37

Die Firmenzentrale von Mishimoto & Co. befindet sich in Thonburi, am anderen Ufer des Flusses. Das Boot fädelt sich in einen Khlong ein. Bedächtig führt Kanyas Hand die Ruderpinne. Sogar hier, außerhalb des Stadtkerns von Bangkok, klagen die Flüsterblätter über Pracha und die Aufzieh-Mörderin.

»Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, alleine dorthin zu gehen?«, fragt Jaidee.

»Ich habe doch Sie dabei. Das sollte ausreichen.«

»In diesem Zustand bin ich allerdings nicht besonders gut in Muay-Thai.«

»Pech.«

Die Tore und die Anlegestege des Firmengeländes erheben sich aus dem Wasser. Die spätnachmittägliche Sonne brennt auf sie herab. Ein Flusshändler paddelt vorbei, doch obwohl Kanya hungrig ist, will sie keinen Moment verlieren, denn die Sonne scheint bereits vom Himmel zu fallen. Als ihr Boot an den Landungssteg stößt, nimmt sie das Bugseil und bindet es an einer Klampe fest.

»Sie werden Sie wahrscheinlich gar nicht hineinlassen«, sagt Jaidee. Kanya macht sich gar nicht erst die Mühe zu antworten. Seltsam, dass er sie den ganzen Weg hierher begleitet hat. Bislang hat sein Phii immer nur kurzzeitig Interesse an ihr gezeigt und ist dann zu anderen Dingen und anderen Menschen weitergezogen. Vielleicht, um seinen Kindern einen Besuch abzustatten. Oder er hat sich bei Chayas Mutter entschuldigt. Inzwischen weicht er jedenfalls nicht mehr von ihrer Seite.

»Von der weißen Uniform lässt sich hier auch niemand beeindrucken«, sagt Jaidee. »Dafür haben sie viel zu gute Verbindungen zum Handelsministerium und der Polizei.«

Kanya antwortet nicht, doch tatsächlich, der Haupteingang wird von einer Abteilung der Polizei von Thonburi bewacht. Die Japaner haben in weiser Voraussicht direkt auf dem Wasser gebaut; die schwimmenden Bambusflöße sollen fast fünf Meter dick sein, und auf ihnen sind ganze Firmenkomplexe errichtet, die von Überflutungen oder einer Pegelstandsänderung des Chao Praya unberührt bleiben.

»Ich möchte Mr Yashimoto sprechen.«

»Er ist leider beschäftigt.«

»Es geht um sein Eigentum, das unglücklicherweise einer der Razzien auf dem Flugfeld zum Opfer gefallen ist. Papierkram für Entschädigungszahlungen. «

Der Wachmann lächelt unsicher und verschwindet im Innern des Geländes.

Jaidee kichert. »Sehr schlau.«

Kanya schneidet eine Grimasse. »So sind Sie wenigstens doch noch zu etwas nutze.«

»Obwohl ich bereits tot bin.«

Kurze Zeit später werden sie auf das Gelände geführt. Der Weg ist kurz. Wenn hier irgendetwas hergestellt wird, geschieht dies hinter hohen Mauern. Die Megodonten-Gewerkschaft beschwert sich fortwährend, ohne eine Energiequelle könnte keine Arbeit ausgeführt werden, doch die Japaner haben weder eigene Megodonten eingeführt noch welche von der Gewerkschaft angefordert. Alles deutet auf illegale Technologie hin. Allerdings waren die Japaner auch bereit, dem Königreich technische Hilfsmittel zukommen zu lassen. Im Austausch gegen thailändisches Saatgut liefern die Japaner ihre ausgefeilteste Segeltechnik. Deshalb sind beide Seiten sorgsam darauf bedacht, nicht allzu viele Fragen zu stellen, etwa darüber, wie so ein Schiffskörper überhaupt gebaut werden kann und ob der Entwicklungsprozess ganz legal ist.

