Eine Zuflucht für Neue Menschen.
Der Gedanke daran erfüllt Emiko mit Hoffnung — jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Die Erinnerung an den Gaijin Anderson, an seine Überzeugung, dass es diesen Ort wirklich gibt. Wie er sie in der Finsternis berührt und ernst anschaut, ihr das Gesagte mit einem Kopfnicken bestätigt hat.
Und so starrt sie Raleigh jetzt jeden Abend an und fragt sich, was er weiß und ob sie es wagen kann, ihn zu fragen, was er im Norden gesehen hat. Einen Weg in die Freiheit vielleicht? Dreimal hat sie sich ihm genähert, und drei Mal hat ihre Stimme versagt, und die Frage blieb unausgesprochen. Jede Nacht kommt sie nach Hause, völlig erschöpft von dem, was Kannika ihr antut, und wenn sie dann schläft, träumt sie von einem Ort, wo die Neuen Menschen in Sicherheit wohnen können, ohne einen Patron.
Emiko kann sich noch gut daran erinnern, wie Mizumi-sensei im Kaizen-Studio zu den jungen Neuen Menschen sprach, die im Kimono vor ihr knieten und ihren Lehren lauschten.
»Was seid ihr?«
»Neue Menschen.«
»Worin besteht eure Aufgabe?«
»Wir leben, um zu dienen.«
»Wer ist euer Herr und Meister?«
»Unser Patron ist unser Herr und Meister.«
Mizumi-sensei war schnell mit der Rute bei der Hand, einhundert Jahre alt und furchterregend. Als eine der ersten Neuen Menschen war ihre Haut so gut wie gar nicht gealtert. Wer wusste schon, wie viele Zöglinge sie bereits in ihrem Studio unterwiesen hatte? Mizumi-sensei war allgegenwärtig, stand ihren Schützlingen mit Rat und Tat zur Seite. Ihr Zorn war grausam, doch sie blieb immer fair. Und ihr Glaube, dass die Neuen Menschen nur ihren Patronen treu dienen mussten, um einen höheren Daseinszustand zu erlangen, war unerschütterlich.
Mizumi-sensei machte sie alle mit den Lehren über Mizuko Jizo Bodhisattva bekannt, der sogar für die Neuen Menschen Barmherzigkeit empfand, und der sie nach ihrem Tod in seinem Ärmel verstecken würde, um sie aus dieser Höllenwelt der genmanipulierten Spielsachen herauszuschmuggeln und sie dem wahren Zyklus des Lebens zuzuführen. Zu dienen, das war nicht nur Pflicht, sondern auch eine Ehre, und ihren Lohn würden sie im nächsten Leben erhalten, als wahre Menschen. Ihre Unterwürfigkeit würde die schönsten Früchte tragen.
Wie sehr Emiko Mizumi-sensei gehasst hatte, als Gendo-sama sie verlassen hatte!
Doch bei dem Gedanken, wieder einen Patron zu haben, schlägt ihr Herz schneller: ein weiser Mann, der sie bei der Hand nimmt und in eine andere Welt führt, der, anders als Gendo-sama, ihr alles gibt, was sie braucht.
Wieder ein Mann, der dich anlügt? Der dich verraten wird?
Sie wischt den Gedanken beiseite. Das ist die andere Emiko, die so denkt, nicht ihr höchstes Selbst. Als wäre sie nicht mehr als eine Cheshire, die nur darauf aus ist, sich den Bauch vollzuschlagen, die, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, welche Nische ihr zusteht, alles für sich in Anspruch nimmt. Das ist einem Neuen Menschen nicht angemessen!
Mizumi-sensei hatte sie gelehrt, dass die Natur eines Neuen Menschen in zwei Teile zerfällt. Die böse Hälfte wird vom animalischen Hunger der Gene beherrscht — von den zahlreichen Tricksereien der Genhacker, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind. Ausgeglichen wird dies von ihrem zivilisierten Selbst, das zwischen Nische und animalischen Begierden zu unterscheiden weiß. Das seinen Platz in der Hierarchie ihres Landes und ihres Volkes kennt und begreift, was ihr jeweiliger Patron für sie getan hat, indem er ihnen das Leben schenkte. Dunkel und Licht. In-Yo. Zwei Seiten derselben Münze, zwei Seiten derselben Seele. Mizumi-sensei hat ihnen geholfen, mit ihrer Seele ins Reine zu kommen, sie hat sie darauf vorbereitet, ehrenhafte Diener zu sein.
