50
Die Dämmerung kam und malte den östlichen Himmel in zarten Rosatönen. Stu Redman und Glen Bateman hatten den Flagstaff Mountain in West Boulder, wo die ersten Vorgebirge der Rockies sich wie eine Vision der Vorgeschichte aus der Ebene erheben, halb erklommen. Im Licht der Dämmerung fand Stu, daß die Pinien, welche zwischen den nackten und fast lotrechten Felswänden wuchsen, wie die Adern einer Riesenhand aussahen, die aus der Erde herausgriff. Irgendwo im Osten versank Nadine Cross endlich in einen leichten, unbefriedigenden Schlaf.
»Ich werde heute nachmittag Kopfschmerzen bekommen«, sagte Glen. »Ich glaube, ich habe seit dem College keine ganze Nacht mehr durchgetrunken.«
»Der Sonnenaufgang ist es wert«, sagte Stu.
»Das stimmt. Wunderschön. Warst du vorher schon einmal in den Rockies?«
»Nee«, sagte Stu. »Aber ich bin froh, daß ich hergekommen bin.« Er hob den Weinkrug hoch und trank einen Schluck. »Ich hab' selbst ordentlich einen in der Krone.« Er betrachtete den Ausblick ein paar Augenblicke stumm, dann drehte er sich mit einem schiefen Eächeln zu Glen um. »Was wird jetzt passieren?«
»Passieren?« Glen zog die Brauen hoch.
»Klar. Darum bin ich hier raufgekommen. Ich hab' zu Frannie gesagt:
>Ich mach' ihn betrunken, und dann werde ich ihn aushorchen.< Prima, hat sie gesagt. «
Glen grinste. »Auf dem Grund einer Weinflasche sind keine Teeblätter.«
»Nein, aber sie hat mir erklärt, was genau du eigentlich gemacht hast. Soziologie. Die Lehre von Gruppenwechselwirkungen. Also stell ein paar wohlbegründete Vermutungen an.«
»Mach ein silbernes Kreuz auf meine Handfläche, o Aspirant des Wissens.«
»Vergiß das Silber, Kahlkopf. Ich geh' morgen mit dir zur First National Bank von Boulder und geb' dir eine Million Dollar. Wie ist das?«
»Im Ernst, Stu - was willst du wissen?«
»Ich denke, dasselbe, was auch dieser Stumme Nick Andros wissen will. Was wird als nächstes passieren? Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll.«
»Es wird sich eine Gesellschaft bilden«, sagte Glen langsam.
»Welcher Art? Das kann man jetzt unmöglich sagen. Es sind jetzt fast vierhundert Menschen hier. Wie sie momentan eintreffen - jeden Tag mehr -, schätze ich, daß wir am ersten September fünfzehnhundert sein werden. Viereinhalbtausend am ersten Oktober und möglicherweise achttausend, bis im November der Schnee fällt und die Straßen unpassierbar werden. Schreib das als Vorhersage Nummer eins auf.«
Zu Glens Belustigung brachte Stu tatsächlich ein Notizbuch aus der Gesäßtasche seiner Jeans zum Vorschein und schrieb auf, was er gerade gesagt hatte.
»Kann ich kaum glauben«, sagte Stu. »Wir sind durch das ganze Land gereist und haben alles in allem keine hundert Menschen gesehen.«
»Ja, aber es kommen doch ständig welche, nicht?«
»Ja... in Grüppchen und Stüppchen.«
»In was?« fragte Glen grinsend.
»Grüppchen und Stüppchen. Hat meine Mutter immer gesagt. Verscheißerst du die Ausdrücke meiner Mutter?«
»Der Tag wird niemals kommen, an dem ich genügend Respekt vor meiner eigenen Haut verliere, daß ich eine texanische Mutter verscheißere, Stuart.«
»Nur, sie kommen, das stimmt. Ralph hat momentan Kontakt mit fünf oder sechs Gruppen, die unsere Zahl bis Ende der Woche auf fünfhundert bringen.«
Glen lächelte wieder. »Ja, und Mutter Abagail sitzt bei ihm in seiner >Funkzentrale<, weigert sich aber, über CB zu sprechen. Sagt sie hat Angst, sie könnte einen Stromschlag bekommen.«
»Frannie vergöttert die alte Frau«, sagte Stu. »Teilweise, weil sie soviel darüber weiß, wie man Kinder entbindet, aber teilweise auch nur... weil sie sie eben gern hat. Klar?«
»Ja. Fast alle denken genauso.«
»Achttausend Menschen im Winter«, sagte Stu und kam wieder zum ursprünglichen Thema zurück. »Mann o Mann.«
»Simple Arithmetik. Sagen wir, die Grippe hat neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ausgelöscht. Vielleicht war es nicht so schlimm, aber gehen wir von dieser Zahl als Grundlage aus. Wenn die Grippe in neunundneunzig Prozent der Fälle tödlich war, so bedeutet das, sie hat fast zweihundertachtzehn Millionen Menschen umgebracht - allein in diesem Land.« Er sah Stus schockiertes Gesicht und nickte grimmig. »Vielleicht war es nicht so schlimm, aber wir können gut und gerne davon ausgehen, daß diese Zahl hinkommt. Dagegen wirken die Nazis wie Stümper, was?«
»Mein Gott«, sagte Stu mit trockener Stimme.
»Aber dann blieben immer noch über zwei Millionen Menschen übrig, ein Fünftel der Bevölkerung Tokios vor der Seuche, ein Viertel der Bevölkerung New Yorks vor der Seuche. Und das allein in diesem Land. Ich glaube allerdings, daß etwa zehn Prozent dieser zwei Millionen die Nachwirkungen der Grippe nicht überlebt haben. Leute, die dem Schock danach zum Opfer gefallen sind. Leute wie der arme Mark Braddock mit seinem geplatzten Blinddarm, aber auch Unfallopfer, Selbstmorde und auch Morde. Das bringt uns auf 1,8 Millionen. Aber wir vermuten ja, daß wir einen Gegenspieler haben, nicht wahr? Den dunklen Mann, von dem wir geträumt haben. Irgendwo westlich von uns. Da drüben liegen sieben Staaten, die legitim als sein Territorium bezeichnet werden könnten... wenn er wirklich existiert.«
»Ich glaube schon, daß er existiert«, sagte Stu.
»Das Gefühl habe ich auch. Aber hat er einfach die Macht über alle Leute da drüben? Das glaube ich nicht, ebensowenig wie Mutter Abagail automatisch Macht über die Leute in den anderen einundvierzig Staaten von Kontinentalamerika hat. Ich glaube, momentan ist alles noch fließend, aber dieser Zustand geht dem Ende entgegen. Die Leute schließen sich zusammen. Als du und ich uns damals in New Hampshire darüber unterhalten haben, hatte ich mir Dutzende kleiner Gesellschaften vorgestellt. Was ich nicht einberechnet hatte - weil ich nicht davon wußte -, war die fast unwiderstehliche Wirkung dieser beiden gegensätzlichen Träume. Das war eine neue Tatsache, die niemand vorhersehen konnte.«
»Willst du damit sagen, daß wir am Ende neunhunderttausend Leute haben werden und er am Ende neunhunderttausend Leute haben wird?«
»Nein. Erstens wird der kommende Winter seine Opfer fordern. Er wird sie hier fordern, aber noch schlimmer wird es für die kleinen Gruppen, die es nicht bis hierher schaffen, bevor der Schnee einsetzt. Hast du daran gedacht, daß wir in der Freien Zone nicht einmal einen Arzt haben? Unser medizinisches Personal besteht aus einem Tierarzt und Mutter Abagail, die mehr Naturheilkunde vergessen hat, als du oder ich je lernen werden. Dennoch würden sie dumm dastehen, wenn sie eine Stahlplatte in deinen Schädel einsetzen müßten, nachdem du gestürzt bist und dir den Hinterkopf aufgeschlagen hast, meinst du nicht auch?«
Stu kicherte. »Der olle Rolf Dannemont würde wahrscheinlich seine Remington holen und mir ein Loch verpassen, durch das Tageslicht scheint.«
»Ich schätze, die Gesamtzahl der amerikanischen Bevölkerung dürfte sich bis nächstes Frühjahr auf 1,6 Millionen reduziert haben - und das ist eine optimistische Schätzung. Ich hoffe, daß wir davon eine Million bekommen.«
»Eine Million Menschen«, sagte Stu ehrfürchtig. Er sah über die ausgedehnte, größtenteils verlassene Stadt Boulder, die heller wurde, während die Sonne sich über den flachen östlichen Horizont erhob. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Stadt würde aus den Nähten platzen.«
»Boulder könnte sie nicht fassen. Ich weiß, man dreht durch, wenn man durch die verlassenen Straßen Richtung Table Mesa geht, aber es ist unmöglich. Wir müßten die Gemeinden ringsum besiedeln. Man hätte die Situation einer riesigen Gemeinschaft hier, während der Rest des Landes östlich von hier völlig verlassen wäre.«
»Warum meinst du, daß wir die Mehrzahl bekommen?«
»Aus einem sehr unwissenschaftlichen Grund«, sagte Glen und zauste sich mit einer Hand seine Tonsur. »Ich möchte glauben, dass die meisten Menschen gut sind. Und ich glaube, daß der Mann, der im Westen den Laden schmeißt, wahrhaftig böse ist. Und ich habe so eine Ahnung...« Er verstummte.
»Los, spuck's aus.«
»Werd' ich, weil ich betrunken bin. Aber es bleibt unter uns, Stuart.«
»Gut.«
»Dein Wort?«
»Mein Wort«, sagte Stu.
