Die Menschenmenge um Emiko herum schwillt immer weiter an. Sie wird angerempelt. Es gibt kein Entkommen. Sie ist vollkommen schutzlos, kann jederzeit entdeckt werden.
Am liebsten würde sie sich einen Weg freischlagen, um ihr Überleben kämpfen, auch wenn sie keine Möglichkeit sieht, aus diesem Pulk herauszukommen, bevor sie überhitzt. Ich werde keinesfalls wie ein Tier verrecken. Ich werde kämpfen. Sie werden bluten.
Mühsam kämpft sie die aufsteigende Panik nieder. Versucht, ruhig nachzudenken. Immer mehr Menschen drängen sich um sie herum und versuchen, näher an den Anschlag heranzukommen. Obwohl sie mitten unter ihnen ist, hat sie noch niemand bemerkt. Solange sie sich nicht bewegt …
Der Druck der sie umgebenden Menschen ist dabei eher von Vorteil. Ein Zittern ist so gar nicht möglich und schon gar nicht eine der abgehackten Bewegungen, die sie enttarnen würden.
Ganz ruhig. Vorsichtig.
Emiko gibt dem Druck nach, lehnt sich an und schiebt sich auf diese Weise Stück für Stück vorwärts, immer mit gesenktem Kopf, als wäre sie eine von Schluchzern geschüttelte Frau, die von der Nachricht über diesen Schlag gegen das Königshaus schwer erschüttert ist. Sie starrt auf ihre Füße und schlängelt sich durch die Menge; schließlich gelangt sie bis an den äußeren Rand. Dort haben sich die Menschen in kleinen Grüppchen zusammengefunden — einige weinen, manche sitzen auf der Erde und schauen fassungslos umher. Fast empfindet Emiko Mitleid mit diesen Leuten. Sie muss an den Moment denken, als Gendo-sama sein Luftschiff bestieg, nachdem er ihr erklärt hatte, dass er ihr eigentlich einen Gefallen getan hätte, obwohl er sie gerade mitten in Krung Thep auf der Straße aussetzte.
Konzentriere dich, ruft sie sich wütend zur Ordnung. Sie muss von hier weg. Eine der Gassen erreichen, wo sie sich verbergen kann. Auf die Dunkelheit warten.
Deine Beschreibung hängt überall: an jedem Methangaslaternenpfahl, und auf der Straße trampeln die Fußgänger darauf herum. Es gibt keinen Ausweg. Sie erstickt diesen Gedanken im Keim. Sie muss nur die Gasse erreichen. Dann kann sie weiterplanen. Sie hält den Blick gesenkt. Schlingt die Arme um den Oberkörper und gibt vor, heftig zu weinen. Schlurft auf die Gasse zu. Langsam. Langsam.
»Du da! Komm her!«
Emiko erstarrt. Zwingt sich dazu, zögernd aufzublicken. Ein Mann winkt ihr zu; er sieht zornig aus. Sie öffnet den Mund, will etwas einwenden, doch stattdessen hört sie hinter sich jemanden sprechen.
»Hast du mir etwas zu sagen, Heeya?«
Ein junger Mann drängt sich an ihr vorbei; er trägt ein gelbes Stirnband und hat einen Stapel Flugblätter unterm Arm.
»Was hast du denn da, Jüngelchen?«
Andere Menschen strömen herbei, um die Auseinandersetzung mitzuverfolgen. Die Männer schreien einander an und vollführen Drohgebärden. Die Umstehenden beginnen Partei zu ergreifen. Sie feuern die Männer an. Derart ermutigt, versetzt der Ältere von beiden dem Jüngeren einen Schlag und versucht dann, ihm das Stirnband abzunehmen. »Du bist nicht für die Königin. Also bist du ein Verräter!« Er entwendet dem jungen Mann die Handzettel und wirft sie zu Boden. Dann trampelt er auf ihnen herum. »Mach, dass du wegkommst! Und nimm die Lügengeschichten dieses Heeyas Pracha gleich mit.« Als die Zettel durch die Luft wirbeln, kann Emiko einen Blick auf eine Karikatur von Akkarat erhaschen, der mit einem Lächeln auf den Lippen den Großen Palast verschlingt.
Der Jüngere versucht, seine Flugblätter einzusammeln. »Von wegen Lügen! Akkarat will die Königin stürzen. Das ist doch offensichtlich!«
Die Menge bricht in höhnisches Gelächter aus. Doch es gibt auch einige unter den Zuschauern, die ihm lauthals zustimmen. Der Junge wendet sich von seinem Angreifer ab und spricht die Umstehenden an: »Akkarat ist machthungrig. Er will immer nur …«
Da bekommt er einen Tritt in den Hintern. Wutentbrannt fährt der Junge herum und greift an. Emiko hält den Atem an. Es ist ein Kämpfer. Höchstwahrscheinlich Muay-Thai. Er rammt dem älteren Mann den Ellbogen gegen den Kopf. Dieser bricht zusammen. Der Junge beugt sich über ihn und beleidigt ihn auf das Übelste, doch seine Stimme wird von der Menge übertönt, die in lautes Geschrei ausbricht und dann vorwärtsdrängt. Ein Fäustehagel geht auf ihn nieder. Das Kreischen des Jungen hallt durch die Straße.
Emiko wendet sich ab und gleitet, ohne weiter auf die Kontrolle ihrer Bewegungen zu achten, durch die kämpfende Meute. Sie wird herumgestoßen, denn von überallher stürmen weitere Menschen heran, die dem Jungen helfen wollen. So schnell es geht, schiebt sie sich an ihnen vorbei. In diesem Moment ist sie beinahe unsichtbar. Sie taumelt aus dem Gedränge hervor und taucht in den Schatten einer Seitenstraße ein.
Der Kampf weitet sich aus. Emiko hält nach einem Müllhaufen Ausschau, unter dem sie sich verstecken kann. Hinter sich hört sie Glas splittern. Ein Schrei. Sie kauert sich neben einer kaputten WeatherAll-Kiste zusammen und häuft Abfälle um sich auf — Rinden von Durianfrüchten, Hanfreste eines zerrissenen Korbes, weggeworfene Bananenblätter, alles, was ihr ein wenig Schutz verschafft. Als die Aufständischen lauthals schreiend in die Seitenstraße gelaufen kommen, erstarrt sie und kauert sich zusammen. Wohin sie auch blickt, überall sieht sie vor Wut verzerrte Gesichter.