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Emiko nippt am Whisky und wünscht sich inständig, sie wäre betrunken. Sie wartet auf das Zeichen von Kannika, dass die Zeit für ihre Demütigung gekommen ist. Noch immer hat sie sich nicht ganz mit ihrem Schicksal abgefunden, aber wie sie so in ihrer bauchfreien Minijacke und dem engen Pha-Sin-Rock dasitzt, fehlt ihr auch die Kraft, sich zu wehren.

Andererseits fragt sie sich, ob sie nicht doch alles verkehrt herum sieht — ob nicht gerade das verzweifelte Ringen um Selbstachtung in den Untergang führt. Gut möglich, dass es eigentlich ihr Körper ist, diese Ansammlung von Zellen und manipulierter DNA — mit seinen seltsamen, unmittelbaren Bedürfnissen —, der ihr das Überleben sichert, indem er seinen Willen durchsetzt.

Sitzt sie nicht deshalb hier und lauscht den Trommelschlägen und dem Wehklagen der Pi klang, während sich die Mädchen unter Glühwürmchen winden und die Männer und Huren sie anfeuern? Mangelt es ihr an dem Willen zu sterben? Oder ist sie einfach zu starrköpfig, das zuzulassen?

Raleigh behauptet, dass das Leben in Zyklen verläuft, so wie das Wasser an den Stränden von Koh Samet bei Ebbe und Flut zurückgeht und wieder ansteigt, oder wie der Schwanz eines Mannes sich bei jedem hübschen Mädchen aufrichtet und schließlich ermattet niedersinkt. Raleigh klatscht seinen Mädchen mit der Hand auf den nackten Hintern, lacht über die Witze der Gaijin und erklärt Emiko, dass sie alles mit sich machen lassen soll, denn Geld ist Geld, und es gibt nichts Neues unter der Sonne. Vielleicht hat er ja Recht? Nichts, was Raleigh von ihr verlangt, ist nicht schon einmal verlangt worden. Nichts, was Kannika sich ausdenkt, damit sie vor Schmerzen aufschreit, ist wirklich ungewöhnlich. Sieht man davon ab, dass die Schmerzenslaute von den Lippen eines Aufziehmädchens ausgestoßen werden. Das zumindest ist etwas Neues.

Schaut! Fast ist sie ein Mensch wie wir!

Gendo-sama sagte immer, sie sei mehr als ein Mensch. Nachdem sie sich geliebt hatten, strich er ihr über das schwarze Haar und sagte, wie leid es ihm täte, dass die »Neuen Menschen« mehr Ansehen genossen, und außerdem sei es wirklich schade, dass ihre Bewegungen nie fließend sein würden. Aber immerhin, ihr Sehvermögen und ihre Haut waren vollkommen, und waren ihre Gene nicht gegen Krankheiten und Krebs resistent, und wer war sie überhaupt, dass sie sich beklagen durfte? Wenigstens würden ihre Haare niemals grau werden, und sie würde nicht so schnell altern wie er, trotz all der Operationen und Pillen und Salben und Kräuter, die ihn jung erhielten.

Er hatte ihr über die Haare gestrichen und gesagt: »Du bist wunderschön, auch wenn du zu den Neuen Menschen gehörst. Du musst dich nicht schämen.«

Und Emiko hatte sich in seine Arme geschmiegt. »Nein. Ich schäme mich nicht.«

Aber das war in Kyoto gewesen, wo die Neuen Menschen weit verbreitet waren, wo sie gute Dienste leisteten und manchmal sogar angesehen waren. Sie waren keine echten Menschen, das gewiss nicht, aber auch nicht die Bedrohung, zu der sie die Angehörigen dieser barbarischen Kultur machen. Und gewiss nicht die Teufel, gegen die Grahamiten von der Kanzel herunter anwetterten, oder die der Hölle entsprungenen seelenlosen Kreaturen, wie die buddhistischen Waldmönche behaupteten; und auch keine Kreaturen, denen es nicht gegeben war, jemals eine Seele zu erlangen oder einen Platz im Kreislauf der Wiedergeburt und dem Streben nach dem Nirwana. Und nicht der Affront wider den Koran, den die Grünen Brigaden darin sahen.

Die Japaner waren praktisch veranlagt. Eine überalterte Bevölkerung brauchte alle Arten von jungen Arbeitern, und wenn diese aus Reagenzgläsern kamen und in Krippen heranwuchsen, so war das keine Sünde. Die Japaner waren praktisch veranlagt.

Und ist das nicht der Grund, weshalb du jetzt hiersitzt? Weil die Japaner so praktisch veranlagt sind? Obwohl du wie eine von ihnen aussiehst, obwohl du ihre Sprache sprichst, obwohl Kyoto die einzige Heimat ist, die du kennst, warst du keine Japanerin.

Emiko legt den Kopf in die Hände. Sie fragt sich, ob sie einen Freier finden oder am Ende der Nacht allein bleiben wird, und sie fragt sich, ob sie überhaupt weiß, was davon ihr lieber wäre.

Raleigh behauptet, es gäbe nichts Neues unter der Sonne, aber heute Abend, als Emiko ihn darauf hinwies, dass sie den Neuen Menschen angehörte und dass es so etwas noch nie gegeben habe, lachte er nur und sagte, sie hätte Recht, sie sei etwas Besonderes, und wer weiß, vielleicht bedeutete das, dass alles möglich war. Und dann klatschte er ihr die Hand auf den Hintern und sagte ihr, sie solle machen, dass sie auf die Bühne kommt, und zeigen, wie außergewöhnlich sie wirklich war.

Emiko fährt mit dem Finger die nassen Linien auf der Bar nach. Das warme Bier schwitzt schlüpfrige Ringe aus, die glänzen wie die Mädchen und die Männer, wie ihre Haut, nachdem sie sich eingeölt hat, damit sie so weich ist wie Butter, wenn die Männer sie anfassen. So weich, wie Haut überhaupt nur sein kann, oder vielleicht noch weicher; ihre Bewegungen mögen sonderbar sein und rucken und zucken, aber ihre Haut ist mehr als vollkommen. Selbst mit ihrem verstärkten Sehvermögen kann sie die Poren ihrer Haut kaum erkennen. Sie sind so klein. So zart. So optimal. Allerdings für Japan gemacht und für die klimatisierten Räume der reichen Leute, nicht für hier. Hier ist es ihr immer zu heiß, und sie schwitzt zu wenig.

