»Schauen Sie mal! Ich bin berühmt!«
Jaidee hält das Bild auf dem Flüsterblatt neben seinem Gesicht in die Höhe und grinst Kanya an. Als sie nicht lächelt, legt er es auf den Ständer zurück zu all den anderen Bildern von sich.
»Ach, Sie haben Recht. Es sieht mir gar nicht ähnlich. Die müssen jemanden in unserem Personalarchiv bestochen haben. « Er seufzt wehmütig. »Aber wie jung ich damals war!«
Kanya reagiert noch immer nicht, sondern starrt weiter mürrisch auf das Wasser des Khlong. Sie haben den ganzen Tag damit zugebracht, in der Mündung zu kreuzen und Jagd auf Boote zu machen, die PurCal- und AgriGen-Getreide den Fluss hinaufschmuggeln, und Jaidee ist noch immer von freudiger Erregung erfüllt.
Sie haben einen Klipper geentert, der in unmittelbarer Nähe der Docks vor Anker lag. Vorgeblich handelte es sich dabei um ein indisches Handelsschiff, das Richtung Norden nach Bali unterwegs war. Allerdings war es bis zum Rand voll mit cibiskoseresistenten Ananasfrüchten. Es tat gut mit anzusehen, wie der Hafenmeister und der Kapitän Entschuldigungen stammelten, während Jaidees Weißhemden Lauge über die gesamte Ladung schütteten und sie damit steril und ungenießbar machten. Der ganze Profit der Schmuggler war dahin.
Er blättert in den anderen Zeitungen, die an der Auslage befestigt sind, und stößt auf eine andere Aufnahme von sich. Diese stammt aus seiner Zeit als Muay-Thai-Kämpfer — nach einem Kampf im Lumphini-Stadion blickt er lachend in die Kamera. Die Bangkok Morning Post.
»Das wird den Jungs gefallen.«
Er schlägt die Zeitung auf und überfliegt den Artikel. Handelsminister Akkarat ist außer sich vor Wut. Stimmen aus dem Handelsministerium bezeichnen Jaidee als einen »Vandalen«. Er ist überrascht, dass sie ihn nicht einen Verräter und Terroristen schimpfen. Dass sie sich so sehr zurückhalten, verrät ihm, wie machtlos sie in Wirklichkeit sind.
Jaidee kann nicht anders, er lächelt Kanya über die Zeitung hinweg an. »Denen haben wir tatsächlich wehgetan.«
Kanya schweigt weiterhin.
Inzwischen gelingt es ihm meistens, ihre schlechte Laune zu ignorieren. Als er sie kennenlernte, dachte er erst, sie sei ein wenig blöde, so teilnahmslos, wie sie immer dreinschaute, so gleichgültig, wie sie gegenüber jeder humorvollen Bemerkung war, als fehlte ihr ein Organ, eine Nase, mit der sie riechen, Augen, mit denen sie sehen konnte — womit auch immer man Sanuk wahrnimmt, wenn es einem begegnet.
»Wir sollten ins Ministerium zurückkehren«, sagt sie, dreht sich um und sucht den Bootsverkehr auf dem Khlong nach einer Mitfahrgelegenheit ab.
Jaidee bezahlt den Flüsterblattverkäufer gerade für seine Zeitung, da kommt ein Kanaltaxi in Sicht.
Kanya winkt es heran, und es geht neben ihnen längsseits. Das Schwungrad summt vor gespeicherter kinetischer Energie, und als das Boot von seinem Kielwasser eingeholt wird, schlagen die Wellen gegen die Uferböschung. Riesige Spannfedern nehmen die Hälfte seiner Nutzlast ein. Reiche Geschäftsleute aus Chaozhou drängen sich in dem überdachten Bug wie Enten auf dem Weg zum Schlachter.
