»Haben Sie Akkarat gegenüber betont, dass Zeit bei diesem Angebot ein entscheidender Faktor ist?«, fragt Anderson.
»Was beschweren Sie sich denn?« Carlyle prostet Anderson mit einem Glas warmem Bier zu. »Immerhin hat er Sie noch nicht von Megodonten vierteilen lassen.«
»Ich kann ihn mit Geld und Rohstoffen versorgen. Und was wir im Gegenzug dafür verlangen, ist nicht viel. Die Zeiten haben sich geändert.«
»Die Dinge stehen gut für ihn. Vielleicht glaubt er, dass er Sie gar nicht braucht. Immerhin kriechen die Weißhemden vor ihm zu Kreuze. So viel Einfluss hatte er nicht mehr seit dem Debakel am 12. Dezember.«
Anderson zieht eine wütende Grimasse. Er greift nach seinem Glas, stellt es dann jedoch wieder hin. Die warme Brühe ist ihm zuwider. Er hat sowieso schon einen dicken Kopf vom Sato und von der Hitze. Allmählich hat er den Eindruck, dass Sir Francis die Farang loswerden möchte, sie mit leeren Versprechen und warmem Whisky abspeist — kein Eis heute, es tut mir so leid. Die wenigen anderen Gäste, die an der Theke stehen, wirken ebenso betäubt wie er.
»Sie hätten zugreifen sollen, als ich Ihnen mein erstes Angebot gemacht habe«, stellt Carlyle fest. »Dann würden Sie jetzt nicht derart im eigenen Saft schmoren.«
»Als Sie mir Ihr erstes Angebot gemacht haben, waren Sie ein Aufschneider, der gerade ein ganzes Luftschiff verloren hatte.«
Carlyle lacht. »Tja, wenn Sie nur da schon begriffen hätten, was hinter den Kulissen wirklich passiert.«
Anderson schenkt Carlyles Sticheleien keine Beachtung. Natürlich ärgert es ihn, dass Akkarat sein Angebot so beiläufig ausgeschlagen hat. Andererseits fällt es ihm zunehmend schwer, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er muss unablässig an Emiko denken. Jeden Abend eilt er ins Ploenchit, nimmt sie ganz für sich in Anspruch, überschüttet sie mit Baht. Auch wenn Raleigh den Rachen nicht voll bekommen kann, die Gesellschaft des Aufziehmädchens ist immer noch ein billiges Vergnügen. In ein paar Stunden wird die Sonne untergehen, und sie wird erneut auf die Bühne stöckeln. Als er ihr das erste Mal dabei zugeschaut hat, erwiderte sie seinen Blick und flehte ihn stumm an, sie vor dem zu bewahren, was gleich geschehen würde.
»Mein Körper gehört nicht mir«, erklärte sie ihm mit ausdrucksloser Stimme, als er sie fragte, warum sie das mit sich machen ließ. »Die Männer, die mich geschaffen haben — sie zwingen mich, Dinge zu tun, die ich nicht kontrollieren kann. Als wären ihre Hände in mir. Wie Puppen, ja?« Sie ballte die Hände, öffnete und schloss sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, aber ihre Stimme blieb gedämpft. »Sie haben mir Gehorsam einprogrammiert, in jeder Beziehung.«
Und dann schenkte sie ihm ein reizendes Lächeln und schmiegte sich an ihn, als gäbe es nichts, worüber sie sich zu beklagen hätte.
Sie ist ein Tier. So unterwürfig wie ein Hund. Und doch, wenn er sich zusammenreißt und sie nicht unter Druck setzt, dann kommt ein anderes Aufziehmädchen zum Vorschein. Ein Geschöpf, so kostbar und selten wie ein lebender Bobaum. Ihre Seele, die sich aus der erstickenden Umklammerung der DNA-Stränge löst.
Er fragt sich, ob er sich wohl mehr über den Missbrauch aufregen würde, wenn sie wirklich ein Mensch wäre. Es ist schon seltsam, mit einer künstlich hergestellten Kreatur zusammen zu sein — einer Kreatur, die darauf trainiert ist, ihm zu dienen. Sie gibt selbst zu, dass ihre Seele gespalten ist; dass sie nicht weiß, inwieweit sie Herr ihrer selbst und inwieweit sie ihren Genen ausgeliefert ist. Hat sie ihre Dienstbeflissenheit irgendwelcher Hunde-DNA zu verdanken, die ihr stets den untersten Rang im Menschenrudel diktiert? Oder liegt das an der Ausbildung, von der sie erzählt hat?
