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»Und hoch!«, ruft Hock Seng. Pom und Nu und Kukrit und Kanda stemmen sich alle gegen die geborstene Spindel und ziehen sie aus der Wiege wie einen Splitter, der einem Riesen aus dem Fleisch gezogen wird. Sie wuchten sie so weit heraus, bis Mai, ein kleines Mädchen, in den Zwischenraum darunter kriechen kann.

»Ich kann nichts sehen!«, ruft sie.

Pom und Nu spannen die Muskeln an, um die Spindel daran zu hindern, wieder an ihren Platz zurückzurutschen. Hong Seng kniet sich hin und reicht dem Mädchen eine Schüttellampe hinunter. Ihre Finger berühren die seinen, und das LED-Gerät verschwindet in der Finsternis. Die Lampe ist mehr wert als das Mädchen. Er hofft, dass die Männer die Spindel nicht fallen lassen, während Mai da unten ist.

»Und?«, ruft er, nachdem eine Minute verstrichen ist. »Hat sie einen Riss?«

Er erhält keine Antwort. Hock Seng hofft, dass Mai nicht irgendwo feststeckt und nicht mehr herauskommt. Er geht in die Hocke, um zu warten, bis sie mit ihrer Inspektion fertig ist. Um ihn herum summt die Fabrik wie ein Bienenstock — die Arbeiter mühen sich, alles wieder in Ordnung zu bringen. Männer schwärmen über den Kadaver des Megodonten, Gewerkschaftsarbeiter mit blanken Macheten und vier Fuß langen Knochensägen. Die Hände tiefrot, zerlegen sie den Fleischberg in seine Einzelteile. Blut rinnt der Bestie über die Flanken, während ihr die Haut von dem marmorweißen Muskelfleisch gezogen wird.

Bei dem Anblick läuft Hock Seng ein Schauder den Rücken hinunter. Er muss an sein Volk denken, das ein ähnliches Schicksal erlitten hat, an das Blutvergießen und die zerstörten Fabriken. Gut gefüllte Lagerhäuser und tapfere Menschen — alles dahin. Vor seinem geistigen Auge sieht er Männer mit den grünen Stirnbändern und Macheten, die seine Lagerhäuser in Brand stecken. Jute und Tamarinde und Spannfedern, alles geht in Flammen auf. Gleißende Klingen, die den Schein der Feuersbrunst zurückwerfen. Er wendet den Blick ab und versucht, die Erinnerungen zurückzudrängen und ruhig zu atmen.

Als die Megodonten-Gewerkschaft erfahren hat, dass einer der ihren gefallen ist, hat sie umgehend ihre erfahrenen Schlachter geschickt. Hock Seng hat sie gedrängt, den Kadaver nach draußen zu schleifen und ihr Werk auf der Straße zu verrichten, damit Platz ist, um das Räderwerk zu reparieren. Doch die Männer von der Gewerkschaft haben sich geweigert, und so wimmelt es jetzt nicht nur von Arbeitern, die aufräumen und putzen, sondern auch noch von Fliegen; über allem liegt der Geruch des Todes.

Knochen ragen aus dem Kadaver wie Korallen aus einem tiefroten Meer. Blut läuft dem Megodonten in Strömen über die Flanken, sickert in die Sturmschächte und wird von Bangkoks kohlebetriebenen Hochwasserpumpen fortgespült. Missmutig betrachtet Hock Seng das abfließende Blut. Das sind Gallonen — unzählige Kalorien, unwiederbringlich verloren. Die Schlächter arbeiten zügig, doch sie werden den größten Teil der Nacht brauchen, um das Tier ganz zu zerlegen.

»Ist sie bald fertig?«, keucht Pom. Hock Seng wendet seine Aufmerksamkeit wieder der Spindel zu. Pom und Nu und ihren Landsleuten geht allmählich die Kraft aus.

»Was siehst du da, Mai?«, ruft Hock Seng in die Senke hinunter.

Ihre Antwort ist nur gedämpft zu hören.

»Dann komm hoch!« Er kauert sich wieder hin. Wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. In der Fabrik ist es heißer als in einem Reistopf. Die Megodonten sind in ihre Ställe zurückgetrieben worden, und so stehen nicht nur die Fließbänder still, sondern auch die Ventilatoren. Die feuchte Hitze und der Gestank drohen die Menschen zu ersticken. Ebenso gut könnten sie sich in den Schlachthöfen von Khlong Toei befinden. Hock Seng muss einen Würgereiz unterdrücken.

Die Schlachter von der Gewerkschaft stoßen triumphierende Schreie aus. Sie haben den Bauch des Megodonten aufgeschlitzt. Gedärme quellen hervor. Aassammler — die sämtlich in den Diensten des Kadaverkönigs stehen — waten in die dampfenden Innereien hinein und schaufeln sie in Handkarren. Eine solche Menge von Kalorien ist ein Glücksfall. Innereien, die so sauber sind, werden wahrscheinlich im Umland auf den Bauernhöfen des Kadaverkönigs an die Schweine verfüttert oder zur Armenspeisung an die chinesischen Flüchtlinge aus Malaya ausgegeben, die unter dem Schutz des Kadaverkönigs in den alten Expansionshochhäusern dahinvegetieren. Und was die Schweine oder die Yellow Cards nicht vertilgen, kommt zusammen mit den täglich anfallenden Obstschalen und dem aufgesammelten Tierdung in die städtischen Anlagen, um sich langsam in Kompost und Gas umzuwandeln, das in den staatlich genehmigten Methanlampen verbrennt und die nächtlichen Straßen mit seinem grünen Schein erfüllt.

Hock Seng zupft nachdenklich an einem Leberfleck. Ein gutes Monopol, das. Der Einfluss des Kadaverkönigs erstreckt sich in der Stadt auf so viele Bereiche, dass er eigentlich längst Premierminister sein müsste. Der Pate aller Paten, der größte Jao Por, der jemals über das Königreich herrschte, kann alles haben, was er begehrt.

Aber wird er auch wollen, was ich ihm zu bieten habe?, fragt sich Hock Seng. Wird ihn dieses Geschäft interessieren?

