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Randall Flagg, der dunkle Mann, ging auf der US 51 nach Süden und lauschte den nächtlichen Geräuschen, die von beiden Seiten dieser schmalen Straße, die ihn früher oder später aus Idaho hinaus nach Nevada führen würde, auf ihn eindrangen. Von Nevada aus konnte er dann gehen, wohin er wollte. Von New Orleans nach Nogales, von Portland, Oregon, nach Portland, Maine; es war sein Land, und niemand kannte es besser und liebte es mehr als er. Er wußte, wohin die Straßen führten, und wanderte nachts. Jetzt, eine Stunde vor Tagesanbruch, war er irgendwo zwischen Grasmere und Riddle, westlich von Twin Falls und immer noch nördlich der Duck Valley Reservation, die sich über zwei Staaten erstreckt. War es nicht herrlich?
Er ging rasch, seine abgelaufenen Absätze klopften auf dem Straßenbelag, und wenn am Horizont Autoscheinwerfer auftauchten, zog er sich immer zurück, über die weiche Böschung ins hohe Gras, wo die Nachtinsekten zu Hause waren... und das Auto fuhr an ihm vorbei; der Fahrer spürte vielleicht einen kalten Hauch, als wäre er durch ein Luftloch gefahren, und seine schlafende Frau und die Kinder bewegten sich unruhig, als habe ein böser Traum sie alle gleichzeitig berührt.
Er ging nach Süden, nach Süden auf der US 51; die abgelaufenen Absätze seiner spitzen Cowboystiefel klopften auf das Pflaster: ein großer Mann unbestimmten Alters in verblichenen Nietenjeans und einer Jacke aus grobem Baumwollstoff. In seinen Taschen steckten fünfzig verschiedene Exemplare gegensätzlicher Literatur, Flugschriften für jede Gelegenheit, Rhetorik für jeden Anlaß. Wenn dieser Mann einem ein Traktat reichte, nahm man es, ganz gleich, um welches Thema es sich dabei handelte: Die Gefahren von Atomkraftwerken, die Rolle der internationalen jüdischen Verschwörung beim Sturz befreundeter Regierungen, die CIA Contra-Kokain -Connection, die Farmarbeitergewerkschaft, die Zeugen Jehovas (Wenn Sie diese zehn Fragen mit »ja« beantworten können, ist Ihre Seele G E R E T T E T !), die Blacks for Militant Equality, der Kodex des Klan. Er hatte sie alle, und noch mehr dazu. Auf jeder Seite der Jacke trug er einen Button. Auf der rechten ein gelbes lächelndes Gesicht. Auf der linken ein Schwein mit einer Polizeimütze. Darunter stand mit bluttriefender Schrift: HEUTE SCHWEIN - MORGEN SCHINKEN.
Er bewegte sich weiter, ohne stehenzubleiben, ohne langsamer zu werden, aber empfänglich für die Geräusche der Nacht. Die Möglichkeiten der Nacht ließen seine Augen wie im Wahn glänzen. Er trug einen alten, schäbigen Pfadfinder-Rucksack auf dem Rücken. In seinem Gesicht lag düstere Ausgelassenheit, und vielleicht auch in seinem Herzen. Es war das Gesicht eines haßerfüllt glücklichen Menschen, ein Gesicht, das eine entsetzliche, angenehme Wärme ausstrahlte, ein Gesicht, das Wassergläser in den Händen müder Truck-Stop-Kellnerinnen zerplatzen ließ, das kleine Kinder dazu veranlaßte, mit ihren Dreirädern in Bretterzäune zu fahren, um dann mit Splittern in den Knien jammernd zu ihren Müttern zu laufen. Es war ein Gesicht, das garantiert jede harmlose Biertischdiskussion über Sportergebnisse in eine blutige Schlägerei verwandelt hätte.
Er ging nach Süden, irgendwo auf der 51 zwischen Grasmere und Riddle, jetzt näher an Nevada. Bald würde er sein Lager aufschlagen, den Tag über schlafen und aufwachen, wenn sich der Abend herabsenkte. Während sein Abendessen auf dem rauchlosen Lagerfeuer kochte, würde er lesen, ganz gleich, was; Worte aus einem zerfledderten Porno ohne Umschlag, oder vielleicht Mein Kampf oder einen Comic von R. Crumb, vielleicht auch aus einer reaktionären Zeitung der America Firsters oder der Sons of the Patriots. Wenn es um Gedrucktes ging, gab Flagg keinem den Vorzug.