Ehrlich gesagt, denkt Emiko nur deshalb so schlecht von Gendo-sama, weil er sie so geringschätzig behandelt hat. Er war ein schwacher Mann. Oder vielleicht war sie, wenn sie ehrlich ist, nicht alles, was sie hätte sein können. Sie hat sich ihm nicht bis zum Letzten unterworfen. Das ist die traurige Wahrheit. Mit dieser Schande muss sie leben, während sie sich alle Mühe gibt, ohne die liebende Hand eines Patrons auszukommen. Aber vielleicht hat dieser seltsame Gaijin … Sie wird nicht zulassen, dass ihre zynische, animalische Seite heute Abend die Oberhand gewinnt; sie wird sich ihren Träumen hingeben.
Emiko verlässt den Slum ihres Hochhauses und tritt in die kühle Abendluft Bangkoks hinaus. Auf den in grünes Licht getauchten Straßen herrscht eine ausgelassene Stimmung. In Woks werden Nudeln gebraten, damit die Bauern, die auf dem Markt ihre Erzeugnisse verkauft haben, noch eine einfache Mahlzeit zu sich nehmen können, bevor sie zu ihren fernen Feldern zurückkehren. Emiko schlendert über den Nachtmarkt; mit dem einen Auge hält sie nach Weißhemden Ausschau, mit dem anderen nach etwas zu essen.
Schließlich entdeckt sie einen Stand mit gegrillten Meeresfrüchten und entscheidet sich für Tintenfisch mit Chilisoße. Am Rande des Kerzenscheins fühlt sie sich einigermaßen sicher. Ihr Pha Sin verbirgt die Bewegungen ihrer Beine. Jetzt muss sie nur noch auf ihre Arme achten, und wenn sie sich Zeit lässt und sie nahe am Körper hält, mag man ihre Bewegungen für Geziertheit halten.
Bei einer Frau und ihrer Tochter kauft Emiko einen Teller mit gebratenem U-Tex-Phad Seeu in gefalteten Bananenblättern. Die Frau brät die Nudeln über blauem Methan, was illegal, aber weit verbreitet ist. Emiko sitzt an der behelfsmäßigen Theke, und die Gewürze brennen ihr im Mund. Hin und wieder wirft ihr jemand einen seltsamen Blick zu, und manche verziehen angewidert das Gesicht, aber sie tun nichts. Einige der Leute kennt sie sogar. Die anderen haben ohnehin schon genug Sorgen, auch ohne sich in die Angelegenheiten der Aufziehmenschen und Weißhemden zu mischen. Das mag seltsam sein, aber es ist zu ihrem Vorteil. Die Weißhemden sind so unbeliebt, dass die Leute, wenn es irgend geht, nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Emiko schaufelt sich die Nudeln in den Mund und denkt einmal mehr über die Worte des Gaijin nach.
Eine Zuflucht für Neue Menschen.
Sie versucht, es sich vorzustellen. Ein ganzes Dorf voller Leute, deren abgehackte Bewegungen und deren glatte Haut sie verraten. Wie sehr sie sich danach sehnt!
Aber da ist auch ein entgegengesetztes Gefühl. Nicht etwa Angst. Sondern etwas, das sie nie erwartet hätte.
Abscheu?
Nein, das ist ein zu starkes Wort dafür. Eher so etwas wie Widerwillen, weil so viele von ihrer Art vor ihren Pflichten schmählich davongelaufen sind. Nur unter sich leben, und nicht einer von ihnen kann es mit Gendo-sama aufnehmen. Eine ganze Stadt voller Neuer Menschen, und niemand, dem sie dienen!
Emiko schüttelt entschlossen den Kopf. Was hat es ihr denn gebracht, dass sie so unterwürfig war? Jetzt muss sie Leuten wie Raleigh gehorchen. Und Kannika.