Das Geräusch marschierender Stiefel reißt Anderson aus seinen Gedanken. Carlyle reckt den Hals, um zu sehen, was da los ist. Anderson richtet sich auf und stößt dabei fast sein Bierglas um.
Die Straße hat sich in ein Meer weißer Uniformen verwandelt. Fußgänger, Radfahrer und Garküchenbesitzer stieben auseinander, drücken sich verzweifelt an die Wände der umstehenden Gebäude, um den Truppen des Umweltministeriums Platz zu machen. Federgewehre, schwarze Schlagstöcke und blendend weiße Uniformen, so weit das Auge reicht. Die Gestalt gewordene Entschlossenheit marschiert an ihnen vorbei. Das resolute Angesicht einer Nation, die noch nie erobert worden ist.
»Jesus und Noah«, murmelt Carlyle.
Anderson kneift die Augen zusammen. »Das sind verdammt viele Weißhemden.«
Auf ein verstecktes Signal hin lösen sich zwei Weißhemden aus der Kolonne und betreten das Sir Francis. Mit kaum verhülltem Ekel mustern sie die Farang, die benommen in der Hitze herumliegen.
Sir Francis, für gewöhnlich eher unbekümmert, wenn er denn überhaupt anwesend ist, kommt herbeigeeilt und verbeugt sich tief vor den beiden Männern.
Anderson deutet mit einer Kopfbewegung Richtung Tür. »Wir gehen wohl besser, was?«
Carlyle nickt mit ernster Miene. »Möglichst unauffällig, würde ich sagen.«
»Dafür dürfte es zu spät sein. Glauben Sie, die suchen nach Ihnen?«
Carlyle beißt sich auf die Unterlippe. »Eigentlich hatte ich gehofft, sie hätten es auf Sie abgesehen.«
Sir Francis beendet sein Gespräch mit den Weißhemden. Er dreht sich um und ruft seinen Gästen zu: »Es tut mir leid, aber wir haben geschlossen. Alles hat geschlossen. Sie müssen gehen. Sofort.«
Anderson und Carlyle stehen auf, beide etwas unsicher auf den Beinen. »Ich hätte nicht so viel trinken sollen«, murmelt Carlyle.
Zusammen mit den anderen Gästen wanken sie hinaus. In der gleißenden Sonne bleiben sie stehen und schauen zu, wie die Weißhemden an ihnen vorbeiströmen. Das Knallen von Stiefeln hallt durch die Straßen. Gewalt liegt in der Luft.
Anderson beugt sich zu Carlyle hinüber. »Da wird doch nicht wieder Akkarat seine Finger im Spiel gehabt haben, oder? Wie bei Ihrem abgestürzten Luftschiff, meine ich.«
Carlyle bleibt ihm die Antwort schuldig, doch sein grimmiger Gesichtsausdruck verrät Anderson alles, was er wissen muss. Hunderte von Weißhemden drängen sich auf den Straßen, und es werden immer mehr. Der uniformierte Fluss nimmt kein Ende.
»Anscheinend haben sie Truppen aus der Provinz hinzugezogen. So viele Weißhemden arbeiten unmöglich in der Stadt.«
»Das sind die Frontkämpfer des Ministeriums — sie sind es, die die Brände legen«, erklärt Carlyle. »Wenn die Cibiskose oder die Hühnergrippe außer Kontrolle gerät.« Er hebt die Hand, um Anderson auf etwas hinzuweisen, überlegt es sich dann jedoch anders, weil er keine Aufmerksamkeit erregen möchte. Stattdessen nickt er. »Sehen Sie die Abzeichen? Der Tiger und die Fackel? Das sind Selbstmordkommandos, nichts anderes. Bei denen hat auch der Tiger von Bangkok angefangen.«
Anderson nickt verbissen. Es ist eine Sache, sich über die Weißhemden zu beschweren und Witze über ihre Dummheit und Bestechlichkeit zu reißen. Es ist etwas völlig anderes, sie so vorbeimarschieren zu sehen. Die Erde bebt unter ihren Stiefeln. Staub wirbelt auf. Ihre Zahl scheint endlos, und Anderson muss sich zusammennehmen, um nicht die Flucht zu ergreifen. Das sind Raubtiere. Anderson ist die Beute. Er fragt sich, ob Peters und Lei eine auch nur annähernd so deutliche Warnung erhielten, bevor in Finnland alles den Bach runterging.