Endlich dringt Mais Stimme von unten herauf und reißt ihn aus seinen Gedanken. »Sie hat einen Riss!«, ruft sie. Kurz darauf kriecht sie, schweißüberströmt und schmutzig, aus der Senke. Nu und Pom und die anderen lassen ihre Hanfseile los. Die Spindel kracht in ihre Wiege zurück, und der Boden erbebt.

Mai fährt erschrocken herum, und Hock Seng glaubt, in ihren Augen erste Anzeichen von Furcht zu erkennen — anscheinend ist sie sich jetzt erst bewusst geworden, in welcher Gefahr sie schwebte. Aber sie hat sich sofort wieder unter Kontrolle. Ein tapferes Kind.

»Nun?«, will Hock Seng wissen. »Sag schon — ist der Kern geborsten?«

»Ja, Khun, ich kann meine Hand so weit hineinstecken.« Sie berührt ihre Hand fast am Handgelenk, um es ihm zu zeigen. »Und auf der anderen Seite genauso.«

»Tamade«, flucht Hock Seng. Es überrascht ihn nicht, aber trotzdem. »Und der Kettenantrieb?«

Mai schüttelt den Kopf. »Die Glieder, die ich sehen konnte, waren verbogen.«

Er nickt. »Geh Lin holen und Lek und Chuan …«

»Chuan ist tot.« Sie deutet auf die Flecken, wo der Megodont zwei Arbeiter niedergetrampelt hat.

Hock Seng verzieht das Gesicht. »Ja, natürlich.« Er und Noi und Kapiphon und der unselige Banyat, an dem Anderson nun nicht mehr seinen Ärger über die verunreinigten Algenbäder auslassen kann. Unkosten über Unkosten. Tausend Baht für die Familien der toten Arbeiter und zweitausend für Banyat. Hock Seng beißt sich auf die Lippen. »Dann treib jemand anderen auf — jemanden vom Putztrupp, der so klein ist wie du. Ihr müsst da runter. Pom und Nu und Kukrit, holt die Spindel raus. Und zwar ganz. Wir müssen das Hauptantriebssystem untersuchen, Kettenglied für Kettenglied. Bevor das nicht passiert ist, können wir gar nicht daran denken weiterzuarbeiten.«

»Warum die Eile?« Pom lacht. »Es wird noch lange dauern, bis wir wieder arbeiten können. Der Farang wird der Gewerkschaft säckeweise Opium bezahlen müssen, bevor die Mahout bereit sind, hierher zurückzukehren. Schließlich hat er Hapreet erschossen.«

»Und wenn sie zurückkehren, wird Spindel Nummer 4 noch nicht betriebsbereit sein«, faucht Hock Seng. »Es wird einige Zeit dauern, bis die Krone uns erlaubt, einen weiteren Baum von diesem Umfang zu fällen, und dann muss der Stamm erst aus dem Norden hier heruntergeflößt werden — immer vorausgesetzt, der Monsun bleibt nicht wieder aus. So lange werden wir mit reduzierter Kraft arbeiten müssen. Denkt mal darüber nach. Manche von euch werden überhaupt nicht arbeiten.« Er deutet auf die Spindel. »Wer am schwersten arbeitet, kann bleiben.«

Pom lächelt entschuldigend, verbeißt sich seine Wut und legt die erhobenen Hände gegeneinander. »Khun, ich habe vorschnell gesprochen. Ich habe es nicht böse gemeint.«

»Dann ist es gut.« Hock Seng nickt und wendet sich ab. Seine Miene bleibt mürrisch, aber auch er weiß, dass Pom Recht hat. Opium und Bestechungsgelder allein werden nicht genügen — sie werden auch die Verträge neu aushandeln müssen, bevor die Megodonten wieder ihre schwerfälligen Kreise um die Spindeln ziehen. Noch ein roter Posten in der Bilanz. Ganz zu schweigen von den Kosten für den Gesang der Mönche, für die brahmanischen Priester oder die Feng-Shui-Experten und die Medien, die man brauchen wird, um die Phii zu konsultieren, damit die Arbeiter beschwichtigt werden und in diese vom Pech verfolgte Fabrik zurück…

»Tan Xiansheng!«

Hock Seng blickt auf, aus seinen Berechnungen gerissen. Auf der anderen Seite der Fertigungshalle sitzt der Yang Guizi Anderson Lake auf einer Bank neben den Spinden der Arbeiter. Eine Ärztin kümmert sich um seine Verletzungen. Erst wollte der fremde Teufel, dass sie ihn oben im Büro zusammenflickt, doch Hock Seng konnte ihn überreden, hier unten zu bleiben, mit seinem weißen, blutüberströmten Tropenanzug, wie ein aus dem Grabe entsprungener Phii, doch immerhin lebendig. Das hat ihm eine Menge Respekt eingebracht. Der Ausländer kennt keine Furcht.

Anderson trinkt Mekong-Whisky aus der Flasche — er hat Hock Seng losgeschickt, um ihn zu kaufen, als wäre dieser nur ein einfacher Dienstbote. Hock Seng wiederum hat Mai beauftragt, die mit einer Flasche gefälschtem Mekong zurückkam, auf der ein täuschend echtes Etikett klebte, und außerdem mit so viel Wechselgeld, dass er ihr, weil sie so aufgeweckt war, ein paar Baht zusteckte. Dabei hat er ihr in die Augen geblickt und gesagt: »Denk daran, das habe ich für dich getan.«

In einem anderen Leben wäre er angesichts ihres feierlichen Nickens überzeugt gewesen, sich ein Stück Loyalität erkauft zu haben. In diesem Leben kann er nur hoffen, dass sie ihn nicht sofort zu töten versucht, falls sich die Thai plötzlich gegen sein Volk wenden und beschließen, die Yellow-Card-Chinesen in den mit Rostwelke verseuchten Dschungel zu treiben. Vielleicht hat er sich ein wenig Zeit erkauft. Oder auch nicht.