Kanya und Jaidee springen an Bord und bleiben auf dem Trittbrett außerhalb des Sitzabteils stehen. Das Mädchen, das Fahrkarten verkauft, ignoriert die weißen Uniformen geradeso, wie es von ihnen ignoriert wird. Sie verkauft einem anderen Mann, der mit ihnen einsteigt, ein 30-Baht-Ticket. Jaidee greift nach einem Haltetau; das Boot legt ab und nimmt Geschwindigkeit auf. Während sie auf dem Khlong stadteinwärts fahren, liebkost der Wind sein Gesicht. Das Taxi ist schnell — es überholt die kleinen Paddelboote und Langschwanzboote, die auf dem Kanal unterwegs sind. Baufällige Häuserblocks und Ladenzeilen gleiten vorbei; Pha Sin, Blusen und Sarongs hängen farbenfroh in der Sonne. Frauen waschen ihr langes schwarzes Haar in dem braunen Wasser. Das Boot wird plötzlich langsamer.
Kanya blickt nach vorne. »Was ist los?«
Ein Baum ist umgeknickt und blockiert fast den ganzen Kanal. Boote stauen sich vor ihm und versuchen sich an ihm vorbeizudrängen.
»Ein Bobaum«, sagt Jaidee. Er blickt zum Ufer, um sich zu orientieren. »Wir müssen den Mönchen Bescheid geben.«
Niemand sonst wird den Baum anrühren. Und trotz der Holzknappheit wird sich auch niemand an ihm zu schaffen machen. Das bringt Unglück. Ihr Boot schlingert auf der Stelle, während der Schiffsverkehr versucht, durch die winzige Lücke zwischen Baum und Ufer zu schlüpfen.
Jaidee knurrt voller Ungeduld und ruft dann laut: »Lasst uns durch, meine Freunde! Beamte im Einsatz. Lasst uns durch!« Er wedelt mit seiner Marke.
Beim Anblick seiner Marke und der weißen Uniform bemühen sich die Boote, Platz zu machen. Der Taxifahrer wirft Jaidee einen dankbaren Blick zu. Das Spannfederboot schlüpft in das Gewühl und drängelt sich hindurch.
Als sie an den kahlen Ästen des Baumes vorbeigleiten, bezeigen die Passagiere des Kanaltaxis dem Stamm ihren tiefen Respekt, indem sie ihre Handflächen aneinanderpressen und sie an die Stirn heben.
Jaidee folgt ihrem Beispiel, streckt dann die Hand aus und streicht über das raue Holz. Es ist von winzigen Bohrlöchern übersät. Wenn er jetzt die Rinde ablösen würde, würde ein feines Netz aus Furchen den Tod des Baumes abbilden. Ein Bobaum. Ein heiliger Baum. Unter dem Buddha seine Erleuchtung hatte. Und trotzdem konnten sie nichts tun, um ihn zu retten. Keine einzige Feigenart hat überlebt, obwohl sie sich alle Mühe gegeben haben. Die Elfenbeinkäfer waren einfach zu viel für sie. Als die Wissenschaftler aufgaben, beteten sie zu Phra Seub Nakhasathien, ein letzter verzweifelter Versuch, aber selbst der Märtyrer konnte sie am Ende nicht retten.
»Wir konnten nicht alles retten«, murmelt Kanya, als würde sie seine Gedanken lesen.
»Wir konnten überhaupt nichts retten.« Jaidee fährt mit den Fingern die Furchen entlang, die die Elfenbeinkäfer hinterlassen haben. »Die Farang haben Fürchterliches angerichtet, und trotzdem versucht Akkarat, mit ihnen handelseinig zu werden.«
»Nicht mit AgriGen.«
Jaidee lächelt verbittert und zieht die Hand von dem gestürzten Baum zurück. »Nein, mit denen nicht. Aber mit ihresgleichen, das schon. Mit Genfledderern. Kalorienmännern. Sogar mit PurCal, wenn die Hungersnot richtig schlimm wird. Warum sonst lassen wir zu, dass sie sich draußen auf Koh Angrit ausbreiten? Für den Fall, dass wir versagen und sie um Reis und Weizen und Soja anflehen müssen!«
»Wir haben jetzt unsere eigenen Genfledderer.«
»Dank der Voraussicht Ihrer königlichen Majestät Rama XII.«
»Und dank Chaopraya Gi Bu Sen.«
»Chaopraya.« Jaidee verzieht das Gesicht. »Niemand, der so böse ist, sollte sich mit einem so ehrenvollen Titel schmücken dürfen.«
Kanya zuckt mit den Achseln, lässt sich aber auf keine Diskussion ein. Bald haben sie den Bobaum hinter sich gelassen. An der Srinakharin Bridge steigen sie aus. Der Geruch der Garküchen zieht Jaidee geradezu magnetisch an. Er bedeutet Kanya, ihm zu folgen, und bahnt sich einen Weg in eine kleine Soi. »Somchai hat erzählt, hier unten gäbe es einen guten Som-Tam-Stand. Schöne, saubere Papayas.«
»Ich habe keinen Hunger«, sagt Kanya.