Und doch … Ein ganzer Stamm aus Neuen Menschen, die sich im Dschungel zusammendrängen? Wie wäre es, einen zweieinhalb Meter großen Arbeiter in den Armen zu halten? Sich ihn zum Geliebten zu nehmen? Oder eines der Tentakelmonster aus Gendo-samas Fabriken, mit zehn Armen wie eine Hindugottheit und einem sabbernden Mund, das nichts anderes vom Leben erwartet als Nahrung und eine Aufgabe für seine Hände? Wie soll es einer solchen Kreatur möglich sein, sich nach Norden durchzuschlagen? Warum sind sie dort, im Dschungel?
Sie unterdrückt ihren Ekel. Schlimmer als Kannika ist es bestimmt nicht. Ihr ist eingetrichtert worden, schlecht von den Neuen Menschen zu denken, obwohl sie selbst zu ihnen gehört. Wenn sie logisch denkt, weiß sie, dass kein Neuer Mensch schlimmer sein kann als der Kunde gestern Abend, der sie gefickt und dann auf ihr ausgespuckt hat, bevor er gegangen ist. Sich einem glatthäutigen Neuen Menschen hinzugeben, wäre bestimmt nicht schlimmer.
Aber was für ein Leben würde sie in einem solchen Dorf führen? Würde sie Kakerlaken essen und Ameisen und den Rest der Blätter, die noch nicht dem Rüsselkäfer erlegen sind?
Raleigh ist eine Kämpfernatur. Du auch?
Sie rührt mit ihren kurzen RedStar-Bambusessstäbchen in den Nudeln. Wie wäre es, niemandem mehr dienen zu müssen? Würde sie das Wagnis auf sich nehmen? Bei der Vorstellung wird ihr ganz schummrig. Was würde sie ohne einen Patron überhaupt tun? Eine Bäuerin werden? Vielleicht in den Bergen Opium anbauen? Eine silberne Pfeife rauchen und ihre Zähne schwärzen, wie es, Gerüchten zufolge, einige der seltsamen Damen aus den Bergstämmen tun? Sie lacht in sich hinein. Kann sie sich das überhaupt vorstellen?
Sie ist so sehr in Gedanken versunken, dass es ihr fast entgangen wäre. Nur pures Glück — die Bewegung eines Mannes am Tisch gegenüber, sein bestürzter Blick und wie er den Kopf senkt und sich ganz auf sein Essen konzentriert — rettet sie. Sie erstarrt.
Mit einem Mal ist es auf dem Nachtmarkt ganz still geworden.
Und dann, wie hungrige Gespenster, tauchen die Männer in Weiß hinter ihr auf und reden in ihrem raschen Singsang mit der Frau, die am Wok steht. Die Frau beeilt sich, sie unterwürfig zu bedienen. Emiko zittert am ganzen Körper, die Nudeln auf halbem Wege zwischen Schüssel und Mund, ihr Gewicht plötzlich zu groß für ihre Arme. Sie möchte die Essstäbchen beiseitelegen, doch sie kann nichts tun. Wenn sie sich bewegt, verrät sie sich, und so bleibt sie reglos sitzen, während die Weißhemden auf ihr Essen warten und sich unterhalten.
»… endlich den Bogen überspannt. Ich hab gehört, dass Bhirombhakdi durch die Büros gerannt ist und herumgeschrien hat, er würde ihn einen Kopf kürzer machen. ›Jaidee ist zu weit gegangen, das werde ich ihm heimzahlen! ‹«
»Nach der Razzia hat er hat jedem Einzelnen seiner Leute 5000 Baht gegeben.«
»Das nützt ihnen einen Scheißdreck, nachdem er jetzt degradiert worden ist.«
»Trotzdem, 5000 Baht! Kein Wunder, dass Bhirombhakdi Gift und Galle gespuckt hat. Er muss eine halbe Million verloren haben.«
»Und Jaidee kam einfach wie ein Megodont hereingestürmt. Der Alte hat ihn bestimmt für den Bullen Torapee gehalten, der in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Und der es auf ihn abgesehen hatte.«
»Damit ist es jetzt vorbei.«
Als sie sich an ihr vorbeidrängen, läuft es Emiko kalt den Rücken hinunter. Das ist das Ende. Sie wird die Essstäbchen fallen lassen, und sie werden das Aufziehmädchen bemerken, das ihnen in der Menge bisher nicht aufgefallen ist, obwohl sie in ihrer selbstbewussten Männlichkeit fast mit ihr zusammenstoßen, obwohl die Hand eines der Weißhemden sie im Nacken berührt. Plötzlich wird sie nicht mehr unsichtbar sein. Sie wird vor ihnen stehen, unverkennbar, ein Neuer Mensch mit abgelaufenen Papieren und Importlizenzen, und sie werden sie kompostieren, und sie wird so schnell recycelt werden wie Dung oder Zellulose, ihre abgehackten Bewegungen werden sie verraten, als hätte ihr jemand die Exkremente eines Glühwürmchens auf die Stirn geschmiert.