Als er näher kommt, ruft ihm Doktor Chan auf Mandarin entgegen: »Ihr fremder Teufel ist stur wie ein Esel. Er will einfach nicht still sitzen bleiben.«

Sie ist eine Yellow Card, wie er auch. Ein weiterer Flüchtling, dem es verboten ist, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und die deshalb auf ihre angeborene Klugheit und Tüchtigkeit angewiesen ist. Sollten die Weißhemden jemals herausfinden, dass sie einem einheimischen Arzt den Reis aus der Schüssel nimmt … Den Gedanken lässt er erst gar nicht zu. Immerhin kann er auf diese Weise jemandem aus der Heimat helfen, wenn auch nur für einen Tag. Eine kleine Wiedergutmachung für all das, was geschehen ist.

»Bitte versuchen Sie, ihn am Leben zu halten.« Hock Seng deutet ein Lächeln an. »Wir brauchen ihn noch, damit er unsere Lohnzettel unterschreibt.«

Sie lacht. »Ting mafan. Ich bin mit Nadeln und Faden etwas aus der Übung, aber für Sie würde ich diese hässliche Kreatur aus dem Reich der Toten zurückholen.«

»Wenn Sie das können, rufe ich Sie, falls ich einmal Cibiskose bekomme.«

Der Yang Guizi unterbricht sie auf Englisch. »Worüber beschwert sie sich?«

Hock Seng mustert ihn eindringlich. »Sie bewegen sich zu sehr.«

»Sie ist einfach zu ungeschickt. Sagen Sie ihr, sie soll sich beeilen.«

»Sie sagt auch, dass Sie eine Menge Glück gehabt haben. Ein Zentimeter weiter, und der Splitter hätte sich in Ihre Schlagader gebohrt. Dann wäre das dort auf dem Boden auch Ihr Blut.«

Überraschenderweise lächelte Mr Lake, als er das hört. Sein Blick schweift zu dem Fleischberg hinüber, der nur wenige Meter von ihm entfernt abgetragen wird. »Ein Splitter. Und ich dachte, der Megodont würde mir den Garaus machen.«

»Ja. Fast wären Sie gestorben«, sagt Hock Seng. Und das wäre eine Katastrophe gewesen. Wenn die Investoren von Mr Lake den Mut verlieren und die Fabrik schließen würden … Hock Seng verzieht das Gesicht. Es ist viel schwieriger, diesen Yang Guizi zu beeinflussen als Mr Yates, und doch muss er dafür sorgen, dass dieser dickköpfige fremde Teufel am Leben bleibt; wenn auch nur, damit die Fabrik nicht schließt.

Der Gedanke, dass er Mr Yates einmal so nahestand und an Mr Lake einfach nicht herankommt, ärgert ihn zutiefst. Pech und ein eigensinniger Yang Guizi, und jetzt muss er einen neuen Plan aushecken, um auf lange Sicht sein Überleben und die Wiederauferstehung seines Clans zu sichern.

»Ich finde, Sie sollten feiern, dass Sie das überlebt haben«, schlägt Hock Seng vor. »Bringen Sie Guanyin und Budai Opfer dar, um ihnen für Ihr Glück zu danken.«

Mr Lake grinst, die blassblauen Augen auf Hock Seng gerichtet. Wässrige Teiche, in deren Tiefe Dämonen lauern. »Das werde ich, verdammt nochmal.« Er hält die Flasche gefälschten Mekong in die Höhe, die bereits halbleer ist. »Ich werde die ganze Nacht feiern.«

»Vielleicht möchten Sie, dass ich mich um jemanden kümmere, der Ihnen Gesellschaft leistet?«

Das Gesicht des fremden Teufels erstarrt. Sichtlich angewidert mustert er Hock Seng. »Das geht Sie nichts an.«

Hock Seng verflucht sich im Stillen, allerdings ohne eine Miene zu verziehen. Offenbar ist er zu weit gegangen, und jetzt ist diese Kreatur wieder wütend auf ihn. Rasch legt er die erhobenen Hände gegeneinander, um sich zu entschuldigen. »Natürlich. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Der Yang Guizi lässt den Blick durch die Fertigungshalle schweifen. Die gute Laune scheint ihm endgültig vergangen zu sein. »Wie groß ist der Schaden?«

Hock Seng zuckt mit den Achseln. »Sie haben Recht, was den Spindelkern betrifft. Er hat einen Riss.«

»Und die Hauptkette?«

»Wir werden jedes einzelne Glied untersuchen. Wenn wir Glück haben, ist nur ein Teil des Räderwerks beschädigt.«

»Eher unwahrscheinlich.« Der fremde Teufel hält ihm die Whiskyflasche hin. Hock Seng versucht, seinen Ekel zu verbergen, und schüttelt den Kopf. Mr Lake lächelt wissend und nimmt noch einen Schluck. Wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.

Die Schlachter werden erneut etwas lauter — immer mehr Blut quillt aus dem Kadaver. Der Kopf des Megodonten ist jetzt seitlich weggekippt und zur Hälfte vom Körper abgetrennt. Bald wird er nur noch aus Einzelteilen bestehen. Bereits jetzt sieht er nicht mehr wie ein Tier aus, sondern wie ein Spielzeug, das man zusammensetzen kann.

Hock Seng fragt sich, ob es eine Möglichkeit gibt, die Gewerkschaft dazu zu zwingen, ihn an dem Gewinn zu beteiligen, den sie mit dem Verkauf des makellosen Fleisches machen werden. Allerdings ist das eher unwahrscheinlich angesichts der Eile, mit der sie ihr Revier abgesteckt haben. Aber vielleicht bei den Verhandlungen über den neuen Vertrag, oder wenn sie Entschädigungen verlangen?

»Möchten Sie den Kopf behalten?«, fragt Hock Seng. »Sie könnten eine Trophäe daraus machen.«

»Nein.« Wieder wirkt der Yang Guizi empört.

Hock Seng braucht seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht das Gesicht zu verziehen. Dieser Teufel ist äußerst launisch und aggressiv. Wie ein kleines Kind. Im einen Moment ist er fröhlich, im nächsten gereizt. Hock Seng verdrängt seinen Ärger; Mr Lake ist, wie er ist. Sein Karma hat ihn zu einem fremden Teufel gemacht, und Hocks Karma hat sie zueinander geführt. Wenn man verhungert, bringt es nichts, sich über die Qualität von U-Tex-Reis zu beschweren.

