24

Lloyd Henreid, den die Zeitungen in Phoenix »den gnadenlosen Killer mit dem Babygesicht« nannten, wurde von zwei Wärtern durch den Korridor des Hochsicherheitstrakts im Stadtgefängnis von Phoenix geführt. Dem einen lief die Nase, beide sahen mißmutig aus. Die anderen Insassen des Trakts bereiteten Lloyd ihre Version eines Triumphzugs. Im HS -Trakt war er eine Berühmtheit.

»Heee, Henreid!«

»Nur zu, Junge!«

»Sag dem Bezirksstaatsanwalt, wenn er mich rausläßt, paß ich auf, daß du ihm nichts tust.«

»Laß knacken, Henreid!«

»Weiter so, Bruder! Weiterweiterweiterweiter

»Billige, großmäulige Arschlöcher«, murmelte der Wärter mit der laufenden Nase und nieste.

Lloyd grinste fröhlich. Er sonnte sich in seinem frischen Ruhm. Hier war es anders als in Brownsville, ganz klar. Sogar das Essen war besser. Wenn man hart zuschlagen konnte, wurde man hier respektiert. Er stellte sich vor, daß sich so Tom Cruise bei einer Filmpremiere fühlen mußte.

Am Ende des Flurs gingen sie durch einen Torweg und eine doppelt vergitterte, elektrisch betriebene Pforte. Er wurde wieder abgetastet. Der Wärter mit der Erkältung atmete so schwer durch den geöffneten Mund, als sei er eine Treppe hochgerannt. Zu guter Letzt führten sie ihn noch durch einen Metalldetektor, wahrscheinlich um festzustellen, ob er sich auch nichts in den Arsch geschoben hatte, wie dieser Papillon im Film.

»Okay«, sagte der Wärter mit der Triefnase, und ein anderer Wärter in einem kugelsicheren Kabuff winkte sie weiter. Sie wanderten einen weiteren Korridor entlang, der in einem tristen Grün gestrichen war. Hier war es sehr still; nur die klackenden Absätze des Wärters waren zu hören (Lloyd selbst hatte Papierslipper an), sowie das asthmatische Röcheln rechts von Lloyd. Am anderen Ende des Korridors wartete wieder ein Wärter vor einer verschlossenen Tür. Die Tür hatte ein Fenster, kaum mehr als ein Guckloch, dessen Glas drahtverstärkt war.

»Warum stinkt der Knast eigentlich immer nach Pisse?« fragte Lloyd, nur um Konversation zu machen. »Ich meine, selbst wo keine Leute eingesperrt sind, stinkt es nach Pisse. Pinkelt ihr Burschen womöglich in die Ecken?« Er kicherte bei dem Gedanken, der ja auch wirklich ziemlich komisch war.

»Maul halten, Killer«, sagte der Wärter mit der Erkältung.

»Du siehst gar nicht gut aus«, sagte Lloyd. »Du solltest zu Hause im Bett liegen.«

»Maul halten«, sagte der andere.

Lloyd hielt das Maul. Das hatte man davon, wenn man versuchte, mit diesen Leuten zu reden. Nach seiner Erfahrung hatte die Klasse der Gefängnisbeamten ganz einfach keine Klasse.

»Hi, Drecksack«, sagte der Wärter an der Tür.

»Wie geht's dir, Arschgesicht«, erwiderte Lloyd. Eine freundliche Antwort wirkt immer erfrischend. Zwei Tage im Bau, und schon spürte er wieder den alten Knast-Tran.

»Das kostet dich einen Zahn«, sagte der Wärter an der Tür. »Genau einen. Zähl nach. Einen Zahn.«

»He, hör zu, du kannst doch nicht...«

»Doch, ich kann. Hier drin sitzen Typen, die würden ihre lieben alten Muttchen für zwei Schachteln Chesterfield abmurksen, Drecksack. Wären dir zwei Zähne lieber?«

Lloyd schwieg.

