vielleicht enden manche von uns als Aufziehmenschen in japanischen Fabriken und arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wer weiß? Wir sind so wenige im Vergleich zu früher. Wo sind all die Seelen hin? Vielleicht sind sie in Japan? Als Aufziehmenschen?«

Jaidee verbirgt seine Beklommenheit über die Richtung, die Somchais Monolog nimmt. »Das ist unmöglich.«

Somchai zuckt erneut mit den Schultern. »Trotzdem. Ich könnte auf keinen Fall mehr Jagd auf Cheshire machen.«

»Dann lassen Sie uns Jagd auf Menschen machen.«

Auf der anderen Straßenseite öffnet sich eine Tür, und ein Angestellter des Ministeriums kommt heraus. Jaidee rennt sofort los, um ihn sich zu schnappen. Ihre Beute geht zu einem Fahrradständer und bückt sich, um ein Schloss zu öffnen. Jaidee zieht seinen Schlagstock hervor. Der Mann blickt hoch und erstarrt, und dann ist Jaidee über ihm und schlägt zu. Der Mann hat gerade noch Zeit, den Arm zu heben. Jaidee knüppelt ihn beiseite. Der Mann hat ihm nichts mehr entgegenzusetzen.

Somchai holt ihn ein. »Für einen alten Mann sind Sie ganz schön schnell.«

Jaidee lächelt. »Nehmen Sie seine Füße.«

Sie schleppen den Bewusstlosen zurück über die Straße und halten sich dabei in der Dunkelheit zwischen den Methanlampen. Jaidee durchsucht seine Taschen. Schlüssel klappern. Er grinst und hebt sie triumphierend in die Höhe. Rasch fesselt er den Mann, knebelt ihn und verbindet ihm die Augen. Eine Cheshire kommt näher und beobachtet das Geschehen, ihr Äußeres ein Gemenge aus Stein, buntem Stoff und Schatten.

»Werden die Cheshire ihn fressen?«, fragt Somchai.

»Wenn Sie das kümmern würde, hätte Sie mich das Vieh töten lassen.«

Somchai denkt über Jaidees Antwort nach, erwidert jedoch nichts. Jaidee zieht die Knoten an den Fesseln nach. »Kommen Sie.« Sie laufen wieder über die Straße. Der Schlüssel passt, und sie betreten das Gebäude.

In dem grellen elektrischen Licht muss Jaidee den Drang unterdrücken, die Schalter zu suchen und das Ministerium in tiefe Dunkelheit zu stürzen. »Das ist doch idiotisch, dass die Leute hier so spät arbeiten. Die viele Kohle!«

Somchai zuckt mit den Achseln. »Der Mann, den wir suchen, ist vielleicht jetzt in diesem Moment hier.«

»Nicht, wenn er Glück hat.« Aber Jaidee hat dasselbe gedacht. Er fragt sich, ob er sich würde beherrschen können, wenn er Chayas Mörder zu fassen bekäme. Aber warum sollte er?

Sie schleichen die erleuchteten Korridore entlang. Hin und wieder begegnen sie einem Angestellten, aber niemand schenkt ihnen auch nur einen zweiten Blick. Beide strahlen sie Autorität aus — sind es gewohnt zu befehlen. Jaidee nickt kurz, wenn ihnen jemand über den Weg läuft. Schließlich finden sie die Registratur und bleiben vor der Glastür stehen. Jaidee hebt seinen Schlagstock.

»Glas«, stellt Somchai trocken fest.

»Möchten Sie es versuchen?«

Somchai begutachtet das Schloss, holt einen Satz Werkzeuge hervor und stochert in der Öffnung herum. Jaidee steht neben ihm und wartet ungeduldig. Der Korridor ist hell erleuchtet.

Somchai macht sich weiterhin am Schloss zu schaffen.