Mr Lake scheint Hock Sengs Miene richtig zu deuten und erklärt: »Das war keine Jagd. Das war Mord. Sobald ich ihn mit den Pfeilen getroffen hatte, war er so gut wie tot. Es gibt nichts, worauf ich stolz sein könnte.«

»Aha. Natürlich. Sehr ehrenhaft.« Hock Seng unterdrückt seine Enttäuschung. Hätte der fremde Teufel den Kopf für sich verlangt, dann hätte er die Stümpfe der Stoßzähne mit einem Verbundstoff aus Kokosöl ersetzen und das Elfenbein an die Ärzte in der Nähe von Wat Bowonniwet verkaufen können. Jetzt ist auch dieses Geld verloren. Was für eine Verschwendung! Hock Seng fragt sich, ob er Mr Lake nicht erklären soll, wie wertvoll das Fleisch und die Kalorien und das Elfenbein sind, das da vor ihnen liegt, entschließt sich dann aber dagegen. Der fremde Teufel würde das nicht verstehen, und er wird so schnell zornig.

»Die Cheshire sind hier«, sagt Mr Lake schließlich. Hock Seng schaut in die Richtung, in die der Yang Guizi deutet. Am Rande des Blutbades sind flirrende katzenhafte Gestalten aufgetaucht; sich windende Gebilde aus Licht und Schatten, angelockt vom Aasgeruch. Der Yang Guizi verzieht angewidert das Gesicht; Hock Seng jedoch hegt einen gewissen Respekt für die Teufelskatzen. Sie sind schlau und gedeihen an Orten, an denen sie verachtet werden. Ihre Zähigkeit ist geradezu übernatürlich. Manchmal scheinen sie das Blut bereits zu riechen, bevor es vergossen ist. Als könnten sie ein kleines Stück in die Zukunft schauen und wüssten genau, wo ihre nächste Mahlzeit zu finden ist. Die schimmernden Katzenwesen schleichen sich an die klebrigen Blutlachen heran. Einer der Schlachter versucht, eine Cheshire mit einem halbherzigen Tritt zu vertreiben, aber es sind zu viele, es ist zwecklos.

Mr Lake nimmt einen weiteren Schluck von seinem Whisky. »Die werden wir nie wieder los.«

»Es gibt Kinder, die Jagd auf sie machen«, sagt Hock Seng. »Das Kopfgeld ist nicht hoch.«

Der Yang Guizi verzieht abschätzig das Gesicht. »Bei uns im Mittleren Westen ist auch ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt.«

Unsere Kinder sind etwas motivierter als eure.

Hock Seng widerspricht dem Ausländer jedoch nicht. Er wird trotzdem dafür sorgen, dass die Cheshire verschwinden. Wenn den Katzen gestattet wird zu bleiben, werden sich unter den Arbeitern Gerüchte verbreiten, dass Phii Oun, der Trickstergott der Cheshire, dieses Unglück verursacht hat. Die Teufelskatzen kommen flimmernd näher. Bunt gescheckt und rötlich braun, schwarz wie die Nacht — alle verblassen sie und nehmen wieder Gestalt an, während ihr Fell sich der Farbe ihrer Umgebung anpasst. Als sie an der Blutlache zu lecken beginnen, werden sie tiefrot.

Hock Seng hat gehört, die Cheshire seien von einem Spitzenmanager eines Kalorienkonzerns kreiert worden — bei PurCal oder AgriGen vermutlich —, als Geburtstagsgeschenk für seine Tochter, als die kleine Prinzessin so alt wurde wie Lewis Carrolls Alice.

Die Gäste des Kindes hätten die neuen Haustiere mit nach Hause genommen, wo sie sich mit ihren natürlichen Verwandten paarten, und innerhalb von zwanzig Jahren waren die Teufelskatzen auf allen Kontinenten heimisch, und Felis domesticus war vom Erdboden verschwunden, verdrängt von einer genetischen Linie, die in achtundneunzig Prozent aller Fälle reinerbige Nachkommen hat. Die Grünen Brigaden in Malaya hassten Chinesen und Cheshire gleichermaßen, aber soweit Hock Seng weiß, gedeihen die Teufelskatzen dort noch immer.

Der Yang Guizi zuckt zusammen, als Doktor Chan ihn erneut sticht, und wirft ihr einen bösen Blick zu. »Machen Sie endlich«, faucht er sie an.

Bedächtig legt sie die erhobenen Hände gegeneinander, darum bemüht, ihre Furcht nicht zu zeigen. »Er hat sich wieder bewegt«, flüstert sie Hock Seng zu. »Das Narkosemittel ist nicht gut. Nicht so gut, wie ich es gewohnt bin.«

»Keine Sorge«, erwidert Hock Seng. »Deshalb habe ich ihm ja den Whisky gegeben. Machen Sie nur Ihre Arbeit. Ich kümmere mich um ihn.« Zu Lake Xiansheng sagt er: »Sie ist gleich fertig.«

Der Ausländer verzieht das Gesicht, stößt jedoch keine Drohungen mehr aus, und die Ärztin kann endlich ihre Arbeit beenden. Hock Seng nimmt sie beiseite und reicht ihr einen Umschlag mit ihrem Lohn. Sie legt zum Dank die erhobenen Hände gegeneinander, doch Hock Seng schüttelt den Kopf. »Darin ist eine Prämie. Ich möchte, dass Sie einen Brief überbringen.« Er reicht ihr einen weiteren Umschlag. »Ich würde gerne mit dem Chef Eures Hochhauses sprechen.«

»Dog Fucker?« Sie verzieht angewidert das Gesicht.