»Haben Sie eine Pistole?«, fragt er Carlyle.
Carlyle schüttelt den Kopf. »Die bringen einen nur in Schwierigkeiten.«
Anderson sucht die Straße nach Lao Gu ab. »Mein Rikschafahrer hat sich verdrückt.«
»Verfluchte Yellow Cards.« Carlyle lacht leise. »Die wissen auch immer, woher der Wind weht. Ich möchte wetten, dass sämtliche Yellow Cards in der ganzen Stadt untergetaucht sind.«
Anderson packt Carlyle am Ellenbogen. »Kommen Sie. Und versuchen Sie, möglichst keine Aufmerksamkeit zu erregen. «
»Wohin gehen wir?«
»Wir wollen mal schauen, was los ist.«
Anderson führt ihn eine Nebenstraße entlang. Sein Ziel ist der Hauptfracht-Khlong, ein Kanal, der direkt ins Meer fließt. Fast augenblicklich sehen sie sich einem Kordon von Weißhemden gegenüber, die ihre Gewehre heben und Anderson und Carlyle bedeuten, einen anderen Weg einzuschlagen.
»Sieht so aus, als würden sie das ganze Viertel abriegeln«, sagt Anderson. »Die Schleusen. Die Fabriken.«
»Quarantäne?«
»Wenn sie hier wären, um Brände zu legen, würden sie Masken tragen.«
»Also ein Putsch? Wie am 12. Dezember?«
Anderson zieht die Augenbrauen hoch. »Ist es dafür nicht ein wenig früh?«
Carlyle betrachtet die Weißhemden. »Vielleicht ist uns General Pracha einen Schritt voraus.«
Anderson zieht ihn in die andere Richtung. »Kommen Sie. Gehen wir zu meiner Fabrik. Vielleicht weiß Hock Seng etwas. «
Überall entlang der Straße holen Weißhemden die Leute aus ihren Geschäften und fordern sie auf, die Türen zu verschließen. Ladenbesitzer befestigen hastig Holzplatten vor ihren Schaufenstern. Eine weitere Kompanie Weißhemden marschiert vorbei.
Als Anderson und Carlyle vor der SpringLife-Fabrik eintreffen, sehen sie gerade noch, wie die Megodonten herausgeführt werden. Anderson schnappt sich einen der Mahout, der sein Tier mit einem Peitschenschlag zum Stehen bringt und Anderson fragend ansieht, während der Megodont schnaubt und ungeduldig mit den Füßen aufstampft. Fließbandarbeiter strömen um das Hindernis herum.
»Wo ist Hock Seng?«, fragt Anderson. »Der Yellow-Card-Boss. Wo?«
Der Mahout schüttelt den Kopf. Immer mehr Arbeiter eilen an ihnen vorbei.
»Waren die Weißhemden hier?«
Der Mahout antwortet so schnell, dass Anderson ihn nicht versteht. Carlyle übersetzt. »Er sagt, dass die Weißhemden auf Rache aus sind. Sie wollen ihren Gesichtsverlust wiedergutmachen. «
Der Mahout macht eine unwirsche Handbewegung, und Anderson tritt beiseite.
Auch aus der Chaozhou-Fabrik auf der anderen Straßenseite werden die Arbeiter evakuiert. Keiner der Läden hat mehr geöffnet, die Garküchen sind alle in die Häuser geschoben worden oder befinden sich in wilder Flucht. Entlang der Straße sind alle Türen geschlossen. Aus Fenstern in den oberen Stockwerken lugen hier und dort Thai heraus, aber auf der Straße sind nur davoneilende Arbeiter und marschierende Weißhemden zu sehen. Die letzten SpringLife-Angestellten hasten vorbei, ohne Carlyle oder Lake die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
»Das wird ja mit jeder Minute schlimmer«, murmelt Carlyle. Unter seiner tropischen Sonnenbräune ist er blass geworden.
Eine weitere Welle Weißhemden biegt um die Ecke — sechs Reihen nebeneinander, eine Schlange, die sich die ganze Straße entlang erstreckt.