»Deshalb haben Sie ja auch immer so schlechte Laune.«
»Jaidee …« Kanya beendet den Satz nicht.
Jaidee wirft ihr einen fragenden Blick zu — ihr sorgenvoller Gesichtsausdruck ist nicht zu verkennen. »Was ist denn? Los, raus damit!«
»Ich mache mir Sorgen wegen der Ankerplätze.«
Jaidee zuckt mit den Schultern. »Dazu gibt es keinen Grund.«
Entlang der Gasse reihen sich dicht an dicht Garküchen und Tische. Kleine Schüsseln Nam Plaa Prik stehen ordentlich in der Mitte der zweckentfremdeten Holzplanken. »Sehen Sie? Somchai hatte Recht.« Er entdeckt den Salatstand, nach dem er gesucht hat, und begutachtet die Gewürze und Früchte. Als Kanya zu ihm tritt — eine kompakte Wolke düsterer Stimmung —, bestellt er bereits.
»Zweihunderttausend Baht ist auch für Akkarat eine Menge Geld«, murmelt sie, während Jaidee die Som-Tam-Verkäuferin bittet, noch mehr Chilis aufzutun.
Die Frau rührt die zerstampften Papayas unter die Gewürzmischung, und Jaidee nickt nachdenklich. »Das ist wahr. Ich hatte keine Ahnung, dass da draußen so viel Geld verdient wird.«
Es wäre genug, um ein neues Gentech-Labor zu finanzieren oder fünfhundert Weißhemden anzuheuern, um Inspektionen in den Buntbarsch-Farmen von Thonburi durchzuführen … Er schüttelt den Kopf. Dabei war das nur eine einzige Razzia gewesen!
Er kann es noch immer nicht fassen.
Es gibt Augenblicke, da glaubt er, die Welt zu verstehen; und dann wieder, wenn es ihm gelingt, einen weiteren Skandal aufzudecken, der in der Heiligen Stadt unter den Teppich gekehrt wurde, stößt er auf Kakerlaken, wo er nie welche vermutet hätte. In der Tat, etwas Neues.
Er schlendert zur nächsten Garküche weiter; dort werden mit Chilis gespicktes Schweinefleisch und Bambusspitzen von RedStar feilgeboten. Schlangenkopf-Plaa, erst heute aus dem Chao Phraya gezogen und in Backteig knusprig gebraten. Er bestellt sich noch mehr zu essen, genug für sie beide, und Sato zu trinken. Er lässt sich an einem nicht überdachten Tisch nieder, und das Essen wird gebracht.
Wie er so nach getaner Arbeit auf einem Bambushocker schaukelt und ein Reisbier seinen Bauch wärmt, kann Jaidee über seine mürrische Untergebene nur lächeln.