»Ich glaube, er wird die meisten Techniker bekommen«, sagte Glen schließlich. »Frag mich nicht, warum; es ist nur eine Ahnung. Techniker arbeiten größtenteils gern in einer Atmosphäre strenger Disziplin und fest abgesteckter Ziele. Sie haben es gern, wenn die Züge pünktlich sind. Wir haben hier in Boulder ein riesiges Durcheinander, alle wursteln vor sich hin und ziehen ihre eigene Sache durch... und wir müssen etwas unternehmen, um alles auf die Reihe zu bekommen, wie meine Studenten gesagt hätten. Aber dieser andere Bursche... Ich wette, bei ihm sind die Züge pünktlich, und alle stehen in Reih und Glied. Und Techniker sind Menschen wie du und ich, sie gehen dorthin, wo sie am meisten gebraucht werden. Ich habe den Verdacht, daß unser Gegenspieler so viele haben will, wie er bekommen kann. Zum Teufel mit den Farmern, lieber will er ein paar Männer, die in Idaho die Raketensilos abstauben und wieder funktionsfähig machen können. Ebenso Panzer und Hubschrauber und vielleicht einen oder zwei B52-Bomber, nur so zum Spaß. Ich bezweifle, ob er schon soweit ist - nein, ich bin sicher, daß nicht. Wir wüßten es. Im Augenblick konzentriert er sich wahrscheinlich noch darauf, den Strom anzuschalten und die Nachrichtenverbindungen wiederherzustellen... vielleicht hat er sogar ein paar Zweifler ausmerzen können. Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, das weiß er. Er hat Zeit. Aber wenn ich abends die Sonne untergehen sehe - das ist mein Ernst, Stuart, habe ich Angst. Ich brauche keine Alpträume mehr, um Angst zu haben. Ich muß nur an die Leute auf der anderen Seite der Rockies denken, die fleißig wie die Bienen sind.«
»Was sollen wir tun?«
»Soll ich dir eine Liste geben?« erwiderte Glen grinsend. Stuart deutete auf das zerfledderte Notizbuch. Auf dem grellrosa Umschlag waten die Silhouetten zweier Tänzer und die Worte BOOGIE DOWN! zu sehen. »Ja«, sagte er.
»Du machst Witze.«
»Im Gegenteil. Du hast selbst gesagt, Glen, wir müssen alles in den Griff bekommen. Mit jedem Tag verlieren wir mehr Zeit. Wir können nicht einfach hier herumsitzen, die Hände in den Schoß legen und CB-Funk hören. Sonst wachen wir eines Morgens auf und stellen fest, daß dieser Verbrecher an der Spitze einer bewaffneten Streitmacht in Boulder einrückt - mit Luftunterstützung. «
»Aber doch nicht gleich morgen«, sagte Glen.
»Nein. Aber wie ist es nächsten Mai?«
»Möglich«, sagte Glen. »Ja, durchaus möglich.«
»Und was glaubst du, wird dann aus uns?«
Glen antwortete nicht mit Worten. Er machte mit dem Zeigefinger der rechten Hand eine vielsagende Geste, als würde er eine Pistole abdrücken, und trank hastig den Rest Wein aus.
»Ja«, sagte Stu. »Deshalb sollten wir es allmählich auf die Reihe bekommen.«
Glen machte die Augen zu. Die aufgehende Sonne schien auf seine faltigen Wangen und Stirn.
»Okay«, sagte er. »Hör zu, Stu. Erstens. Amerika neu erschaffen.
Klein-Amerika. Mit fairen und unfairen Mitteln. Zuerst kommen Organisation und Regierung. Wenn wir jetzt anfangen, können wir die Regierung bilden, die wir wollen. Wenn wir warten, bis sich die Bevölkerung verdreifacht hat, bekommen wir ernste Probleme. Sagen wir, wir berufen für heute in einer Woche eine Versammlung ein, das wäre am achtzehnten August. Jeder muß teilnehmen. Vor der Versammlung sollte ein Ad-hoc-Organisationskomitee gebildet werden. Ein Komitee mit, sagen wir mal, sieben Leuten. Du, ich, Andros, Fran, Harold Lauder vielleicht, und ein paar andere. Die Aufgabe des Komitees wäre es, die Tagesordnung für die Versammlung am achtzehnten August zusammenzustellen. Und ich könnte dir schon jetzt ein paar Punkte sagen, die diese Tagesordnung enthalten sollte.«
»Schieß los.«
»Erstens, Verlesung und Ratifizierung der Unabhängigkeitserklärung. Zweitens der Verfassung. Drittens Erklärung der Menschenrechte. Alle Ratifikationen durch mündliche Abstimmung.«
»Herrgott, Glen, wir sind doch alle Amerikaner.«
»Nein, genau da irrst du dich«, sagte Glen und machte die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen und lagen tief in den Höhlen. »Wir sind eine Bande Überlebende ohne Regierung. Ein zusammengewürfelter Haufen aus jeder Altersgruppe, Religionszugehörigkeit, Gesellschaftsschicht und Rasse. Regierung ist eine Vorstellung, Stu, mehr nicht, wenn man die Bürokratie und den ganzen Mist wegläßt. Ich gehe sogar noch weiter. Sie ist eine Einprägung, nichts weiter als ein durchs Gehirn getretener Erinnerungspfad. Momentan arbeitet der Kulturschock für uns. Die meisten Menschen hier glauben noch an die Regierung mittels gewählter Vertreter - die Republik -, das, was sie als >Demokratie< ansehen. Aber der Kulturschock dauert nie lange. Nach einer Weile kommen die Einsichten: der Präsident ist tot, das Pentagon steht leer, im Repräsentantenhaus und im Senat debattiert niemand außer vielleicht Termiten und Küchenschaben. Unsere Leute werden einsehen, daß die alte Lebensweise dahin ist und sie die Gesellschaft neu erschaffen können, wie sie sie wollen. Wir sollten - wir müssen - sie überrumpeln, bevor sie aufwachen und etwas Dummes anstellen.«
Er deutete mit dem Finger auf Stu.
»Wenn jemand am achtzehnten August in der Versammlung aufstehen und vorschlagen würde, Mutter Abagail zur uneingeschränkten Anführerin zu wählen, mit dir und mir und diesem Andres als Beratern, würden die Leute ihrer Ernennung durch Zuruf zustimmen und nicht einmal wissen, daß sie damit die erste funktionierende Diktatur in Amerika seit Huey Long an die Macht gebracht haben.«
»Oh, das kann ich nicht glauben. Wir haben Universitätsstudenten hier, Rechtsanwälte, politische Aktivisten...«
»Das waren sie vielleicht. Jetzt sind sie nur ein Haufen müder, verängstigter Leute, die nicht wissen, was aus ihnen werden soll. Einige würden vielleicht motzen, aber sie würden die Klappe halten, wenn ihnen jemand erzählt, daß Mutter Abagail und ihre Berater binnen sechzig Tagen für Strom sorgen. Nein, Stu, es ist sehr wichtig, daß wir den Geist der alten Gesellschaft schnellstmöglich wieder festschreiben. Das habe ich mit >Amerika neu erschaffen< gemeint. Und es muß so geschehen, solange wir unter der direkten Bedrohung durch den Mann operieren, den wir den Gegenspieler nennen.«
»Weiter.«
»Na gut. Der nächste Punkt der Tagesordnung wäre, daß wir die Regierung organisieren wie eine Stadt in Neuengland. Vollkommene Demokratie. Solange wir relativ wenige sind, wird das prima funktionieren. Nur, statt eines Stadtverordnetenrats haben wir sieben... Repräsentanten, denke ich. Repräsentanten der Freien Zone. Wie hört sich das an?«
»Hört sich gut an.«
»Finde ich auch. Und wir werden dafür sorgen, daß die Leute, die gewählt werden, dieselben sind, die auch dem Ad-hoc-Komitee angehören. Wir werden so schnell wählen lassen, daß die Leute keine Zeit haben, sich mit ihren Freunden zu besprechen. Wir können uns die Leute aussuchen, die uns nominieren und dann unterstützen. Die Abstimmung wird so reibungslos ablaufen wie Scheiße durchs Toilettenrohr.«
»Toll«, sagte Stu bewundernd.
»Klar«, sagte Glen. »Wenn du den demokratischen Prozess kurzschließen willst, frag einen Soziologen.«
»Was dann?«
»Das dürfte sehr populär werden. Der nächste Punkt der Tagesordnung würde lauten: Beschlußfassung: Mutter Abagail wird das absolute Vetorecht gegen jede von den Repräsentanten vorgeschlagene Handlung eingeräumt.«
»Mein Gott! Wird sie damit einverstanden sein?«
»Ich glaube ja. Ich kann mir allerdings keine Situation vorstellen, in der sie dieses Vetorecht je ausüben würde. Wir dürfen nicht erwarten, hier eine handlungsfähige Regierung zu bekommen, wenn wir sie nicht zum nominellen Staatsoberhaupt machen. Sie ist unsere Gemeinsamkeit. Wir haben alle paranormale Erlebnisse gehabt, die sich um sie drehen. Und sie hat... eine gewisse Aura. Die Leute benutzen alle dieselben Adjektive, wenn sie sie beschreiben: gut, freundlich, alt, weise, schlau, nett. Diese Leute haben einen Traum gehabt, der ihnen eine Heidenangst gemacht hat, und einen anderen, bei dem sie sich sicher und geborgen fühlten. Sie lieben die Quelle des guten Traumes und vertrauen ihr um so mehr wegen des Traums, der ihnen Angst gemacht hat. Und wir können ihr klarmachen, daß sie nur nominell unsere Anführerin ist. Ich glaube, das ist ihr auch lieber. Sie ist alt, müde...«
Stu schüttelte den Kopf. »Sie ist alt und müde, aber sie sieht das Problem des dunklen Mannes als religiösen Kreuzzug, Glen. Und sie ist nicht die einzige. Das weißt du.«
»Du meinst, sie könnte sich entschließen, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen?«
»Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht«, meinte Stu. »Schließlich haben wir von ihr geträumt, nicht von einem Repräsentantenrat.«
Glen schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann den Gedanken nicht akzeptieren, daß wir alle Figuren in einem post-apokalyptischen Spiel zwischen Gut und Böse sind, Träume hin, Träume her. Verdammt, das ist irrational!«
Stu zuckte die Achseln. »Gut, darauf müssen wir jetzt nicht eingehen. Ich finde deine Idee gut, ihr ein Vetorecht einzuräumen. Ich finde sogar, daß das nicht weit genug geht. Wir sollten ihr auch ein Vorschlagsrecht einräumen.«
»Auf der Seite dürfte sie aber keine absolute Gewalt haben«, sagte Glen schnell.