»Gut, das ist also geklärt«, sagte der Wärter an der Tür. »Dann eben nur einen Zahn. Schafft ihn rein, Jungs.«

Lächelnd öffnete der Wärter mit der Erkältung die Tür, und der andere führte Lloyd in den Raum, wo sein Pflichtverteidiger auf einem Metalltisch saß und in Papieren aus seiner Aktentasche blätterte.

»Hier ist Ihr Mann, Herr Anwalt.«

Der Anwalt schaute auf. Er war kaum alt genug, sich zu rasieren, fand Lloyd, aber scheiß drauf. Wer arm dran ist, darf nicht wählerisch sein. Sie hatten ihn kalt erwischt, und Lloyd rechnete mit zwanzig Jahren. Wenn sie einen am Schlafittchen hatten, mußte man die Augen zumachen und mit den Zähnen knirschen.

»Vielen Da...«

»Der Kerl da«, sagte Lloyd und zeigte auf den Wärter an der Tür, »hat mich Drecksack genannt. Und als ich darauf antwortete, sagte er, daß irgendein Kerl mir einen Zahn ausschlagen wird. Ist das Polizeiwillkür oder nicht?«

Der Anwalt fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Stimmt das?« fragte er den Wärter an der Tür.

Der Wärter rollte seltsam mit den Augen, eine burleske Mein-Gott,-das-ist-doch-nicht-zu-glauben-Geste. »Diese Jungs, Counselor«, sagte er, »sollten für das Fernsehen schreiben. Ich hab' hi gesagt. Er hat hi gesagt. Das war alles.«

»Das ist eine verdammte Lüge«, sagte Lloyd theatralisch.

»Dazu möchte ich mich nicht äußern«, sagte der Wärter und sah Lloyd ungerührt an.

»Das glaube ich gern«, sagte der Anwalt, »aber ich denke, bevor ich gehe, werde ich Mr. Henreids Zähne zählen.«

Ein Ausdruck wütender Verdrossenheit glitt über das Gesicht des Wärters, und er wechselte mit den beiden, die Lloyd gebracht hatten, einen raschen Blick. Lloyd lächelte. Vielleicht war der Junge doch in Ordnung. Seine beiden letzten Pflichtverteidiger waren alte Knacker gewesen, einer war mit einem Kolostomiebeutel vor Gericht erschienen, war das zu glauben, einem verdammten Scheißbeutel. Plädoyer halten und abhauen, das war ihr Motto. Schaffen wir ihn weg, damit wir mit dem Richter weiter schmutzige Witze reißen können. Vielleicht konnte dieser Kerl für ihn zehn Jahre aushandeln, bewaffneter Raubüberfall. Vielleicht wurde sogar die Untersuchungshaft angerechnet. Schließlich hatte er selbst nur die Frau des Typen im weißen Connie pokerisiert, und das konnte er vielleicht Poke in die Schuhe schieben. Poke wäre es egal. Poke war so tot wie das Hutband seines alten Vaters. Lloyds Lächeln wurde ein wenig breiter. Man mußte immer die Sonnenseite sehen. Das war der gewisse Kniff. Das Leben war zu kurz, es anders zu machen.

Er merkte, daß der Wärter sie allein gelassen hatte, und sein Anwalt - er hieß Andy Devins, fiel Lloyd wieder ein - sah ihn seltsam an. Ungefähr so, wie man eine Klapperschlange mit gebrochenem Rücken betrachtet, deren Biß aber immer noch tödlich sein kann.

»Sie sitzen schön in der Scheiße, Sylvester«, verkündete Devins plötzlich.