Sie fragt sich, ob ihr vielleicht kühler wäre, wenn sie eine andere Art von Tier wäre, eine geistlose pelzige Cheshire zum Beispiel. Nicht etwa, weil ihre Poren dann größer und effizienter wären und ihre Haut nicht so schmerzhaft undurchlässig — sondern einfach, weil sie dann nicht denken müsste. Und nicht wüsste, dass sie ärgerlicherweise von einem Wissenschaftler in dieser erstickend vollkommenen Haut eingeschlossen worden war — einem Wissenschaftler, der mit Reagenzgläsern und DNA-Konfetti spielte und dem sie es zu verdanken hatte, dass ihr Fleisch zu glatt und ihr Inneres zu heiß war.

Kannika packt sie an den Haaren.

Emiko stockt vor Überraschung der Atem. Sie schaut sich hilfesuchend um, aber niemand achtet auf sie. Alle Blicke sind auf die Mädchen auf der Bühne gerichtet. Emikos Kolleginnen kümmern sich um die Gäste, servieren ihnen fleißig kambodschanischen Whisky, schmiegen sich mit dem Hintern in deren Schoß und streichen ihnen mit der Hand über die männliche Brust. So oder so, niemand hat hier viel für sie übrig. Selbst die Herzensguten — die mit Jai Dee, denen es irgendwie gelingt, Zuneigung zu einem Aufziehmädchen zu fassen — werden sich nicht einmischen.

Raleigh spricht mit einem anderen Gaijin, lächelt und lacht, aber seine uralten Augen sind auf Emiko gerichtet; er wartet auf ihre Reaktion.

Kannika reißt sie wieder an den Haaren. »Bai!«

Emiko gehorcht, steigt von dem Barhocker herunter und schwankt ruckartig in Richtung Bühne. Die Männer lachen und deuten auf das japanische Aufziehmädchen und ihren kaputten, unnatürlichen Gang. Eine Missgeburt, die aus ihrem natürlichen Umfeld gerissen wurde, von Geburt an darauf abgerichtet, den Kopf zu senken und sich zu verneigen.

Emiko versucht sich von dem zu distanzieren, was gleich geschehen wird. Sie ist darin geschult, dergleichen nicht an sich heranzulassen. In der Krippe, in der sie geschaffen und ausgebildet wurde, hatte keiner Illusionen darüber, für welch unterschiedliche Zwecke ein Neuer Mensch eingesetzt werden würde, selbst ein so kultivierter. Neue Menschen dienen, ohne Fragen zu stellen. Emiko geht mit den bedächtigen Schritten einer vornehmen Kurtisane auf die Bühne zu, stilisierte, wohlüberlegte Bewegungen, über Jahrzehnte hinweg geübt, um ihrem genetischen Erbe gerecht zu werden, um ihre Schönheit und ihr Anderssein zu betonen. An diese Menge ist das jedoch verschwendet. Sie sehen nur die abgehackten Bewegungen. Einen Witz. Ein fremdartiges Spielzeug. Ein Aufziehmädchen.

Sie zwingen sie, sich auszuziehen.

Kannika spritzt ihr Wasser auf die eingeölte Haut. Die Tropfen funkeln wie Juwelen auf Emikos Armen und Beinen. Ihre Brustwarzen richten sich auf. Über ihr flirren die Glühwürmchen und verbreiten ihr phosphoreszierendes Paarungslicht. Die Männer lachen sie aus. Kannika schlägt ihr mit der Hand auf die Hüfte, damit sie sich verneigt. Schlägt ihr so fest auf den Hintern, dass es brennt, fordert sie auf, sich noch tiefer zu verneigen, vor diesen kleinen Männern, die sich für die Speerspitze einer neuen Expansion halten, um ihre Ehrerbietung zu erweisen.

Die Männer lachen und winken, deuten mit dem Finger und bestellen noch mehr Whisky. Raleigh sitzt in seiner Ecke und grinst, ganz der liebevolle ältere Onkel, der den Neuankömmlingen nur allzu gerne die Gepflogenheiten der alten Welt nahebringt — diesen kleinen Angestellten großer Konzerne, die völlig high sind von Fantasien über multinationale Profite. Kannika bedeutet Emiko hinzuknien.

Ein Gaijin mit einem schwarzen Bart und der wettergegerbten braunen Haut eines Klippermatrosen beobachtet alles aus unmittelbarer Nähe. Emiko erwidert seinen Blick. Er starrt sie so konzentriert an, als würde er ein Insekt durch eine Lupe betrachten; fasziniert, aber auch irgendwie angewidert. Sie verspürt den Drang, ihn anzufahren, damit er sie richtig anschaut, sie wirklich sieht, anstatt nur ein Stück genetischen Abfalls zu betrachten. Stattdessen verneigt sie sich tief und schlägt mit dem Kopf auf das Teakholz der Bühne, während Kannika auf Thai ihre Lebensgeschichte erzählt. Dass sie einmal das Spielzeug eines reichen Japaners war. Dass sie nun ihnen allen gehört und dass sie mit ihr spielen, ja, sie sogar kaputt machen können.

Dann packt sie Emiko wieder an den Haaren und reißt sie hoch. Emiko stößt ein lautes Keuchen aus, als ihr Körper sich nach hinten wölbt. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass der Bärtige äußerst überrascht ist angesichts dieser plötzlichen Gewaltanwendung, dieser Demütigung. Dann schweift ihr Blick über die Menge und richtet sich schließlich zur Decke mit den Käfigen der Glühwürmchen. Kannika zerrt sie noch weiter nach hinten, biegt sie wie einen Weidenzweig, zwingt sie, ihre Brüste der Menge entgegenzurecken, ihr Kreuz noch weiter durchzudrücken, ihre Schenkel zu spreizen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit dem Kopf berührt sie das Teakholz der Bühne. Ihr Körper bildet einen vollkommenen Bogen. Kannika sagt etwas, und die Menge lacht. Die Schmerzen in Emikos Rücken und Hals werden unerträglich. Sie spürt die Blicke der Männer wie einen körperlichen Missbrauch. Sie ist vollkommen entblößt.