»Wie er sich vor Akkarat auf dem Boden gewälzt hat — das hätte er nicht tun sollen. Dabei haben wir alle das Gesicht verloren.«
Eine Weile herrscht Stille. Dann sagt einer von ihnen: »Tantchen, mir scheint, dein Methan hat die falsche Farbe.«
Die Frau beißt sich auf die Unterlippe. Das Lächeln ihrer Tochter spiegelt ihre Unsicherheit wider. »Wir haben dem Ministerium letzte Woche ein Geschenk gemacht«, sagt sie.
Der Mann, der Emiko im Nacken berührt, ergreift das Wort, während er sie ganz beiläufig streichelt. »Dann sind wir wohl falsch informiert worden.«
Das Lächeln der Frau wirkt sichtlich gezwungen. »Vielleicht ist mein Gedächtnis auch schlecht.«
»Nun, ich kann gerne in deiner Akte nachschauen.«
»Das ist nicht nötig. Ich werde meine Tochter sofort losschicken. Und warum nehmen Sie sich nicht diese beiden Fische? Sie werden nicht gut genug bezahlt, um ordentlich zu essen.« Sie nimmt zwei große Tilapia vom Grill und hält sie den Männern hin.
»Das ist sehr freundlich von dir, Tantchen. Ich habe Hunger. « Mit dem in Bananenblätter gewickelten Plaa unter dem Arm wenden sich die Weißhemden ab und setzen ihren Weg über den Nachtmarkt fort, ohne auf den Schrecken zu achten, den sie dabei verbreiten.
Kaum sind sie fort, verschwindet das Lächeln der Frau. Sie dreht sich zu ihrer Tochter um und drückt ihr ein Bündel Geldscheine in die Hand. »Geh zur Polizei hinüber, und achte darauf, dass du das Geld Sergeant Siriporn gibst, und keinem anderen. Ich möchte nicht, dass die beiden wiederkommen. «
Die Stelle, wo der Uniformierte sie berührt hat, brennt ihr im Nacken. Das war knapp. Viel zu knapp. Seltsam, wie sie manchmal vergisst, dass sie auf der Flucht ist. Wie sie sich manchmal einredet, dass sie ein Mensch ist. Emiko schaufelt sich den Rest der Nudeln in den Mund. Sie darf es nicht länger aufschieben. Sie muss ganz offen mit Raleigh reden.
»Ich möchte fort von hier.«
Raleigh dreht sich auf seinem Barhocker um und mustert sie erstaunt. »Tatsächlich?« Er lächelt. »Emiko, hast du einen neuen Patron?«
Um sie herum plaudern und lachen die anderen Mädchen, die eben erst eintreffen, verneigen sich vor dem Geisterhaus, und manche legen sogar Opfergaben hinein, in der Hoffnung auf einen liebenswürdigen Kunden oder einen reichen Patron.
Emiko schüttelt den Kopf. »Keinen neuen Patron. Ich möchte nach Norden gehen. Zu den Dörfern, in denen die Neuen Menschen leben.«
»Wer hat dir denn davon erzählt?«
»Es gibt sie also?« An seinem Gesichtsausdruck erkennt sie, dass sie existieren. Ihr Herz fängt an zu hämmern. Sie sind nicht nur ein Gerücht. »Es gibt sie also!«, wiederholt sie mit Nachdruck.