Vor ihnen öffnet sich eine Tür. Ein hübsches Mädchen verbeugt sich mit einem Lächeln. Kanya hätte beinahe ihre Federpistole gezogen. Die Kreatur, die vor ihr steht, ist ein Aufziehmädchen. Sie scheint jedoch Kanyas Unbehagen gar nicht zu bemerken, und bedeutet ihnen mit abgehackten Bewegungen, ihr zu folgen. Der Raum, den sie betreten, ist voller Sorgfalt mit Tatami-Matten ausgelegt und mit Bildern im Sumi-e-Stil dekoriert. Ein Mann, von dem Kanya annimmt, dass es sich bei ihm um Mr Yashimoto handelt, kniet am Boden und malt. Das Aufziehmädchen führt Kanya zu einer Sitzgruppe.

Jaidee bewundert die Kunstwerke an den Wänden. »All diese Bilder stammen von ihm selbst.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?«

»Ich bin hierhergekommen, um herauszufinden, ob es wirklich zehnarmige Wesen in ihrer Fabrik gibt. Gleich nachdem ich gestorben bin.«

»Und, gibt es sie?«

Jaidee zuckt mit den Schultern. »Schauen Sie doch selbst nach.«

Mr Yashimoto taucht seinen Pinsel ein, und mit perfektem Schwung vollendet er das vor ihm liegende Bild. Dann erhebt er sich und verbeugt sich vor Kanya. Er beginnt auf Japanisch zu sprechen. Die Stimme des Aufziehmädchens setzt eine Sekunde später ein und übersetzt alles, was er sagt ins Thai.

»Ihr Besuch ehrt mich.«

Danach macht er eine kurze Pause, und auch das Aufziehmädchen verstummt. Sie ist außergewöhnlich hübsch, denkt Kanya bei sich. Wie zerbrechliches Porzellan. Das kurze Jäckchen gibt den Blick auf ihre Halsgrube frei, und der blasse Rock schmiegt sich ganz entzückend um ihre Hüften. Sie könnte so schön sein, wäre sie nicht wider die Natur.

»Sie wissen, warum ich hier bin?«

Er nickt flüchtig. »Uns haben Gerüchte über ein sehr unglückliches Vorkommnis erreicht. Und wir haben verfolgt, wie unser Land in den Flüsterblättern und Zeitungen diskutiert wird.« Er sieht sie bedeutungsvoll an. »Zahlreiche Stimmen erheben sich gegen uns. Dabei sind die meisten Anschuldigungen falsch und in keinster Weise gerechtfertigt.«

Kanya nickt. »Wir haben Fragen …«

»Ich möchte Ihnen versichern, dass wir dem thailändischen Volk freundschaftlich gegenüberstehen. Diese Freundschaft mit den Thai existiert bereits seit langer Zeit und geht auf unsere Zusammenarbeit im Großen Krieg zurück.«

»Ich würde gerne erfahren, wie …«

Wieder wird sie von Yashimoto unterbrochen. »Tee?«, schlägt er vor.

Kanya zwingt sich dazu, weiterhin höflich zu bleiben. »Sehr gerne.«

Yashimoto gibt dem Aufziehmädchen ein Zeichen, woraufhin sie aufsteht und das Zimmer verlässt. Ohne es zu wollen, entspannt sich Kanya daraufhin ein wenig. Dieses Wesen ist … beunruhigend. Doch jetzt, nachdem sie fort ist, breitet sich eine unangenehme Stille zwischen ihnen aus, während sie darauf warten, dass die Dolmetscherin zurückkommt. Kanya hat das Gefühl, einen Sekundenzeiger ticken zu hören, weitere kostbare Minuten gehen verloren. Die Zeit schreitet unablässig weiter voran. Sturmwolken brauen sich zusammen, während sie hier sitzt und darauf wartet, dass Tee serviert wird.