Flüssigkeit ergießt sich über sie.

Sie versucht sich zu erheben, aber Kannika drückt sie nach unten und schüttet ihr noch mehr Bier ins Gesicht. Emiko würgt und prustet, hat das Gefühl zu ertrinken. Schließlich lässt Kannika sie los, und sie richtet sich hustend auf. Flüssigkeit schäumt ihr über das Kinn, läuft ihr über Hals und Brüste, rinnt ihr in den Schritt.

Alle lachen. Saeng reicht dem Bärtigen bereits ein frisches Bier, und er grinst und gibt Saeng ein Trinkgeld, und alle lachen darüber, wie Emikos Körper jetzt, da sie in Panik geraten ist und sich die Flüssigkeit aus der Lunge hustet, ruckt und zuckt. Sie ist nur noch eine alberne Marionette, die die Kontrolle über ihren Körper verloren hat; von der stilisierten Anmut, die ihre Herrin Mizumi-sensei ihr antrainiert hat, als sie noch ein Mädchen in der Krippe war, ist nichts mehr übrig. Jede Eleganz ist ihr abhandengekommen; in jeder Bewegung wird ihr genetisches Erbe offenbar.

Emiko würgt noch immer Bier aus den Lungen. Ihre Arme und Beine schlagen wild um sich — ihr wahres Wesen ist für jedermann offensichtlich. Schließlich kommt sie wieder zu Atem. Erlangt die Beherrschung über ihren Körper zurück. Völlig reglos kniet sie da und wartet auf den nächsten Ansturm.

In Japan war sie ein Wunder. Hier ist sie nur ein Aufziehmädchen. Die Männer lachen über ihre seltsame Gangart und verziehen das Gesicht über ihre bloße Existenz. Sie ist eine verbotene Kreatur. Mit dem größten Vergnügen würden die Thai sie in ihren Kompostieranlagen zu Mulch verarbeiten. Wenn sie ihr oder einem Angestellten von AgriGen begegnen würden, ließe sich nur schwer sagen, wer zuerst dran glauben müsste. Von den Gaijin ganz zu schweigen. Sie fragt sich, wie viele von ihnen Mitglied in der grahamitischen Kirche sind, die sich vorgenommen hat, alles auszulöschen, für das sie steht: Für sie ist sie ein Affront gegen Nische und Natur. Und trotzdem sitzen sie zufrieden da und erfreuen sich nach Herzenslust an ihrer Demütigung.

Kannika packt sie erneut. Sie hat sich jetzt ebenfalls ausgezogen, hält einen Jadepenis in den Händen und stößt Emiko auf den Rücken. »Haltet ihre Hände fest«, sagt sie, und die Männer greifen begierig nach Emiko und umfassen ihre Handgelenke.

Kannika spreizt Emikos Beine weit auseinander, und dann, als Kannika in sie eindringt, stößt das Aufziehmädchen einen Schrei aus. Emiko wendet das Gesicht ab, was Kannika jedoch nicht entgeht. Sie packt sie am Kinn und zwingt sie, die Männer anzuschauen, damit diese sehen können, was für eine Wirkung Kannikas fürsorgliche Behandlung hat.

Die Männer feuern Kannika an. Skandieren lauthals. Zählen auf Thai. Neung! Song! Sam! Si!

Kannika tut ihnen den Gefallen, und ihr Rhythmus wird fordernder. Die Männer schwitzen und glotzen und wollen noch mehr sehen für ihr Geld. Immer mehr Hände drücken Emiko auf den Boden, halten sie an Hand- und Fußgelenken fest, so dass Kannika sich ganz der Schändung widmen kann. Emiko windet sich, ihr Körper zittert und zuckt auf die für Aufziehmenschen typische Weise, und Kannika kann nicht genug davon bekommen. Die Männer lachen und machen sich über ihre verrückten Bewegungen lustig.

Kannikas Finger gesellen sich zu der Jade zwischen Emikos Beinen und spielen mit ihrem Innersten. Emikos Scham steigert sich ins Unermessliche. Wieder versucht sie, das Gesicht abzuwenden. Männer stehen im Kreis um sie herum und recken die Köpfe. Emiko stöhnt. Kannika lacht, leise und wissend. Sie sagt etwas zu den Männern und erhöht das Tempo. Ihre Finger spielen in Emikos Hautfalten. Emiko stöhnt erneut, während ihr Körper sie verrät. Sie stößt einen Schrei aus. Wölbt das Kreuz. Ihr Körper funktioniert genau nach Maßgabe — ganz so, wie es die Wissenschaftler mit ihren Reagenzgläsern vorgesehen haben. Wie sehr ihr es auch zuwider sein mag, sie kann nichts dagegen tun. Nicht einmal diese kleine Ungehorsamkeit wird ihr gestattet. Sie erreicht den Höhepunkt.

Das Publikum brüllt begeistert und lacht über die bizarren Krämpfe, die der Orgasmus ihrer DNA abringt. Kannikas Handbewegungen sagen so viel wie: »Seht ihr? Schaut euch dieses Tier an!« Und dann kniet sie über Emikos Gesicht und faucht sie an, dass sie ein Nichts ist, dass sie immer ein Nichts sein wird, und endlich bekommen die dreckigen Japaner, was sie verdient haben.

Emiko möchte ihr sagen, dass kein anständiger Japaner so etwas tun würde. Möchte ihr erklären, dass sich Kannika nur mit einem japanischen Einwegspielzeug vergnügt — eine von den Japanern erfundene geniale Belanglosigkeit wie die Einweglenkergriffe aus Zellulose von Matsushita. Aber das hat sie schon früher versucht und damit alles nur noch schlimmer gemacht. Wenn sie schweigt, werden die Qualen bald vorbei sein.

Sie ist ein Neuer Mensch, und doch gibt es nichts Neues unter der Sonne.