»Ach. Lassen Sie mal.« Jaidee hebt seinen Schlagstock. »Gehen Sie beiseite.«

Ein kurzes Splittern hallt durch den Flur. Sie warten auf Schritte, aber niemand kommt. Rasch schlüpfen sie hinein und fangen an, in den Schränken zu wühlen. Schließlich findet Jaidee die Personalakten, und sie kramen eine ganze Weile in schlechten Fotografien. Sie legen diejenigen beiseite, die ihnen bekannt vorkommen, und suchen weiter.

»Er hat mich gekannt«, murmelt Jaidee. »Er hat mich direkt angeschaut.«

»Jeder kennt Sie«, gibt Somchai zu bedenken. »Sie sind berühmt.«

Jaidee zieht eine Grimasse. »Glauben Sie, er war auf den Ankerplätzen, um etwas abzuholen? Oder wollte er die Inspektionen überwachen?«

»Oder vielleicht hatten sie es auf das abgesehen, was sich an Bord von Carlyles Schiff befand. Oder in einem anderen Luftschiff, das die Landung abgebrochen hat und stattdessen in das besetzte Lanna geflogen ist. Es gibt Tausende von Möglichkeiten, oder?«

»Hier!« Jaidee springt auf. »Das ist er!«

»Sind Sie sicher? War sein Gesicht nicht schmaler?«

»Ich bin mir ganz sicher.«

Somchai runzelt die Stirn, während er über Jaidees Schulter hinweg die Akte überfliegt. »Aber der ist doch auf keinen Fall wichtig genug! Das ist kein Mann mit Einfluss.«

Jaidee schüttelt den Kopf. »Nein. Er hat Macht. Ich hab gesehen, wie er mich angeschaut hat. Er hat an der Zeremonie teilgenommen, bei der ich degradiert wurde.« Er beißt sich auf die Unterlippe. »Hier steht keine Adresse. Nur Krung Thep.«

Von draußen ist das Schlurfen von Schritten zu hören. Plötzlich stehen zwei Männer mit gezogenen Federpistolen in der Tür. »Halt!«

Jaidee verzieht das Gesicht und hält die Akte hinter dem Rücken versteckt. »Ja? Gibt es irgendein Problem?« Die Wachleute kommen herein und schauen sich um.

»Wer sind Sie?«

Jaidee wirft Somchai einen belustigten Blick zu. »Haben Sie nicht gesagt, ich sei berühmt?«

Somchai zuckt mit den Schultern. »Nicht jeder ist ein Muay-Thai-Fan.«

»Aber jeder spielt. Sie hätten wenigstens auf meine Kämpfe wetten können.«

Die Wachleute kommen näher. Sie befehlen Jaidee und Somchai, auf die Knie zu gehen. Als die beiden hinter sie treten, um ihnen Handschellen anzulegen, rammt Jaidee dem einen den Ellenbogen in den Bauch. Wirbelt herum und erwischt ihn mit dem Knie am Kopf. Der andere Wachmann feuert Klingen in dichter Folge ab, bis Somchai ihm einen Handkantenschlag auf die Kehle versetzt. Er lässt seine Pistole fallen und geht zu Boden — aus seiner zertrümmerten Luftröhre dringt ein Röcheln.

Jaidee packt den anderen Wachmann und zieht ihn zu sich heran. »Kennst du diesen Mann?« Er hält das Bild aus der Akte hoch. Der Wachmann reißt die Augen auf und schüttelt den Kopf, versucht, zu seiner Pistole zu kriechen. Jaidee befördert sie mit einem Fußtritt außer Reichweite und versetzt ihm einen Tritt in den Rücken. »Du erzählst mir jetzt alles über ihn! Er arbeitet hier. Für Akkarat.«

Der Wachmann schüttelt erneut den Kopf. »Nein!«

Jaidee tritt ihm ins Gesicht. Blut fließt. Er kniet neben den winselnden Mann. »Raus damit, oder dir ergeht es wie deinem Freund.«

Der Blick des Wachmanns schweift zu seinem Kollegen hinüber, der an seiner zerschmetterten Luftröhre erstickt.