Das Aufziehmädchen kehrt zurück und kniet sich neben ihnen an einen niedrigen Tisch. Kanya zwingt sich, ruhig zu bleiben, während die Japanerin die langsamen, zeremoniellen Bewegungen ausführt, doch es kostet sie große Willenskraft. Das Aufziehmädchen schenkt ein, und während Kanya jede ihrer fremdartigen Bewegungen beobachtet, meint sie zu erkennen, was die Japaner sich von ihren genmanipulierten Bediensteten erhoffen. Das Mädchen ist perfekt, so präzise wie ein Uhrwerk, und bei der Teezeremonie wohnt ihren Bewegungen sogar so etwas wie rituelle Anmut inne.

Im Gegenzug bemüht sich das Aufziehmädchen, Kanya keinesfalls direkt anzusehen. Sie verliert kein Wort über die weiße Uniform. Schenkt der Tatsache keine Beachtung, dass Kanya sie unter anderen Umständen, ohne zu zögern, kompostieren lassen würde. Sie ignoriert die Uniform des Umweltministeriums vollkommen. Ausgesprochen höflich.

Yashimoto wartet, bis Kanya an ihrem Tee genippt hat, dann nimmt er selbst einen Schluck. Stellt die Schale behutsam auf dem Tisch ab. »Unsere Länder sind einander seit jeher freundschaftlich verbunden«, sagt er dann. »Seit unser Kaiser dem Königreich den Tilapia geschenkt hat. Das war zur Zeit Ihres großen Königs Bhumibol, dem Freund der Wissenschaften. Seit damals hat sich für uns nichts geändert.« Er sieht sie eindringlich an. »Ich hoffe, dass wir Ihnen in dieser Angelegenheit behilflich sein können, aber ich möchte doch auch noch einmal betonen, dass wir Freunde des Königreichs sind.«

»Erzählen Sie mir von den Aufziehwesen«, sagt Kanya.

Yashimoto nickt. »Was möchten Sie wissen?« Er lächelt und zeigt auf das Mädchen, das neben ihnen kniet. Ihre Haut ist glatt, ihre Bewegungen sind überraschend geschmeidig. Und trotzdem bekommt Kanya bei ihrem Anblick eine Gänsehaut. »Ich möchte wissen, wozu Sie sie brauchen.«

Yashimoto zuckt mit den Achseln. »Wir sind eine Nation von alten Menschen. Es gibt nur wenig Nachwuchs. Brave Mädchen wie Hiroko füllen diese Lücke. Wir sind nicht so wie die Thai. Wir haben Kalorien, aber niemanden, der die Arbeit macht. Wir brauchen Assistenten. Arbeiter.«

Kanya achtet sorgsam darauf, sich ihre Abscheu nicht anmerken zu lassen. »Ja. Ihr Japaner unterscheidet euch stark von uns. Und Ihr Land ist auch das einzige, dem wir diese Nischen …«

»Dieses Verbrechen«, ergänzt Jaidee.

»… eingeräumt haben«, beendet sie den Satz. »Niemand sonst darf derartige Kreaturen in unser Land bringen.« Widerstrebend nickt sie in Richtung ihrer Dolmetscherin und bemüht sich, den missbilligenden Tonfall aus ihrer Stimme zu verbannen. »Kein anderes Land. Keine andere Fabrik.«

»Wir sind uns dieses Privilegs durchaus bewusst.«

»Und dennoch haben Sie es ausgenutzt, indem Sie eine militärische Aufzieheinheit …«

Hirokos Worte schneiden ihr den Satz ab, obwohl Kanya noch weiterspricht. Doch Hiroko hat bereits die hitzige Antwort ihres Besitzers auf den Lippen.

»Nein! Das ist unmöglich. Wir haben mit dieser Art von Technologie nichts zu tun. Nicht das Geringste!«

Yashimoto ist plötzlich ganz rot im Gesicht, und Kanya wundert sich über diesen plötzlichen Wutausbruch. Was für eine kulturell bedingte Beleidigung mag sie unwissentlich geäußert haben? Das Aufziehmädchen fährt, ohne selbst die geringste Gefühlsregung zu zeigen, mit der Übersetzung fort. »Wir arbeiten mit Neuen Japanern, so wie Hiroko. Sie ist uns treu ergeben, zuvorkommend und gut ausgebildet. Ein notwendiges Werkzeug. Genau wie die Hacke für den Bauern oder das Schwert für den Samurai.«