Yellow-Card-Kulis treiben mit ihren Kurbeln die gewaltigen Ventilatoren an und wälzen so die Luft durch den Club. Schweiß tropft ihnen von den Gesichtern, läuft ihnen in schimmernden Rinnsalen den Rücken hinunter. Sie verbrennen Kalorien so schnell, wie sie sie zu sich nehmen, und trotzdem erfüllt die Erinnerung an die Nachmittagssonne den Club noch immer mit ihrer Hitze.

Emiko steht neben einem Ventilator, um sich abzukühlen, so gut es eben geht. Ihre Arbeit kann sie nur kurz unterbrechen — sie bringt den Gästen Drinks und hofft, Kannikas Blicken zu entgehen.

Immer wenn Kannika ihrer habhaft wird, schleift sie sie dorthin, wo die Männer sie begutachten können. Zwingt sie, mit der traditionellen Gangart japanischer Aufziehmädchen auf und ab zu schreiten und ihre stilisierten Bewegungen noch zu betonen. Emiko muss sich hin und her drehen, und die Männer reißen lauthals ihre Witze, wobei sie im Stillen darüber nachdenken, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, sobald ihre Freunde fortgegangen sind.

In der Mitte des Hauptraumes fordern Männer die jungen Mädchen in ihren Pha sins und kurzen Jäckchen zum Tanzen auf und drehen sich langsam auf dem Parkett, während die Band Musik aus der Zeit der Großen Kontraktion spielt — Songs, die Raleigh aus seinem Gedächtnis ausgegraben und für traditionelle thailändische Instrumente umgearbeitet hat, sonderbar melancholische Verschmelzungen aus der Vergangenheit, so exotisch wie seine Kinder mit ihrem kurkumagelben Haar und ihren großen, runden Augen.

»Emiko!«

Sie zuckt zusammen. Es ist Raleigh, der sie in sein Büro winkt. Als sie an der Bar vorbeiläuft, folgen die Blicke der Männer ihren abgehackten Bewegungen. Kannika schaut kurz auf — sie hält die Hände eines Mannes fest umfasst und schmiegt sich an ihn — und schenkt ihr ein Lächeln. Als Emiko das erste Mal in dieses Land kam, erzählte ihr jemand, die Thai würden auf dreizehn verschiedene Arten lächeln. Sie vermutet, dass Kannikas Lächeln ihr nichts Gutes verheißt.

»Komm schon«, sagt Raleigh ungeduldig. Er führt sie durch einen Vorhang und einen Korridor entlang, an Zimmern vorbei, in denen sich die Mädchen umziehen, und dann durch eine weitere Tür.

Die Erinnerungsstücke dreier Leben bedecken die Wände des Büros — von vergilbten Fotografien eines Bangkoks, dessen Skyline vollständig von Elektrizität erhellt wird, bis hin zu dem Bild eines Raleigh, der die traditionelle Kleidung eines wilden Bergstammes aus dem Norden trägt. Raleigh bedeutet Emiko, sich auf einem Kissen auf der erhöhten Plattform niederzulassen, auf der er seine Geschäfte tätigt. Dort räkelt sich bereits ein anderer Mann, ein blasses, hochgewachsenes Geschöpf mit blauen Augen, blonden Haaren und einer bösen Narbe am Hals.

Der Mann erschrickt, als sie den Raum betritt. »Jesus und Noah, Sie haben nichts davon gesagt, dass sie ein Aufziehmädchen ist«, erklärt er.

Raleigh grinst und macht es sich auf einem der Kissen gemütlich. »Ich wusste gar nicht, dass Sie Grahamite sind.«

Fast lächelt der Mann über die spöttische Bemerkung. »Etwas so Riskantes bei sich zu haben … Sie spielen mit der Rostwelke, Raleigh. Die Weißhemden könnten Sie jederzeit an der Gurgel haben.«

»Das Ministerium schert sich einen Dreck darum, solange ich nur pünktlich zahle. Die Kerle, die hier in der Gegend Streife gehen, sind nicht gerade die Tiger von Bangkok. Die lassen mich schön in Ruhe, solange sie nur ein paar Scheine verdienen. « Er lacht. »Es ist viel teurer, das Eis für sie zu kaufen, als das Umweltministerium fürs Wegschauen zu bezahlen.«

»Eis?«

»Falsche Porenstruktur. Sie überhitzt.« Er runzelt die Stirn. »Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich sie nicht gekauft. «

Das Zimmer riecht nach Opium, und Raleigh macht sich erneut daran, die Pfeife zu füllen. Er behauptet, er sei dank des Opiums jung geblieben und voller Lebensfreude, aber Emiko vermutet, dass er nach Tokio segelt und die gleichen Behandlungen in Anspruch nimmt wie Gendo-sama. Raleigh hält das Opium über die Lampe. Es knistert in der Hitze, und er dreht den Ball auf den Nadeln, bearbeitet den Teer, bis er zähflüssig ist, rollt ihn dann rasch wieder zu einer Kugel zusammen und stopft ihn in die Pfeife. Dann hält er die Pfeife noch einmal über die Lampe und atmet tief ein, als der Teer sich in Rauch verwandelt. Er schließt die Augen. Reicht die Pfeife blind an den blassen Mann weiter.

»Nein, danke.«

Raleigh öffnet die Augen. Lacht. »Sie sollten es mal probieren. Das Einzige, was die Seuche übrig gelassen hat. Ein Glück für mich. In meinem Alter wollte ich nicht einen Entzug durchmachen müssen.«

Der Fremde antwortet nicht. Stattdessen mustern seine blassblauen Augen Emiko. Sie hat das unangenehme Gefühl, in ihre Einzelteile zerlegt zu werden, Zelle für Zelle. Nicht etwa, dass er sie mit Blicken auszieht — diese Erfahrung gehört zu ihrem Alltag: das Gefühl, wie die Augen der Männer über ihre Haut gleiten, sich an ihren Körper klammern, sie gleichzeitig begehren und verachten. Dieser Mann wirkt eher unvoreingenommen, kühl analysierend. Wenn er sie denn begehrt, weiß er das gut zu verbergen.

»Ist sie diejenige?«, fragt er.

