38

Unter der Kapuze bekommt Anderson kaum Luft. Die Schwärze hüllt ihn vollkommen ein, und er schwitzt vor Angst. Niemand hat ihm erklärt, wieso er das Ding übergestülpt bekommen hat und aus der Wohnung geführt wurde. Da war Carlyle bereits wieder zu sich gekommen, doch als er Einwände gegen ihre Behandlung erhob, schlug ihm einer der Panther ohne zu zögern den Gewehrkolben gegen die Schläfe. Daraufhin verstummten sie beide und ließen sich ohne weiteren Protest die Kapuzen überziehen. Eine Stunde später wurden sie mit Tritten dazu gebracht aufzustehen, nur um dann in eine Art Transporter gescheucht zu werden, der laut knatternd dichte Abgaswolken ausstieß. Ein Militärfahrzeug, vermutete Anderson, als man ihn auf die Ladefläche schubste.

Der gebrochene Finger hängt schlaff hinter seinem Rücken herab. Wenn er die Hand anspannt, wird der Schmerz fast unerträglich. Er atmet langsam und bewusst unter der Kapuze und versucht dabei, alle Ängste und Mutmaßungen über die Situation beiseitezuschieben. Der staubige Stoff so dicht an seinem Mund bringt ihn zum Husten, und jeder Huster treibt schmerzende Stachel in sein Innerstes hinein. Er atmet so flach wie möglich.

Werden sie ihn hinrichten, um ein Exempel zu statuieren?

Er hat Akkarats Stimme schon lange nicht mehr gehört. Er hört gar nichts mehr. Am liebsten würde er Carlyle etwas zuflüstern, um herauszubekommen, ob sie im selben Raum gefangengehalten werden, doch er schweigt, weil er lieber nicht noch einmal Prügel beziehen will — es könnte ja sein, dass er bewacht wird.

Als er vom Lastwagen herunter und in ein Gebäude gezerrt wurde, war er sich unsicher, ob Carlyle überhaupt noch bei ihm war. Als Nächstes fuhren sie mit dem Fahrstuhl. Er vermutet, dass sie in einen Bunker gebracht wurden. In dem Raum, in dem er sich jetzt befindet, ist es jedenfalls entsetzlich heiß. Dieses ganze Gebäude gleicht einem Hochofen. Da, wo der Stoff der Kapuze ihn berührt, juckt seine Haut. Könnte er sich doch nur den Schweiß von der Nase wischen und dort kratzen, wo die Tropfen in den Stoff sickern und dieses Kitzeln verursachen. Er versucht, das Gesicht zu bewegen, um Mund und Nase von dem Stoff wegzubekommen. Er würde einfach alles dafür geben, an die frische Luft zu gelangen …

Eine Tür schließt sich. Schritte. Anderson erstarrt. Über sich hört er gedämpfte Stimmen. Dann greifen plötzlich Hände nach ihm und reißen ihn hoch. Er keucht auf, als sie an seine gebrochenen Rippen stoßen. Die Hände zerren ihn weiter und führen ihn um viele Ecken, bis eine Brise seinen Arm streift. Die Luft ist kühler und frischer als zuvor, irgendwo muss sich ein Lüftungsschlitz oder etwas Ähnliches befinden. Er nimmt den Geruch des Meeres wahr. Um ihn herum Gemurmel auf Thai. Schritte, Menschen, die hin und her gehen. Er hat das Gefühl, einen langen Flur entlangzulaufen. Ständig kommen Stimmen näher und entfernen sich wieder. Als er stolpert, richten ihn seine Entführer wieder auf und stoßen ihn weiter vorwärts.

Endlich bleiben sie stehen. Hier ist die Luft viel angenehmer. Ventilatoren sorgen für einen leichten Durchzug, und er kann knarrende Tretkurbeln sowie das hohe Surren der Schwungräder hören. Seine Entführer schubsen ihn, damit er sich gerade hält. Er fragt sich, ob sie ihn auf diese Weise hinrichten werden. Ob er sterben wird, ohne noch einmal das Tageslicht erblickt zu haben.