»Nein, ihre Vorschläge müßten vom Repräsentantenrat ratifiziert werden«, sagte Stu und fügte dann listig hinzu: »Aber am Ende sind wir vielleicht ihre ausführenden Organe, statt umgekehrt.«
Ein längeres Schweigen folgte. Glen stützte die Stirn auf eine Hand. Schließlich sagte er: »Du hast recht. Sie kann nicht nur eine Galionsfigur sein... wir müssen mindestens damit rechnen, daß sie eigene Vorstellungen haben könnte. Und hier muß ich meine umwölkte Kristallkugel einpacken, Mann aus Ost-Texas. Denn sie ist das, was wir Freunde von der soziologischen Fakultät >fremdbestimmt< nennen.«
»Wer ist dieser >Fremde«
»Gott? Thor? Allah? Peewee Herman? Spielt keine Rolle. Es bedeutet, daß ihre Absichten sich nicht notwendigerweise an den Bedürfnissen der Gesellschaft oder deren Moral orientieren. Sie wird auf eine andere Stimme hören. Wie die Jungfrau von Orleans. Du hast mich darauf gebracht, daß wir hier am Ende noch eine Theokratie bekommen.«
»Theo-was?«
»Einen Gottes-Trip«, sagte Glen. Er schien nicht sehr glücklich darüber zu sein. »Als du ein kleiner Junge warst, Stu, hast du da jemals auch nur im Traum daran gedacht, daß du eines Tages einer von sieben Hohepriestern oder -priesterinnen einer hundertacht Jahre alten schwarzen Frau aus Nebraska sein würdest?«
Stu starrte ihn an. Schließlich sagte er: »Haben wir noch Wein?«
»Alles weg.«
»Scheiße.«
»Ja«, sagte Glen. Sie sahen einander schweigend ins Gesicht und fingen plötzlich laut an zu lachen.
Es war bestimmt das schönste Haus, in dem Mutter Abagail je gewohnt hatte, und hier auf dieser verglasten Veranda zu sitzen rief ihr den Handelsvertreter wieder ins Gedächtnis, der 1936 oder 1937 bei ihr in Hemingford an der Tür geklingelt hatte. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie jemanden getroffen, der so schön reden konnte; er hätte die Vögel von den Bäumen herunterlocken können. Sie hatte diesen jungen Mann, Mr. Donald King mit Namen, gefragt, was denn sein Geschäft war und was er von Abby Freemantle wollte, und er hatte geantwortet: »Mein Geschäft, Ma'am, ist Vergnügen. Ihr Vergnügen. Lesen Sie gern? Hören Sie vielleicht gern Radio? Oder stellen vielleicht nur Ihre müden Füße auf das Kissen und lauschen der Welt, wie sie die riesige Bowlingbahn des Universums hinabrollt?«
Sie hatte zugegeben, daß ihr das alles gefiel, aber sie hatte nicht zugegeben, daß sie vor einem Monat das Motorola verkauft hatte, um neunzig Ballen Heu zu bezahlen.
»Nun, das alles verkaufe ich«, hatte der Schönschwätzer zu ihr gesagt. »Man könnte es einen Electrolux-Staubsauger mit allem Zubehör nennen, aber in Wirklichkeit ist es Freizeit. Sie müssen nur den Stecker in die Steckdose stecken, und es eröffnen sich Ihnen ungeahnte Möglichkeiten der Entspannung. Und die Ratenzahlungen sind genauso leicht, wie es Ihre Hausarbeit in Zukunft sein wird.«
Damals hatten sie tief in der Depression gesteckt, und sie hatte an den Geburtstagen der Enkelinnen nicht einmal zwanzig Cent für Haarschleifen aufbringen können, und den Electrolux konnte sie sich schon gar nicht leisten. Aber hatte dieser Mr. Donald King aus Peru, Indiana, nicht schön geredet? Herrje! Sie hatte ihn nie wiedergesehen, aber sie hatte seinen Namen auch nie vergessen. Sie hätte wetten mögen, daß er weitergezogen war, um einer weißen Dame das Herz zu brechen. Einen Staubsauger bekam sie erst, als der Nazi-Krieg zu Ende war und es schien, als könne sich jeder plötzlich alles leisten, und sogar das arme weiße Gesindel einen Mercury im Schuppen stehen hatte.
Dieses Haus, das, hatte Nick ihr gesagt, in Boulders Stadtteil Mapleton Hill lag (Mutter Abagail glaubte nicht, daß vor Ausbruch der Seuche viele Schwarze hier oben gelebt hatten), besaß alle Geräte, von denen sie je gehört, und auch ein paar, von denen sie noch nie gehört hatte. Geschirrspüler. Zwei Staubsauger, einen nur für den ersten Stock. Müllschlucker in der Spüle. Mikrowellenherd. Waschmaschine und Trockner. In der Küche war ein Gerät, das wie ein Stahlkasten aussah, und Nicks guter Freund Ralph Brentner hatte ihr gesagt, das war eine »Müllpresse«, in die konnte man hundert Pfund Küchenabfall werfen, und unten kam ein kleiner Block Müll heraus, so groß wie ein Fußschemel. Die Wunder hörten niemals auf.
Aber wenn man es genau bedachte, einige doch.
Als sie so schaukelnd auf der Veranda saß, fiel ihr Blick auf eine in den Sockel eingelassene Steckdosenleiste. Wahrscheinlich, damit die Leute im Sommer hier draußen sitzen und Radio hören oder sogar Baseball in einem kleinen tragbaren Fernseher sehen konnten. Im ganzen Land gab es nichts Normaleres als diese kleinen Wandleisten mit den Anschlüssen. Sie hatte sogar in ihrem Abort in Hemingford welche gehabt. Man verschwendete überhaupt keinen Gedanken daran... es sei denn, sie funktionierten nicht mehr. Dann wurde einem klar, daß ein Großteil des Lebens aus ihnen kam. Die ganze Freizeit, das Vergnügen, welches ihr der längst vergangene Don King versprochen hatte... das kam aus diesen Steckdosen in der Wand. Wenn kein Strom mehr da war, konnte man die kleinen Dinger gut und gerne wie die ganzen Geräte wie Mikrowelle und »Müllpresse« nehmen und als Kleiderständer benützen.
O ja! Ihr eigenes kleines Haus war besser ausgerüstet gewesen, mit dem Tod der kleinen Steckdosen fertig zu werden, als dieses hier. Hier mußte ihr jemand das Wasser vo m Boulder Creek hertragen, und es mußte abgekocht werden, bevor man es benützen konnte, aus Sicherheitsgründen. Daheim hatte sie ihre Handpumpe gehabt. Hier hatten Nick und Ralph eine häßliche chemische Port-O-SanToilette antransportieren müssen; sie hatten sie im Garten aufgestellt. Daheim hatte sie ihren Abort gehabt. Sie hätte die Waschmaschinen/Trockner-Kombination von Maytag ohne zu zögern gegen ihren Waschzuber getauscht; daher hatte sie Nick gebeten, ihr einen zu suchen, und Brad Kitchner hatte ihr irgendwo ein Waschbrett und etwas gute alte Kernseife besorgt. Wahrscheinlich dachten sie, daß sie eine alte Nervensäge war, weil sie selbst Wäsche waschen wollte - und dann noch so viel -, aber sauber war gleichbedeutend mit göttlich, und sie hatte die Wäsche in ihrem ganzen Leben nicht weggegeben und wollte jetzt erst gar nicht damit anfangen. Sie hatte von Zeit zu Zeit ihre kleinen Unfälle, wie das bei alten Leuten häufig vorkam, aber solange sie die Wäsche noch selbst wusch, ging das außer ihr selbst keinen etwas an.
Sie würden den Strom natürlich wieder einschalten. Das hatte Gott ihr auch in einem Traum gezeigt. Sie wußte eine ganze Menge darüber, was hier geschehen würde; manches aus Träumen, manches durch gesunden Menschenverstand. Beide waren aber so eng miteinander verflochten, daß sie sie nicht unterscheiden konnte.
Bald würden die Leute aufhören herumzulaufen wie Hühner, denen man die Köpfe abgeschlagen hatte, und an einem Strang ziehen. Sie war kein Soziologe wie dieser Glen Bateman (der sie immer ansah wie ein Buchmacher beim Rennen einen falschen Zehner), aber sie wußte, daß die Leute nach einer Weile immer an einem Strang zogen. Fluch und Segen der menschlichen Rasse war ihre Geselligkeit. Wenn sechs Menschen bei Überschwemmung auf einem Kirchendach den Mississippi hinuntertreiben würden, würden sie eine Partie Bingo anfangen, sobald das Dach auf eine Sandbank auflief.