Raleigh nickt. »Emiko, erzähle dem Herrn von unserem Freund gestern Abend.«

Emiko wirft Raleigh einen verwunderten Blick zu. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie den blassen, blonden Gaijin noch nie zuvor im Club gesehen hat — jedenfalls hat er noch nie an einer der besonderen Vorstellungen teilgenommen. Sie hat ihm noch nie ein Whiskyeis serviert. Sie kramt in ihrem Gedächtnis. Nein, daran würde sie sich erinnern. Er hat einen Sonnenbrand, was sogar im Flackern der Kerzen und der Opiumlampe zu erkennen ist. Und seine Augen sind zu blass — unangenehm blass. An ihn würde sie sich erinnern.

»Na los«, drängt Raleigh. »Erzähl ihm, was du mir erzählt hast. Über das Weißhemd. Den Jungen, mit dem du mitgegangen bist.«

Normalerweise ist Raleigh geradezu besessen davon, die Privatsphäre seiner Gäste zu wahren. Er hat sogar darüber geredet, für sie eine separate Treppe zu bauen, damit niemand sehen kann, wie sie das Ploenchit-Hochhaus betreten oder verlassen, einen Zugang, der es ihnen ermöglichen würde, einen Block entfernt in einen Tunnel hinabzusteigen, der unter der Straße hindurch in den Club führt. Und trotzdem möchte er jetzt, dass sie so viel preisgibt.

»Der Junge?«, fragt sie und versucht Raleigh hinzuhalten, verwirrt darüber, dass er so leichtfertig einen Gast bloßstellen will, und dann auch noch ein Weißhemd. Noch einmal wirft sie einen flüchtigen Blick auf den Fremden, fragt sich, wer er ist und wie es kommt, dass er solche Macht über ihren Papa-san hat.

»Na los!« Raleigh macht eine ungeduldige Handbewegung, die Opiumpfeife zwischen den Zähnen. Er beugt sich über die Opiumlampe und atmet tief ein.

»Er gehörte zu den Weißhemden«, beginnt Emiko. »Er ist mit einer ganzen Gruppe von Offizieren gekommen …«

Ein Neuer. Den seine Freunde mitschleppten. Die allesamt lachten und ihn anstachelten. Die alle umsonst tranken, denn Raleigh hütete sich, ihnen etwas zu berechnen — ihr Wohlwollen ist weit mehr wert als der Schnaps. Der junge Mann betrank sich. Lachte und riss an der Bar Witze über sie. Und kehrte dann später heimlich zurück, fern von den neugierigen Augen seiner Kameraden.

Der blasse Mann verzieht das Gesicht. »Die lassen sich mit dir ein? Mit deinesgleichen?«

»Hai.« Emiko nickt und zeigt ihm nicht, was sie von seiner Verachtung hält. »Weißhemden und Grahamiten.«

Raleigh lacht leise. »Sex und Heuchelei. Das passt zusammen wie Kaffee und Sahne.«

Der Fremde wirft ihm einen schneidenden Blick zu, und Emiko fragt sich, ob der Alte den Ekel in den blassblauen Augen sehen kann oder ob er so breit ist, dass es ihn nicht kümmert. Der blasse Mann beugt sich vor und schließt Raleigh damit aus dem Gespräch aus. »Und was hat dieses Weißhemd dir erzählt?«

Liegt da eine Spur von Faszination in seinem Blick? Hat sie seine Neugierde geweckt? Oder interessiert er sich einfach nur für ihre Geschichte?

Emiko spürt, wie sich wider Willen ihr genetisch verankerter Trieb regt, ihm zu gefallen — ein Gefühl, das sie seit ihrer Abtretung nicht mehr empfunden hat. Etwas an diesem Mann erinnert sie an Gendo-sama. Auch wenn seine blauen Gaijin-Augen aussehen wie ein chemisches Säurebad und sein Gesicht so blass ist wie ein Kabuki, hat er Ausstrahlung. Er ist es offensichtlich gewohnt, Autorität auszuüben, was sie seltsam tröstlich findet.

Sind Sie ein Grahamite?, fragt sie sich. Würden Sie mich benutzen und dann kompostieren? Aber kümmert sie das wirklich? Er sieht nicht besonders gut aus. Er ist kein Japaner. Er ist ein Nichts. Und trotzdem haben seine entsetzlichen Augen dieselbe Macht über sie wie die, die Gendo-sama auszuüben pflegte.

»Was möchten Sie wissen?, flüstert sie.

»Dein Weißhemd hat etwas von Genfledderei erzählt«, sagt der Gaijin. »Erinnerst du dich?«

»Hai. Ja. Ich glaube, dass er sehr stolz war. Er hatte einen Beutel neu entwickelter Früchte dabei. Geschenke für die Mädchen.«

Das Interesse des Gaijin wächst. Sie verspürt ein Gefühl von Wärme in sich aufsteigen. »Und wie sahen die Früchte aus?«, fragt er.

»Sie waren rot, glaube ich. Mit … Fäden. Langen Fäden.«

»Grüne Borsten? Etwa so lang?« Er hält Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter auseinander. »Und dick.«

Sie nickt. »Ja. Das stimmt. Er hat sie ›Ngaw‹ genannt. Und seine Tante hatte sie gemacht. Sie soll vom Beschützer der Kindskönigin geehrt werden, vom Somdet Chaopraya, für ihre Dienste für das Königreich. Er war sehr stolz auf seine Tante.«

»Und er ist mit dir gegangen«, hakt der Fremde nach.

»Ja. Aber erst später. Nachdem seine Freunde fort waren.«

Der blasse Mann schüttelt ungeduldig den Kopf. Für die Einzelheiten ihres Stelldicheins interessiert er sich nicht: die nervösen Augen des Jungen, wie er sich der Mama-san näherte, wie Emiko nach oben geschickt wurde, bis ein ausreichender Zeitraum verstrichen war und er ihr folgen konnte, ohne dass jemand einen Zusammenhang herstellte. »Was hat er noch von seiner Tante erzählt?«, fragt er.