Er mustert sie eingehend. »Vielleicht.« Er bedeutet Daeng, dem Bartender, ihm noch einen Drink zu bringen. »Aber ich muss dich warnen — das Leben im Dschungel ist nicht einfach. Wenn es zu einer Missernte kommt, fresst ihr dort Insekten. Und zu jagen, gibt es auch nicht viel, nachdem die Rostwelke und der japanische Rüsselkäfer den größten Teil des Futters vernichtet haben.« Er zuckt mit den Achseln. »Ein paar Vögel.« Er wendet sich wieder Emiko zu. »Du solltest in der Nähe des Wassers bleiben. Da draußen überhitzt du nur. Glaub mir. Das Leben dort ist verdammt hart. Wenn du wirklich von hier weg willst, solltest du dir einen neuen Patron suchen.«
»Die Weißhemden hätten mich heute fast erwischt. Wenn ich hierbleibe, sterbe ich.«
»Ich bezahle sie dafür, dass sie dich in Ruhe lassen.«
»Nein. Ich war auf dem Nachtmarkt …«
»Was zum Teufel hattest du dort verloren? Wenn du was essen willst, dann komm gefälligst hierher!«, faucht Raleigh zornig.
»Es tut mir leid. Ich muss fort. Raleigh-san, Sie haben Beziehungen. Sie kennen Leute, die mir helfen können, eine Reiseerlaubnis zu bekommen. Damit ich an den Kontrollen durchgelassen werde.«
Raleigh nimmt seinen Drink entgegen und nippt daran. Der Alte gleicht einer Krähe — wie der Gestalt gewordene Tod sitzt er auf seinem Barhocker und wacht darüber, wie seine Huren eintreffen, eine nach der anderen. Dann betrachtet er Emiko mit kaum verhülltem Ekel — als wäre sie ein Stück Hundescheiße, die an seinem Schuh klebt. Er trinkt noch einen Schluck. »Bis nach Norden ist es ein weiter Weg. Verdammt teuer, das.«
»Ich kann arbeiten.«
Darauf reagiert Raleigh nicht. Der Barkeeper ist anscheinend damit fertig, die Theke auf Hochglanz zu polieren. Er und sein Assistent holen eine Truhe mit Eis von dem Luxushersteller Jai Yem, Nam Yen hervor. Kühle Herzen, kühles Wasser.
Raleigh hält ihm sein Glas hin, und Daeng lässt klimpernd zwei Eiswürfel hineinfallen. Kaum haben sie die isolierte Truhe verlassen, schmelzen sie in der Hitze. Emiko schaut zu, wie die Eiswürfel in der Hitze immer kleiner werden. Daeng gießt Wasser darüber. Emiko hat das Gefühl, gleich zu verglühen. Die offenen Fenster des Clubs lassen so gut wie nichts von der abendlichen Brise herein, und zu dieser frühen Stunde ist es in dem Gebäude noch immer drückend heiß. Von den Yellow Cards, die die Ventilatoren betreiben, ist noch keiner eingetroffen. Wände und Boden des Clubs strahlen eine Hitze ab, die geradezu greifbar ist. Raleigh trinkt einen Schluck von seinem kühlen Wasser.
Emiko schaut ihm zu und wünscht sich, sie könnte schwitzen. »Khun Raleigh. Bitte. Es tut mir leid. Bitte …« Sie zögert. »Bitte geben Sie mir etwas Kaltes zu trinken.«
Raleigh nippt sein Wasser und folgt den Mädchen, die an ihnen vorbeischlendern, mit Blicken. »Es ist verdammt teuer, sich ein Aufziehmädchen zu halten.«
Emiko lächelt betreten — vielleicht kann sie ihn ja beschwichtigen. Schließlich macht Raleigh ein verärgertes Gesicht. »Na schön.« Er nickt Daeng kurz zu. Der Barkeeper reicht Emiko ein Glas mit Eiswasser. Sie gibt sich alle Mühe, es nicht auf einmal hinunterzustürzen, und presst es sich an Gesicht und Nacken. Fast hätte sie vor Erleichterung laut aufgeseufzt. Sie trinkt und drückt es wieder an sich, hält es wie einen Talisman umklammert. »Vielen Dank.«
»Warum sollte ich dir helfen, die Stadt zu verlassen?«
»Weil ich sterbe, wenn ich bleibe.«
»Das ist nicht gut fürs Geschäft. Wie es auch nicht gut fürs Geschäft war, dich einzustellen. Und es ist ganz bestimmt nicht gut fürs Geschäft, einen Haufen Schmiergelder zu bezahlen, damit du in den Norden verschwinden kannst.«
»Bitte. Sagen Sie mir, was ich tun soll. Sie können alles von mir verlangen!«
Er lacht. »Ich hab schon echte Mädchen.« Sein Lächeln verschwindet. »Das Problem ist, Emiko, dass du nichts zu bieten hast. Das Geld, das du jeden Abend verdienst, vertrinkst du wieder. Die Schmiergelder, die ich für dich bezahle, kosten Geld, das Eis, das du verbrauchst, kostet Geld. Wenn ich kein so netter Kerl wäre, würde ich dich auf die Straße jagen, damit die Weißhemden dich kompostieren. Du bist einfach ein schlechtes Geschäft.«
»Bitte.«
»Provozier mich nicht unnötig. Mach dich endlich an die Arbeit! Wenn unsere Gäste eintreffen, will ich, dass du deine Straßenklamotten ausgezogen hast.«
Seine Worte lassen keinen Widerspruch zu. Emiko verbeugt sich automatisch, um sich seinen Wünschen zu fügen, hält dann jedoch inne. Du bist kein Hund, redet sie sich zu. Du bist keine Dienerin. Deine Unterwürfigkeit hat dazu geführt, dass du verstoßen wurdest und jetzt in einer Stadt der Engel unter Dämonen leben musst. Wenn du dich wie eine Dienerin verhältst, wirst du wie ein Hund sterben.