Obwohl vor ihr auf dem Tisch gutes Essen steht, bleibt Kanya sich treu. »Khun Bhirombhakdi hat sich im Präsidium über Sie beschwert«, sagt sie. »Er hat erklärt, er würde zu General Pracha gehen und dafür sorgen, dass jemand Ihnen die lächelnden Lippen herausreißt.«
Jaidee schaufelt sich Chilis in den Mund. »Vor dem habe ich keine Angst.«
»Die Ankerplätze gehörten offenbar zu seinem Revier. Wo er Schutzgelder erpresst hat und sich schmieren ließ.«
»Erst machen Sie sich Sorgen um das Handelsministerium, und jetzt zerbrechen Sie sich wegen Bhirombhakdi den Kopf. Der alte Mann hat doch Angst vor seinem eigenen Schatten. Seine Frau muss jedes Gericht vorkosten, damit er keine Rostwelke bekommt.« Er schüttelt den Kopf. »Hören Sie auf, so griesgrämig zu sein. Sie sollten öfter lächeln. Ein wenig lachen. Hier, trinken Sie das.« Jaidee schenkt seinem Leutnant Sato nach. »Früher hieß unser Königreich das Land des Lächelns. « Jaidee veranschaulicht, was er gesagt hat. »Und Sie sitzen da und schauen bekümmert drein, als müssten Sie den ganzen Tag Zitronen essen.«
»Vielleicht hatten wir damals mehr Grund zu lächeln.«
»Tja, das mag richtig sein.« Jaidee stellt seinen Sato zurück auf den zerkratzten Tisch und starrt ihn nachdenklich an. »In unseren früheren Leben müssen wir schreckliche Dinge getan haben, um dieses Leben verdient zu haben. Anders kann ich mir das alles nicht erklären.«
Kanya seufzt. »Manchmal sehe ich den Geist meiner Großmutter, wie sie in dem Chedi in der Nähe meines Hauses herumirrt. Sie hat mir erklärt, sie könne nicht wiedergeboren werden, bevor wir nicht eine bessere Welt erschaffen haben, in die sie zurückkehren kann.«
»Schon wieder ein Phii aus der Zeit vor der Großen Kontraktion? Wie hat sie Sie gefunden? Stammte sie nicht auch aus Isaan?«
»Sie hat mich trotzdem gefunden.« Kanya zuckt mit den Achseln. »Sie ist sehr unzufrieden mit mir.«
»Ja nun, wahrscheinlich werden wir genauso unzufrieden sein.«
Auch Jaidee hat diese Geister gesehen, die manchmal die Prachtstraßen entlangschreiten oder in den Bäumen sitzen. Die Phii sind jetzt allgegenwärtig. Man kann sie schon gar nicht mehr zählen. Er hat sie auf den Friedhöfen gesehen und wie sie sich an die Gebeine durchlöcherter Bobäume lehnten, und alle blickten sie ihn verärgert an.
Spiritistische Medien erzählen unentwegt davon, dass die Phii vor Enttäuschung fast verrückt werden, dass sie nicht wiedergeboren werden können und daher verweilen, wie die Menschenmassen am Bahnhof von Hua Lamphong, die auf eine Fahrt zu den Stränden hoffen. Sie warten auf ihre Wiedergeburt, doch die ist ihnen verwehrt, da sie die Leiden ebendieser Welt nicht verdient haben.
Mönchen wie Ajahn Suthep zufolge ist das allerdings Unsinn. Er verkauft Amulette zum Schutz gegen die Phii, und seiner Meinung nach sind das nichts als hungrige Geister, entstanden durch einen unnatürlichen Tod nach dem Verzehr von mit Rostwelke befallenem Gemüse. Jeder kann an seinem Hausschrein ein Opfer darbringen oder sogar zum Erawan-Schrein gehen, Brahma opfern und vielleicht den Tänzerinnen etwas spenden, damit sie Brahma gewogen stimmen, etwas Hoffnung erkaufen, damit die Geister zur Ruhe kommen und die Reise in ihre nächste Inkarnation antreten können. Eine solche Hoffnung ist nicht völlig unbegründet.
Trotzdem sind die Geister überall. Darüber sind sich alle einig. Die Opfer von AgriGen und PurCal und ihresgleichen.