»Wenn er hören würde, dass Sie ihn so nennen, würde er auch noch die letzten Überlebenden Ihrer Familie auslöschen. «

»Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.«

»Überbringen Sie nur diese Mitteilung. Das genügt schon.«

Mit skeptischem Blick nimmt die Ärztin den Umschlag entgegen. »Sie waren stets gut zu unserer Familie. Alle Nachbarn erzählen von Ihrer Güte. Und bringen Opfer dar, um Ihren … Schmerz zu lindern.«

»Meine Bemühungen sind bei weitem nicht ausreichend.« Hock Seng zwingt sich zu einem Lächeln. »Schließlich müssen wir Chinesen zusammenhalten. In Malaya waren wir vielleicht noch Hoklo oder Hakka oder Fünfte Welle, aber hier sind wir alle Yellow Cards. Ich bin beschämt, dass ich nicht mehr tun kann.«

»Sie tun bereits mehr als alle anderen.« Sie legt die Hände gegeneinander und hält sie an die Stirn, wie es die Kultur, die sie nun angenommen haben, gebietet, und verabschiedet sich.

Mr Lake blickt ihr nach. »Sie ist eine Yellow Card, habe ich Recht?«

Hock Seng nickt. »Ja. Sie war Ärztin in Malakka. Vor dem Zwischenfall.«

Der Ausländer schweigt — anscheinend muss er diese Information erst verdauen. »War sie billiger als eine thailändische Ärztin?«

Hock Seng blickt kurz zu dem Yang Guizi auf und überlegt, was er hören möchte. Schließlich sagt er: »Ja. Viel billiger. Und genauso gut. Vielleicht sogar besser. Aber viel billiger. Es ist uns hier nicht erlaubt, die Nischen der Thai zu besetzen. Deshalb hat sie nur wenig Arbeit — außer wenn Yellow Cards sie rufen, aber diese können fast nichts bezahlen. Sie ist froh über die Arbeit.«

Mr Lake nickt nachdenklich, und Hock Seng fragt sich, was wohl in ihm vorgeht. Der Mann ist ihm ein Rätsel. Manchmal denkt Hock Seng, dass die Yang Guizi eigentlich viel zu dumm sind, um einmal die Welt erobert zu haben, geschweige denn zweimal. Dass sie während der Großen Expansion so erfolgreich waren und — nachdem der Energiekollaps sie wieder an ihre Küsten zurückgeworfen hatte — sich ein weiteres Mal aufrappelten, mit den Kalorienkonzernen und ihren Seuchen und ihrem patentierten Getreide … Sie scheinen den Schutz übernatürlicher Mächte zu genießen. Von Rechts wegen müsste Mr Lake tot sein, eine stinkende Leiche wie Banyat und Noi und der namenlose, törichte Mahout an der Spindel Nummer 4, der diese Panik überhaupt erst ausgelöst hat. Und trotzdem, da sitzt der fremde Teufel, beschwert sich über einen winzigen Nadelstich, jedoch ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass er innerhalb weniger Sekunden ein zehn Tonnen schweres Tier umgebracht hat. Die Yang Guizi sind wirklich seltsame Geschöpfe. Weit fremdartiger, als er ahnte, selbst als er noch regelmäßig mit ihnen Handel trieb.

»Die Mahout werden zusätzliche Lohnzahlungen verlangen«, stellt Hock Seng fest. »Bestechungsgelder, damit sie an die Arbeit zurückkehren.«

»Schon klar.«

»Und wir werden Mönche suchen müssen, die für die Fabrik singen. Den Arbeitern zuliebe. Die Phii müssen besänftigt werden.« Hock Seng hält inne. »Das wird uns teuer zu stehen kommen. Die Leute werden sagen, dass Ihre Fabrik von bösen Geistern heimgesucht wird. Dass sie am falschen Ort errichtet wurde, oder dass das Geisterhaus nicht groß genug ist. Oder dass Sie den Baum eines Phii gefällt haben, als sie gebaut wurde. Wir werden einen Wahrsager anheuern müssen und vielleicht einen Feng-Shui-Meister, damit sie glauben, dass sich alles wieder zum Guten wendet. Die Mahout werden eine Gefahrenzulage verlangen …«

»Ich möchte, dass sämtliche Mahout ausgewechselt werden«, fällt ihm Mr Lake ins Wort. »Alle ohne Ausnahme.«

Hock Seng stockt der Atem. »Das ist unmöglich. Alle Energieverträge, die in dieser Stadt geschlossen werden, gehen durch die Hände der Megodonten-Gewerkschaft. Das ist ein Regierungsauftrag. Die Weißhemden haben das Monopol. An den Gewerkschaften kommen wir nicht vorbei.«

»Sie sind unfähig. Ich will sie hier nicht mehr sehen. Nie wieder.«

Hock Seng versucht festzustellen, ob der Farang nicht etwa scherzt. Er lächelt vorsichtig. »Das ist ein königliches Mandat. Ebenso gut könnte man sich wünschen, dass das Umweltministerium ausgetauscht wird.«

»Keine schlechte Idee.« Mr Lake lacht. »Ich könnte mich mit Carlyle & Sons zusammentun und mich jeden Tag über Steuern beschweren und über die Gesetze, die die Kohlendioxidguthaben regeln. Und Handelsminister Akkarat dazu bringen, sich auf unsere Seite zu schlagen.« Er mustert Hock Seng eindringlich. »Aber das entspricht nicht Ihrer Vorgehensweise, habe ich Recht?« Seine Augen werden eiskalt. »Sie mögen die Schatten und das Feilschen. Die heimlichen Übereinkünfte.«

Hock Seng schluckt. Die blasse Haut und die blauen Augen des fremden Teufels sind wirklich grauenerregend. Diese Menschen sind so fremdartig wie die Teufelskatzen, und ebenso wie diese scheinen sie sich in Feindesland erst richtig wohlzufühlen. »Es wäre unklug, die Weißhemden zu erzürnen«, murmelt Hock Seng. »Der Nagel, der herausragt, wird hineingeschlagen werden.«

»Das ist Yellow-Card-Gerede.«

»Wie Sie meinen. Aber ich lebe noch, während andere tot sind, und das Umweltministerium ist sehr mächtig. General Pracha und seine Weißhemden waren bisher jeder Herausforderung gewachsen. Sogar dem Versuch am 12. Dezember. Wenn Sie eine Kobra reizen, müssen Sie darauf gefasst sein, dass sie zubeißt.«