Das Aufziehmädchen. Das verfluchte Aufziehmädchen. Er erinnert sich daran, wie sie vom Balkon gesprungen und in der Dunkelheit verschwunden ist. Das hatte nicht wie ein Selbstmord gewirkt. Je mehr er darüber nachdenkt, desto sicherer ist er sich, dass ihr Gesicht dabei höchstes Selbstvertrauen verriet. Hatte sie vielleicht wirklich den Beschützer der Königin auf dem Gewissen? Aber wenn sie die Mörderin war, warum hatte sie dann so verängstigt gewirkt? All das ergibt einfach keinen Sinn. Und jetzt ist alles vorbei. Himmelherrgott, wie seine Nase juckt! Er muss niesen; danach atmet er die staubige Kapuzenluft zu schnell wieder ein und bekommt einen Hustenanfall.

Der Husten fährt ihm in die Rippen; Anderson krümmt sich vor Schmerz.

Die Kapuze wird ihm abgenommen.

Anderson blinzelt in das grelle Licht. Dankbar saugt er die kostbare frische Luft ein. Richtet sich langsam auf. Ein großer Raum voller Männer und Frauen in Armeeuniformen. Tretkurbelcomputer. Und Spannfedertrommeln. Es gibt sogar eine LED-Leinwand, auf der die Stadt aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen ist, fast als befänden sie sich im Rechenzentrum von AgriGen.

Und erst die Aussicht! Er hat sich getäuscht, sie sind gar nicht abwärtsgefahren. Er ist nach oben gebracht worden. Hoch über die Stadt. Anderson versucht, seine Wahrnehmung der veränderten Situation anzupassen. Sie befinden sich irgendwo in einem Hochhaus — ein Hochhaus aus der Zeit der Expansion. Durch die geöffneten Fenster kann er auf die Stadt hinabschauen. Die untergehende Sonne überzieht die Gebäude und den Himmel mit einem blassen Rot.

Carlyle ist ebenfalls hergebracht worden; er ist sichtlich benommen.

»Grundgütiger, Sie beide riechen wirklich abscheulich.«

Es ist Akkarat, der dicht bei ihnen steht. Sein Lächeln wirkt irgendwie verschlagen. Es heißt, die Thai würden dreizehn Spielarten des Lächelns kennen. Anderson fragt sich, mit welchem er es jetzt gerade zu tun hat. »Sie müssen unbedingt mal wieder duschen«, sagt Akkarat.

Anderson will antworten, doch er wird von einem erneuten Hustenkrampf erfasst. Er ringt nach Luft und versucht, seine Lunge unter Kontrolle zu bekommen, doch das Husten will einfach nicht aufhören. Die Handschellen schneiden ihm bei jedem neuerlichen Krampf in die Handgelenke. Seine Rippen sind inzwischen nur noch ein einziger Schmerz. Carlyle sagt kein Wort. Seine Stirn ist blutüberströmt. Anderson weiß nicht, ob er sich gegen die Soldaten gewehrt hat oder ob er gefoltert wurde.

»Gebt ihm ein Glas Wasser«, sagt Akkarat.

Andersons Bewacher schubsen ihn gegen die Wand und bedrängen ihn, bis er auf dem Boden sitzt. Er kann nur knapp verhindern, dass der gebrochene Finger in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Wasser wird gebracht.

Einer der Wächter hält Anderson das Glas an die Lippen. Kaltes Wasser. Mit geradezu absurder Dankbarkeit beginnt Anderson zu trinken. Das Husten lässt nach. Er hebt den Blick, um Akkarat anzusehen. »Danke.«

»Ja. Nun. Es sieht so aus, als hätten wir ein Problem«, beginnt Akkarat. »Ihre Aussage hat sich bestätigt. Allem Anschein nach ist dieses Aufziehmädchen schlicht aus der Art geschlagen, eine bösartige Einzelgängerin.«

Er hockt sich neben Anderson. »Wir alle haben einfach furchtbares Pech gehabt. Beim Militär sagt man, ein guter Schlachtplan hat auf dem Kampffeld höchstens fünf Minuten Bestand. Danach hängt alles davon ab, ob das Schicksal und die Geister dem Befehlshaber wohlgesinnt sind. Das alles war eine äußerst unglückliche Fügung. Damit müssen wir uns abfinden. Und nun stellen sich für mich natürlich noch ganz neue Probleme, die gelöst werden wollen.« Er deutet mit dem Kopf auf Carlyle. »Sie beide sind verständlicherweise verärgert über die Behandlung, die Sie erfahren haben.« Er verzieht das Gesicht. »Ich könnte mich dafür entschuldigen, aber ich befürchte, das würde nicht ausreichen.«