»Nur dass sie für das Ministerium arbeitet.«

»Sonst nichts? Auch nicht, wo sie ihre Fledderei betreibt? Wo die Versuchsfelder sind? Nichts dergleichen?«

»Nein.«

»Das ist alles?« Der Gaijin wirft Raleigh einen verärgerten Blick zu. »Und deshalb habe ich den weiten Weg hier raus auf mich genommen?«

Raleigh schüttelt seine Betäubung ab. »Der Farang, souffliert er. »Erzähl ihm von dem Farang.«

Emiko kann ihre Bestürzung nicht verbergen. »Verzeihung? « Sie weiß noch gut, wie der Junge mit seiner Tante angegeben hat. Dass seine Tante für ihre Arbeit mit der Ngaw einen Preis bekommen und befördert werden sollte … aber von einem Farang … »Ich verstehe nicht.«

Raleigh lässt seine Pfeife sinken und mustert sie mit finsterem Blick. »Du hast mir gesagt, er hätte dir etwas von Farang -Genfledderern erzählt.«

»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Von Ausländern hat er nichts gesagt. Es tut mir leid.«

Der Gaijin mit der Narbe verliert allmählich die Geduld. »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas haben, worauf ich nicht meine Zeit verschwende, Raleigh!« Er greift nach seinem Hut und macht Anstalten aufzustehen.

Raleigh starrt sie wütend an. »Du hast gesagt, da wäre von einem Farang-Genfledderer die Rede gewesen!«

»Nein …« Emiko schüttelt den Kopf. »Warten Sie!« Sie streckt eine Hand aus, um den Gaijin am Gehen zu hindern. »Warten Sie. Khun, bitte warten Sie. Ich weiß jetzt, von was Raleigh-san spricht.« Ihre Finger streifen ihn am Arm. Der Gaijin zuckt zurück und bleibt mit angeekelter Miene außer Reichweite stehen.

»Bitte«, fleht sie ihn an. »Ich habe es nicht gleich begriffen. Der Junge hat nichts von einem Farang erzählt. Aber er hat einen Namen genannt … der vielleicht einem Farang gehört. « Sie schaut hilfesuchend zu Raleigh hinüber. »Haben Sie das gemeint? Diesen seltsamen Namen? Gut möglich, dass damit ein Ausländer gemeint war. Kein Thai. Und auch kein Chinese oder Hoklo …«

Raleigh unterbricht sie. »Sag ihm, was du mir gesagt hast, Emiko. Mehr will ich nicht. Sag ihm alles. Jede Einzelheit. Als würdest du nach einem Rendezvous mit mir reden.«

Und sie gehorcht. Der Gaijin setzt sich wieder hin und hört ihr misstrauisch zu. Sie erzählt ihm alles — wie nervös der Junge war, dass er sie erst nicht anschauen wollte und dass er dann gar nicht mehr den Blick abwenden konnte. Wie er immer weiterredete, weil er keine Erektion bekam. Wie er zuschaute, als sie sich auszog. Wie er von seiner Tante erzählte. Um sich gegenüber einer Hure — und einem Neuen Menschen dazu — wichtigzumachen! Wie sonderbar und albern ihr das vorkam, und wie sie vor ihm verbarg, was sie dachte. Und dann sagt sie schließlich etwas, bei dem Raleigh lächelt und der blasse Mann mit der Narbe die Augen aufreißt.

»Der Junge hat erzählt, dass ein Mann namens Gi Bu Sen ihnen Baupläne gibt. Aber er hintergeht sie mehr, als dass er ihnen hilft. Doch seine Tante hat einen Trick entdeckt. Und dann haben sie die Ngaw erfolgreich gehackt. Bei der Ngaw hat ihnen Gi Bu Sen fast gar nicht geholfen. Letztlich hat seine Tante die ganze Arbeit gemacht.« Emiko nickt. »Das hat er mir erzählt. Dieser Gi Bu Sen versucht sie hereinzulegen. Aber seine Tante ist zu schlau, um darauf hereinzufallen.«

Der Mann mit der Narbe mustert sie eingehend. Eisige blaue Augen. Die Haut leichenblass. »Gi Bu Sen«, murmelt er. »Und du bist dir sicher, dass er so hieß?«

»Gi Bu Sen. Ganz sicher.«

Der Mann nickt, in Gedanken versunken. Die Lampe, die Raleigh für das Opium verwendet, knistert in der Stille. Trotz der späten Stunde erschallen weit unter ihnen auf der Straße die Rufe eines Wasserverkäufers; seine Stimme schwebt durch die offenen Fensterläden und die Fliegengitter zu ihnen herein. Sie scheint den Gaijin aus seinem Tagtraum zu reißen. Seine blassen Augen richten sich wieder auf Emiko. »Ich würde es gerne erfahren, falls dein Freund zurückkommt und dir noch einen Besuch abstattet.«

»Er hat sich geschämt, hinterher.« Emiko fasst sich an die Wange, wo sie unter der Schminke einen verblassenden Bluterguss verbirgt. »Ich glaube nicht, dass er …«

Raleigh unterbricht sie. »Manchmal kommen sie wieder. Selbst wenn sie ein schlechtes Gewissen haben.« Er wirft ihr einen finsteren Blick zu, und sie nickt zustimmend. Der Junge wird nicht zurückkehren, aber wenn es den Gaijin glücklich macht, das zu glauben … Raleigh wird es jedenfalls glücklich machen. Raleigh ist ihr Patron. Also sollte sie ihm beipflichten. Und zwar mit Überzeugung.

»Manchmal …« Mehr bekommt sie nicht zustande. »Manchmal kommen sie zurück, selbst wenn sie sich schämen.«

Der Gaijin mustert sie beide. »Warum geben Sie ihr nicht etwas Eis, Raleigh?«

»Es ist noch nicht Zeit für ihre nächste Runde. Außerdem muss sie gleich auf die Bühne.«

»Ich komme für den Verlust auf.«

Raleigh möchte ganz offensichtlich bleiben, aber er ist klug genug, nicht zu widersprechen. Er ringt sich ein Lächeln ab. »Natürlich. Warum unterhalten Sie beide sich nicht ein wenig? « Als er hinausgeht, wirft er ihr einen vielsagenden Blick zu. Emiko versteht, was er von ihr erwartet — sie soll den Gaijin verführen. Ihn mit Aufziehmädchensex ködern und der Verlockung echter Sünde. Und dann soll sie ihm genau zuhören und berichten, wie alle Mädchen das tun.