»Eigenartig, dass Sie ein Schwert erwähnen.«

»Hiroko ist keine Kampfmaschine. Eine derartige Technologie besitzen wir überhaupt nicht.«

Kanya greift in die Tasche und knallt das Bild der Aufzieh-Mörderin vor ihm auf den Tisch. »Und doch hat eine von ihnen, von Ihrer Firma importiert und auf einen Ihrer Mitarbeiter zugelassen, den Somdet Chaopraya sowie acht weitere Männer getötet, bevor sie sich wie ein rasender Rache-Phii in Luft aufgelöst hat. Und Sie sitzen hier und behaupten, es sei unmöglich, dass sich eine Aufziehsöldnerin in unserem Land befindet!« Während sie immer lauter wird, gewinnt die Übersetzung des Aufziehmädchens gleichermaßen an Heftigkeit.

Yashimotos Miene bleibt unbewegt. Er nimmt das Bild und betrachtet es eingehend. »Wir werden in unseren Aufzeichnungen nachsehen müssen.«

Er nickt Hiroko zu. Sie nimmt das Foto an sich und geht hinaus. Kanya sucht Yashimotos Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen von Besorgnis oder Nervosität ab, findet jedoch nichts. Er wirkt gereizt, mehr nicht. Nicht im Geringsten ängstlich. Sie bedauert, dass sie sich nicht direkt mit ihm unterhalten kann. Dem Nachhall ihrer eigenen Worten auf Japanisch zuzuhören, hat sie auf den Gedanken gebracht, ob in der Übersetzung des Aufziehmädchens nicht vielleicht jegliches Überraschungsmoment verlorengeht. Und ob Hiroko den Schock eventuell abmildert.

Sie warten. Stumm bietet er ihr mehr Tee an. Sie lehnt ab. Er selbst trinkt ebenfalls nichts mehr. Die Spannung im Raum ist so stark, dass sie halb befürchtet, er werde gleich aufspringen und sie mit dem altertümlichen Schwert, das hinter ihm an der Wand hängt, massakrieren.

Einige Minuten später kehrt Hiroko zurück. Mit einer Verbeugung gibt sie Kanya das Foto zurück. Dann spricht sie mit Yashimoto. Keiner von beiden zeigt irgendeine Regung. Hiroko kniet sich wieder neben sie. Yashimoto deutet mit dem Kopf auf das Foto. »Sind Sie sicher, dass sie die Täterin ist?«

Kanya nickt. »Ohne Zweifel.«

»Dieser Anschlag erklärt auch die Wut, die sich unter der Bevölkerung ausbreitet. Vor der Fabrik hatten sich viele Menschen versammelt. Bootsleute. Die Polizei hat sie verjagt, aber sie trugen Fackeln bei sich.«

Kanya unterdrückt ihre Nervosität angesichts dieses um sich greifenden Wahnsinns. Alles geschieht viel zu schnell. Irgendwann wird der Punkt erreicht sein, an dem weder Akkarat noch Pracha zurückweichen können, ohne dabei ihr Gesicht zu verlieren, und dann ist alles vorbei. »Das Volk ist wütend«, stellt sie fest.

»Dieser Zorn ist fehlgeleitet. Das ist keine Militäreinheit.« Kanya starrt ihn herausfordernd an, doch er hält ihrem Blick stand, und so gibt sie schließlich nach. »Mishimoto weiß nicht das Geringste über Aufziehsoldaten. Rein gar nichts. Diese Kreaturen stehen unter strenger Aufsicht. Allein das Verteidigungsministerium unseres Landes darf sie einsetzen. Mir wäre es unmöglich, eine zu erwerben.« Er sieht ihr direkt in die Augen. » Völlig unmöglich.«

»Und doch …«

Er spricht weiter, und Hiroko übersetzt. »Aber ich kenne das Aufziehmädchen, das Sie beschreiben. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt …«

Obwohl der alte Mann weiterspricht, hält die Aufziehdolmetscherin plötzlich inne. Sie richtet sich auf, und ihr Blick schweift zu Yashimoto. Dieser Verstoß gegen die Anstandsregeln lässt ihn die Stirn runzeln. Er sagt etwas zu ihr. Sie senkt den Kopf. »Hai.«

Eine weitere Pause.