Anderson blickt ihm in die Augen und verzieht dabei keine Miene. »Wenn Sie uns etwas antun, wird es Sie teuer zu stehen kommen.«

»AgriGen wird uns eine Strafe auferlegen.« Akkarat nickt. »Ja, das ist ein Problem. Andererseits ist AgriGen sowieso ständig verärgert wegen uns.«

»Machen Sie mich los, und wir vergessen die ganze Sache. «

»Ich soll Ihnen vertrauen? Ich fürchte, das wäre keine besonders kluge Entscheidung.«

»Revolutionen sind ein hartes Geschäft. Ich trage Ihnen nichts nach.« Anderson gelingt ein wildes Grinsen — er muss Akkarat unbedingt überzeugen. »Wo kein Kläger, da kein Richter. Wir beide haben immer noch dasselbe Ziel. Es ist nichts vorgefallen, was sich nicht wiedergutmachen ließe.«

Nachdenklich legt Akkarat den Kopf schräg. Anderson fragt sich, ob ihm gleich jemand ein Messer zwischen die Rippen stoßen wird.

Unvermittelt erscheint ein Lächeln auf Akkarats Gesicht. »Sie sind ein zäher Bursche.«

Anderson unterdrückt einen Anflug von Hoffnung. »Reiner Pragmatismus. Unsere Interessen decken sich nach wie vor. Von unserem Tod hat niemand etwas. Hier handelt es sich doch nur um ein kleines Missverständnis, das wir ausräumen können.«

Akkarat denkt darüber nach. Dann bittet er einen ihrer Bewacher um ein Messer. Anderson hält den Atem an, als die Klinge sich ihm nähert, doch sie fährt nur zwischen seine Handgelenke, um ihn von den Fesseln zu befreien. Das Blut schießt ihm wieder in die Arme, die sofort zu kribbeln beginnen. Langsam versucht er, sie zu bewegen. Sie scheinen sich in Holzklötze verwandelt zu haben. Tausend Nadelstiche fahren ihm in die Finger. »Herrgott nochmal.«

»Es wird ein wenig dauern, bis sich der Kreislauf wieder erholt hat. Seien Sie froh, dass wir so sanft mit Ihnen umgesprungen sind.« Akkarat bemerkt, mit welcher Vorsicht Anderson die verletzte Hand hält. Er lächelt beschämt und entschuldigend. Ruft einen Arzt und geht dann zu Carlyle hinüber.

»Wo sind wir hier?«, fragt Anderson.

»In einer behelfsmäßigen Kommandozentrale. Als wir zu dem Schluss kamen, dass die Weißhemden in der Sache mit drinhingen, habe ich unsere Operationsbasis aus Sicherheitsgründen hierher verlegt.« Akkarat deutet mit dem Kopf auf die Spannfedertrommeln. »Unten im Erdgeschoss haben wir Megodonten-Teams, die Strom zu uns hochschicken. Und niemand hat eine Ahnung, dass wir hier eine Zentrale eingerichtet haben.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie über eine solche Einrichtung verfügen«

Akkarat lächelt. »Wir sind Verbündete und kein Liebespaar. Ich teile meine Geheimnisse nicht mit jedem.«

»Haben Sie das Aufziehmädchen inzwischen fassen können? «

»Das ist nur mehr eine Frage der Zeit. Ihr Bild hängt überall in der Stadt. Es wird ihr unmöglich sein, weiter unerkannt unter uns zu leben. Die Weißhemden zu bestechen ist eine Sache. Aber sie hat das Königshaus angegriffen.«

Anderson denkt an Emiko zurück und wie sie sich vor Angst zusammenkauerte. »Ich kann noch immer kaum glauben, dass ein Aufziehmädchen zu so etwas in der Lage sein soll.«

Akkarat blickt zu ihm auf. »Das ist durch Zeugenaussagen wie auch von dem Japaner, der sie konstruiert hat, bestätigt worden. Dieses Aufziehding ist ein Mörder. Wir werden sie aufspüren und auf die althergebrachte Weise hinrichten, und damit ist die Sache erledigt. Und die Japaner werden unvorstellbare Entschädigungssummen zahlen müssen, um für ihre kriminelle Unvorsichtigkeit aufzukommen.« Wieder lächelt er unvermittelt. »In dieser einen Sache zumindest sind die Weißhemden und ich uns einig.«

Carlyle wird von seinen Fesseln befreit. Ein Offizier ruft Akkarat zu sich.