Jaidee sagt: »Das mit Ihrer Großmutter würde ich nicht persönlich nehmen. Bei Vollmond habe ich auch schon gesehen, wie sich die Phii um das Umweltministerium drängten. Viele Dutzende.« Er lächelt traurig. »Das lässt sich einfach nicht mehr in Ordnung bringen. Wenn ich daran denke, dass Niwat und Surat in dieser Welt …« Er atmet tief durch — Kanya gegenüber will er nicht zeigen, wie sehr ihm das alles nahegeht. Also trinkt er noch einen Schluck. »Jedenfalls ist es gut zu kämpfen. Wenn wir nur ein paar Manager von AgriGen oder PurCal in die Finger bekämen — die würde ich glatt erwürgen. Oder ihnen eine Kostprobe von Rostwelke AG134.s verabreichen. Dann hätte mein Leben einen Sinn, und ich könnte glücklich sterben.«
»Sie werden wahrscheinlich auch nicht wiedergeboren«, stellt Kanya fest. »Sie sind zu gut, um noch einmal in dieser Hölle zu landen.«
»Wenn ich Glück habe, werde ich in Des Moines wiedergeboren und kann ihre Gentech-Labore abfackeln.«
»Schön wär’s.«
Der Tonfall, in dem Kanya das sagt, lässt Jaidee aufblicken. »Was bekümmert Sie? Warum so traurig? Wir werden beide an einem wunderschönen Ort wiedergeboren, davon bin ich überzeugt. Denken Sie sich nur, was wir gestern geleistet haben! Als wir die Fracht verbrannt haben, glaubte ich schon, der Zoll-Heeya macht sich in die Hosen.«
Kanya verzieht das Gesicht. »Wahrscheinlich sind sie noch nie Weißhemden begegnet, die sie nicht schmieren konnten. «
Und mit diesem einen Satz verdirbt sie Jaidee die gute Laune. Kein Wunder, dass niemand im Ministerium sie leiden kann. »Nein. Das ist wahr. Heutzutage ist jeder bestechlich. Nicht wie früher. Die Leute haben vergessen, wie viel schlimmer es einmal war. Sie haben keine so große Angst mehr.«
»Und jetzt legen Sie sich mit dem Handelsministerium an und springen der Kobra in den Rachen«, entgegnet Kanya. » Seit dem Putsch am 12. Dezember scheinen General Pracha und Minister Akkarat fortwährend im Clinch miteinander zu liegen. Offenbar suchen sie nach einem Grund, einen Streit vom Zaun zu brechen. Die beiden haben ihre Fehde nie beigelegt, und jetzt haben Sie Akkarat noch weiter gereizt. Dadurch stören sie das Gleichgewicht.«
»Tja, ich war schon immer zu sehr jai rawn, als gut für mich gewesen wäre. Chaya beklagt sich auch darüber. Aber dafür habe ich ja Sie. Um Akkarat würde ich mir allerdings keine Sorgen machen. Er wird noch eine Weile Feuer spucken und sich dann wieder beruhigen. Es mag ihm nicht gefallen, aber General Pracha hat zu viele Verbündete in der Armee — ein weiterer Putschversuch wäre zum Scheitern verurteilt. Nach dem Tod von Premierminister Surawong steht Akkarat völlig isoliert da. Ohne Megodonten und Panzer, um seine Drohungen wahrzumachen, mag er vielleicht reich sein, aber er ist und bleibt ein Papiertiger. Das ist eine gute Lektion für ihn.«
»Er ist gefährlich.«
Jaidee mustert sie ernst. »Das sind Kobras auch. Und Megodonten. Und Cibiskose. Wir sind von Gefahren umgeben. Akkarat …« Jaidee zuckt mit den Schultern. »Sei’s drum, es ist bereits geschehen. Daran können wir nichts mehr ändern. Warum sich also Sorgen machen? Mai pen rai. Macht nichts.«
»Sie sollten trotzdem vorsichtig sein.«
»Denken Sie an den Mann auf den Ankerplätzen? Den Somchai gesehen hat? Hat er Ihnen Angst eingejagt?«
Kanya zuckt mit den Achseln. »Nein.«