Sie lehnt sich näher zu dem Gaijin hinüber und lässt ihn ihre nackte Haut sehen. Seine Augen wandern ihren Oberschenkel hinauf bis zu ihrem Pha Sin, unter dem sich ihre Hüftknochen abzeichnen. Dann wendet er den Blick ab. Emiko bemüht sich, ihre Verwirrung nicht zu zeigen. Fühlt er sich von ihr angezogen? Ist er nervös? Angewidert? Sie weiß es nicht. Bei den meisten Männern ist es einfach. Sie passen in eindeutige Schablonen. Sie fragt sich, ob ihn Neue Menschen zu sehr anekeln, oder ob ihm vielleicht Jungen besser gefallen.

»Wie ist es dir überhaupt gelungen, hier zu überleben?«, fragt der Gaijin. »Die Weißhemden hätten dich längst kompostieren müssen.«

»Bestechung. Solange Raleigh-san bereit ist, für mich zu bezahlen, werden sie mich ignorieren.«

»Und hast du auch eine Wohnung? Für die Raleigh ebenfalls bezahlt?« Als sie nickt, sagt er: »Ziemlich teuer, nehme ich an.«

Sie zuckt mit den Achseln. »Raleigh-san führt über meine Schulden Buch.«

Wie gerufen kehrt Raleigh mit dem Eis zurück. Der Gaijin hält inne, als Raleigh durch die Tür hereinkommt, und wartet ungeduldig, während Raleigh das Glas auf den Tisch stellt. Raleigh zögert, und als der Mann mit der Narbe ihm keine Beachtung schenkt, murmelt er etwas, das sich wie »Viel Vergnügen« anhört, und geht wieder hinaus. Nachdenklich schaut sie dem Alten hinterher und fragt sich, wie es kommt, dass der Fremde eine solche Macht über Raleigh hat. Vor ihr schwitzt verführerisch das Glas Eiswasser. Auf ein Nicken des Gaijin hin greift sie danach und trinkt. Krampfartig. Bevor sie sich versieht, ist es leer. Sie drückt sich das kalte Glas gegen die Wange.

Der Mann mit der Narbe beobachtet sie. »Du bist also nicht für die Tropen konstruiert worden«, sagt er. Er beugt sich vor und mustert sie. Sein Blick wandert über ihre Haut. »Interessant, dass deine Schöpfer die Struktur deiner Haut verändert haben.«

Sie muss sich beherrschen, um nicht vor seiner Neugierde zurückzuweichen. Stattdessen rückt sie näher an ihn heran. »Das soll meine Haut anziehender machen. Glatter.« Sie zieht ihren Pha Sin ein Stück weiter hinauf und entblößt ihren Oberschenkel. »Möchten Sie sie berühren?«

Er schaut sie fragend an.

»Bitte.« Sie nickt aufmunternd.

Er streckt die Hand aus und streicht ihr über die Haut. »Wundervoll«, murmelt er. Als ihm die Stimme stockt, verspürt sie eine gewisse Befriedigung. Er hat die Augen weit aufgerissen wie ein Kind, das die Fassung verloren hat. Schließlich räuspert er sich.

»Deine Haut brennt wie Feuer«, sagt er.

»Hai. Wie Sie gesagt haben — ich bin nicht für dieses Klima konstruiert worden.

Jetzt inspiziert er sie von Kopf bis Fuß. Sein hungriger Blick gleitet über sie hinweg, als könne er sich nicht an ihr sattsehen. Raleigh würde zufrieden sein. »Das leuchtet ein«, sagt er. »Dein Modell verkauft sich bestimmt nur an die Eliten … und die leben in voll klimatisierten Räumen.« Er nickt vor sich hin und studiert sie weiter. »Das wäre der Kompromiss ihnen wert.«

Er blickt zu ihr auf. »Mishimoto? Stammst du von Mishimoto? Aber ein Diplomatenmodell bist du auf keinen Fall. Die Regierung würde nie einen Aufziehmenschen ins Land bringen, nicht bei der religiösen Grundhaltung des Palasts …« Er blickt ihr in die Augen. »Mishimoto wollte dich loswerden, habe ich Recht?«

Emiko kämpft gegen das plötzliche Schamgefühl an. Sie kommt sich vor, als würde er sie aufschlitzen und in ihren Eingeweiden wühlen, so distanziert und sachlich, dass es schon wieder beleidigend ist, wie ein Medizintechniker, der wegen Verdacht auf Cibiskose eine Autopsie durchführt. Sie stellt das Glas vorsichtig auf den Tisch zurück. »Sind Sie ein Genfledderer? «, fragt sie. »Wissen Sie deshalb so viel über mich?«

Sein Gesichtsausdruck verändert sich augenblicklich — von naiver Faszination zu einem wissenden Grinsen. »Ich betreibe das eher als Hobby«, sagt er. »Als Genspäher, sozusagen.«

»Wirklich?« Sie zeigt ihm einen Teil der Verachtung, die sie für ihn empfindet. »Sie stammen nicht zufällig aus dem, sagen wir, Midwest Compact? Für einen der großen Konzerne?« Sie beugt sich vor. »Sind Sie womöglich ein Kalorienfänger?«

Die letzten Worte flüstert sie, aber ihre Wirkung ist nicht zu übersehen. Der Fremde zuckt zurück. Sein Lächeln erstarrt, doch seine Augen mustern sie, als wäre er ein Mungo, der eine Kobra beobachtet. »Was für eine interessante Idee«, sagt er.

Nachdem sie sich eben noch so sehr schämte, tut es ihr gut, ihn in die Enge getrieben zu haben. Wenn sie Glück hat, wird der Gaijin sie auf der Stelle töten. Dann hätte sie wenigstens ihren Frieden.