Angesichts der abgesperrten Ladengeschäfte stellen sich Anderson die Nackenhaare auf. Fast könnte man meinen, alles bereitet sich auf einen Taifun vor. »Folgen wir dem Beispiel der Eingeborenen und machen wir, dass wir hineinkommen. « Er packt eines der schweren Eisentore und zerrt daran. »Helfen Sie mir!«
Sie brauchen ihre ganze Kraft, um die Tore zu schließen und die schweren Riegel vorzulegen. Anderson versetzt dem Schloss einen letzten Schlag und lehnt sich dann keuchend gegen das heiße Eisen. Carlyle betrachtet die Gitterstäbe. »Heißt das, dass wir jetzt sicher sind oder dass wir in der Falle sitzen?«
»Noch sind wir nicht im Khlong-Prem-Gefängnis. Also können wir wohl davon ausgehen, dass wir es geschafft haben. «
Aber innerlich hegt Anderson Zweifel. Es sind zu viele Variablen im Spiel, und das macht ihn nervös. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie es in Missouri einmal zu Ausschreitungen der Grahamiten kam. Die Lage war angespannt gewesen, es wurden Reden gehalten, und dann entlud sich der Zorn der Menge vulkanartig. Niemand hatte es kommen sehen. Nicht ein einziger Mitarbeiter des Geheimdienstes hatte geahnt, was für ein Hexenkessel unter der Oberfläche brodelte.
Anderson war schließlich auf einem Getreidesilo gelandet und wäre fast am Rauch der brennenden HiGro-Felder erstickt, während er Schuss um Schuss aus einem Federgewehr, das er einem begriffsstutzigen Wachmann abgenommen hatte, auf die Aufständischen abfeuerte und sich die ganze Zeit fragte, wie er sämtliche Vorzeichen hatte übersehen können. Wegen ebendieser Blindheit hatten sie die Anlage verloren. Und jetzt ist es wieder dasselbe. Eine plötzliche Eruption, und er muss überrascht feststellen, dass die Welt, wie er sie sieht, nicht mit derjenigen übereinstimmt, in der er tatsächlich lebt.
Steckt Pracha dahinter, der nach der Macht greift? Oder Akkarat, der für Unruhe sorgt? Oder ist einfach nur eine neue Seuche ausgebrochen? Alles war möglich. Während Anderson zuschaut, wie die Weißhemden vorbeiströmen, kann er fast den Rauch der brennenden HiGro-Silos riechen.
Er winkt Carlyle, ihm in die Fabrik zu folgen. »Wir müssen Hock Seng finden. Wenn jemand irgendetwas weiß, dann er.«
Die Büroräume im Obergeschoss sind jedoch leer. Hock Sengs Räucherstäbchen brennen gleichmäßig, dünne Rauchfäden steigen auf. Überall auf den Schreibtischen liegen Unterlagen verstreut; das Papier raschelt in der sanften Brise der Kurbelventilatoren.
Carlyle lacht, leise und zynisch. »Na, ist Ihnen ein Assistent abhandengekommen?«
»Sieht so aus.«
Der Tresor mit der Handkasse ist nicht verschlossen. Anderson wirft einen Blick hinein. Wenigstens 30 000 Baht fehlen. »Verdammte Scheiße. Der Kerl hat mich bestohlen.«
Carlyle schiebt einen Fensterladen auf. Dahinter kommt ein Ziegeldach zum Vorschein, das sich über die ganze Länge der Fabrik erstreckt. »Schauen Sie sich das mal an.«
Anderson runzelt die Stirn. »Da hat er immer an der Verriegelung rumgemacht. Und ich dachte, er hatte Angst, jemand könnte einbrechen.«
»Ich glaube, er hat sich verdrückt.« Carlyle lacht. »Sie hätten ihn rauswerfen sollen, als Sie noch die Gelegenheit dazu hatten.«
Wieder hallt das Knallen von Stiefeln zu ihnen herauf — auf der Straße ist kein anderes Geräusch mehr zu hören.