»Das überrascht mich. Mir nämlich schon.« Jaidee beobachtet Kanya und fragt sich, was er sagen, wie viel er von dem verraten soll, was er über die Welt, in der sie leben, weiß. »Ich hatte ein ziemlich mieses Gefühl, was ihn betrifft.«
»Wirklich?« Kanya wirkt bekümmert. »Sie haben Angst? Vor einem einzelnen Mann?«
Jaidee schüttelt den Kopf. »Nicht so sehr, dass ich davonlaufe und mich hinter Chayas Pha Sin verstecke. Trotzdem — ich habe ihn schon einmal gesehen.«
»Davon haben Sie mir nichts gesagt.«
»Ich war mir erst nicht sicher. Inzwischen allerdings schon. Ich glaube, er arbeitet für das Handelsministerium.« Er hält inne und denkt nach. »Ich glaube, sie machen wieder Jagd auf mich. Vielleicht überlegen sie, ob sie es noch einmal mit einem Mordanschlag versuchen sollen. Was glauben Sie?«
»Das würden sie nicht wagen! Ihre Majestät die Königin hat sich zu Ihren Gunsten ausgesprochen.«
Jaidee fasst sich an den Hals, wo sich die alte Federpistolennarbe noch immer auf seiner dunklen Haut abzeichnet. »Nicht einmal, nachdem ich sie auf den Ankerplätzen angegriffen habe?«
Kanya wirft den Kopf in den Nacken. »Ich werde Ihnen eine Leibwache zuteilen.«
Jaidee muss über ihre Heftigkeit lachen — Kanyas Reaktion beruhigt ihn und wärmt ihm das Herz. »Sie sind ein braves Mädchen, aber ich wäre ein Narr, wenn ich mit einer Leibwache herumlaufen würde. Dann wüsste jeder, dass man mir Angst einjagen kann. Tiger kennen keine Furcht. Hier, essen Sie das.« Er schaufelt noch mehr Schlangenkopf-Plaa auf Kanyas Teller.
»Ich bin satt.«
»Seien Sie nicht so höflich. Essen Sie!«
»Sie sollten sich eine Leibwache nehmen. Bitte!«
»Ich vertraue darauf, dass Sie mir den Rücken decken. Das sollte genügen.«
Kanya zuckt zusammen, und Jaidee verkneift sich ein Lächeln. Ach, Kanya, denkt er bei sich. Wir alle müssen Entscheidungen fällen, immer wieder. Ich habe mich entschieden. Aber du hast dein eigenes Kamma. Mit sanfter Stimme sagt er: »Bitte essen Sie noch etwas — Sie sind furchtbar mager. Wie wollen Sie einen Freund finden, wenn Sie nur aus Haut und Knochen bestehen?«
Kanya schiebt ihren Teller von sich fort. »Ich habe in letzter Zeit einfach keinen Appetit.«
Jaidee schüttelt den Kopf. Er legt seine Gabel und seinen Löffel auf den Tisch. »Was ist los? Sie sind noch niedergeschlagener als sonst. Ich komme mir vor, als hätten wir gerade einen Ihrer Brüder in die Urne getan. Was bereitet Ihnen Kummer?«
»Nichts weiter. Wirklich. Ich hab einfach keinen Hunger.«
»Jetzt rücken Sie schon damit raus, Leutnant. Ich möchte, dass Sie mir die Wahrheit sagen. Das ist ein Befehl. Sie sind eine gute Offizierin. Ich kann Ihr trauriges Gesicht nicht länger ertragen. Ich möchte nicht, dass meine Leute traurig dreinschauen, nicht einmal die aus Isaan.«
Kanya verzieht das Gesicht. Jaidee mustert seine Untergebene eindringlich, während diese darüber nachgrübelt, was sie sagen soll. Er fragt sich, ob er jemals so beherrscht gewesen ist wie diese junge Frau. Er bezweifelt es. Er war schon immer zu ungestüm, zu reizbar. Nicht wie Kanya, die mürrische Kanya, die immer jai yen ist, ohne Ausnahme. Niemals sanuk, aber jai yen, das ganz bestimmt.
Er wartet und hofft, dass sie ihm endlich ihre Geschichte erzählt, ihre Geschichte in ihrer ganzen schmerzvollen Menschlichkeit. Aber als Kanya endlich die richtigen Worte findet, versetzt sie ihn in Erstaunen. Sie spricht ganz leise, als wäre es ihr unangenehm, überhaupt etwas zu sagen.