Nach dem Essen würde er weiterziehen, nach Süden auf diesem herrlichen zweispurigen Highway, der diese gottverlassene Wildnis durchschnitt, und er würde sich umschauen und riechen und lauschen, während das Klima immer trockener wurde, bis die Vegetation nur noch aus Salbei und Steppengras bestand, würde die Berge sehen, die wie Saurierknochen aus der Erde ragten. Morgen früh in der Dämmerung oder einen Tag später würde er in Nevada sein und zuerst Owyhee erreichen und dann Mountain City, und in Mountain City lebte ein Mann namens Christopher Bradenton, der dafür sorgen würde, daß er ein Auto bekam und Papiere, die beide clean waren, und dann würde sich ihm das Land in all seinen strahlenden Möglichkeiten erschließen, ein Körper, dessen Haut von einem wunderbaren, Kapillargefäßen gleichen Straßennetz durchzogen war, welches ihn, das dunkle Fleckchen fremder Materie, irgendwo hinbringen würde, oder überallhin - Herz, Leber, Augen, Gehirn. Er war eine Embolie, die nach einer Stelle suchte, wo sie passieren konnte, ein Knochensplitter auf der Suche nach einem weichen Organ zum Durchbohren, eine einsame Krebszelle, die nach einer Gefährtin suchte - dann würden sie einen Hausstand gründen und sich einen niedlichen kleinen bösartigen Tumor großziehen.
Er stapfte weiter und ließ die Arme an den Seiten schwingen. Er war bekannt, gut bekannt, an diesen verborgenen Straßen, auf denen die Armen und Verrückten reisen, die Berufsrevolutionäre und jene, die so gut hassen gelernt haben, daß sich der Haß in ihren Gesichtern zeigt wie Hasenscharten und die nirgends willkommen sind, außer bei ihresgleichen, die sie in billige Räume mit Parolen und Postern an den Wänden einlassen, in Keller, in denen abgesägte Rohre in gepolsterten Schraubstöcken eingeklemmt sind und mit Sprengstoff gefüllt werden, in Hinterzimmer, in denen wahnwitzige Pläne ausgeheckt werden: ein Kabinettmitglied zu ermorden, das Kind eines Würdenträgers zu entführen oder mit Handgranaten und Maschinengewehren in eine Aufsichtsratssitzung der Standard Oil einzudringen und im Namen des Volkes zu morden. Er war dort bekannt, und selbst der Verrückteste unter ihnen konnte ihm nur von der Seite in das dunkle, grinsende Gesicht sehen. Die Frauen, die er mit ins Bett nahm, nahmen ihn mit starren Gliedmaßen in sich auf, auch wenn Geschlechtsverkehr für sie etwas so Nebensächliches war, wie einen Snack aus dem Kühlschrank zu holen. Sie empfingen ihn wie einen Widder mit goldenen Hörnern oder einen schwarzen Hund - und wenn es vorüber war, war ihnen kalt, so kalt, es schien unmöglich, daß ihnen jemals wieder warm werden würde. Wenn er in einer Versammlung erschien, hörte das hysterische Schreien auf - die Verleumdungen, die Beschuldigungen, die Anklagen, die ideologische Rhetorik. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille, und alle sahen ihn an und wandten sich ab, als wäre er mit einem schrecklichen alten Instrument der Zerstörung hereingekommen, tausendmal schlimmer als der Plastiksprengstoff, der in den Kellern abtrünniger Chemiestudenten hergestellt wurde, oder die Waffen, die auf dem schwarzen Markt von einem geldgierigen Magazinverwalter der Armee verkauft wurden. Es schien, als wäre er mit einem Instrument zu ihnen gekommen, das, rostig von Blut und seit Jahrhunderten in unzählige Schreie eingehüllt war, jetzt aber in ihre Versammlung getragen wurde wie ein Geschenk der Hölle, ein Geburtstagskuchen mit Kerzen aus Nitroglyzerin. Und wenn die Gespräche wieder auflebten, dann rational und diszipliniert - so rational und diszipliniert, wie es unter Fanatikern möglich ist -, und man wurde sich einig.