»Immerhin, er hat Vorsorge getroffen!«
»Sie wissen doch, was die Thai sagen: »Wenn irgendwo ein Yellow-Card wegrennt, ist ihm bestimmt ein Megodont auf den Fersen.«
Anderson lässt noch ein letztes Mal den Blick durch das Büro schweifen und lehnt sich dann aus dem Fenster. »Kommen Sie! Wollen doch mal sehen, wohin sich mein Assistent verzogen hat.«
»Im Ernst?«
»Wenn er den Weißhemden aus dem Weg gehen wollte, dann sollten wir seinem Beispiel folgen. Ganz offensichtlich hatte er einen Plan.« Anderson zieht sich hoch und klettert in die Sonne hinaus. Fast verbrennt er sich an den Dachziegeln die Hände. Er richtet sich auf und schüttelt sie. Dabei kommt er sich vor, als stünde er in einer Bratpfanne. Er schaut sich auf dem Dach um, während er langsam ein- und ausatmet. Weiter hinten erhebt sich die Chaozhou-Fabrik. Anderson geht ein paar Schritte, dreht sich dann um und ruft: »Ja. Ich glaube, er ist hier entlang.«
Carlyle steigt auf das Dach hinaus. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß, und sein Hemd ist nass. Vorsichtig gehen sie über die rötlichen Ziegel, während die Luft um sie herum zu kochen scheint. Schließlich stehen sie am Rand des Daches und blicken auf eine schmale Gasse hinab, die von der Thanon Phosri nicht einzusehen ist. Auf der anderen Seite hängt eine Leiter an der Mauer.
»Ich fass es nicht.«
Beide starren Sie die drei Stockwerke hinunter. »Ihr alter Chinese ist da rübergesprungen?«, fragt Carlyle.
»Sieht so aus. Und dann ist er die Leiter runtergelettert.« Anderson runzelt die Stirn. »Ziemlich tief.« Ohne es zu wollen muss er über Hock Sengs Einfallsreichtum lächeln. »Kluger Kerl.«
»Das ist ein ganz schönes Stück.«
»Halb so schlimm. Und wenn Hock Seng …«
Anderson spricht seinen Satz nicht zu Ende, denn in dem Moment segelt Carlyle an ihm vorbei und über die Gasse hinweg. Er landet auf der anderen Seite und rollt sich ab. Kurz darauf ist er wieder auf den Beinen und winkt Anderson aufmunternd zu.
Anderson beißt sich auf die Unterlippe und nimmt Anlauf. Bei der Landung klappern ihm die Zähne. Bis er aufgestanden ist, verschwindet Carlyle bereits über dem Rand des Daches und klettert die Leiter hinunter. Anderson folgt ihm, wobei er sein linkes Knie schont, das er sich zerschrammt hat. Carlyle schaut sich bereits suchend um, als Anderson neben ihm landet.
»In dieser Richtung liegt die Thanon Phosri, und da warten unsere Freunde auf uns«, sagt er. »Das ist keine gute Idee.«
»Hock Seng leidet an Verfolgungswahn«, entgegnet Anderson. »Er hat bestimmt irgendwo einen Fluchtweg ausgespäht. Und der führt ganz sicher nicht auf die Hauptstraße.« Er geht in die andere Richtung. Fast sofort sieht er einen Spalt zwischen zwei Fabrikmauern.
Carlyle schüttelt voller Bewunderung den Kopf. »Nicht übel.« Sie quetschen sich in den schmalen Durchgang und folgen ihm mehr als einhundert Meter weit, bis sie vor einer rostigen Blechtür stehen. Als sie diese beiseiteschieben, blickt ein Großmütterchen von ihrer Wäsche auf. Sie stehen in einem winzigen Hinterhof. Überall hängen Kleider an Leinen, und das Sonnenlicht, das durch den feuchten Stoff fällt, bildet einen Regenbogen. Die alte Frau bedeutet ihnen mit einer Handbewegung weiterzugehen.
Kurz darauf stehen sie in einer kleinen Soi, die wiederum in eine Folge labyrinthischer Gassen übergeht, die sich durch einen behelfsmäßigen Slum winden. Hier leben die Kulis, die an den Schleusen arbeiten und Güter von den Fabriken zum Meer befördern. In den engen Gassen kauern die Arbeiter über Nudeln und gebratenem Fisch. WeatherAll-Hütten. Schweiß und das Halbdunkel überhängender Dächer. Der Qualm von gebratenem Chili brennt ihnen im Hals, und hustend halten sie sich die Hände vor den Mund, während sie sich durch die entsetzliche Hitze kämpfen.