»Raus damit«, sagt Jaidee.

»Das wird nicht nötig sein.«

In der Tür steht der Mann, den Jaidee gesucht hat.

An ihm vorbei strömen bewaffnete Männer in das Zimmer. Jaidee zieht seine Pistole, aber sie feuern bereits, und Klingen bohren sich ihm in den Arm. Er lässt die Pistole fallen. Blut schießt hervor. Er dreht sich um, will zum Fenster stürzen, wird jedoch von mehreren Angreifern zu Boden gerissen und rutscht über den nassen Marmor. Irgendwo in weiter Ferne hört er Somchai brüllen. Die Arme werden ihm mit Fesseln aus Rattan auf den Rücken gebunden.

»Legt ihm einen Druckverband an!«, befiehlt der Unbekannte. »Ich möchte nicht, dass er verblutet.«

Jaidee senkt den Blick. Sein ganzer Arm ist rot. Einer der Wachleute macht sich daran zu schaffen. Jaidee ist schwindlig. Hat er bereits so viel Blut verloren, oder liegt es an der Mordlust, die ihm beinahe den Verstand raubt? Er wird auf die Füße gerissen. Somchai wird von zwei Wachmännern festgehalten; aus seiner Nase rinnt Blut, die Augen sind zugeschwollen. Seine Zähne sind rot. Hinter ihm auf dem Boden liegen zwei reglose Männer.

Der Neuankömmling mustert sie eingehend. Jaidee erwidert trotzig seinen Blick.

»Hauptmann Jaidee. Sollten Sie nicht in einem Kloster sein?«

Jaidee versucht, mit den Schultern zu zucken. »In meinem Kuti war es nicht hell genug. Da dachte ich, ich könnte ebenso gut hier Buße tun.«

Sein Gegenüber lächelt andeutungsweise. »Das lässt sich einrichten.« Er nickt seinen Männern zu. »Bringt sie rauf.«

Die Wachleute zerren ihn und Somchai aus dem Zimmer und den Korridor entlang. Vor einem Fahrstuhl bleiben sie stehen. Ein richtiger Fahrstuhl, mit einer Leuchtanzeige und Bildern des Ramakian an den Wänden. Jeder Knopf ist ein kleines Dämonenmaul, und vollbusige Frauen, die Saw Duang und Jakae spielen, säumen die Einfassung. Die Türen schließen sich.

»Wie heißen Sie«, fragt Jaidee.

Sein Gegenüber zuckt mit den Schultern. »Das ist nicht von Belang.«

»Sie sind Akkarats Kreatur.«

Keine Antwort.

Die Türen gehen auf. Sie treten auf das Dach hinaus. Fünfzehn Stockwerke bis zur Straße hinunter. Somchai und er werden vorwärtsgestoßen.

»Na los«, sagt der Unbekannte. »Sie warten hier oben. Dort rüber, wo wir Sie sehen können.«

Die Wachleute richten ihre Federpistolen auf sie und bedeuten ihnen, zum Rand des Daches zu gehen. Sie blicken zu dem schwachen Schein der Methanlampen hinunter.

So ist es also, dem Tod ins Angesicht zu blicken, denkt Jaidee, während er in die Tiefe starrt. Die Straße liegt weit unter ihm. Als warte sie auf ihn.

»Was haben Sie mit Chaya gemacht?«, ruft er dem geheimnisvollen Mann zu.

Dieser lächelt. »Sind Sie deswegen hier? Weil wir sie nicht schnell genug freigelassen haben?«

Jaidee fühlt Hoffnung in sich aufsteigen. Hat er sich vielleicht geirrt? »Sie können mit mir machen, was Sie wollen. Aber lassen Sie meine Frau gehen.«

Der Unbekannte scheint zu zögern. Hat er ein schlechtes Gewissen? Jaidee kann es nicht erkennen, weil er zu weit weg ist. Ist Chaya also unwiderruflich tot? »Lasst sie frei. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Der Unbekannte bleibt ihm die Antwort schuldig.