Lloyd zuckte zusammen. »Was? Verdammt, was meinen Sie damit, ich sitze in der Scheiße? Übrigens, ich finde, daß Sie es dem Fettsack hier prima gegeben haben. Der sah so wütend aus, als könnte er Nägel fressen und...«

»Hören Sie mir zu, Sylvester, und zwar gut.«

»Ich heiße nicht...«

»Sie haben keine Ahnung, in was für einer Scheiße Sie sitzen, Sylvester.« Devins Blick war stahlhart. Er sprach mit leiser, durchdringender Stimme. Er hatte blondes Haar und einen Bürstenschnitt, kaum mehr als Flaum. Die rosa Kopfhaut war darunter zu sehen. Er hatte einen schlichten goldenen Ehering am dritten Finger der linken Hand und einen schnörkeligen Bruderschaftsring am dritten Finger der rechten. Er schlug sie aneinander, und sie gaben ein leises metallisches Pling von sich, das Lloyd nervös machte. »Aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 14. Oktober 1989 findet Ihre Verhandlung schon in neun Tagen statt.«

»Was war das?« Lloyd fühlte sich unbehaglicher denn je.

»Es war der Fall Markham gegen South Carolina«, sagte Devins, »und es hatte etwas mit den Umständen zu tun, unter denen bestimmte Bundesstaaten die Rechtsprechung beschleunigen können in Fällen, bei denen die Todesstrafe gefordert wird.«

»Todesstrafe?« kreischte Lloyd entsetzt. »Sie meinen den elektrischen Stuhl? He, Mann, ich hab' kein' umgebracht. Schwör' ich bei Gott!«

»Vor dem Gesetz ist das egal«, sagte Devins. »Mitgefangen, mitgehangen.«

»Was soll das heißen, ist egal?« schrie Lloyd beinahe. »Das ist nicht egal! Das darf nicht egal sein! Ich hab' die Leute nicht abgemurkst, das war Poke! Er ist verrückt! Er war...«

»Sind Sie bitte still, Sylvester?« bat Devins mit seiner leisen, durchdringenden Stimme, und Lloyd war still. In seiner plötzlichen Angst hatte er die Jubelrufe für ihn im HS-Trakt ganz vergessen und sogar die beunruhigende Möglichkeit, daß er einen Zahn verlieren könnte. Plötzlich hatte er eine Vision von Tweety, der Sylvester eins auswischte. Aber in seiner Vision schlug Tweety dem dämlichen alten Kater nicht mit einer Keule auf die Birne oder stellte eine Mausefalle vor seine tastende Pfote; Lloyd sah Sylvester auf den ollen Elektrischen geschnallt, während das Vögelchen neben einem großen Schalter auf einem Hocker stand. Er konnte sogar die Wärtermütze auf Tweetys kleinem gelben Kopf sehen. Kein besonders lustiges Bild.

Devins sah ihm das teilweise vielleicht im Gesicht an, denn er schien zum ersten Mal einigermaßen zufrieden zu sein. Er faltete die Hände über dem Stapel Unterlagen, die er aus der Aktentasche geholt hatte. »Es gibt keine Begünstigung im Falle von Mord bei einem Gewaltverbrechen«, sagte er. »Der Staat hat drei Zeugen, wonach Sie und Andrew Freeman gemeinsame Sache gemacht haben. Damit ist Ihr knochiger Hintern schon so gut wie gegrillt. Kapiert?«

»Ich...«

»Gut. Und jetzt wieder zu Markham gegen South Carolina. Ich werde Ihnen mit einfachen Worten erklären, wie sich dieses Urteil auf Ihren Fall auswirkt. Aber vorher möchte ich Sie auf eine Tatsache hinweisen, die Sie zweifellos bei einem Ihrer zahlreichen Durchgänge durch die neunte Klasse gelernt haben: Die Verfassung der Vereinigten Staaten verbietet ausdrücklich grausame und ungewöhnliche Bestrafungen.«

»Wie den verfluchten elektrischen Stuhl, verdammt richtig«, sagte Lloyd rechtschaffen.