»Einige der Männer beschweren sich, dass Sie nicht genügend Geschenke als Zeichen des Entgegenkommens annehmen. «
»Was?« Jaidee lehnt sich zurück und starrt sie an. »An so etwas beteiligen wir uns nicht. Wir sind anders als die anderen. Und stolz darauf!«
Kanya nickt zustimmend. »Und die Zeitungen und Flüsterblätter lieben Sie dafür. Und das Volk auch.«
»Aber?«
Ihre Miene wird wieder betrübt. »Aber Sie werden nicht mehr befördert, und die Männer, die Ihnen treu ergeben sind, profitieren nicht von Ihrer Protektion, und sie verlieren den Mut.«
»Aber sehen Sie doch, was wir bewirken!« Jaidee klopft auf den Beutel mit dem Geld zwischen seinen Beinen, das sie auf dem Klipper konfisziert haben. »Sie wissen alle, dass ich Ihnen helfen werde, wenn Sie etwas brauchen.«
Kanya starrt auf den Tisch und murmelt: »Einige sagen, dass Sie das Geld behalten möchten.«
»Was?« Jaidee starrt sie sprachlos an. »Glauben Sie das auch?«
Kanya zuckt unglücklich mit den Achseln. »Natürlich nicht.«
Jaidee schüttelt entschuldigend den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Sie sind ein braves Mädchen. Sie haben eine Menge geleistet.« Er lächelt seinen Leutnant an, und fast droht ihn das Mitleid mit dieser jungen Frau zu überwältigen. Als sie zu ihm kam, stand sie kurz vor dem Verhungern, sie betete ihn an, ihn, den ehemaligen Champion, und wollte ihm unbedingt nacheifern.
»Ich gebe mir allergrößte Mühe, die Gerüchte im Keim zu ersticken, aber …« Wieder zuckt sie unglücklich mit den Achseln. »Die Kadetten sagen, unter Hauptmann Jaidee zu dienen, sei, als würde man nur Akah-Würmer zu essen bekommen. Sie arbeiten und arbeiten und werden immer dünner und dünner. Das sind brave Jungs, die wir da haben, aber wie sollten sie sich nicht schämen, wenn sie alte Uniformen tragen müssen, während ihre Kameraden in ganz neuen daherkommen. Wenn sie sich zu zweit ein Fahrrad teilen müssen und ihre Kameraden Spannfederroller fahren.«
Jaidee seufzt. »Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, als Weißhemden geliebt wurden.«
» Jeder muss essen.«
Jaidee seufzt erneut. Er zieht den Beutel zwischen seinen Beinen hervor und schiebt ihn Kanya über den Tisch. »Nehmen Sie das Geld. Teilen Sie es gleichmäßig unter ihnen auf. Dafür, dass sie gestern so tapfer waren und so hart gearbeitet haben.«
Sie schaut ihn überrascht an. »Sind Sie sicher?«
Jaidee zuckt mit den Schultern und lächelt. Seine Enttäuschung zeigt er nicht, denn er weiß, dass es so am besten ist, auch wenn es ihn maßlos traurig stimmt. »Warum nicht? Sie haben es gesagt — es sind brave Jungs. Und schließlich ist im Handelsministerium der Teufel los, und die Farang sind stinksauer. Sie haben gute Arbeit geleistet.«
Kanya bezeigt ihm mit einem Wai ihren tiefen Respekt, wobei sie den Kopf senkt und sich die Handflächen an die Stirn drückt.
»Ach, hören Sie auf mit dem Unfug.« Jaidee gießt den Rest der Flasche Sato in Kanyas Glas. »Mai pen rai. Macht nichts. Das sind Kleinigkeiten. Morgen werden wir neue Schlachten schlagen. Und wir brauchen brave, treue Kerle, die uns dabei unterstützen. Wie sollen wir AgriGen und PurCal jemals bezwingen, wenn unsere Leute nicht satt werden?«