Er bedeutet ihr fortzufahren. Sie hat sich inzwischen wieder gefangen und übersetzt seine Ausführungen zu Ende. »Sie wurde den Richtlinien entsprechend vernichtet, anstatt in die Heimat zurück überführt zu werden.« Die dunklen Augen des Aufziehmädchens sind jetzt wieder direkt auf Kanya gerichtet, und in ihnen lässt sich keinerlei Gefühlsausdruck erkennen; nichts verrät die Überraschung, die sie noch einen Moment zuvor gezeigt hat.

Kanya betrachtet erst das Mädchen, dann den alten Mann — zwei ihr völlig fremde Wesen. »Und doch hat sie allem Anschein nach irgendwie überlebt«, gibt sie schließlich zu bedenken.

»Ich war damals noch nicht im Management«, sagt Yashimoto. »Ich kann Ihnen nur sagen, was in unseren Datenspeichern zu finden ist.«

»Diese Aufzeichnungen entsprechen offenbar nicht der Wahrheit.«

»Das stimmt. Und dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich bin beschämt über das, was geschehen ist, doch mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Kanya beugt sich vor. »Wenn Sie mir nicht sagen können, wie es möglich ist, dass sie überlebt hat, dann verraten Sie mir doch bitte wenigstens, wie dieses Mädchen, das innerhalb kürzester Zeit so viele Männer zur Strecke gebracht hat, überhaupt in unser Land gelangen konnte. Sie behaupten, sie sei keine Soldatin, aber um ganz ehrlich zu sein, es fällt mir schwer, das zu glauben. Es handelt sich hier um einen schweren Verstoß gegen die Vereinbarungen zwischen unseren beiden Staaten.«

Vollkommen unerwartet sieht sie, wie sich Lachfältchen um die Augen des Mannes bilden. Er greift zu seiner Teeschale und nimmt einen Schluck, ganz so, als wäge er die Frage ab, doch der Schalk will nicht aus seinen Augen verschwinden. »Diese Frage kann ich Ihnen beantworten.«

Ohne Vorwarnung wirft er die Schale in Hirokos Richtung. Kanya schreit auf. Die Hand des Aufziehmädchens vollführt eine verschwommene Bewegung. Die Teeschale klatscht in ihre Handfläche. Das Mädchen starrt die Teeschale mit offenem Mund an — allem Anschein nach ist sie ebenso perplex wie Kanya.

Der Japaner ordnet die Falten seines Kimonos. »Alle Neuen Japaner sind schnell. Ihre Frage war falsch formuliert. Wie sie ihre angeborenen Fähigkeiten nutzen, ist eine Frage der Ausbildung, nicht der physischen Voraussetzungen. Hiroko wurde von Geburt an darauf trainiert, sich schicklich zu benehmen und sich in einem angemessenen Tempo zu bewegen.«

Er deutet auf ihre Haut. »Für diesen Porzellanteint wurden verkleinerte Poren entwickelt, doch das bedeutet auch, dass sie schnell überhitzt. Ein Aufziehsoldat würde nicht überhitzen, da diese Wesen dafür konstruiert wurden, große Mengen von Energie aufzuwenden, ohne darunter zu leiden. Die arme Hiroko hingegen müsste sterben, wenn sie sich über längere Zeit hinweg solchen Anstrengungen aussetzen würde. Die Schnelligkeit jedoch liegt allen Aufziehmenschen in den Genen.« Er schlägt wieder einen ernsthafteren Ton an. »Es ist allerdings äußerst verwunderlich, dass sich eine von ihnen ihrer Konditionierung dermaßen widersetzt hat. Das sind schlechte Nachrichten. Die Neuen Menschen dienen uns. Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Also könnte Ihre Hiroko dasselbe tun? Acht Männer umbringen? Obwohl sie Waffen tragen?«

Hiroko zuckt zusammen und schaut Yashimoto fragend an; ihre dunklen Augen sind weit aufgerissen. Er nickt. Sagt etwas. Sein Tonfall ist sanft.