Jaidee fragt sich, ob er etwas hätte anders machen sollen. Es war unbesonnen vom ihm hierherzukommen. Aber er hatte sie bereits verloren. Und der Unbekannte hat ihm nichts versprochen, keine Drohungen ausgestoßen — nichts, dem er hätte entnehmen können, dass sie noch am Leben ist. Hat er sich töricht verhalten?

»Lebt sie noch oder nicht?«, fragt er.

Der Unbekannte lächelt leise. »Ich kann mir vorstellen, dass es wehtut, das nicht zu wissen.«

»Lassen Sie sie frei.«

»Das war nichts Persönliches, Jaidee. Wenn es einen anderen Weg gegeben hätte …« Er zuckt mit den Achseln.

Sie ist tot. Jaidee ist sich dessen sicher. Das alles ist Teil eines Plans. Er hätte sich nicht von Pracha umstimmen lassen dürfen. Er hätte sofort mit all seinen Männer angreifen und dem Handelsministerium eine Lektion erteilen sollen. Er dreht sich zu Somchai um. »Es tut mir leid.«

Somchai zuckt mit den Schultern. »Sie waren schon immer ein Tiger. Das liegt in Ihrer Natur. Das wusste ich, als ich eingewilligt habe, Sie zu begleiten.«

»Trotzdem, Somchai, wenn wir hier sterben …«

Somchai lächelt. »Dann werden Sie als Cheshire wiedergeboren. «

Jaidee bricht in schallendes Gelächter aus. Es tut gut, und er kann gar nicht mehr aufhören. Jede Faser seines Körpers zittert. Sogar die Wachleute müssen kichern. Somchais Lächeln wird breiter und verstärkt seine Heiterkeit.

Hinter ihm Schritte. Eine Stimme. »Was für eine heitere Gesellschaft! Und das alles nur wegen zwei jämmerlichen Dieben.«

Jaidee kann sich nur schwer beherrschen. Er schnappt nach Luft. »Da muss ein Irrtum vorliegen. Wir arbeiten hier.«

»Das bezweifle ich. Drehen Sie sich um.«

Jaidee dreht sich um. Vor ihm steht der Handelsminister. Akkarat, wie er leibt und lebt. Und neben ihm … Jaidees Heiterkeit verlässt ihn wie Wasserstoff, der aus einem Luftschiff entweicht. Akkarat wird von Leibwachen flankiert. Schwarzen Panthern. Die königliche Elite — ein Zeichen der Hochachtung, die der Palast ihm entgegenbringt.

Jaidees Herz wird zu Eis. Im Umweltministerium genießt niemand einen vergleichbaren Schutz. Nicht einmal General Pracha.

Akkarat lächelt angesichts von Jaidees Bestürzung. Er mustert Jaidee und Somchai, als würde er auf dem Markt Buntbarsche in Augenschein nehmen, aber Jaidee ist das gleichgültig. Sein Blick ruht auf dem namenlosen Mann hinter ihm. Der so bescheiden auftritt. Der … Jetzt begreift er plötzlich. »Sie gehören gar nicht dem Handelsministerium an«, murmelt er. »Sie sind dem Palast unterstellt.«

Der Unbekannte zuckt mit den Schultern.

»Wie steht es nun um Ihren berüchtigten Wagemut, Hauptmann Jaidee?«, höhnt Akkarat.