Sie wartet darauf, dass er sie schlägt. Niemand duldet es, von einem Neuen Menschen beleidigt zu werden. Mizumi-sensei hat jede Andeutung von Ungehorsam schon im Keim erstickt. Sie lehrte Emiko zu gehorchen, sich zu verneigen, sich den Wünschen der Mächtigeren zu beugen und dabei stolz auf ihre Rolle zu sein. Auch wenn sich Emiko schämt, wie der Gaijin in ihrer Vergangenheit herumschnüffelt, und dass sie die Beherrschung verloren hat, nach Mizumi-senseis Lehren wäre das dennoch kein Grund, den Fremden zu provozieren. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Was getan ist, ist getan, und Emiko hat mit ihrem Leben abgeschlossen — sie wird freudig jeden Preis zahlen, den der Fremde von ihr fordert.

Stattdessen sagt der Mann mit der Narbe: »Erzähl mir noch einmal, was in der Nacht mit dem Jungen vorgefallen ist.« Der Zorn ist aus seinem Blick gewichen, und seine Miene verrät, dass er keinen Widerspruch dulden wird. Wieder muss sie an Gendo-sama denken. »Sag mir alles«, flüstert er. »Jetzt.« Seine Stimme trifft sie wie ein Peitschenschlag.

Sie gibt sich alle Mühe, ihm standzuhalten, doch der allen Neuen Menschen einprogrammierte Zwang zu gehorchen ist zu stark, das Gefühl von Scham angesichts ihres Ungehorsams zu überwältigend. Er ist nicht dein Patron, ermahnt sie sich, und trotzdem möchte sie ihm mit einer solchen Unbedingtheit gehorchen, dass sie sich dabei fast in die Hose macht.

»Er ist letzte Woche gekommen …« Noch einmal schildert sie die Einzelheiten jener Nacht mit dem Weißhemd. Dabei schmückt sie die Geschichte aus, um dem Gaijin eine Freude zu machen, ganz so, wie sie früher für Gendo-sama Shamisen gespielt hat — eine Hündin, die ihrem Herrn alles recht machen möchte. Könnte sie ihm nur sagen, er solle Rostwelke fressen und sterben! Doch das liegt nicht in ihrer Natur, und so erzählt sie stattdessen, und der Gaijin hört ihr zu.

Er lässt sie vieles wiederholen, stellt weitere Fragen. Kehrt zu Nebensächlichkeiten zurück, von denen sie glaubte, er hätte sie vergessen. Er ist unbarmherzig, nimmt ihre Geschichte Stück für Stück auseinander, fordert Erklärungen. Er weiß, wie man Fragen formuliert. Gendo-sama hat seine Untergebenen auf diese Art und Weise ausgefragt, wenn er wissen wollte, warum ein Klipper nicht termingerecht fertiggestellt worden war. Er bohrte sich durch Ausreden wie ein genmanipulierter Rüsselkäfer.

Schließlich nickt der Gaijin zufrieden. »Gut«, sagt er. »Sehr gut.«

Emiko verspürt Freude über sein Lob in sich aufwallen und hasst sich zugleich dafür. Der Gaijin trinkt seinen Whisky aus. Greift in die Tasche, zieht ein Bündel Geldscheine hervor und zählt im Aufstehen einen Teil davon ab.

»Die sind für dich, nur für dich. Lass Raleigh nichts davon sehen. Ihn bezahle ich selbst, bevor ich gehe.«

Vermutlich sollte sie ihm dankbar sein, aber sie fühlt sich ausgenutzt. Ebenso ausgenutzt von diesem Mann und seinen Worten wie von allen anderen auch — den heuchlerischen Grahamiten und den Weißhemden des Umweltministeriums, die den Nervenkitzel des Tabubruchs suchen und nach Sex mit einer absonderlichen, unreinen Kreatur gieren.

Sie hält die Geldscheine zwischen den Fingern. Ihre Ausbildung gebietet Höflichkeit, doch die selbstgerechte Großzügigkeit des Gaijin ärgert sie.

»Was, glaubt der Gentleman, werde ich mit diesen Baht tun?«, fragt sie. »Soll ich mir hübschen Schmuck kaufen? Mich selbst zum Abendessen einladen? Ich gehöre mir nicht. Ich bin Raleighs Eigentum.« Sie wirft ihm das Geld vor die Füße. »Es spielt keine Rolle, ob ich reich bin oder arm. Ich bin eine Sklavin.«

Der Fremde hält inne, eine Hand auf der Schiebetür. »Warum läufst du dann nicht weg?«

»Wohin? Meine Importgenehmigung ist abgelaufen.« Sie lächelt verbittert. »Ohne den Schutz und die Verbindungen von Raleigh-san würden mich die Weißhemden kompostieren.«

»Du könntest in den Norden fliehen«, erwidert der Fremde. »Zu den anderen Aufziehmenschen.«

»Was für andere Aufziehmenschen?«

Der Fremde lächelt. »Raleigh hat dir nichts von ihnen erzählt? Von den Enklaven der Aufziehmenschen in den Bergen? Von den Flüchtlingen aus dem Kohlekrieg? Den Freigelassenen? «

Als er ihr ausdrucksloses Gesicht sieht, fährt er fort: »Dort oben gibt es ganze Dörfer, die vom Dschungel leben. Das Land ist arm und von Genhackern fast vollständig zerstört. Es liegt hinter Chiang Rai, jenseits des Mekong. Aber die Aufziehmenschen dort haben keine Patrone, und sie gehören auch niemandem. Der Kohlekrieg tobt noch immer, aber wenn du deine Nische so sehr hasst, ist es eine Alternative zu Raleigh.«

»Stimmt das?« Sie beugt sich vor. »Diese Dörfer, gibt es die wirklich?«

Der Fremde lächelt erneut. »Du kannst Raleigh fragen, wenn du mir nicht glaubst. Er hat sie mit eigenen Augen gesehen. « Er hält inne. »Allerdings wird er keinen Vorteil darin sehen, dir davon zu erzählen. Sonst kommst du noch auf die Idee, deine Ketten abzustreifen.«

»Sagen Sie mir auch die Wahrheit?«

Der blasse Mann tippt sich mit dem Finger an den Hut. »Wenigstens so sehr, wie du mir die Wahrheit gesagt hast.« Er schiebt die Tür auf und schlüpft hindurch. Emiko bleibt alleine zurück, mit pochendem Herzen und dem plötzlichen Willen zu leben.

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