Er ging weiter, seine Füße fühlten sich wohl in den Stiefeln, die genau an den richtigen Stellen Risse hatten. Seine Füße und diese Stiefel waren alte Freunde. Christopher Bradenton in Mountain City kannte ihn als Richard Fry. Bradenton half politisch Verfolgten, in den Untergrund zu gehen, und organisierte Reisen. Ein halbes Dutzend verschiedene Organisationen, von den Weathermen bis zur Guevara-Brigade, sorgten dafür, daß Bradenton Geld hatte. Er war Dichter und lehrte gelegentlich an der Freien Universität oder reiste in die westlichen Staaten Utah, Nevada und Arizona, wo er vor Schulklassen Vorträge hielt und die Schüler und Schülerinnen der Mittelschicht (hoffte er) mit der Nachricht verblüffte, daß Dichtung lebte - sie war zwar bettlägerig, aber nichtsdestotrotz bösartig aktiv. Er war jetzt Ende Fünfzig, aber Bradenton war vor über zwanzig Jahren von einer Hochschule in Kalifornien entlassen worden, weil er sich zu eng mit der SDS eingelassen hatte. 1968 war er bei der »Great Chicago Pig Convention« aufgeflogen und hatte mit einer radikalen Gruppe nach der anderen Verbindung aufgenommen, zuerst hatte er die Besessenheit dieser Gruppen akzeptiert, dann war er ganz von ihnen aufgesogen worden.
Der dunkle Mann ging und lächelte. Bradenton repräsentierte nur ein Ende einer Leitung, und es gab Tausende - Kanäle, auf denen die Besessenen reisten und ihre Bücher und Bomben transportierten. Diese Kanäle waren untereinander verbunden, die Hinweisschilder verschlüsselt, aber für Eingeweihte verständlich. In New York war er als Robert Franq bekannt, und seiner Behauptung, er sei Schwarzer, hatte niemand widersprochen, obwohl seine Haut sehr hell war. Er und ein schwarzer Vietnam-Veteran - der schwarze Veteran kompensierte sein fehlendes linkes Bein mit glühendem Haß - hatten in New York und New Jersey sechs Polizisten abgemurkst. In Georgia war er Ramsey Forrest, ein entfernter Nachkomme von Nathan Bedford Forrest, und unter der weißen Kapuze des Klans hatte er an zwei Vergewaltigungen, einer Kastration und dem Niederbrennen eines Niggerviertels teilgenommen. Aber das war vor langer Zeit gewesen, in den frühen Sechzigern während der ersten Bürgerrechtsdemonstrationen. Manchmal glaubte er, daß er während dieser Kämpfe geboren wurde. Er konnte sich eindeutig kaum an Dinge erinnern, die vor dieser Zeit lagen, außer daß er aus Nebraska stammte und daß er zusammen mit einem rothaarigen o-beinigen Jungen namens Charles Starkweather die High School besucht hatte. Er konnte sich schon besser an die Bürgerrechtsmärsche der Jahre 1960 und 1961 erinnern - an die Prügel, die nächtlichen Fahrten und an die Kirchen, die explodiert waren, als wären sie von einem Wunder gesprengt worden, das ihr Inneres nicht mehr fassen konnte. Er erinnerte sich daran, daß es ihn 1962 nach New Orleans verschlagen hatte, wo er einen schwachsinnigen jungen Mann kennenlernte, der Flugblätter verteilte, in denen Amerika aufgefordert wurde, Kuba in Ruhe zu lassen. Das war ein gewisser Mr. Oswald gewesen, und er hatte einige Flugblätter von Oswald genommen, und er hatte immer noch ein paar sehr alte und zerknüllte in einer seiner vielen Taschen. Er hatte an Sitzungen von hundert verschiedenen Komitees teilgenommen. Er war auf dem Gelände von hundert verschiedenen Universitäten bei Demonstrationen gegen das ständig gleiche Dutzend Firmen mitmarschiert. Er hatte die Fragen formuliert, die die Herrschenden am meisten aus der Fassung brachten, wenn sie Vorträge hielten, aber er hatte die Fragen nie selbst gestellt; die Mächtigen hätten sein grinsendes, glühendes