Mr Lake scheint Einwände vorbringen zu wollen, belässt es dann jedoch bei einem Achselzucken. »Sie werden es wohl am besten wissen.«

»Dafür bezahlen Sie mich schließlich.«

»Der Yang Guizi starrt den toten Megodonten an. »Das Tier hätte nicht in der Lage sein dürfen, sich aus seinem Geschirr loszureißen.« Er trinkt noch einen Schluck aus seiner Flasche. »Die Sicherheitsketten waren verrostet; ich habe das überprüft. Wir werden keinen einzigen Cent an Entschädigungen zahlen. Das ist mein letztes Wort. Wenn die ihr Tier richtig festgemacht hätten, hätte ich es nicht töten müssen.«

Hock Seng neigt den Kopf in stillschweigendem Einverständnis. Laut aussprechen wird er es jedoch nicht. »Khun, uns bleibt gar keine andere Wahl.«

Mr Lake lächelt kalt. »Ja, natürlich. Die haben das Monopol. « Er verzieht das Gesicht. »Yates war ein Narr, sich hier niederzulassen.«

Hock Seng fröstelt es. Plötzlich sieht der Yang Guizi aus wie ein bockiges Kind. Kinder sind unbesonnen. Kinder machen Dinge, die den Zorn der Weißhemden oder der Gewerkschaften erregen. Und manchmal nehmen sie ihre Spielsachen und laufen nach Hause. Ein äußerst beunruhigender Gedanke. Anderson Lake und seine Investoren dürfen nicht davonlaufen. Noch nicht.

»Wie hoch sind unsere Verluste bisher?«, fragt Mr Lake.

Hock Seng zögert und wappnet sich dann, um die schlechten Neuigkeiten zu überbringen. »Nach dem Tod des Megodonten und mit dem, was es kosten wird, die Gewerkschaften zu besänftigen? Neunzig Millionen Baht vielleicht?«

Mai stößt einen lauten Schrei aus und winkt Hock Seng zu sich herüber. Er muss gar nicht erst nachschauen, um zu wissen, dass es schlechte Neuigkeiten sind. »Vermutlich hat der Spindelkern auch Schaden genommen«, sagt er. »Das zu reparieren wird teuer.« Er hält inne und schneidet ein heikles Thema an. »Wir werden Ihre Investoren, die Herren Gregg und Yee, informieren müssen. Es ist gut möglich, dass wir nicht über das Bargeld verfügen, um die Reparaturen durchzuführen und gleichzeitig die Algenbäder zu installieren, sobald sie eintreffen.« Noch eine Pause. »Wir werden neues Kapital brauchen.«

Ängstlich wartet er die Reaktion des Yang Guizi ab. Geld fließt so schnell durch das Unternehmen, dass es Hock Seng manchmal vorkommt wie Wasser; trotzdem weiß er, dass die Investoren das nicht gut aufnehmen werden — hin und wieder beschweren sie sich über die hohen Kosten. Mit Mr Yates hat er sich unablässig über Geld gestritten. Mit Mr Lake nicht gar so oft. Seit Mr Lake hier aufgetaucht ist, sind die Beschwerden der Investoren seltener geworden. Trotzdem geben sie unglaublich viel Geld für einen bloßen Traum aus. Würde Hock Seng die Firma leiten, hätte er die Fabrik bereits vor über einem Jahr geschlossen.

Mr Lake zuckt angesichts des hohen Betrags jedoch mit keiner Wimper. Er sagt nur: »Noch mehr Geld.« Und, an Hock Seng gewandt: »Und wann werden die Algentanks und Nährstofflösungen vom Zoll freigegeben?«, fragt er. »Wann genau?«

Hock Seng wird bleich. »Das ist nicht so leicht. Es braucht mehr als einen Tag, um den Bambusvorhang zu öffnen. Das Umweltministerium mischt sich überall ein.«

»Du hast gesagt, du hast die Weißhemden bestochen, damit sie uns in Ruhe lassen.«

»Ja.« Hock Seng neigt den Kopf. »Alle gebührenden Geschenke sind verteilt worden.«

»Warum hat sich Banyat dann über verunreinigte Bäder beschwert? Wir haben hier lebende Organismen, die versorgt …«

Hock Seng fällt ihm eiligst ins Wort. »Alles steht an den Ankerplätzen bereit. Letzte Woche von Carlyle & Sons ausgehändigt …« Er fällt eine Entscheidung. Der Yang Guizi braucht dringend eine gute Nachricht. »Morgen wird die Lieferung vom Zoll freigegeben. Der Bambusvorhang wird sich öffnen, und Ihre Lieferung wird auf dem Rücken der Megodonten eintreffen.« Er zwingt sich zu einem Lächeln. »Es sei denn, Sie möchten der Gewerkschaft jetzt kündigen.«

Der Teufel schüttelt den Kopf, lächelt sogar ein wenig über den Witz, und Hock Seng verspürt Erleichterung in sich aufsteigen.

»Dann also morgen. Ganz sicher?«, fragt Mr Lake.

Hock Seng beißt sich auf die Lippen und neigt zustimmend den Kopf — er muss sein Versprechen unbedingt wahrmachen. Der Ausländer mustert ihn noch immer mit seinen blauen Augen. »Wir geben hier einen Haufen Geld aus. Aber eine Sache können die Inverstoren nicht tolerieren, und das ist Inkompetenz. Und ich werde dergleichen auch nicht tolerieren. «

»Ich verstehe.«

Mr Lake nickt zufrieden. »Also gut. Wir werden noch abwarten, bevor wir mit der Zentrale sprechen. Nachdem das neue Material vom Zoll freigegeben wurde, rufen wir dort an. Dann haben wir gute und schlechte Neuigkeiten. Ich möchte nicht um Geld bitten, ohne etwas vorzuweisen zu haben.« Sein Blick ruht wieder auf Hock Seng. »Das wollen wir doch beide nicht, habe ich Recht?«

Hock Seng nickt steif. »Auf keinen Fall.«

Mr Lake nimmt einen weiteren Schluck aus seiner Flasche. »Gut. Finden Sie heraus, wie schwer der Schaden ist. Ich möchte den Bericht morgen früh vorliegen haben.«

Damit ist Hock Seng entlassen, und er eilt durch die Fertigungshalle zu den Männern hinüber, die neben der Spindel warten. Hoffentlich irrt er sich nicht, was die Lieferung betrifft, und sie wird wirklich freigegeben. Er ist ein ziemliches Risiko eingegangen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Schließlich wollte der Teufel nicht noch mehr schlechte Neuigkeiten zu hören bekommen.

