77

George Richardson und Dan Lathrop betraten Frans Krankenzimmer. Stu saß an ihrem Bett, und sie ergriff sofort seine Hand und drückte sie fest. Harte Linien zeichneten ihr Gesicht, und für einen Augenblick sah Stu, wie sie als alte Frau aussehen würde. Sie sah aus wie Mutter Abagail.

»Stu«, sagte George. »Ich habe ein paar Geschichten über eure Rückreise gehört. Das grenzt an ein Wunder. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen. Wie wir alle.«

George schüttelte ihm die Hand und stellte Dan Lathrop vor. Dan sagte: »Hier erzählt man sich, es hätte in Las Vegas eine Explosion gegeben. Haben Sie es gesehen?«

»Ja.«

»Die Leute hier scheinen der Meinung zu sein, daß es sich um eine atomare Explosion gehandelt hat. Stimmt das?«

»Ja.«

George nickte und wandte sich dann an Fran.

»Wie geht es dir?«

»Danke, gut. Ich bin froh, daß ich meinen Mann wiederhabe. Was ist mit dem Baby?«

»Wegen des Babys sind wir hergekommen«, sagte Lathrop. Fran nickte. »Tot?«

George und Dan sahen sich an. »Frannie, ich möchte, daß du mir aufmerksam zuhörst, damit es keine Mißverständnisse gibt...«

Betont unbeteiligt, aber mit unterdrückter Hysterie sagte Fran:

»Wenn er tot ist, dann sag's mir doch einfach!«

»Fran«, sagte Stu.

»Peter scheint sich zu erholen«, sagte Dan Lathrop sanft. Für einen Augenblick herrschte die absolute Stille plötzlicher Erschütterung im Zimmer. Fran, ihr Gesicht ein blasses Oval in der Masse ihres dunklen kastanienbraunen Haares, blickte Dan so verständnislos an, als hätte er c hinesisch gesprochen. Irgend jemand - entweder Laurie Constable oder Marcy Spruce - steckte kurz den Kopf ins Zimmer und verschwand wieder. Es war ein Moment, den Stu nie vergessen würde.

»Was?« flüsterte Fran endlich.

George sagte: »Die Hoffnung kann trügen, Fran.«

»Du sagtest... er erholt sich«, sagte Fran. Sie konnte es einfach nicht fassen. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht bewußt gewesen, wie sehr sie sich schon mit dem Tod des Babys abgefunden hatte. George sagte: »Dan und ich haben während der Epidemie Tausende von Fällen gesehen, Fran... ich sage bewußt nicht >behandelt<, denn ich glaube nicht, daß es einem von uns beiden je gelungen ist, den Verlauf dieser Krankheit auch nur im geringsten zu beeinflussen. Kann man das sagen, Dan?«

»Ja.«

Die Ich-will-Linie, die Stu schon kurz nach ihrer ersten Begegnung in New Hampshire aufgefallen war, erschien auf Frans Stirn. »Möchtest du nicht endlich zur Sache kommen, um Himmels willen?«

»Das versuche ich, aber ich muß vorsichtig sein, und ich werde vorsichtig sein«, sagte George. »Es geht hier um das Leben deines Sohnes. Das Thema läßt sich nicht mit drei Worten abhandeln. Du mußt versuchen, unsere Gedankengänge zu verstehen. Captain Trips war eine Grippe, die das Immunsystem des Menschen überfordert. Jede Grippe - ich meine jetzt die alten Typen - hat einen anderen Erreger und taucht trotz Schutzimpfungen alle paar Jahre wieder auf. Da gibt es den A-Typ, genannt Hongkong-Grippe, und du läßt dich dagegen impfen. Aber zwei Jahre später kommt eine BTyp-Epidemie, und du wirst trotz Schutzimpfung krank, wenn du nicht auch gegen den B-Typ geimpft bist.«

»Man kann die Grippe aber auch ohne Schutzimpfung überstehen«, warf Dan ein, »denn der Körper entwickelt seine eigenen Abwehrstoffe, aber bei Captain Trips verändert sich die Grippe selbst, sobald der Körper die entsprechenden Abwehrstoffe produziert hat. In dieser Hinsicht war der Erreger von Captain Trips dem AIDS-Virus ähnlicher als jedem normalen Grippevirus, gegen den unser Körper Abwehrmechanismen entwickelt hat. Und wie AIDS wechselte Captain Trips immer wieder die Form, bis der Körper zu sehr geschwächt war, um neue Antikörper zu produzieren. Das unabwendbare Ergebnis war der Tod.«

»Warum haben wir es dann nicht bekommen?« fragte Stu. George sagte: »Das wissen wir nicht. Ich glaube auch nicht, daß wir es je erfahren werden. Aber wir sind sicher, daß die Leute, die die Seuche überlebt haben, die Krankheit nicht überwunden haben; sie haben sie einfach gar nicht bekommen. Das bringt uns zurück zu Peter. Dan?«