Devins schüttelte den Kopf. »Genau in diesem Punkt war das Gesetz unklar«, sagte er, »und bis 1989 haben sich die Gerichte förmlich überschlagen und versucht, die Sache auf die Reihe zu bekommen. Beinhaltet grausame und ungewöhnliche Bestrafung den elektrischen Stuhl und die Gaskammer? Oder nur die Wartezeit zwischen Verurteilung und Hinrichtung? Die Eingaben, die Petitionen, die Verzögerungen, die Aufenthalte, die Monate und Jahre, die bestimmte Gefangene - Edgar Smith, Caryl Chessman und Ted Bundy sind wahrscheinlich die berühmtesten - gezwungenermaßen in den unterschiedlichsten Todeszellen verbracht haben? Ende der siebziger Jahre gestattete der Gerichtshof die Wiederaufnahme von Hinrichtungen, aber die Todeszellen waren immer noch überfüllt, und die quälende Frage blieb: Was ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung? Okay... im Fall Markham gegen South Carolina wurde ein Mann wegen Vergewaltigung und Ermordung von drei Collegeschülerinnen zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Der Vorsatz ging eindeutig aus einem Tagebuch hervor, das dieser John Markham geführt hatte. Die Geschworenen haben ihn daraufhin zum Tode verurteilt.«

»Schöne Scheiße«, flüsterte Lloyd.

Devins nickte und schenkte Lloyd ein etwas galliges Lächeln. »Der Fall ging bis vor den Obersten Gerichtshof, und der bestätigte, dass die Todesstrafe unter bestimmten Umständen keine grausame und ungewöhnliche Bestrafung ist. Der Gerichtshof gab zu verstehen, daß schneller hier besser sei - vom juristischen Standpunkt aus. Geht Ihnen langsam ein Licht auf, Sylvester? Kapieren Sie, worum es geht?«

Lloyd kapierte nicht.

»Wissen Sie, warum Sie in Arizona angeklagt werden und nicht in Nevada oder New Mexico?«

Lloyd schüttelte den Kopf.

»Weil Arizona einer von vier Bundesstaaten ist, die einen Außerordentlichen Obersten Gerichtshof haben, der nur in Fällen zusammentritt, wo die Todesstrafe gefordert und gewährt worden ist.«

»Versteh' ich nicht.«

»Sie haben Ihre Verhandlung in vier Tagen«, sagte Devins. »Der Staat hat so eine hieb- und stichfeste Anklage, daß man es sich leisten kann, die erstbesten zwölf Männer und Frauen, die dem Gericht über den Weg laufen, auf die Geschworenenbank zu setzen. Ich werde so lange ich kann verzögern, aber wir werden die Geschworenen trotzdem schon am ersten Verhandlungstag zusammenhaben. Der Staat wird seine Anklage am zweiten Tag vorbringen. Ich werde versuchen, drei Tage herauszuschinden und schwafle bei meinem Verteidigungsplädoyer, bis mich der Richter unterbricht, aber drei Tage ist echt das Äußerste. Wir können schon von Glück sagen, wenn wir die bekommen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden sich die Geschworenen zurückziehen und Sie in schätzungsweise drei Minuten für schuldig befinden. In neun Tagen von heute an sind Sie zum Tode verurteilt, und eine Woche später tot wie Hundefutter. Das Volk von Arizona wird begeistert sein, desgleichen der Oberste Gerichtshof. Weil ein schnelles Ende alle glücklich macht. Ich kann den Termin vielleicht ein bißchen rausziehen, aber nicht viel.«

»Mein Gott, das ist unfair!« schrie Lloyd.