Zuerst würden sie eine Regierung bilden wollen, wahrscheinlich eine, bei der sie selbst im Mittelpunkt stand. Das konnte sie natürlich nicht zulassen, so gern sie es auch getan hätte; das war nicht Gottes Wille. Sollten sie sich mit irdischen Dingen befassen - den Strom wieder einschalten? Prima. Als erstes würde sie diese »Müllpresse« ausprobieren. Das Gas wieder einschalten, damit sie sich im Winter nicht den Hintern abfroren. Sollten sie ihre Resolutionen fassen und ihre Pläne machen, das war prima. Sie würde sich raushalten. Sie würde darauf bestehen, daß Nick an der Regierung beteiligt wurde und vielleicht Ralph. Dieser Texaner schien in Ordnung zu sein, er hielt wenigstens den Mund, wenn sein Gehirn nicht eingeschaltet war. Sie würden wahrscheinlich auch diesen dicken Jungen, diesen Harold, haben wollen, und daran würde sie sie nicht hindern, aber sie mochte ihn nicht. Harold machte sie nervös. Dieses dauernde Grinsen, das nie die Augen mit einschloß. Er war freundlich, er sagte das Richtige, aber seine Augen waren wie zwei kalte Feuersteine, die aus der Erde stachen.
Sie dachte, daß Harold ein Geheimnis hatte. Etwas Übelriechendes und Häßliches, das in einen stinkenden Breiumschlag gehüllt tief in seinem Herzen steckte. Sie hatte keine Ahnung, was es sein könnte; es war nicht Gottes Wille, daß sie es wußte, daher konnte es für die Pläne, die Gott mit dieser Gemeinschaft hatte, nicht von Bedeutung sein. Dennoch beunruhigte sie der Gedanke, daß der dicke Junge in den höchsten Gremien sitzen könnte... aber sie würde dazu nichts sagen.
Ihre Sache, dachte sie etwas selbstgefällig im Schaukelstuhl; ihre eigene Rolle in ihren Räten und Entschließungen hatte ausschließlich mit dem dunklen Mann zu tun.
Er hatte keinen Namen, obwohl es ihm gefiel, sich Flagg zu nennen... jedenfalls im Augenblick. Und jenseits der Berge hatte seine Arbeit schon begonnen. Sie kannte seine Pläne nicht; sie waren ihren Augen ebenso verborgen wie die Geheimnisse im Herzen des dicken Harold. Aber sie mußte die Einzelheiten auch nicht kennen. Sein Ziel war schlicht und einfach: sie alle zu vernichten.
Ihr Wissen um ihn war erstaunlich differenziert. Die Leute, die zur Freien Zone gezogen wurden, kamen alle zu ihr ins Haus, und sie empfing sie, auch wenn sie sie manchmal ermüdeten... und alle wollten ihr mitteilen, daß sie von ihr und von ihm geträumt hatten. Sie hatten Angst vor ihm, und sie nickte und tröstete und beruhigte, so gut sie konnte, aber insgeheim war sie überzeugt, daß die meisten diesen Flagg nicht erkennen würden, wenn sie ihn auf der Straße träfen... es sei denn, er wollte erkannt werden. Vielleicht ahnten sie ihn; vielleicht ein Frösteln wie bei einer Gänsehaut, ein plötzliches Hitzegefühl wie ein Fieberanfall oder ein kurzer, stechender Schmerz in den Ohren oder Schläfen. Aber die Leute irrten, wenn sie glaubten, er habe zwei Köpfe oder sechs Augen oder große spitze Hörner, die ihm aus den Schläfen wuchsen. Wahrscheinlich sah er nicht viel anders aus als der Milchmann oder der Briefträger.
Sie vermutete, daß hinter dem bewußten Bösen eine unbewußte Schwärze war. Das zeichnete die irdischen Kinder der Finsternis aus; sie konnten nichts aufbauen, nur zerstören. Gott hatte den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen, und das bedeutete, daß jeder Mann und jede Frau unter Gottes Sonne eine Art Schöpfer war, jemand, der die Hand ausstrecken und die Welt nach einem rationalen Muster formen wollte. Der schwarze Mann wollte - konnte - nur zerstören. Der Antichrist? Man könnte genausogut sagen Antischöpfer.
Er hatte seine Anhänger, das war nichts Neues. Er war ein Lügner, sein Vater war der Vater der Lügen. Für seine Anhänger war er wie ein großes Neonzeichen hoch am Himmel, das sie mit gleißendem Licht blendete. Diese Lehrlinge der Zerstörung würden nicht erkennen, daß er, genau wie ein Neonzeichen, immer nur dasselbe simple Muster wiederholte. Ihnen würde nicht klarwerden, daß das Gas, welches die hübschen Muster in der komplexen Ansammlung von Röhren erzeugte, sofort stumm verpuffen und nicht einmal den Hauch eines Geruchs zurücklassen würde, wenn man es abließ. Einige würden irgendwann von allein zu diesem Schluß kommen - sein Reich würde nie ein Reich des Friedens sein. Wachtposten und Stacheldraht an den Grenzen seines Landes waren ebenso dazu bestimmt, die Bekehrten ein-wie die Eindringlinge auszusperren. Würde er siegen?
Sie hatte keine Gewißheit, daß er nicht siegen würde. Sie wußte, daß er von ihr wissen mußte wie sie von ihm, und nichts würde ihm mehr Vergnügen machen, als ihren dürren schwarzen Körper als Fressen für die Krähen an einem Kreuz aus Telefonmasten hängen zu sehen. Sie wußte, außer ihr hatten noch ein paar von Kreuzigungen geträumt, aber nur ein paar. Die hatten es ihr erzählt, aber sonst niemandem, vermutete sie. Aber nichts von alledem beantwortete die Frage:
Würde er siegen?
Sie wußte es nicht. Gott arbeitete im geheimen und wie es ihm gefiel. Es hatte ihm gefallen, die Kinder Israels über Generationen unter dem ägyptischen Joch schwitzen und fronen zu lassen. Es hatte ihm gefallen, Joseph in die Sklaverei zu schicken, ihm das feine bunte Gewand vom Leib reißen zu lassen. Es hatte ihm gefallen, den unglücklichen Hiob mit hundert Plagen zu strafen, und es hatte ihm gefallen zuzulassen, daß man seinen eigenen Sohn an einen Balken nagelte und über seinem Kopf einen schlechten Witz anbrachte.
Gott war ein Spieler - wäre er ein Sterblicher gewesen, dann hätte er zu Hause in Hemingford Home auf der Veranda von Pop Manns General Store über einem Schachbrett gesessen. Er spielte Rot gegen Schwarz, Weiß gegen Schwarz. Für ihn, dachte sie, war das Spiel mehr als die Kerze wert, es war die Kerze. Er würde herrschen zu seiner Zeit. Nicht unbedingt in diesem Jahr oder in den nächsten tausend... und sie würde die List des dunklen Mannes und die Verlockung, die er darstellte, nicht unterschätzen. Wenn er Neongas war, dann war sie das winzige dunkle Staubteilchen, über dem sich auf ausgetrocknetem Land eine Regenwolke bildet. Ein weiterer Soldat - wenn auch schon jenseits der Pensionsgrenze! - im Dienst des Herrn.
»Dein Wille geschehe«, sagte sie und griff nach der Packung Erdnüsse in ihrer Schürzentasche. Dr. Staunton, ihr letzter Arzt, hatte ihr gesagt, sie solle salziges Essen meiden, aber was wußte der schon? Sie hatte beide Ärzte überlebt, die sich seit ihrem sechsundachtzigsten Geburtstag angemaßt hatten, sie hinsichtlich ihrer Gesundheit zu beraten, und sie würde Erdnüsse essen, wenn sie welche wollte. Sie taten ihr verflixt am Gaumen weh, aber sie schmeckten doch so köstlich!
Während sie mampfte, kam Ralph Brentner den Weg zu ihrer Tür herauf, den Hut mit der Feder keck auf dem Hinterkopf. Als er an die Verandatür klopfte, nahm er ihn ab.
»Sind Sie wach, Mutter?«
»Das bin ich«, sagte sie mit dem Mund voller Erdnüsse. »Komm rein, Ralph«, sagte sie. »Ich kaue diese Erdnüsse nicht, ich quetsche sie mit dem Gaumen zu Tode.«
Ralph lachte und trat ein. »Draußen vor dem Zaun stehen ein paar Leute, die Sie gern begrüßen wollen, wenn Sie nicht zu müde sind. Sie sind vor ungefähr einer Stunde angekommen. Nette Leute, würde ich sagen. Ihr Anführer ist einer von diesen Langhaarigen, aber er scheint ganz in Ordnung zu sein. Sein Name ist Underwood.«
»Schon gut, bring sie rein, Ralph«, sagte sie.
»Wird gemacht.« Er wandte sich zum Gehen.