»Hai.« Sie vergisst die Übersetzung, dann ringt sie um Worte. »Ja. Es ist möglich. Sehr unwahrscheinlich, aber vorstellbar. « Sie führt das weiter aus. »Doch dazu würde es einen sehr starken Anreizes bedürfen. Die Neuen Menschen schätzen Disziplin. Ordnung. Gehorsam. In Japan haben wir ein Sprichwort, das besagt: ›Neue Menschen sind japanischer als die Japaner‹.«

Yashimoto legt Hiroko eine Hand auf die Schulter. »Die Umstände müssten schon wirklich außergewöhnlich sein, um Hiroko in eine Mörderin zu verwandeln.« Er lächelt voller Überzeugung. »Diejenige, die Sie suchen, hat sich weit von ihrer Bestimmung entfernt. Sie sollten sie zerstören, bevor sie noch mehr Schaden anrichtet. Dabei können wir Ihnen behilflich sein.« Er zögert. »Hiroko könnte Ihnen helfen.«

Kanya versucht, nicht zurückzuschrecken, doch ihr Gesichtsausdruck verrät sie.


»Hauptmann Kanya, ich glaube fast, Sie lächeln.«

Jaidees Phii ist immer noch an ihrer Seite; er thront auf dem Bug ihres kleinen Boots, das von einer steifen Brise über die weitläufige Mündung des Chao Phraya getragen wird. Gischt fährt durch seine Gestalt, und Kanya erwartet jedes Mal aufs Neue, dass er durchnässt wird, doch er bleibt völlig unberührt. Sie schenkt Jaidee ein Lächeln und lässt ihn an ihrem Wohlbefinden teilhaben.

»Heute habe ich etwas Gutes getan.«

Jaidee muss ebenfalls lächeln. »Ich habe beide Seiten des Gesprächs mitbekommen. Sowohl Akkarat als auch Narong waren äußerst beeindruckt von Ihnen.«

Kanya zögert. »Bei denen waren Sie auch?«

Er zuckt mit den Achseln. »Fast scheint es so, als könnte ich überall hin.«

»Nur nicht in Ihr nächstes Leben.«

Wieder zieht er die Schultern hoch und lächelt. »Es gibt hier eben noch einiges für mich zu erledigen.«

»Mich ständig zu belästigen, meinen Sie wohl.« Aber in ihren Worten liegt keinerlei Gehässigkeit. Als sie so im warmen Licht der untergehenden Sonne dahingleiten, die Wellen gegen den Bug schlagen und sich die Stadt vor ihnen abzeichnet, ist Kanya einfach nur dankbar dafür, dass die Unterhaltung so gut verlaufen ist. Noch während sie mit Narong gesprochen hat, gab er seinen Männern den Befehl zum Rückzug. Sie hat auch die Verlautbarungen im Radio verfolgt. Es würde Treffen mit den Anhängern des zwölften Dezember geben. Immerhin, eine Feuerpause. Wenn die Japaner nicht bereit gewesen wären, die Verantwortung für dieses so schrecklich aus der Art geschlagene Aufziehmädchen zu übernehmen, dann wäre alles vielleicht anders gekommen. Doch jetzt gab es bereits Angebote für Entschädigungszahlungen, und die Dokumente, die von den Japanern bereitgestellt worden waren, hatten Pracha entlastet. Dieses eine Mal nehmen die Dinge eine gute Wendung.