»Wo zum Teufel sind wir?«, murmelt Carlyle. »Ich hab völlig die Orientierung verloren.«
»Spielt das eine Rolle?«
Sie bahnen sich einen Weg vorbei an Hunden, die wie betäubt in der Sonne liegen, an Cheshire, die auf Abfallhaufen hocken. Schweiß läuft Anderson über das Gesicht. Der leichte Rausch, den er sich im Sir Francis angetrunken hat, ist längst verflogen. Dunkle Gassen und schmale Soi winden sich zwischen den Hütten hindurch. Sie müssen sich an Fahrrädern vorbeiquetschen, an Stapeln mit Altmetall und Kokosnussplanen.
Vor ihnen öffnet sich ein Durchgang. Sie stolpern in das diamantene Sonnenlicht hinaus. Anderson atmet tief durch — die Luft ist hier vergleichsweise frisch. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie sehr ihn die Enge zwischen den Hütten bedrückt hat. Das hier ist zwar noch keine breite Straße, aber es herrscht immerhin ein gewisser Verkehr. »Das kommt mir bekannt vor«, sagt Carlyle. »Hier in der Nähe ist irgendwo eine Kaffeebude, wo einer meiner Leute gerne hingeht.«
»Wenigstens hat es hier keine Weißhemden.«
»Ich muss zurück ins Victory«, fährt Carlyle fort. »Ich habe dort Geld im Tresor.«
»Wie viel ist Ihr Kopf wert?«
Carlyle zieht eine Grimasse. »Hm. Vielleicht haben Sie Recht. Aber ich muss wenigstens irgendwie Verbindung zu Akkarat aufnehmen. Und herausfinden, was los ist. Damit wir überlegen können, was wir als Nächstes tun sollen.«
»Hock Seng und Lao Gu sind beide untergetaucht«, entgegnet Anderson. »Für den Augenblick sollten wir dem Beispiel der Yellow Cards folgen. Wir können eine Rikscha zum Sukhumvit-Khlong nehmen und von dort ein Boot zu meiner Wohnung. So halten wir uns von den Industriegebieten fern. Und von diesen ganzen verfluchten Weißhemden.«
Er winkt eine Rikscha heran und macht sich nicht einmal die Mühe, um den Fahrpreis zu feilschen, als er und Carlyle einsteigen.
Anderson entspannt sich allmählich — sie sind den Weißhemden entkommen. Fast schämt er sich für seine Angst. Vielleicht wären sie einfach nur die Straße entlangmarschiert und hätten ihn in Ruhe gelassen. Vielleicht sind sie völlig grundlos über die Dächer geflüchtet. Vielleicht … Frustriert schüttelt er den Kopf. Es fehlt ihnen einfach an Informationen.
Hock Seng hat nicht abgewartet. Er hat sich einfach das Geld geschnappt und ist davongerannt. Bei der Vorstellung, wie sein Assistent über die Gasse springt, muss er lachen.
»Was ist denn da so komisch?«
»Ach, nur Hock Seng. Er hat alles genau geplant. Bis in die kleinste Einzelheit. Kaum gibt es Schwierigkeiten — wusch! Schon verschwindet er durchs Fenster hinaus.«
Carlyle grinst. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie sich einen geriatrischen Ninja halten.«
»Ich dachte immer …« Anderson verstummt. Der Verkehr gerät ins Stocken. Er steht auf und erhascht einen Blick auf weiße Uniformen. »Scheiße.« Die Soldaten des Umweltministeriums blockieren die Straße.
Carlyle taucht neben ihm auf. »Ein Kontrollpunkt?«
»Sieht so aus, als wären es nicht nur die Fabriken.« Anderson schaut sich um, sucht einen Fluchtweg, aber sie sind zwischen zahllosen Fußgängern und Radfahrern eingekeilt.
»Sollten wir rennen?«
Anderson lässt den Blick über die Menge schweifen. Neben ihnen steht ein anderer Rikschafahrer auf seinen Pedalen, sieht sich das Geschehen an und setzt sich wieder hin, wobei er verärgert seine Klingel betätigt. Der Fahrer ihrer Rikscha folgt seinem Beispiel.