»Ja. Der Schlüssel zu Captain Trips ist die Tatsache, daß die Erkrankten immer nur beinahe auf dem Weg zur Gesundung waren, aber niemals völlig. Peter zeigte die ersten Symptome achtundvierzig Stunden nach seiner Geburt. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um Captain Trips handelte - die Symptome waren klassisch. Aber diese dunklen Verfärbungen am Hals, die, davon sind George und ich inzwischen überzeugt, das vierte und letzte Stadium der Krankheit einleiten - sind bei Peter nie eingetreten. Außerdem werden seine Remissionsperioden immer länger.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Fran verwirrt. »Was...«

»Peters Immunsystem reagiert offenbar sehr schnell, sooft Captain Trips den Typ wechselt. Es besteht zwar immer noch die Möglichkeit, daß es zusammenbricht, aber Peters Körper ist nie in das letzte, kritische Stadium eingetreten. Es sieht jetzt fast so aus, als ob er es durchhält.«

Wieder war es still im Zimmer.

Dan sagte: »Wahrscheinlich hat er eine halbe Immunität von Ihnen geerbt, Fran. Er hat die Krankheit bekommen, aber wir glauben jetzt, daß er auch die Fähigkeit hat, sie zu überwinden. Wir nehmen an, daß Mrs. Wentworth' Zwillinge dieselbe Chance hatten, nur daß sie unter viel schlechteren Voraussetzungen geboren wurden - und ich glaube immer noch, daß sie vielleicht gar nicht an der Supergrippe gestorben sind, sondern an den Komplikationen, die sie hervorgerufen hat. Ich weiß, daß das nur ein sehr geringer Unterschied ist, aber er könnte entscheidend sein.«

»Und wie steht es um die anderen Babys von Vätern, die nicht immun waren?« fragte Stu.

»Wir nehmen an, daß sie alle dasselbe durchmachen müssen wie Ihr kleiner Peter jetzt«, sagte George. »Einige werden vielleicht sterben. Auch bei Peter mußten wir das zeitweise befürchten. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis alle ungeborenen Kinder in der Freizone - und in der Welt - von Eltern stammen, die beide immun sind. Wie wird es diesen Kindern ergehen? Nun, es wäre geschmacklos, darauf Wetten abzuschließen, aber ich bin ziemlich sicher, daß wir das Spiel gewinnen. Aber jetzt müssen wir uns um Peter kümmern und ihn sehr sorgfältig beobachten.«

»Und nicht nur wir allein. Die ganze Freie Zone bangt um ihn. Es ist in der Tat so, daß Peter das Kind der ganzen Freien Zone ist.«

Fran flüsterte: »Ich möchte, daß er lebt, nur weil er mir gehört und weil ich ihn liebe.« Sie sah Stu an. »Und er ist meine Verbindung zur alten Welt. Er sieht Jess ähnlicher als mir, darüber bin ich froh. Das ist nur gerecht. Verstehst du, was ich meine, Liebster?«

Stu nickte, und plötzlich schoß ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf: wie gern er noch einmal mit Hap und Norm Bruett und Vic Palfrey zusammensitzen würde, ein Bier mit ihnen trinken und zuschauen, wie Vic sich eine von seinen stinkenden Zigaretten dreht, und ihnen erzählen, wie die ganze Sache ausgegangen ist. Sie hatten ihn immer den schweigsamen Stu genannt. Aber jetzt würde er so lange reden, bis ihnen die Ohren vom Kopf fielen. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag. Er griff nach Frans Hand und spürte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen.

»Wir müssen weiter«, sagte George und stand auf. »Wir werden Peter sorgfältig beobachten, Fran, und dich auf dem laufenden halten.«

»Wann kann ich ihn haben, wenn... wenn er nicht...?«

»Eine Woche«, sagte Dan.

»Aber das ist so lang!«

»Es wird für uns alle eine lange Woche werden. Wir haben einundsechzig schwangere Frauen in der Zone, und neun von ihnen haben ihre Babys vor der Supergrippe empfangen. Auch für diese Frauen wird es eine lange Woche werden. Stu ? Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.« Dan streckte ihm die Hand entgegen, und Stu schüttelte sie. Der Arzt verließ schnell das Zimmer. Ein Mann, der eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte und das auch gewissenhaft tat.

George schüttelte Stu die Hand und sagte: »Sehen wir uns morgen nachmittag? Laß Laurie wissen, wann es dir am besten paßt!«

»Um was geht es denn?« fragte Stu.

»Um dein Bein«, sagte George. »Sieht nicht gut aus, stimmt's?«

»Es geht.«

»Stu?« sagte Frannie und richtete sich auf. »Was ist mit deinem Bein?«

» Gebrochen, schlecht geschient, schief angewachsen«, sagte George. » Unangenehme Sache. Aber das Bein kann gerichtet werden.«

»Ach...« sagte Stu.

»Ach, nichts da! Zeig es mir, Stuart!« Die Ich-will-Linie war wieder da.