»Na also«, murmelt Somchai. »Sag ich doch, dass Sie berühmt sind.«

Fast hätte Jaidee wieder gelacht, obwohl ihn die Bedeutung dessen, was ihm gerade klargeworden ist, zutiefst beunruhigt. »Der Palast steht wirklich hinter Ihnen?«

Akkarat zuckt mit den Achseln. »Die Macht des Handelsministeriums wächst mit jedem Tag. Der Somdet Chaopraya befürwortet eine Politik der offenen Tür.«

Jaidee schätzt die Entfernung zwischen ihnen ab. Sie ist zu groß. »Ich staune, dass ein Heeya wie Sie sich selbst die Finger schmutzig macht.«

Akkarat lächelt. »Das hier möchte ich auf keinen Fall verpassen. Sie haben mich viel Schweiß und Geld gekostet.«

»Haben Sie vor, selbst Hand anzulegen und uns vom Dach zu stoßen?«, entgegnet Jaidee. »Wollen Sie wirklich Ihr Kamma mit unserem Tod beflecken?« Er deutet mit einem Nicken auf die umstehenden Männer. »Oder sollen Ihre Leute die Drecksarbeit machen? Um schließlich als Kakerlaken auf diese Welt zurückzukehren — als Kakerlaken, die zehntausend Mal zerquetscht werden, bevor sie in anständiger Form wiedergeboren werden? Sollen sie um des Profits willen ihre Hände mit Blut besudeln?«

Die Wachleute treten nervös von einem Fuß auf den anderen und werfen einander fragende Blicke zu. Akkarat schaut finster drein. »Sie sind es, der als Kakerlake wiedergeboren wird.«

Jaidee grinst. »Worauf warten Sie dann? Zeigen Sie, dass Sie ein Mann sind! Stoßen Sie einen wehrlosen Mann in den Abgrund.«

Akkarat zögert.

»Sind Sie ein Papiertiger?«, stachelt Jaidee ihn auf. »Na los! Beeilen Sie sich! So dicht am Rand wird mir schwindlig.«

Akkarat mustert ihn mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie sind zu weit gegangen, Weißhemd. Dieses Mal sind Sie zu weit gegangen.« Er stürzt los.

Jaidee wirbelt herum. Sein Knie kracht dem Handelsminister in die Rippen. Alles schreit wild durcheinander. Jaidee setzt erneut zum Sprung an, jede seiner Bewegungen so fließend wie zu seiner besten Zeit im Ring. Fast könnte man meinen, er hätte das Lumphini nie verlassen. Das Tosen der Menge scheint um ihn herum aufzubranden. Sein Knie zerschmettert das Bein des Handelsministers.

In Jaidees Gelenken knistert Feuer — sie sind diese Verdrehungen nicht mehr gewohnt. Aber selbst mit hinter dem Rücken gefesselten Händen fliegen seine Knie mit der Effizienz eines Champions durch die Luft. Er tritt erneut zu. Der Handelsminister ächzt laut und taumelt zum Rand des Daches. Jaidee hebt den Fuß, um Akkarat in den Abgrund zu stoßen, doch in seinem Rücken flammen Schmerzen auf. Er strauchelt. Blut spritzt. Die kreisförmigen Klingen der Federpistolen bohren sich ihm ins Fleisch. Jaidee kommt aus dem Takt. Der Rand des Gebäudes fällt ihm entgegen. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Schwarze Panther ihren Patron ergreifen und mit sich fortzerren.

Jaidee tritt noch einmal zu, hofft auf einen Glückstreffer, aber die Luft ist erfüllt vom Jaulen der Klingen und dem Surren der Pistolen. Der Schmerz schießt ihm durch den ganzen Körper. Er fällt am Rand des Abgrunds auf die Knie. Versucht, wieder aufzustehen, doch das Surren der Federpistolen nimmt kein Ende — mehrere Männer feuern gleichzeitig. Das schrille Kreischen freigesetzter Energie hallt ihm in den Ohren. Seine Beine sind völlig kraftlos geworden. Akkarat wischt sich Blut aus dem Gesicht. Somchai ringt mit zwei Schwarzen Panthern.

Jaidee spürt nicht einmal mehr, wie er über den Rand des Dachs gestoßen wird.

Der Sturz ist kürzer, als er erwartet hat.

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