»Wo ist Nick?« fragte sie ihn. »Ich habe ihn weder heute noch gestern gesehen. Ist er schon zu vornehm für einfache Leute?«
»Er ist draußen beim Reservoir gewesen«, sagte Ralph. »Er und dieser Elektriker, Brad Kitchner, haben sich das Kraftwerk angesehen.« Er rieb sich an der Nase. »Ich war heute morgen weg. Ich dachte mir, diese Häuptlinge sollten mindestens einen haben, den sie rumkommandieren können.«
Mutter Abagail lachte gackernd. Sie mochte Ralph wirklich. Er war eine einfache Seele, aber lieb. Er hatte ein Gespür dafür, wie etwas lief. Es überraschte sie nicht, daß er es war, der den Sender Freie Zone, wie er von allen genannt wurde, aufgebaut hatte. Er war der Typ Mann, der keine Angst davor hatte, eine Traktorbatterie mit Epoxidkleber zu flicken, wenn sie einen Riß bekam, und wenn das Zeug hielt, dann nahm er den unförmigen Hut ab und kratzte sich den Kahlkopf und grinste wie ein elfjähriger Lausbub, der seine Arbeit erledigt und die Angelrute auf dem Rücken hatte. Er war der Typ, den man gern im Haus hatte, wenn etwas nicht klappte, der aber irgendwie immer bei der Stütze endete, wenn für alle anderen üppige Zeiten herrschten. Er konnte das richtige Ventil an die Fahrradpumpe schrauben, wenn das vorhandene nicht zum Reifen paßte, und er wußte genau, was das komische Summen im Herd verursachte, wenn er ihn nur ansah, aber wenn er es mit einer Stechuhr zu tun hatte, kam er immer zu spät und ging zu früh und wurde deshalb früher oder später gefeuert. Er wußte, daß man Mais mit Schweinemist düngen konnte, wenn man auf die richtige Mischung achtete, und er wußte, wie man Gurken einlegte, aber er würde nie einen Automietvertrag verstehen oder dahinterkommen, wie es den Händlern immer wieder gelang, ihn übers Ohr zu hauen. Bewerbungsunterlagen, die Ralph Brentner ausfüllte, würden immer aussehen wie durch den Wolf gedreht... Rechtschreibfehler, Eselsohren, Tintenkleckse und fettige Fingerabdrücke. Sein Lebenslauf würde aussehen wie ein Schachbrett, das auf einem Kohledampfer rund um die Welt gekommen ist. Aber wenn die Substanz der Welt entzweiriß, dann waren es die Ralph Brentners, die sich nicht schämten zu sagen: »Klatschen wir etwas Kleber rein und warten ab, ob das nicht hält.«
Und in den meisten Fällen hielt es tatsächlich.
»Bist ein guter Kerl, Ralph, weißt du das? Du bist mir schon einer.«
»Sie auch, Mutter. Kein Kerl natürlich, aber Sie wissen schon, was ich meine. Wie auch immer, dieser Redman kam während der Arbeit vorbei. Er wollte mit Nick reden, damit dieser bei irgendeinem Komitee mitmacht.«
»Und was hat Nick gesagt?«
»Och, der hat ein paar Seiten vollgeschrieben. Aber es lief darauf hinaus, wenn es Mutter Abagail recht ist, ist es mir auch recht. Ist es Ihnen recht?«
»Herrje, was sollte denn eine alte Frau wie ich da mitzureden haben?«
»Eine Menge«, sagte Ralph ernst, beinahe schockiert. »Wir sind nur Ihretwegen hier. Ich glaube, wir werden alles machen, was Sie wollen.«
»Ich will nur weiterhin frei leben, wie immer, wie eine Amerikanerin. Ich will nur mitreden, wenn es Zeit dafür ist. Wie eine Amerikanerin.«
»Das werden Sie alles kriegen.«
»Denken die anderen genauso?«
»Jede Wette.«
»Dann ist es ja gut.« Sie schaukelte unbekümmert. »Es wird Zeit, daß sich alle an die Arbeit machen. Einige trödeln hier nur herum. Warten größtenteils nur darauf, daß ihnen jemand sagt, was sie tun sollen.«
»Dann kann ich also weitermachen?«
»Womit?«
»Nick und Stu haben mich gebeten, eine Druckerpresse zu suchen und, wenn möglich, in Betrieb zu nehmen, wenn sie mir Strom besorgen können. Ich habe ihnen gesagt, daß ich keinen Strom brauche. Ich gehe einfach zur High School und suche mir den größten Matritzenkopierer, den ich finden kann. Sie wollen Flugblätter.« Er schüttelte den Kopf. »Also wirklich! Siebenhundert. Dabei sind wir hier nur vierhundert und ein paar Zerquetschte.«
»Und neunzehn draußen am Tor, die wahrscheinlich einen Hitzschlag kriegen, während wir schwatzen. Bring sie rein.«
»Mach ich«, sagte Ralph und ging.
»Und, Ralph?«
Er drehte sich um.
»Druck tausend«, sagte sie.
Sie kamen durch das Tor, das Ralph ihnen aufgemacht hatte, und sie empfand ihre Sünde, die Sünde, die sie für die Mutter aller Sünden hielt. Der Vater aller Sünden war Diebstahl; alle zehn Gebote liefen auf eins hinaus: »Du sollst nicht stehlen.« Mord war Diebstahl von Leben; Ehebruch Diebstahl einer Frau; Begierde der heimliche, schleichende Diebstahl, der tief im Herzen stattfindet. Blasphemie war der Diebstahl von Gottes Namen, aus dem Hause des Herrn entwendet und auf die Gassen geschickt wie eine einherstolzierende Hure. Sie war nie eine nennenswerte Diebin gewesen; hatte schlimmstenfalls hier und da eine Kleinigkeit stibitzt.
Die Mutter der Sünde war Stolz.
Stolz war die weibliche Seite Satans in der menschlichen Rasse, das stille, stets fruchtbare Ei der Sünde. Stolz hatte Moses aus Kanaan ferngehalten, wo die Trauben so groß waren, daß die Männer sie in Schlingen tragen mußten. Wer schlug das Wasser aus dem Felsen, als uns dürstete? hatten die Kinder Israels gefragt, und Moses hatte geantwortet: Ich war es.
Sie war immer eine stolze Frau gewesen. Stolz auf den Fußboden, den sie auf Händen und Knien gewischt hatte (aber wer hatte ihr Hände und Knie und selbst das Wasser gegeben, das sie dazu brauchte?), stolz darauf, daß ihre Kinder alle rechtschaffen geworden waren - keines war je im Gefängnis gewesen, keines Alkohol oder Drogen verfallen, und keines hatte je im falschen Bett herumgemacht -, aber die Mütter von Kindern waren die Töchter Gottes. Sie war stolz auf ihr Leben, aber sie hatte ihr Leben nicht gemacht. Stolz war der Fluch des Willens, und der Stolz hatte seine Launen, wie eine Frau. Mit hundertacht Jahren kannte sie weder alle seine Illusionen, noch war sie über seinen Glanz erhaben.
Und als sie durch das Tor kamen, dachte sie: Mich wollen sie besuchen. Und dieser Sünde folgte eine Reihe blasphemischer Metaphern, die ihr ungewollt in den Sinn kamen: wie sie einer nach dem ändern durch das Tor traten wie Kommunionsempfänger, ihr junger Anführer mit gesenktem Blick, eine hellhaarige Frau an seiner Seite, ein kleiner Junge gleich hinter ihm neben einer dunkeläugigen Frau, in deren schwarzem Haar graue Strähnen zu sehen waren. Die andern in einer Reihe hinter ihnen.
Der junge Mann stieg die Verandastufen hoch, aber seine Frau blieb unten stehen. Sein Haar war lang, wie Ralph gesagt hatte, aber sauber. Außerdem trug er einen beachtlichen rötlichblonden Bart. Er hatte ein energisches Gesicht, aber an der Stirn und um den Mund herum zeigten sich frische Sorgenfalten.
»Es gibt Sie also wirklich«, sagte er leise.
»Nun, das will ich meinen«, sagte sie. »Ich bin Abagail Freemantle, aber die meisten Leute hier nennen mich nur Mutter Abagail. Willkommen bei uns.«
»Danke«, sagte er mit belegter Stimme, und sie sah, daß er mit den Tränen kämpfte. »Ich bin... wir freuen uns, daß wir hier sind. Mein Name ist Larry Underwood.«
Sie streckte ihm die Hand hin, er nahm sie sanft, ehrfürchtig, und sie empfand wieder diesen Anflug von Stolz, diese Halsstarrigkeit. Es war, als glaubte er, sie hätte ein Feuer in sich, das ihn verbrennen konnte.
»Ich... habe von Ihnen geträumt«, sagte er verlegen. Sie lächelte und nickte, und er drehte sich so steif um, daß er fast gestolpert wäre. Er ging mit gebeugten Schultern die Stufen hinunter. Er wird sich entspannen, dachte sie. Jetzt war er hier und würde bald einsehen, daß er nicht die ganze Last der Welt auf seine Schultern nehmen mußte. Ein Mann, der an sich selbst zweifelt, sollte sich nicht zu lange zu sehr anstrengen müssen, erst wenn er die nötige Reife hat, und dieser Mann Larry Underwood war noch ein wenig grün und unfertig. Aber sie mochte ihn.
Seine Frau, ein hübsches kleines Ding mit Augen wie Veilchen, kam als nächste herauf. Sie sah Mutter Abagail kühn, aber nicht spöttisch an. »Ich bin Lucy Swann. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Und sie machte einen kleinen Hofknicks, obwohl sie Hosen anhatte.
»Schön, daß du gekommen bist, Lucy.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich frage... nun...« Sie sah zu Boden und errötete heftig.
»Hundertundacht nach letzter Zählung«, sagte Abagail freundlich.
»Kommen mir manchmal wie zweihundertsechzehn vor.«
»Ich habe von Ihnen geträumt«, sagte Lucy und zog sich verwirrt zurück.