»Später«, sagte Stu.

George stand auf. »Melde dich bei Laurie, okay?«

»Das wird er«, sagte Fran.

Stu grinste. »Bestimmt«, sagte er. »Die Chefin hat's gesagt.«

»Ich bin froh, daß du wieder da bist«, sagte George. Er schien noch tausend Fragen auf dem Herzen zu haben. Aber dann schüttelte er den Kopf und ging hinaus. Er machte die Tür fest hinter sich zu.

»Laß mich mal sehen, wie du gehst«, sagte Frannie. Die Ich-willLinie stand noch zwischen ihren Brauen.

»Ach, Frannie.«

»Na los, zeig mir, wie du gehst.«

Er ging ein Stück - wie ein Seemann, der versucht, auf schlingerndem Schiff die Balance zu halten. Als er sich zu ihr umdrehte, weinte sie.

»Oh, Frannie, nicht weinen, Schatz!«

»Ich muß«, sagte sie und schlug die Hände vors Gesicht. Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. »Nein, mußt du nicht.«

Sie sah ihn mit tränennassen Augen an: »So viele Leute sind tot... Harold, Nick, Susan... und was ist mit Larry? Was ist mit Glen und Ralph?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und was wird Lucy sagen? In einer Stunde wird sie hier sein. Sie kommt jeden Tag, Stu. Sie ist im vi erten Monat. Was willst du ihr sagen, wenn sie dich fragt?«

»Sie sind drüben gestorben«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr.

»Das glaube ich. Ich weiß es, in meinem Herzen.«

»Sag es nicht so«, bat Fran. »Nicht wenn Lucy hier ist. Es würde ihr das Herz brechen.«

»Ich glaube, sie waren das Opfer. Gott verlangt immer nach Opfern. Seine Hände sind blutig davon. Warum? Ich weiß es nicht. Ich bin nicht besonders gescheit. Vielleicht haben wir selbst den Anstoss dazu gegeben. Ich weiß nur, daß die Bombe drüben explodiert ist und nicht hier und daß wir für eine Weile sicher sind. Für eine kleine Weile.«

»Ist Flagg fort? Wirklich fort?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube... wir werden vor ihm auf der Hut sein müssen. Und irgendwann muß jemand den Ort finden, wo man die Seuchenbazillen gezüchtet hat. Er muß zugeschüttet und mit Salz bedeckt werden. Und dann muß darüber gebetet werden. Für uns alle.«




Sehr viel später an diesem Abend, es war schon fast Mitternacht, schob Stu Fran in einem Rollstuhl den stillen Krankenhauskorridor entlang. Laurie Constable ging neben ihnen, und Fran hatte dafür gesorgt, daß Stu seinen Termin mit ihr vereinbarte.

»Du siehst aus, als ob eigentlich du in diesem Rollstuhl sitzen müßtest, Stu Redman«, sagte Laurie.

»Im Moment macht mir mein Bein keine Probleme!«

Sie kamen an ein großes Fenster, durch das man in einen Raum sah, der himmelblau und rosa ausstaffiert war. Von der Decke hing ein großes Mobile. Aber nur ein Bettchen war belegt, in der ersten Reihe.

Stu starrte fasziniert durch die Scheibe.

GOLDSMITH -REDMAN, PETER, stand auf der Karte am Fußende des Bettchens. KÖRPERGEWICHT 3225 GRAMM, MUTTER FRANCES GOLDSMITH, VATER JESSIE RIDER (VERST.)

Peter schrie.

Sein Gesicht war rot, seine kleinen Hände zu Fäusten geballt. Auf dem Kopf hatte er eine erstaunliche Menge schwarzer Haare. Seine Augen waren blau, und er schien Stu direkt anzusehen, als wollte er ihn für all dies Elend verantwortlich machen.

Auf der Stirn hatte er eine tiefe vertikale Falte... eine Ich-will-Linie. Frannie weinte wieder.

»Frannie, stimmt was nicht?«

»Die vielen leeren Bettchen«, sagte sie, und ihre Stimme wurde zum Schluchzen. »Das stimmt nicht. Er ist ganz allein. Kein Wunder, dass er weint. Stu, er ist ganz allein. Die vielen leeren Bettchen, mein Gott...«

»Er wird nicht lange allein sein«, sagte Stu und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Und ich finde, er sieht aus, als könnte ein hübscher Junge aus ihm werden. Meinst du nicht auch, Laurie?«

Aber Laurie hatte die beiden vor dem Fenster des Kinderzimmers allein gelassen. *

Obwohl sein Bein dabei scheußlich schmerzte, kniete Stu sich neben Fran und umarmte sie ungeschickt. Von Staunen erfüllt schauten sie das Kind an, als sei es das erste, das je auf diese Welt kam. Nach einer Weile schlief Peter ein, die kleinen Händchen auf der Brust geballt. Und immer noch sahen sie ihn an... und staunten darüber, daß er überhaupt da war.

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