»Die Welt ist hart, Lloyd«, sagte Devins. »Besonders zu >amoklaufenden Killern<, und genauso haben die Zeitungen und Fernsehreporter Sie genannt. Sie sind in der Welt des Verbrechens eine wirklich große Nummer. Sie stehen im Rampenlicht. Sie haben sogar die Grippeepidemie im Osten auf Seite zwei verdrängt.«

»Ich hab' keinen nicht pokerisiert«, sagte Lloyd mürrisch. »Das war nur Poke. Der hat sogar das Wort erfunden.«

»Das ist egal«, sagte Devins. »Ich habe versucht, Ihnen das in Ihren Dickschädel zu hämmern, Sylvester. Der Richter wird dem Gouverneur Raum für einen Aufschub gewähren, aber nur für einen. Ich reiche ein Gnadengesuch ein, aber unter dem neuen Gesetz muß dieses Gnadengesuch innerhalb von sieben Tagen in den Händen des Außerordentlichen Gerichts sein, sonst haben wir das Spiel verloren. Wenn sie beschließen, nicht auf das Gnadengesuch einzugehen, habe ich weitere sieben Tage Zeit für eine Petition beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Ich glaube, in Ihrem Fall wird folgendes passieren: Ich reiche mein Gnadengesuch am letztmöglichen Tag ein, am siebten. Der Außergewöhnliche Gerichtshof wird uns wahrscheinlich anhören - das System ist immer noch neu, und darum wollen sie so wenig Kritik wie möglich. Sie würden sich wahrscheinlich sogar um das Gnadengesuch von Jack the Ripper kümmern.«

»Wie lange dauert es, bis ich von denen was höre?« murmelte Lloyd.

»Oh, sie werden sich in null Komma nichts darum kümmern«, antwortete Devins mit einem leicht wölfischen Grinsen. »Wissen Sie, der Außerordentliche Gerichtshof besteht aus fünf Richtern im Ruhestand. Die haben nichts anderes zu tun, als angeln gehen, pokern, Bourbon trinken und darauf zu warten, daß solch ein armes Arschloch wie Sie in ihrem Gerichtssaal aufkreuzt, der eigentlich gar keiner ist; in Wirklichkeit handelt es sich um ein paar Computermodems, die mit dem State House, dem Büro des Gouverneurs und untereinander verbunden sind. Sie haben Telefone mit Modems in ihren Autos, ihren Blockhütten, sogar auf ihren Yachten und natürlich zu Hause. Ihr Durchschnittsalter liegt bei zweiundsiebzig...«

Lloyd zuckte zusammen.

»...und das bedeutet, manche von ihnen sind so alt, daß sie draußen in der finstersten Provinz von der Pike auf gedient haben, wenn nicht als Richter, dann als Staats- oder Rechtsanwälte. Sie glauben alle an den Kodex des Westens - eine schnelle Verhandlung und dann aufknüpfen. So wurde es da draußen bis etwa 1950 gehandhabt. Wenn es um mehrfachen Mord geht, wurde es nie anders gemacht.«

»Gottverflucht, warum machen Sie mir so 'n Schiß?«

»Damit Sie wissen, womit wir es zu tun haben«, sagte Devins. »Sie wollen nur gewährleisten, daß Ihnen keine grausame und ungewöhnliche Bestrafung widerfährt, Lloyd. Sie sollten ihnen dankbar sein.«

»Dankbar sein? Ich würde sie gerne...«

»Pokerisieren?« fragte Devins leise.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Lloyd wenig überzeugend.

»Man wird unser Wiederaufnahmegesuch ablehnen und meine Gründe allesamt abschmettern. Wenn wir Glück haben, gibt mir das Gericht am neunzehnten und zwanzigsten Tag die Möglichkeit, Zeugen vorzuführen. Und wenn es mir diese Gelegenheit gibt, rufe ich jeden einzelnen Zeugen, der bei der ersten Verhandlung ausgesagt hat, nochmals auf und dazu alle anderen, die mir einfallen. Bis dahin werde ich sogar Ihre Klassenkameraden von der Junior High School als Charakterzeugen aufrufen, sofern Sie sie auftreiben können.«

»Ich bin nach der sechsten Klasse von der Schule abgegangen«, sagte Lloyd düster.