»Niemand scheint sich Sorgen zu machen.«
Entlang der Straße feilschen Thai über Stapeln stinkender Durianfrüchte, Körben voll Zitronengras und Eimern mit blubbernden Fischen. Auch sie wirken unbekümmert.
»Sollen wir es darauf ankommen lassen?«, fragt Carlyle.
»Was weiß denn ich! Lässt General Pracha jetzt plötzlich seine Muskeln spielen?«
»Ich sag Ihnen doch, dem sind alle Zähne gezogen.«
»Sieht nicht so aus.«
Anderson reckt den Hals und versucht zu erkennen, was bei der Straßensperre geschieht. Allem Anschein nach redet dort jemand wild gestikulierend mit den Weißhemden — ein Thai mit tief mahagonibrauner Haut; an seinen Daumen blitzen goldene Ringe. Anderson müht sich, etwas zu hören, aber die Worte sind nicht zu verstehen — immer mehr Fahrräder drängen sich in den Stau und schließen sich dem ungeduldigen Geklingel an.
Die Thai halten das Ganze offenbar für nicht mehr als einen ärgerlichen Verkehrsstau. Keiner hat Angst, sie sind nur ungeduldig. Das Schellen der Fahrradklingeln wird immer lauter, schwillt zu einem ganzen Orchester an.
»Heilige Scheiße«, murmelt Carlyle.
Die Weißhemden reißen den streitbaren Mann von seinem Fahrrad. Er schlägt wild mit den Armen um sich und geht zu Boden. Seine Daumenringe blitzen in der Sonne, und dann verschwindet er unter einem Knäuel von Weißhemden. Schwarze Schlagstöcke heben und senken sich. Blut spritzt.
Ein Aufschrei hallt durch die Straße.
Die Fahrradfahrer hören auf zu klingeln. Sämtliche Geräusche verstummen, als alle die Hälse recken. In der Stille trägt das Flehen des Mannes weit. Rings umher ducken sich Hunderte von Menschen und halten die Luft an. Sie blicken nach links und nach rechts, plötzlich nervös, wie eine Rinderherde, die ein Raubtier in ihrer Mitte entdeckt hat.
Das Klatschen der Schlagstöcke nimmt kein Ende.
Schließlich hört das Schluchzen des Mannes auf. Die Weißhemden gehen auseinander. Einer von ihnen dreht sich um und winkt den Verkehr weiter. Es ist eine ungeduldige Geste, völlig geschäftsmäßig, als wären die Leute stehengeblieben, um bei einem Volksfest zu gaffen. Zögerlich setzen sich die Radfahrer in Bewegung. Der Verkehr rollt wieder. Anderson lässt sich auf den Sitz der Rikscha fallen. »Herrgott nochmal.«
Der Rikschafahrer richtet sich auf seinen Pedalen auf, und sie ruckeln los. Carlyles Miene ist angespannt — er hat ganz offensichtlich Angst. Sein Blick huscht hin und her. »Letzte Gelegenheit, die Flucht zu ergreifen.«
Anderson starrt gebannt die näher kommenden Weißhemden an. »Das wäre zu auffällig.«
»Wir sind verdammte Farang. Wir fallen sowieso auf.«
Fußgänger und Fahrradfahrer bewegen sich langsam vorwärts und strömen an dem Kontrollpunkt vorbei.
Ein halbes Dutzend Weißhemden stehen um die Leiche herum. Unter dem Kopf des Mannes hat sich eine Blutlache gebildet. In den roten Rinnsalen summen bereits Fliegen mit klebrigen Flügeln und drohen in dem Überfluss an Kalorien zu ertrinken. Nicht weit weg kauert der Schatten einer Cheshire; eine Barriere aus uniformierten Hosenbeinen hält sie zurück. Die Manschetten der Soldaten haben rote Flecken — frisch aufgesaugte kinetische Energie.
Anderson starrt das Blutbad an. Carlyle räuspert sich nervös.
Einer der Soldaten wird auf sie aufmerksam. Anderson kann nicht sagen, wie lange sie einander in die Augen schauen, aber der Hass im Blick des Thai ist unverkennbar. Er zieht eine Augenbraue hoch — eine klare Herausforderung. Als er mit seinem Schlagstock leicht gegen sein Bein schlägt, bleibt eine rote Spur zurück.
Dann bedeutet er Anderson mit einer ruckartigen Kopfbewegung, er solle den Blick abwenden.