Als Hock Seng die Spindel erreicht, klopft sich Mai gerade nach einem weiteren Ausflug in die Senke die Kleider ab. »Wie sieht es aus?«, fragt Hock Seng. Die Spindel ist gänzlich vom Räderwerk entkoppelt. Aus ihrem Lager gezogen, liegt sie jetzt auf dem Boden, ein riesiger Dorn aus Teakholz. Die Risse sind groß und nicht zu übersehen. Er ruft ins Loch hinunter. »Ist der Schaden schlimm?«

Kurz darauf kommt Pom herausgekrochen, von Kopf bis Fuß ölverschmiert. »Diese Tunnel sind verdammt eng«, keucht er. »In manche pass ich gar nicht rein.« Er wischt sich Schweiß und Schmutz von den Armen. »Ein Teil des Räderwerks ist auf jeden Fall beschädigt. Genauer werden wir das erst wissen, wenn wir Kinder da runterschicken, damit sie sich entlang der Kettenglieder vorarbeiten. Wenn die Hauptkette etwas abbekommen hat, müssen wir den Boden aufreißen.«

Hock Seng verzieht das Gesicht und späht in das offene Spindelloch hinein. Vor seinem geistigen Auge sieht er Tunnel und Ratten und geduckte Flüchtlinge in den Dschungeln des Südens. »Mai soll sich von ihren Freunden helfen lassen.«

Noch einmal lässt er den Blick über den Schaden schweifen. Früher hat er auch Gebäude wie dieses besessen. Ganze Warenhäuser, bis unter die Decke gefüllt. Und was ist er nun? Ein Faktotum für einen Yang Guizi! Ein alter Mann, dessen Körper auseinanderfällt und dessen Klan nur noch aus einer einzigen Seele besteht. Er seufzt und verdrängt seinen Kummer. »Ich will ganz genau wissen, was beschädigt ist, bevor ich das nächste Mal mit dem Farang spreche. Keine Überraschungen!«

Pom legt die erhobenen Hände gegeneinander. »Jawohl, Khun.«

Hock Seng dreht sich um und geht zur Treppe, die zu den Büros hinaufführt. Während der ersten Schritte, bevor er bewusst darauf achtet, nicht das eine Bein zu schonen, hinkt er leicht. Von all der Geschäftigkeit tut ihm das Knie weh — auch er hat es schon einmal mit den Ungeheuern, die die Fabrik antreiben, zu tun bekommen. Auf dem obersten Treppenabsatz bleibt er stehen und betrachtet den Kadaver des Megodonten. Wieder sind Arbeiter gestorben. Erinnerungen setzen ihm zu, kreisen wie schwarze Krähen am Himmel und drohen jeden Moment ihn zu übermannen. So viele seiner Freunde sind tot. Seine Familie ausgelöscht. Vor vier Jahren noch war er ein berühmter Mann. Und jetzt? Ein Nichts.

Er stößt die Tür auf und geht hindurch. Die Büroräume liegen still da. Leere Schreibtische, teure Tretkurbelcomputer, die Tretmühle mit dem winzigen Kommunikationsbildschirm, der riesige Tresor. Als er seinen Blick durch den Raum schweifen lässt, stürzen religiöse Fanatiker mit grünen Stirnbändern aus den Schatten, die Macheten hoch erhoben. Aber das sind nur Erinnerungen.

Er schließt die Tür hinter sich, und die Geräusche der Schlachter und Arbeiter verstummen. Zwingt sich, nicht zum Fenster zu gehen, um noch einmal auf das Blut und den Kadaver hinunterzublicken. Er will nicht schon wieder die Bilder heraufbeschwören — Bilder von Blut, das im Rinnstein von Malakka schäumt, von den Köpfen der Chinesen, die wie Durianfrüchte aufgestapelt sind.

Du bist hier nicht in Malaya, sagt er sich. Du bist hier sicher.

Aber die Erinnerungen wollen nicht verblassen. Sie sind so klar und deutlich wie Fotografien und das Feuerwerk bei den Frühlingsfesten. Obwohl der Malaiische Zwischenfall bereits vier Jahre zurückliegt, muss er sich noch immer mit Ritualen beruhigen. Wenn es ganz schlimm wird, fühlt er sich von allem und jedem bedroht. Er schließt die Augen, atmet langsam ein und aus, denkt an das blaue Meer und die weiße Klipperflotte auf den Wellen … Noch ein tiefer Atemzug, und er öffnet die Augen. Der Raum ist wieder sicher. Nur leere, ordentlich aufgereihte Schreibtische und staubige Tretkurbelcomputer. Fensterläden bannen die Hitze des tropischen Sonnenscheins. Staubpartikel und Räucherstäbchen.

Auf der anderen Seite des Raumes schimmert der matte Stahl der beiden Tresore von SpringLife, die seiner hochfliegenden Pläne spotten. Für einen der beiden hat Hock Seng den Schlüssel, doch darin befinden sich nur kleine Mengen Bargeld. Den großen Safe kann nur Mr Lake öffnen.

So nahe, denkt er.

In ihm befinden sich alle notwendigen Entwürfe und Baupläne. Nur wenige Zentimeter trennen ihn davon. Er hat sie gesehen. Die DNA-Proben der transgenen Algen, ihre Genomkarten auf Festkörperdatenwürfeln. Die genauen Angaben, wie man die Algen kultiviert und den Überstand zu Schmierstoffen und Pulver verarbeitet. Wie die Drähte der Spannfedern gehärtet werden müssen, damit sie die neuartige Ummantelung annehmen. Die Energiespeichertechnik der Zukunft ist für ihn zum Greifen nahe. Und damit die Hoffnung, dass er und sein Klan wieder zu alter Größe zurückfinden.