»Sobald der Außerordentliche Gerichtshof unser Gesuch endgültig abgelehnt hat, ersuche ich um eine Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof. Ich gehe davon aus, daß das noch am selben Tag abgelehnt wird.«

Devins verstummte und zündete sich eine Zigarette an.

»Und dann?« fragte Lloyd.

»Dann?« fragte Devins, der angesichts von Lloyds anhaltender Begriffsstutzigkeit gelinde überrascht und entnervt aussah. »Na dann wandern Sie in die Todeszelle des Staatsgefängnisses und können sich am guten Essen erfreuen, bis man Ihnen Funken in den Arsch jagt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Lloyd. »Sie wollen mir nur angst machen.«

»Lloyd, die vier Staaten, die den Außerordentlichen Gerichtshof haben, machen das die ganze Zeit. Bis jetzt wurden vierzig Männer und Frauen gemäß dem Markham-Urteil hingerichtet. Das kostet den Steuerzahler ein bißchen für das zusätzliche Gericht, aber soviel auch wieder nicht, da es nur bei Mord ersten Grades in Funktion tritt, der einen winzigen Bruchteil aller Verfahren ausmacht. Außerdem macht es den Steuerzahlern nichts aus, den Geldbeutel für Todesstrafe aufzumachen. Es gefällt ihnen.«

Lloyd sah aus, als müßte er gleich kotzen.

»Wie dem auch sei«, sagte Devins, »der Bezirksstaatsanwalt klagt jemande nur gemäß Markham an, wenn überhaupt kein Zweifel an seiner Schuld besteht. Der Hund muß nicht nur Federn an der Schnauze haben, er muß auch noch im Hühnerhaus erwischt worden sein. Und genau dort sind Sie erwischt worden.«

Lloyd, der sich vor nicht einmal fünfzehn Minuten im Jubel der Jungs des HST gesonnt hatte, sah jetzt einen öden Korridor von neunundfünfzig Tagen hinunter in ein schwarzes Loch.

»Haben Sie Schiß, Sylvester?« fragte Devin fast freundlich. Lloyd mußte sich die Lippen lecken, bevor er antworten konnte.

»Himmel, ja, ich hab' Schiß. Das alles heißt doch, daß ich ein toter Mann bin.«

»Ich will nicht, daß Sie sterben«, sagte Devins. »Aber ich will, dass Sie Angst haben. Wenn Sie grinsend und johlend vor Gericht erscheinen, dann schnallt man Sie auf den Stuhl und drückt auf den Knopf. Dann sind Sie das einundvierzigste Markham-Steak. Aber wenn Sie auf mich hören, kommen wir vielleicht durch. Ich sage nicht daß, ich sage nur vielleicht.«

»Schießen Sie los.«

»Worauf es ankommt, sind die Geschworenen«, sagte Devins.

»Zwölf ganz normale Heinis von der Straße. Ich wünsche mir ein Geschworenengericht mit vielen zweiundvierzigjährigen Damen, die immer noch Puh der Bär auswendig aufsagen können und ihre Kanarienvögel im Garten begraben, das wünsche ich mir. Wenn sie vereidigt werden, werden alle Geschworenen auf die Konsequenzen von Markham aufmerksam gemacht. Sie fällen kein Todesurteil, das in sechs Monaten oder sechs Jahren vollstreckt wird - oder auch nicht -, wenn sie es schon längst vergessen haben; der Bursche, den sie im Juni verurteilen, harft auf seiner Wolke herum, noch ehe die Rennsaison vorbei ist.«