Dann kamen die Frau mit den dunklen Augen und der Junge. Die Frau sah Mutter Abagail ernst und mit festem Blick an; das Gesicht des Jungen zeigte unverhohlenes Erstaunen. Der Junge war in Ordnung. Aber etwas an der Frau berührte sie mit Grabeskälte. Er ist hier, dachte sie. Er ist in Gestalt dieser Frau gekommen... denn siehe, er kommt nicht nur in seiner eigenen Gestalt... Wolf... Krähe... Schlange.
Sie war noch nicht darüber hinaus, Angst um sich selbst zu empfinden, und einen Augenblick dachte sie, diese seltsame Frau mit den weißen Strähnen im Haar würde fast beiläufig die Hand ausstrecken und ihr das Genick brechen. Den einen Augenblick lang, den dieses Gefühl anhielt, bildete sich Mutter Abagail tatsächlich ein, das Gesicht der Frau wäre verschwunden und sie würde in ein Loch in Raum und Zeit sehen, ein Loch, aus dem zwei dunkle und verfluchte Augen sie betrachteten - Augen, die verloren und verzweifelt und hoffnungslos waren.
Aber es war nur eine Frau, nicht er. Der dunkle Mann würde es niemals wagen, selbst hierher zu kommen, nicht einmal in einer fremden Gestalt. Es war nur eine Frau - eine hübsche obendrein - mit ausdrucksvollem, sinnlichem Gesicht, die einen Arm um die Schultern ihres kleinen Jungen gelegt hatte. Sie hatte nur einen Moment einen Tagtraum gehabt. Das mußte es gewesen sein.
Für Nadine Cross brachte dieser Augenblick Verwirrung. Als sie durch das Tor kamen, war alles in Ordnung gewesen. Alles war in Ordnung gewesen, bis Larry angefangen hatte, mit der alten Frau zu sprechen. Dann war ein fast übermächtiges Gefühl des Ekels und Entsetzens über sie gekommen. Die alte Frau konnte... konnte was?
Konnte sehen.
Ja. Sie hatte Angst, die alte Frau könnte in ihr Innerstes sehen, wo die Dunkelheit bereits gesät war und prächtig gedieh. Sie hatte Angst, die alte Frau könnte aus ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda aufstehen, sie demaskieren und verlangen, daß sie und Joe auf der Stelle zu dem gingen (zu ihm), dem sie vorherbestimmt war.
Die beiden betrachteten einander - jede von ihrer eigenen dumpfen Angst erfüllt. Sie schätzten einander ab. Der Augenblick war kurz, aber den beiden kam er sehr lang vor.
Er ist in ihr - der Dämon Satans, dachte Abby Freemantle.
Ihre gesamte Macht sitzt hier vor mir, dachte Nadine ihrerseits. Sie haben nur diese Frau, auch wenn sie vielleicht anderer Meinung sind.
Joe neben ihr wurde unruhig und zog an ihrer Hand.
»Hallo«, sagte sie mit dünner, toter Stimme. »Ich bin Nadine Cross.«
Die alte Frau sagte: »Ich weiß, wer du bist.«
Die Worte hingen in der Luft und schnitten plötzlich durch die anderen Unterhaltungen. Leute drehten sich verwirrt um, ob etwas passierte.
»Wirklich?« sagte Nadine leise. Plötzlich schien ihr, als wäre Joe ihr Schutz, ihr einziger.
Sie schob den Jungen langsam vor sich, wie eine Geisel. Joes seltsame, unheimliche Meerwasseraugen sahen Mutter Abagail an. Nadine sagte: »Dies ist Joe. Kennen Sie ihn auch?«
Mutter Abagail nahm den Blick nicht von den Augen der Frau, die sich Nadine Cross nannte, aber auf ihren Nacken hatte sich eine dünne Schweißschicht gelegt.
»Ich glaube, daß er ebensowenig Joe heißt wie ich Kassandra«, sagte sie, »und ich glaube nicht, daß du seine Mutter bist.« Sie wandte den Blick wie erleichtert dem Jungen zu und konnte das seltsame Gefühl nicht unterdrücken, daß die Frau irgendwie gewonnen hatte - daß sie den kleinen Jungen zwischen sie beide gestellt und benutzt hatte, um sie daran zu hindern, ihre wie auch immer geartete Pflicht zu tun... aber ach, es war so plötzlich gekommen, sie war nicht darauf vorbereitet gewesen!
»Wie heißt du, Kleiner?« fragte sie den Jungen.
Der Junge mühte sich ab, als hätte er einen Knochen im Hals stecken. »Das wird er Ihnen nicht sagen«, meinte Nadine und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Er kann es Ihnen nicht sagen. Ich glaube, er weiß gar ni...«
Joe wehrte die Hand ab, und das schien den Bann zu brechen.
»Leo!« sagte er mit plötzlicher Kraft und großer Klarheit. »Leo Rockway. Das bin ich! Ich heiße Leo!« Und er sprang lachend in Mutter Abagails Arme. Das löste Gelächter und Beifall der Menge aus. Nadine wurde praktisch nicht mehr beachtet, und wieder hatte Abby das Gefühl, daß ein zentraler Fokus, eine wesentliche Chance vorüber war.
»Joe«, rief Nadine. Ihr Gesicht war distanziert und wieder beherrscht.
Der Junge zog sich ein Stück von Mutter Abagail zurück und sah sie an.
»Komm da weg«, sagte Nadine, und jetzt sah sie Abby fest an und sprach nicht zu dem Jungen, sondern direkt zu ihr. »Sie ist alt. Du wirst ihr weh tun. Sie ist sehr alt und... nicht sehr stark.«
»Oh, ich glaube, ich bin kräftig genug, mit so einem Jungen wie ihm ein bißchen zu schmusen«, sagte Mutter Abagail, aber ihre Stimme hörte sich selbst für ihre Ohren seltsam unsicher an. »Sieht so aus, als hätte er viel durchgemacht.«
»Nun, er ist müde. Und Sie sind es auch, wie es aussieht. Komm her, Joe.«
»Ich hab' sie lieb«, sagte der Junge, ohne sich zu bewegen. Darauf schien Nadine zusammenzuzucken. Ihr Tonfall wurde schärfer. »Komm da weg, Joe!«
»Das ist nicht mein Name! Leo! Leo! Das ist mein Name!«
Die kleine Versammlung von Pilgern wurde wieder still und merkte, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war, vielleicht noch geschah; aber sie wußten nicht, was.
Die beiden Frauen kreuzten die Blicke wie Säbelklingen.
Ich weiß, wer du bist, sagten Abbys Augen.
Und die von Nadine antworteten: Ja. Und ich kenne dich.
Aber diesmal war es Nadine, die zuerst wegsah.
»Also gut«, sagte sie. »Leo oder wie du willst. Aber komme jetzt weg, bevor du sie noch müder machst.«
Er löste sich von Mutter Abagail, aber nur widerwillig.
»Du darfst mich besuchen, wann du willst«, sagte Abby, aber ihr Blick schloß Nadine nicht ein.
»Okay«, sagte der Junge und warf ihr eine Kußhand zu. Nadines Gesicht war wie versteinert. Sie sagte nichts. Als sie die Verandastufen hinuntergingen, schien der Arm, den Nadine ihm um die Schultern gelegt hatte, eher eine Kette als ein Trost zu sein. Mutter Abagail sah die beiden gehen und merkte, daß sie den Fokus wieder verlor. Als sie das Gesicht der Frau nicht mehr sah, wurde das Gefühl der Offenbarung verschwommen. Sie war nicht mehr sicher, was sie empfunden hatte. Nadine war nur eine Frau ... oder nicht?
Der junge Mann, Underwood, stand am Fuß der Stufen; sein Gesicht glich einer Gewitterwolke.
»Warum hast du dich so benommen?« fragte er sie, und obwohl er mit gedämpfter Stimme sprach, konnte Mutter Abagail ihn immer noch deutlich verstehen.
Die Frau beachtete ihn nicht. Sie ging ohne ein Wort an ihm vorbei. Der Junge sah Underwood flehentlich an, aber die Frau hatte das Sagen, wenigstens vorübergehend, und der kleine Junge ließ sich von ihr fortziehen, von ihr wegbringen.
Es folgte ein Augenblick der Stille, und plötzlich vermochte sie die Stille nicht zu unterbrechen, obwohl sie unterbrochen werden mußte...
...oder nicht?
War es ihre Aufgabe, sie zu unterbrechen?
Und eine Stimme fragte leise: Ist es so? Ist das deine Aufgabe? Hat Gott dich deshalb hierhergebracht, Frau? Als offizielles Begrüßungskomitee an den Pforten der Freien Zone?
Ich kann nicht denken, wandte sie ein. Die Frau hat recht gehabt: Ich BIN müde.
Er kommt in mehr Gestalten als seiner eigenen, beharrte die leise innere Stimme. Wolf, Krähe, Schlange... Frau.
Was bedeutete es? Was war hier geschehen? Was, in Gottes Namen?
Ich habe selbstgefällig hier gesessen und darauf gewartet, daß man den Kotau vor mir macht - ja, das habe ich getan, hat keinen Zweck, es zu leugnen -, und nun ist diese Frau gekommen, etwas ist geschehen, und ich weiß nicht mehr, was es war. Aber mit dieser Frau war etwas... war was? Bist du sicher? Bist du sicher?
Eine Weile herrschte Schweigen, und alle schienen sie anzusehen und darauf zu warten, daß sie sich beweise. Und sie tat es nicht. Die Frau und der Junge waren verschwunden; sie waren gegangen, als wären sie die wahren Gläubigen und sie selbst nur eine schäbige grinsende Pharisäerin, die sie sofort durchschaut hatten.