Gesicht sehen und voller Angst von der Rednerbühne fliehen können. Darum sprach er auch nie auf Massenversammlungen, denn dann kreischten die Mikrofone, und der Stromkreis brach zusammen. Aber er hatte für andere Redner die Reden geschrieben, und verschiedentlich hatten diese Reden mit Tumulten geendet, mit umgekippten Autos, Studentenstreiks und gewalttätigen Demonstrationen. Anfang der siebziger Jahre hatte er eine Zeitlang mit einem Mann namens Donald De Freeze zu tun gehabt, und er hatte DeFreeze geraten, den Namen Cinque anzunehmen. Er hatte geholfen, Pläne auszuarbeiten, die auf die Entführung einer reichen Erbin hinausliefen, und er war es gewesen, der dann vorgeschlagen hatte, diese Erbin einer Gehirnwäsche zu unterziehen, anstatt einfach nur Lösegeld für sie zu fordern. Zwanzig Minuten vor der Ankunft der Polizei hatte er das kleine Haus in Los Angeles verlassen, in dem DeFreeze und die anderen sich verbarrikadiert hatten; er war die Straße hinaufgegangen und hatte sich davongemacht, ein wildes Grinsen im Gesicht, das Mütter veranlaßte, ihre Kinder zu packen und ins Haus zu zerren; ein Grinsen, bei dem schwangere Frauen zu früh Wehen bekamen. Und später, als die verstreuten Reste der Gruppe aufgegriffen wurden, wußten sie nur noch, daß jemand anders mit der Gruppe in Verbindung gestanden hatte, vielleicht ein wichtiger Mann, vielleicht auch nur ein Mitläufer, ein Mann unbestimmbaren Alters, der manchmal der wandelnde Geck genannt wurde, und manchmal der Schwarze Mann.
Er ging mit gleichmäßigen, ausgreifenden Schritten. Vor zwei Tagen war er mit einem Sabotagetrupp in Laramie, Wyoming, gewesen, wo sie ein Kraftwerk in die Luft gesprengt hatten. Heute war er auf der US 51 zwischen Grasmere und Riddle auf dem Weg nach Mountain City. Und er war glücklicher, als er je zuvor gewesen war, weil... Er blieb stehen.
Weil etwas in der Luft lag. Er konnte es fühlen, konnte es in der Nacht schmecken. Er konnte es schmecken, ein rußiger, heißer Geschmack, der von überall herkam, als wollte Gott ein Grillfest machen, bei dem die ganze Zivilisation das Barbecue war. Die Holzkohle war außen schon heiß, weiß und blättrig und innen rot wie Dämonenaugen. Etwas Riesiges, etwas Gewaltiges.
Die Zeit seiner Verwandlung war gekommen. Er würde zum zweiten Mal geboren werden; eine große sandfarbene Bestie, die jetzt schon in den Wehen lag, würde ihn unter Schmerzen aus ihrem Schoss ausstoßen und langsam die Beine bewegen, während Geburtsblut herausquoll, und sie würde dabei mit sonnenheißen Augen in die Leere starren.
Er war geboren worden, als sich die Zeiten änderten, und die Zeiten würden sich wieder ändern. Es lag im Wind, im Wind dieses warmen Abends in Idaho.
Die Zeit seiner Wiedergeburt war fast gekommen. Das spürte er. Warum sonst konnte er plötzlich Wunder tun?
Er schloß die Augen und wandte das heiße Gesicht leicht dem dunklen Himmel zu, der schon bereit war, die Dämmerung zu empfangen. Er konzentrierte sich. Lächelte. Die staubigen, abgelaufenen Absätze seiner Stiefel hoben sich von der Straße. Einen Zentimeter. Zwei. Drei. Das Lächeln wurde zum Grinsen. Jetzt schwebte er dreißig Zentimeter hoch. Fünfzig Zentimeter über der Straße schwebte er konstant, während unter ihm etwas Staub dahinwehte.
Dann spürte er den ersten Streifen der Dämmerung am Himmel, und er sank wieder nach unten. Die Zeit war noch nicht gekommen.
Aber die Zeit würde bald kommen.
Er ging wieder weiter, grinste und suchte schon nach einem Platz, wo er den Tag verbringen konnte. Die Zeit würde bald kommen, und dieses Wissen genügte ihm vorläufig.