»Sie haben vielleicht eine Ausdrucksweise.«

Devin achtete nicht auf ihn und fuhr fort: »In manchen Fällen hat allein dieses Wissen ausgereicht, die Geschworenen dazu zu bringen, mit >nicht schuldig< zu stimmen. Vom rechtlichen Standpunkt ist das genau das Gegenteil von dem, was das Hohe Gericht beabsichtigt hat. In manchen Fällen haben Geschworene einen überführten Mörder laufen lassen, weil sie kein so frisches Blut an den Händen haben wollten.« Er nahm ein Blatt Papier zur Hand. »Es wurden zwar vierzig Menschen gemäß Markham hingerichtet, aber alles in allem wurde die Todesstrafe unter Markham siebzigmal gefordert. Von den dreißig, die nicht hingerichtet worden sind, wurden sechsundzwanzig von den Geschworenen für >nicht schuldig< erklärt. Nur vier Urteile wurden vom Außerordentlichen Gerichtshof aufgehoben, eines in South Carolina, zwei in Florida und eines in Alabama.«

»Nie in Arizona?«

»Nie. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Der Kodex des Westens. Diese fünf alten Männer wollen Ihnen den Arsch aufreißen. Wenn wir Sie vor den Geschworenen nicht raushauen können, sind Sie geliefert. Darauf wette ich mit Ihnen neunzig zu eins.«

»Wie viele Angeklagte wurden denn in Arizona unter diesem Gesetz von regulären Geschworenen für nicht schuldig befunden?«

»Zwei von vierzehn.«

»Auch ein beschissenes Verhältnis.«

Devins lächelte sein wölfisches Lächeln. »Ich sollte nicht unerwähnt lassen«, sagte er, »daß einer der beiden von keinem Geringeren als meiner Wenigkeit verteidigt worden ist. Er war so schuldig wie die Sünde, Lloyd, genau wie Sie. Richter Pechert hat den zehn Frauen und zwei Männern zwanzig Minuten lang die Hölle heiß gemacht. Ich dachte schon, er würde einen Herzschlag bekommen.«

»Wenn ich nicht schuldig gesprochen werde, können sie mich doch nicht noch einmal anklagen, oder?«

»Auf gar keinen Fall.«

»Also alles oder nichts.«

»Ja.«

»Mann«, sagte Lloyd und wischte sich die Stirn.

»Solange Sie die Situation begreifen«, sagt Devins, »und wissen, wo wir stehen müssen, kommen wir vielleicht durch.«

»Ich begreif sie schon. Aber sie gefällt mir nicht.«

»Sie wären auch verrückt, wenn sie Ihnen gefallen würde.« Devins faltete die Hände und stützte sich darauf. »Also. Sie haben mir und der Polizei gesagt, daß Sie, äh...« Er griff nach dem Stapel neben der Aktentasche und blätterte ihn durch. »Aha. Da haben wir's ja.

>Ich hab' keinen nicht umgebracht. Poke hat sie alle abgemurkst. Das war seine Idee, nicht meine. Poke war verrückt wie eine Bettwanze, und es war, schätze ich, ein Segen für die Welt, daß er abserviert worden ist.<«

»Ja, das stimmt. Na und?« fragte Lloyd.

»Nur eins«, sagte Devins gemütlich. »Das bedeutet, Sie hatten Angst vor Poke Freeman. Hatten Sie Angst vor ihm?«

»Na ja, nicht so richtig...«

»Sie hatten sogar Angst um Ihr Leben.«

»Ich glaube nicht, daß...«

»Todesangst. Glauben Sie's, Sylvester. Sie haben sich fast in die Hosen geschissen.«

Lloyd sah den Anwalt stirnrunzelnd an. Es war das Stirnrunzeln eines Kindes, das ein guter Schüler sein möchte, aber größte Schwierigkeiten hat, die Lektion zu begreifen.

»Lassen Sie sich nicht von mir beeinflussen, Lloyd«, sagt Devins.