Oh, aber ich bin alt! Es ist nicht fair!
Und dann auf den Fersen eine andere Stimme, dünn und leise, eine Stimme, die nicht ihre eigene war: Nicht zu alt, um zu wissen, diese Frau ist...
Jetzt hatte sich ihr ein anderer Mann auf zögernde, unterwürfige Weise genähert. »Mutter Abagail«, sagte er. »Mein Name ist Zellman. Mark Zellman. Aus Lowville, New York. Ich habe von Ihnen geträumt.«
Und sie sah sich plötzlich vor einer Entscheidung, die sich nur einen Augenblick deutlich in ihrem suchenden Verstand abzeichnete. Sie konnte diesen Mann begrüßen und ein wenig mit ihm plaudern, damit er beruhigt war (aber nicht allzu beruhigt; das wollte sie nicht), und dann konnte sie sich den nächsten und den nächsten und nächsten widmen und ihre Huldigungen entgegennehmen wie frische Palmenblätter, oder sie konnte ihn und den Rest ignorieren. Sie konnte dem Faden ihrer Gedanken bis in ihr tiefstes Inneres folgen, um zu erfahren, was der Herr sie wissen lassen wollte.
Die Frau ist...
...was?
War es wichtig? Die Frau war weg.
»Ich hatte einen Großneffen, der im Staat New York lebte«, sagte sie im Plauderton zu Mark Zellman. »Die Stadt heißt Rouse's Point.
Liegt am Lake Champlain, direkt an der Grenze zu Vermont. Wahrscheinlich noch nie gehört, oder?«
Mark Zellman sagte, sicher habe er von ihr gehört; fast jeder im Staat New York kannte die Stadt. War er schon einmal dort gewesen? Er verzog betrübt das Gesicht. Nein, nie. Aber er wollte schon immer mal.
»Nach dem was Ronnie in seinen Briefen geschrieben hat, hast du nicht viel versäumt«, sagte sie, und Zellman ging strahlend davon. Die anderen kamen nacheinander, um ihre Aufwartung zu machen, wie andere Gruppen vor ihnen und wie es in den nächsten Tagen und Wochen noch viele tun sollten. Ein halbwüchsiger Junge namens Tony Donahue. Ein Bursche namens Jack Jackson, Automechaniker. Eine junge Krankenschwester namens Laurie Constable - die kam gut zupaß. Ein alter Mann namens Richard Farris, den alle Richter nannten; er sah sie so durchdringend an, dass sie sich wieder ein wenig unbehaglich fühlte. Dick Vollman. Sandy DuChiens - hübscher Name, französisch. Harry Dunbarton, ein Mann, der noch vor drei Monaten Brillen verkauft hatte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Andrea Terminello. Ein Smith. Ein Rennett. Sie sprach mit ihnen allen und nickte und lächelte und beruhigte sie, aber das Vergnügen, das sie sonst dabei empfunden hatte, wollte sich heute nicht einstellen, und sie spürte nur die Schmerzen in Fingern und Knien und den durchdringenden Verdacht, daß sie das Port-O-San aufsuchen sollte, und zwar schnell, wenn sie nicht ihr Kleid beschmutzen wollte.
Dazu das Gefühl, das langsam verblaßte (und bei Einbruch der Nacht völlig verschwunden sein würde), daß ihr etwas von großer Wichtigkeit entgangen war und ihr dies später noch sehr leid tun würde.
Er konnte besser denken, wenn er schrieb, daher kritzelte er alles möglicherweise Wichtige in groben Zügen mit zwei Filzstiften nieder: einem blauen und einem schwarzen. Nick Andros saß im Arbeitszimmer des Hauses am Baseline Drive, das er gemeinsam mit Ralph Brentner und Ralphs Frau Elise bewohnte. Es war fast dunkel. Das Haus war sehr schön, es lag am Fuße des Flagstaff Mountain, aber doch ein Stück oberhalb von Boulder, so daß man durch das große Fenster im Wohnzimmer die Straßen der Stadt wie ein riesiges Spielbrett unter sich liegen sah. Das Fenster war draußen mit einer Art reflektierenden Schicht überzogen, so dass man zwar hinaus -, Passanten aber nicht hereinsehen konnten. Nick schätzte, daß das Haus in der Preisklasse um 450000 bis 500000 Dollar liegen mußte... und der Hausherr und seine Familie waren merkwürdigerweise nicht da.
Auf seiner langen Reise von Shoyo nach Boulder, zuerst allein, dann mit Tom Cullen und den anderen, war er durch Hunderte von Städten und größeren Ortschaften gekommen, und alle waren stinkende Leichenhäuser gewesen. Boulder hätte nicht anders sein dürfen... aber es war anders. Es gab Leichen hier, ja, Tausende, und man mußte etwas unternehmen, bevor die heißen, trockenen Tage vorüber waren und die Regenfälle einsetzten, die schnellere Verwesung und möglicherweise Krankheiten verursachten... aber es waren nicht genug Leichen. Nick fragte sich, ob es außer ihm und Stu Redman anderen aufgefallen war... Lauder vielleicht. Lauder fiel fast alles auf.
Für jedes Haus oder öffentliche Gebäude, in dem es von Leichen wimmelte, gab es zehn andere, die völlig leer waren. Irgendwann während der letzten Tage der Seuche waren die meisten Bürger von Boulder, krank oder gesund, aus der Stadt abgehauen. Warum? Nun, vielleicht war es nicht wichtig, und vielleicht würden sie es nie erfahren. Die unheimliche Tatsache blieb, daß Mutter Abagail sie einfach zu der vielleicht einzigen kleinen Stadt in den Vereinigten Staaten geführt hatte, aus der die Opfer der Seuche verschwunden waren. Das reichte aus, daß selbst ein Agnostiker wie er sich fragte, woher sie ihre Informationen bekam.
Nick hatte drei Zimmer im Souterrain des Hauses genommen, hübsche Zimmer mit Möbeln aus Kiefernholz. Kein Drängen von Seiten Ralphs hatte ihn bewegen können, seinen Lebensraum zu vergrößern - er kam sich schon wie ein Störenfried vor, aber er hatte sie gern... vor der Reise von Shoyo nach Hemingford Home war ihm gar nicht klargeworden, wie sehr ihm andere Gesichter gefehlt hatten. Und sein Nachholbedarf war noch nicht gedeckt.
Die Wohnung war auch so die schönste, in der er je gewohnt hatte. Er hatte einen eigenen Eingang, die Hintertür, und er parkte sein Zehngangrad unter dem überstehenden Erker über der Tür, wo es bis zu den Speichen in Generationen duftender verwesender Espenblätter stand. Er hatte den Grundstock für eine Büchersammlung gelegt, die er sich immer gewünscht hatte, aber in den Jahren seiner Wanderschaft nicht hatte zulegen können. Damals war er ein fleißiger Leser gewesen (heutzutage schien er kaum einmal soviel Zeit zu haben, daß er sich lange mit einem guten Buch hinsetzen konnte), und manche der Bücher, die auf den Regalen standen - Regalen, welche größtenteils noch leer waren -, waren alte Freunde, manche hatte er erstmals für zwei Cent pro Tag aus Leihbüchereien geliehen; in den zurückliegenden Jahren hatte er nie lange genug in einer Stadt gelebt, sich einen regulären Leihausweis zu besorgen. Andere Bücher hatte er noch nicht gelesen; es waren Bücher, auf die ihn die Ausleihkataloge der Bibliotheken gebracht hatten. Während er mit Filzstiften und Schreibpapier dasaß, lag so ein Buch neben seiner rechten Hand auf dem Schreibtisch - Set This House on Fire von William Styron. Er hatte die Stelle, wo er war, mit einem Zehndollarschein markiert, den er auf der Straße gefunden hatte, wo ihn der Wind in den Rinnstein wehte, und er war immer noch überrascht und amüsiert, wie viele Menschen - er selbst eingeschlossen - noch stehenblieben und sich danach bückten. Und warum? Bücher waren jetzt umsonst. Einfälle waren umsonst. Manchmal begeisterte ihn dieser Gedanke. Manchmal machte er ihm Angst.
Das Papier, auf dem er schrieb, war in einem Ringbuch, in dem er alle Gedanken aufschrieb - der Inhalt des Ringbuchs war halb Tagebuch und halb Einkaufsliste. Er hatte festgestellt, daß er in Listen geradezu vernarrt war; er dachte, einer seiner Vorfahren mußte Buchhalter gewesen sein. Er hatte festgestellt, wenn man Sorgen hatte, schwanden diese häufig, wenn man eine Liste erstellte.
Er wandte sich wieder der leeren Seite vor sich zu und kritzelte müßig auf den Rand.