Kanya kommt nicht umhin, stolz auf sich zu sein. Endlich hat es sich bezahlt gemacht, im Dienste zweier Herren zu stehen. Sie fragt sich, ob hier Kamma im Spiel ist und das Schicksal ihr diesen Platz zugewiesen hat, um zum Wohle von Krung Thep zwischen General Pracha und Minister Akkarat zu vermitteln. Es wäre gewiss niemand anderem außer ihr möglich gewesen, die Barrieren aus Stolz und Angst vor dem Gesichtsverlust niederzureißen, die beide Männer mitsamt ihren Splittergruppen um sich herum errichtet hatten.

Jaidee lächelt sie immer noch an. »Stellen Sie sich nur einmal vor, welch große Taten unser Land vollbringen könnte, wenn wir uns nicht ständig gegenseitig bekämpfen würden.«

In einem Anflug von Optimismus sagt Kanya: »Vielleicht ist alles möglich.«

Jaidee lacht auf. »Noch läuft ein Aufziehmädchen frei herum. «

Unwillkürlich schweift Kanyas Blick zu dem Aufziehmädchen hinüber, das neben ihr sitzt. Hiroko hat die Beine übereinandergeschlagen und betrachtet die Stadt, die immer näher rückt. Voller Neugier erfasst sie alles um sich herum — die Klipper, die Segelschiffe und federbetriebene Patrouillenboote. Sie dreht sich um, als spürte sie, dass Kanya sie anstarrt. Ihre Blicke treffen sich. Kanya schaut nicht weg.

»Warum hassen Sie die Neuen Menschen eigentlich so sehr?«, fragt Hiroko.

Jaidee lacht erneut. »Werden Sie ihr jetzt einen Vortrag über Nischen und Natur halten?«

Kanya wendet sich ab und sieht auf die schwimmenden Fabrikgebäude über dem versunkenen Thonburi. Der Prang des buddhistischen Tempels Wat Arun zeichnet sich vor dem blutroten Abendhimmel ab.

Wieder dieselbe Frage: »Warum hassen Sie meinesgleichen? «

Kanya mustert die Frau eingehend. »Wirst du kompostiert, wenn Yashimoto-sama nach Japan zurückkehrt?«

Hiroko senkt den Blick. Kanya schämt sich seltsamerweise, dass sie die Gefühle des Aufziehwesens verletzt zu haben scheint, doch sie schüttelt die Schuldgefühle schnell wieder ab. Schließlich ist das nur ein Aufziehmädchen. Auch wenn sie die Wesensart der Menschheit nachäffen, so sind sie doch nicht mehr als ein verantwortungsloses Experiment, das bereits viel zu weit gegangen ist. Ein Aufziehmensch. Abgehackte Bewegungen und das verräterische Zucken einer gentechnisch konstruierten Bestie. Ein intelligentes Tier. Und offensichtlich sehr gefährlich, wenn es gereizt wird. Kanya beobachtet das Wasser, während sie ihr Gefährt durch die Wellen steuert, doch aus dem Augenwinkel späht sie nach dem Aufziehmädchen, das dieselbe ungezügelte Schnelligkeit in sich trägt wie das andere. In all diesen Neuen Menschen schlummert eine tödliche Bedrohung.

»Wir sind nicht alle so wie die, die Sie jagen«, sagt Hiroko schließlich.

Kanya wendet sich wieder dem Aufziehmädchen zu. »Aber ihr seid allesamt widernatürlich. Ihr wurdet in Reagenzgläsern herangezogen. Ihr verstoßt gegen das Gesetz der Nische. Ihr besitzt keine Seele und kein Kamma. Und jetzt hat eine von euch …« Sie bricht ab, weil allein der Gedanke sie überwältigt. »… den Beschützer unserer Königin umgebracht. Und für meinen Teil seid ihr beide euch nur allzu ähnlich.«

Hirokos Blick wird abweisend. »Dann schicken Sie mich doch zurück zu Mishimoto.«

Kanya schüttelt den Kopf. »Nein. Ihr seid auch nützlich. Zumindest bist du der lebende Beweis dafür, dass alle Aufziehwesen gefährlich sind. Und dafür, dass es sich bei der, die wir suchen, nicht um eine Militäreinheit handelt. Dafür kann ich dich gut gebrauchen.«

»Wir sind nicht alle gefährlich«, beharrt Hiroko auf ihrer Position.