»Das will ich nicht. Sie glauben vielleicht, ich deute an, daß Poke fast ununterbrochen high war...«

»War er! Wir beide!«

»Nein. Sie nicht, aber er. Und wenn er high war, hat er durchgedreht...«

»Mann, da ist wohl was dran.« In den Sälen von Lloyds Erinnerungen johlte Poke Freemann fröhlich Hüah! Hüah! und erschoß die Frau im Laden in Burrack.

»Und er hat Sie ein paarmal mit der Waffe bedroht...«

»Nein, nicht einmal...«

»O doch. Sie hatten das nur eine Weile vergessen. Er hat sogar einmal gedroht, Sie zu erschießen, wenn Sie sein Spiel nicht mitmachen.«

»Nun, ich hatte eine Waffe...«

»Ich glaube«, sagte Devins und sah ihn stechend an, »wenn Sie sich ganz angestrengt erinnern, fällt Ihnen wieder ein, daß Poke gesagt hat, Ihre Waffe sei mit Platzpatronen geladen. Können Sie sich daran erinnern?«

»Jetzt, wo Sie es sagen...«

»Und keiner war überraschter als Sie, als plötzlich echte Kugeln herauskamen, richtig?«

»Klar«, sagte Lloyd. Er nickte heftig. »Ich hätt' beinah' 'nen Blutsturz bekommen.«

»Sie wollten diese Waffe gerade auf Poke Freeman richten, als Ihnen jemand die Arbeit abgenommen hat.«

Lloyd sah seinen Anwalt mit aufkeimender Hoffnung an.

»Mr. Devins«, sagte er zutiefst aufrichtig, »ganz genauso ist die Scheiße abgelaufen.«




Etwas später an diesem Morgen saß er im Hof, sah einem Softballspiel zu und grübelte über alles nach, was Devins ihm gesagt hatte, als ein großer, kräftiger Mithäftling namens Mather zu ihm kam und ihn am Kragen hochzog. Mathers Kopf war kahlgeschoren, à la Telly Savalas, und die Glatze glänzte freundlich in der heißen Wüstenluft.

»Moment mal«, sagte Lloyd. »Mein Anwalt hat meine Zähne gezählt. Siebzehn. Wenn du also...«

»Ja, weiß ich von Shockley«, sagte Mathers. »Deshalb hat er mir gesagt, ich soll...«

Mathers rammte Lloyd das Knie zwischen die Beine, und entsetzliche Schmerzen rasten durch Lloyds Körper, so lähmend, daß Lloyd nicht einmal schreien konnte. Er brach zu einem zuckenden, strampelnden Bündel zusammen und hielt sich die Hoden, die zerquetscht zu sein schienen. Die Welt war ein einziger roter Nebel des Schmerzes.

Irgendwann - er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war - konnte er aufblicken. Mathers sah ihn immer noch an, und sein Kahlkopf glänzte immer noch. Die Wärter sahen betont anderswohin. Lloyd stöhnte und wand sich, Tränen quollen ihm aus den Augen, er hatte eine rotglühende Kugel im Unterleib.

»Das war nicht persönlich gemeint«, sagte Mathers aufrichtig. »Rein geschäftlich, klar? Ehrlich, ich hoffe, daß du einigermaßen glimpflich davonkommst. Das Markham-Gesetz ist Scheiße.«

Dann schlenderte er davon, und Lloyd sah den Türwärter am anderen Ende des Hofs auf einer Rampe in der Ladezone stehen. Er hatte die Daumen in den Sam-Browne-Gürtel gehakt und grinste Lloyd an. Als er merkte, daß er Lloyds ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, zeigte er ihm mit den Mittelfingern beider Hände den Vogel. Mathers spazierte zu ihm hinüber, und der Türwärter warf ihm eine Packung Tareytons zu. Mathers steckte sie in die Brusttasche, salutierte lässig und verschwand. Lloyd lag mit an die Brust gezogenen Knien da und hielt sich den schmerzenden Leib. Devins Worte gingen ihm durch den Kopf: Das Leben ist hart, Lloyd.

Wie wahr.

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