Carlyle nimmt den Knebel ab. » Sind wir wieder Freunde?«

Anderson zuckt mit den Achseln und beobachtet das geschäftige Treiben um sie herum. »Soweit das während einer Revolution möglich ist.«

»Wie geht es Ihnen?«

Anderson tastet mit äußerster Vorsicht seinen Brustkorb ab. »Gebrochene Rippen.« Er deutet mit einem Kopfnicken auf die Hand, die gerade von dem Arzt geschient wird. »Der Finger ist hinüber. Mein Kinn scheint in Ordnung zu sein.« Er zuckt noch einmal mit den Achseln. »Und Ihnen?«

»Nicht ganz so schlimm. Vermutlich ist die Schulter verstaucht. Aber ich war ja auch nicht derjenige, der dem Somdet Chaopraya dieses fehlgeleitete Aufziehmädchen vorgestellt hat.«

Anderson muss husten und krümmt sich vornüber. »Ja, nun … Sie Glücklicher.«

Einer der Soldaten zieht gerade ein Funktelefon auf. Zahnräder greifen ineinander. Akkarat nimmt einen Anruf entgegen.

»Ja?« Er nickt. Spricht auf Thai.

Anderson kann nur einige wenige Worte aufschnappen, doch er sieht, wie sich Carlyles Augen weiten. »Sie haben die Radiosender eingenommen.«

»Wie bitte?« Unter Schmerzen richtet Anderson sich auf und schiebt den Arzt beiseite, der immer noch mit seiner Hand beschäftigt ist. Sofort bauen sich Wachmänner vor ihm auf, die Akkarat von ihm abschirmen. Während sie ihn zurück an die Wand drängen, ruft Anderson über ihre Schultern hinweg: »Sie schlagen los? Jetzt schon?«

Akkarat blickt vom Telefon auf, beendet in aller Seelenruhe sein Gespräch und reicht dann den Hörer an den Kommunikationsoffizier zurück. Der Aufzieher hockt sich wieder hin, um auf den nächsten Anruf zu warten. Das Surren des Schwungrades wird leiser.

»Der Anschlag auf den Somdet Chaopraya hat eine Menge Feindseligkeiten den Weißhemden gegenüber geschürt«, sagt Akkarat. »Vor dem Umweltministerium kam es zu Demonstrationen. Sogar die Megodonten-Gewerkschaft hat sich beteiligt. Das Volk war bereits durch das scharfe Vorgehen des Ministeriums verärgert. Ich habe beschlossen, daraus Kapital zu schlagen.«

»Aber wir verfügen doch gegenwärtig noch gar nicht über die nötigen Mittel«, wendet Anderson ein. »Aus dem Norden sind noch nicht alle Truppenkontingente eingetroffen. Die von mir angeforderten Spezialeinheiten werden auch nicht vor nächster Woche an der Küste landen.«

Akkarat zuckt mit den Schultern und lächelt. »Revolutionen sind ein schmutziges Geschäft. Da ist es besser, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen, sobald sie sich bietet. Dennoch gehe ich davon aus, dass Sie positiv überrascht sein werden.« Er dreht sich wieder zu seinem kurbelbetriebenen Telefon um. Das gleichmäßige Summen des Schwungrades hallt durch den Raum, während er seinen Truppen Befehle erteilt.

Anderson betrachtet Akkarats Rücken. Dieser Mann, der noch vor kurzem in der Gegenwart des Somdet Chaopraya so unterwürfig war, hat jetzt eindeutig die Kontrolle übernommen. In steter Folge erteilt er Anordnungen. Immer wieder klingelt das Telefon und verlangt seine Aufmerksamkeit.

»Das ist doch verrückt«, murmelt Carlyle. »Spielen wir da jetzt überhaupt noch eine Rolle?«

»Schwer zu sagen.«

Akkarat wirft ihnen einen Blick zu, scheint etwas sagen zu wollen, aber legt dann doch nur den Kopf schief. »Hören Sie das?«, beginnt er dann, und seine Stimme klingt mit einem Mal ehrfürchtig.

Ein Donnern zieht über die Stadt hinweg. Durch die geöffneten Fenster der Kommandozentrale sind flackernde Lichter zu sehen, wie Blitze in einem Unwetter. Akkarat lächelt.

»Es geht los.«

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