Kanya zuckt mit den Schultern. »Mr Yashimoto hat gesagt, dass du uns bei der Suche nach der Mörderin behilflich sein kannst. Wenn das stimmt, dann habe ich eine Verwendung für dich. Wenn nicht, würde ich nicht zögern, dich mit dem Rest der Tagesabfälle zur Kompostieranlage zu geben. Auch wenn dein Herr mir sagt, dass du für mich von Nutzen sein kannst, kann ich mir nicht vorstellen, inwiefern.«

Hiroko wendet den Blick ab und schaut über das Wasser zu den Fabriken hinüber, die inzwischen weit entfernt sind.

»Ich glaube, Sie haben ihre Gefühle verletzt«, murmelt Jaidee.

»Wenn es um ihre Gefühle genauso bestellt ist wie um ihre Seelen, dann ist das wohl kaum möglich.« Kanya lehnt sich gegen die Ruderpinne und steuert die Hafenanlage an. Es bleibt immer noch so viel zu tun.

Dann, plötzlich, sagt Hiroko: »Sie wird sich einen neuen Patron suchen.«

Kanya dreht sich überrascht um. »Was meinst du damit?«

»Sie hat ihren japanischen Besitzer verloren. Und jetzt auch noch den Mann, der den Nachtclub geleitet hat, in dem sie gearbeitet hat.«

»Sie hat ihn umgebracht.«

Hiroko zuckt mit den Achseln. »Das spielt keine Rolle. Sie hat ihren Herrn verloren. Sie muss einen neuen finden.«

»Woher willst du das wissen?«

Hiroko betrachtet sie mit kaltem Blick. »Das liegt uns in den Genen. Wir streben nach Gehorsam. Danach, dass uns jemand Anweisungen gibt. Für uns ist das unbedingt notwendig. So wie ein Fisch das Wasser braucht. Es ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Yashimoto-sama hat das richtig ausgedrückt. Wir sind japanischer als die Japaner. Wir müssen uns in eine Hierarchie einordnen, um zu dienen. Sie muss einen Meister finden.«

»Vielleicht ist sie da anders? Und was geschieht, wenn sie es nicht tut?«

»Das wird sie. Sie hat gar keine andere Wahl.«

»So wie du.«

Hirokos Blick richtet sich wieder auf Kanya. »So ist es.«

Liegt da ein wütendes, verzweifeltes Flackern in diesen Augen? Oder bildet Kanya sich das nur ein, weil sie glaubt, dass so etwas tief im Innern dieses menschenähnlichen Dings schlummern müsste, das doch nicht menschlich ist und niemals menschlich sein wird? Ein hübsches Rätsel. Kanya wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Wasser und der kurz bevorstehenden Ankunft zu. Sie sucht die Wellen nach anderen Booten ab, mit denen sie um den wenigen Platz kämpfen muss. Zieht plötzlich die Stirn kraus. »Solche Lastkähne habe ich noch nie gesehen.«

Hiroko blickt auf. »Werden die Gewässer so scharf überwacht? «

Kanya schüttelt den Kopf. »Mein erstes Einsatzgebiet war der Hafen. Um Razzien zu begleiten. Importware zu kontrollieren. Gutes Geld.« Sie beobachtet die Kähne. »Diese Schiffe sind für besonders schwere Lasten gebaut. Nicht einfach nur Reis. Ich habe so etwas noch nie gesehen …«

Sie verstummt, und während sie den Maschinen dabei zuschaut, wie sie sich unnachgiebig vorwärtswälzen, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Große, dunkle Scheusale.

»Was ist?«, fragt Hiroko.

»Sie sind nicht federgetrieben.«

»Wirklich?«

Kanya zerrt an ihrem Segel, so dass die Winde der Flussmündung das kleine Boot herumreißen, weg von den sich nähernden Schiffen.

»Die gehören zu einer Armee. Das sind alles Kriegsschiffe. «

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