Sie richtet sich auf. »Es tut mir leid, aber ich muss nach Norden gehen, Raleigh-san. Und zwar bald. Wie viel würde das kosten? Ich werde es mir verdienen.«
»Du bist wie eine verdammte Cheshire an einem Kadaver. « Raleigh steht unvermittelt auf. »Gibst einfach keine Ruhe, was?
Emiko zuckt zusammen. Raleigh mag alt sein, aber er ist trotzdem ein Gaijin, vor der Großen Kontraktion geboren und herangewachsen. Sie weicht einen Schritt zurück, erschrocken über seine plötzliche Größe. Raleigh lächelt grimmig. »So ist es recht — vergiss bloß nicht, wo du hingehörst! Wenn du nach Norden möchtest, gut und schön. Aber erst, wenn ich dich ziehen lasse. Und nicht bevor du dir jeden einzelnen Baht verdient hast, mit dem ich die Weißhemden schmiere.«
»Wie viel ist das?«
Sein Gesicht läuft rot an. »Mehr als du bisher erarbeitet hast!«
Sie weicht vor ihm zurück, doch Raleigh packt sie und zieht sie mit einem Ruck zu sich heran. Seine Stimme ist leise und rau vom Whisky. »Du warst mir einmal nützlich, also kann ich nachvollziehen, dass sich ein Aufziehmädchen jetzt für etwas Besseres hält. Aber machen wir uns nichts vor — du gehörst mir.«
Seine knochige Hand betatscht ihre Brust, greift nach einer Brustwarze und verdreht sie. Sie wimmert vor Schmerz und spürt, wie alle Kraft sie verlässt. Seine blassblauen Augen verfolgen schlangengleich jede ihrer Bewegungen.
»Du gehörst mir, von Kopf bis Fuß«, murmelt er. »Wenn mir morgen einfällt, dich kompostieren zu lassen, ist es vorbei mit dir. Das würde niemanden kümmern. In Japan mögen die Leute große Stücke auf Aufziehmenschen halten. Hier seid ihr nur Gesindel!« Er drückt erneut zu. Sie schnappt nach Luft, verzweifelt darum bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er lächelt. »Du gehörst mir. Vergiss das nie.«
Er lässt sie unvermittelt los. Emiko taumelt einen Schritt nach hinten und hält sich an der Theke fest.
Raleigh wendet sich wieder seinem Drink zu. »Ich werde dich wissen lassen, wenn du genug verdient hast, um nach Norden zu gehen«, sagt er. »Aber du wirst dafür arbeiten, und zwar hart. Schluss mit deiner Pingeligkeit! Wenn ein Mann dich haben will, dann gehst du mit ihm und machst ihn so glücklich, dass er wiederkommt. Normale Mädchen, die normalen Sex zu bieten haben, habe ich genug. Wenn du nach Norden gehen willst, dann solltest du dich bemühen, deinen Kunden mehr zu bieten als sie.«
Er kippt seinen Drink hinunter und knallt das Glas auf die Theke, damit Daeng ihm nachschenkt.
»Jetzt hör auf hier rumzuschmollen, und mach dich an die Arbeit.«