Yates murmelte immer vor sich hin und betrank sich, während Hock Seng über ein Jahr lang sein Baijiu-Glas nachfüllte und seinem Geschwafel lauschte, um sein Vertrauen zu gewinnen und ihn von sich abhängig zu machen. Alles umsonst! Und jetzt läuft alles auf diesen Tresor hinaus, den er nicht öffnen kann, weil Yates so töricht war, den Zorn der Investoren zu erregen, und zu inkompetent, um seinen Traum zu verwirklichen.

Neue Imperien könnte Hock Seng aufbauen, wenn er nur an diese Unterlagen herankäme. Er selbst hat nur unvollständige Kopien, die er anfertigte, als die Aufzeichnungen noch offen auf Yates’ Schreibtisch herumlagen, bevor der besoffene Narr den verfluchten Tresor kaufte.

Jetzt stehen ein Schlüssel und eine Kombination und eine stählerne Wand zwischen ihm und diesen Bauplänen. Der Tresor ist beste Qualität. Hock Seng ist mit dem Modell vertraut. Als er berühmt war und seine Akten sicher verwahren musste, kam ihm dieselbe Sicherheit zugute. Es ist der blanke Hohn, dass der fremde Teufel die gleiche Marke benutzt wie er, als er in Malaya an der Spitze eines Handelsimperiums stand: YingTie. Eine chinesische Errungenschaft, die nun ausländischen Interessen dient. Ganze Tage hat er damit verbracht, den Tresor anzustarren und über das darin verschlossene Wissen zu meditieren …

Hock Seng legt den Kopf schief — ihm kommt plötzlich ein Gedanke.

Haben Sie ihn abgeschlossen, Mr Lake? Haben Sie vielleicht in all der Aufregung vergessen, den Tresor wieder zu verriegeln?

Hock Seng schlägt das Herz bis zum Hals.

Ist Ihnen ein Fehler unterlaufen?

Bei Mr Yates ist das durchaus vorgekommen.

Hock Seng versucht sich zusammenzureißen. Er hinkt zu dem Tresor hinüber. Bleibt davor stehen. Ein Schrein, ein Objekt der Verehrung. Ein Monolith aus geschmiedetem Stahl, an dem alles abprallt — alles außer Geduld und Diamantbohrern. Jeden Tag sitzt er ihm gegenüber und spürt, wie er von dem Metallklotz verhöhnt wird.

Könnte es so einfach sein? Hat Mr Lake in seiner Eile, die Katastrophe zu verhindern, einfach vergessen, ihn zu schließen?

Zögernd streckt Hock Seng die Hand aus und legt sie auf den Hebel. Er hält den Atem an. Betet zu seinen Vorfahren, betet zu dem elefantenköpfigen Phra Kanet, dem Beseitiger von Hindernissen, zu jedem Gott, den er kennt. Drückt mit aller Kraft.

Eintausend Jin Stahl drücken zurück, und jedes einzelne Molekül leistet ihm Widerstand.

Hock Seng lässt die Luft aus seiner Lunge entweichen, tritt einen Schritt zurück und schluckt seine Enttäuschung hinunter.

Geduld. Jeder Tresor hat einen Schlüssel. Wäre Mr Yates nicht so inkompetent gewesen und hätte er nicht seine Investoren erzürnt, er wäre der ideale Schlüssel gewesen. Jetzt muss Mr Lake diesen Zweck erfüllen.

Als Mr Yates den Tresor einbauen ließ, sagte er im Spaß, nun wären die Kronjuwelen in Sicherheit, und lachte dabei laut. Hock Seng zwang sich zu nicken, die Hände gegeneinanderzulegen und zu lächeln. Dabei musste er die ganze Zeit daran denken, wie wertvoll die Baupläne waren und wie dumm er gewesen war, dass er sie nicht abgeschrieben hatte, als das noch möglich war.

Und jetzt ist Yates fort, und ein neuer Teufel hat seinen Platz eingenommen. Wahrlich, ein Teufel! Mit blauen Augen und goldenen Haaren und harten Kanten, wo Yates weich gewesen war. Diese gefährliche Kreatur, die alles überprüft, was Hock Seng tut, die alles maßlos schwieriger macht und die irgendwie dazu gebracht werden muss, die Geheimnisse der Firma zu verraten. Hock Seng schürzt die Lippen. Geduld. Du musst geduldig sein. Irgendwann wird der fremde Teufel einen Fehler begehen.

»Hock Seng!«

Hock Seng geht zur Tür und winkt zu Mr Lake hinunter, um zu signalisieren, dass er seinen Ruf gehört hat. Er eilt jedoch nicht sofort nach unten, sondern wendet sich erst seinem Schrein zu.

Vor der Statue von Guanyin fällt er auf die Knie und fleht sie an, sie möge Erbarmen haben mit ihm und seinen Vorfahren und ihm eine Chance geben, seine Ehre und die seiner Familie wiederherzustellen. Unter das goldene Schriftzeichen für »Glück« stellt Hock Seng eine Schale U-Tex-Reis. Dann schneidet er eine Blutorange auf und lässt sich den Saft über den Arm rinnen; eine reife Frucht, unverseucht — teuer. Aber mit bloßen Almosen darf man den Göttern nicht kommen, das Beste ist für sie gerade gut genug. Er zündet ein Räucherstäbchen an.

Kein Lüftchen regt sich, und der Rauch steigt kerzengerade auf und erfüllt erneut das Büro. Hock Seng betet. Er betet, dass die Fabrik nicht schließen möge und dass seine Bestechungsgelder ausreichen werden, damit die neue Ausrüstung ohne Schwierigkeiten durch den Bambusvorhang gelangt. Dass der fremde Teufel Mr Lake den Kopf verliert und seinen Argwohn aufgibt, und dass der verfluchte Tresor sich öffnen und seine Geheimnisse preisgeben wird.

Hock Seng betet um Glück. Selbst ein alter Yellow-Card-Chinese braucht Glück.

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