Ihm schien, als wäre alles, was sie heute noch aus dem alten Leben wollten oder brauchten, im stummen Kraftwerk in East Boulder gelagert, wie verstaubte Schätze in einem dunklen Schrank aufbewahrt wurden. Ein unbehagliches Gefühl schien sich unter den Leuten breitzumachen, die sich in Boulder versammelt hatten, ein Gefühl dicht unter der Oberfläche - sie waren wie ängstliche Kinder, die sich nach Einbruch der Dunkelheit im hiesigen Spukhaus herumtrieben. In gewisser Weise glich der Ort einer widerlichen Geisterstadt. Es herrschte ein Gefühl vor, daß der Aufenthalt hier nur vorübergehend war. Sie hatten einen Mann unter sich, einen Burschen namens Impening, der früher als Aufseher in der IBMNiederlassung an der Boulder-Longmont-Diagonale gearbeitet hatte. Impening schien es darauf angelegt zu haben, Unruhe zu stiften. Er lief herum und erzählte den Leuten, daß am 14. September 1974 in Boulder fünf Zentimeter Schnee gelegen hatten und es im November schon so kalt sein konnte, daß einem Messingaffen die Eier abfroren. Solchem Gerede hätte Nick gern ein schnelles Ende bereitet. Wenn Impening in der Armee gewesen wäre, hätte man ihn wegen solcher Panikmache unehrenhaft entlassen; aber das war eine leere Logik, wenn es überhaupt eine war. Wichtig war, dass Impening mit seinem Gerede nichts ausrichten würde, wenn die Leute in Häuser ziehen konnten, in denen das Licht funktionierte und die Heizung auf Knopfdruck heiße Luft in die Räume blies. Wenn das vor dem ersten Kälteeinbruch nicht erreicht war, würden die Leute sich einfach davonmachen, fürchtete Nick, und alle Versammlungen und Repräsentanten und Ratifizierungen der Welt würden sie nicht aufhalten können.
Laut Ralph war im Kraftwerk kein erheblicher Schaden entstanden, jedenfalls kein sichtbarer. Das Personal hatte einige Maschinen abgestellt, andere hatten sich selbsttätig ausgeschaltet. Zwei oder drei große Turbinenmotoren waren durchgeschmort, wahrscheinlich als Folge eines letzten starken Stromstoßes. Ralph sagte, ein paar Kabel müßten ausgewechselt werden, aber er dachte, er und Brad Kitchner und ein Team von einem Dutzend Männern könnten das hinkriegen. Ein weitaus größerer Arbeitstrupp war erforderlich, um verschmorte, schwarze Kupferleitungen aus den durchgebrannten Motoren zu entfernen und meterweise neuen Kupferdraht einzuziehen. In den Großhandlungen in Denver lag genügend Kupferdraht bereit; Ralph und Brad waren letzte Woche einen Tag dort gewesen und hatten sich selbst vergewissert. Mit genügend Arbeitskräften glaubten sie, den Strom bis zum Labor Day wieder einschalten zu können.
»Und dann feiern wir die größte Party, die diese verdammte Stadt je gesehen hat«, sagte Brad.
Recht und Gesetz. Das war auch etwas, was ihm Sorgen machte. Konnte man Stu Redman diese Last aufbürden? Er würde den Job nicht wollen, aber Nick glaubte, er könnte Stu dazu überreden... und wenn es hart auf hart ging, würde er Stus Freund Glen bitten, ihm zu helfen. Was ihn wirklich quälte, war die noch zu frische und schmerzliche Erinnerung an seine eigene kurze und schlimme Zeit als Kerkermeister von Shoyo, an die er lieber nicht denken mochte. Vince und Billy im Sterben, Mike Childress, der wie wild immer auf sein Essen sprang und trotzdem schrie: Hungerstreik! Ich trete in den Hungerstreik!
Der Gedanke, daß sie vielleicht Gerichte und Gefängnisse brauchen würden und womöglich sogar einen Henker, tat ihm im Innersten weh. Herrgott, es waren Mutter Abagails Leute, nicht die des dunklen Mannes! Aber er vermutete, daß sich der dunkle Mann nicht mit trivialen Dingen wie Gerichten und Gefängnissen abgeben würde. Seine Strafen waren schnell und wirksam und schwer. Er mußte nicht mit dem Gefängnis drohen, wenn die Leichen an der 115 an Kreuzen aus Telegrafenmasten hingen - ein Fressen für die Vögel. Nick hoffte, daß es nur zu geringfügigen Übertretungen kommen würde. Es hatte schon einige Fälle von Trunkenheit und Randaliererei gegeben. Ein Junge, der zu jung zum Fahren war, war mit einem schweren Schlepper den Broadway auf- und abgefahren und hatte die Leute von der Straße gescheucht. Zuletzt war er auf einen parkenden Bäckereiwagen gefahren und hatte sich die Stirn aufgeschlagen - und hatte noch Glück gehabt, daß er so glimpflich davongekommen war, fand Nick. Die Leute, die ihn gesehen hatten, wußten, daß er zu jung war, aber keiner hatte sich befugt gefühlt, ihn aufzuhalten.
Autorität. Organisation. Er schrieb diese Worte auf einen Block und kreiste sie zweimal ein. Daß sie Mutter Abagails Leute waren, machte sie nicht immun gegen Schwäche, Dummheit oder schlechte Gesellschaft. Nick wußte nicht, ob sie die Kinder Gottes waren oder nicht, aber als Moses vom Berg herabgekommen war, hatten diejenigen, die nicht gerade das goldene Kalb anbeteten, emsig Würfel gespielt, das wußte er. Und sie mußten mit der Möglichkeit rechnen, daß irgend jemand beim Kartenspiel erstochen wurde oder jemanden wegen einer Frau erschoß.
Autorität. Organisation. Er kreiste die Worte noch einmal ein, und jetzt sahen sie wie Gefangene hinter einer dreifachen Umzäunung aus. Wie gut sie zueinander paßten... und wie traurig sie klangen.
Wenig später kam Ralph herein. »Morgen kommen wieder ein paar Leute, Nicky, und übermorgen eine ganze Prozession. Die zweite Gruppe besteht aus mehr als dreißig Leuten.«
»Gut«, schrieb Nick. »Ich wette, früher oder später bekommen wir auch einen Arzt. Behauptet das Gesetz der Wahrscheinlichkeit.«
»Ja«, sagte Ralph. »Wir werden zu einer regelrechten Stadt.«
Nick nickte.
»Ich habe mit dem Burschen gesprochen, der die heutige Gruppe angeführt hat. Sein Name ist Larry Underwood. Kluger Mann, Nick. Messerscharf. «
Nick zog die Brauen hoch und zeichnete ein »?« in die Luft.
»Nun, mal sehen«, sagte Ralph. Er wußte, was das Fragezeichen bedeutete: gib mir mehr Informationen, wenn du kannst. »Ich glaube, er ist sechs oder sieben Jahre älter als du, und vielleicht acht oder neun jünger als Redman. Aber er ist der Typ Mann, nach dem wir, wie du gesagt hast, Ausschau halten sollen. Er stellt die richtigen Fragen.«
»?«
»Zunächst einmal, wer das Sagen hat«, antwortete Ralph. »Dann, was als nächstes kommt. Drittens, wer es macht.«
Nick nickte. Ja - die richtigen Fragen. Aber war er der richtige Mann? Ralph konnte recht haben. Aber vielleicht auch nicht.
»Ich will versuchen, morgen zu ihm zu gehen & Hallo zu sagen«, schrieb er auf ein frisches Blatt Papier.
»Ja, das solltest du. Er ist in Ordnung.« Ralph trat von einem Bein aufs andere. »Und ich hab' mich ein wenig mit Mutter Abagail unterhalten, bevor dieser Underwood und seine Leute sich vorgestellt haben. Hab' mit ihr geredet, wie du gesagt hast.«
»?«
»Sie sagt, wir sollen weitermachen. Anfangen. Sie sagt, die Leute lungern herum und brauchen jemand, der ihnen sagt, was zu tun ist.«
Nick lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte stumm. Dann schrieb er: »Dachte mir, daß sie so denkt. Ich rede morgen mit Stu & Glen. Hast du die Handzettel gedruckt?«
»Oh! Die! Scheiße, ja«, sagte Ralph. »Herrgott, das habe ich fast den ganzen Nachmittag lang getrieben.« Er zeigte Nick ein Muster. Der Druck, der noch nach Matritzenspiritus roch, war groß und auffällig. Ralph hatte das Layout selbst gemacht:
MASSENVERSAMMLUNG!!!
NOMINIERUNG UND WAHL
DES REPRÄSENTANTENAUSSCHUSSES!
18. August 1990, 20:30 Uhr
Ort: Canyon Boulevard Park & Musikpavillon bei GUTEM
Chautauqua Hall im Chautauqua Park bei SCHLECHTEM Wetter.
IM ANSCHLUSS AN DIE VERSAMMLUNG
WERDEN ERFRISCHUNGEN GEREICHT
Darunter waren für Neuankömmlinge und Leute, die sich in Boulder noch nicht umgesehen hatten, zwei provisorische Stadtpläne gezeichnet. Darunter, in kleiner Schrift, die Namen, auf die er, Stu und Glen sich nach längerer Diskussion im Laufe des Tages geeinigt hatten:
Ad-hoc-Komitee
Nick Andros
Glen Bateman
Ralph Brentner
Richard Ellis
Fran Goldsmith
Stuart Redman
Susan Stern
Nick deutete auf die Zeile über die Erfrischungen und zog die Brauen hoch.
»Ach, ja, Frannie kam vorbei und sagte, die Leute würden eher kommen, wenn wir ihnen etwas anbieten. Sie und ihre Freundin Patty Kroger wollen sich darum kümmern. Kuchen und Za-Rex.«
Ralph verzog das Gesicht. »Wenn ich die Wahl hätte, Za-Rex oder Bullenpisse zu saufen, müßte ich mich hinsetzen und nachdenken. Kannst meins haben, Nick.«
Nick grinste.
»Was mich wirklich stört«, fuhr Ralph ernsthafter fort, »ist, daß ihr mich in dieses Komitee steckt. Ich weiß, was das Wort bedeutet. Es bedeutet: >Herzlichen Glückwunsch, du mußt die ganze harte Arbeit machen.< Das würde mir nichts ausmachen, ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Aber Komitees brauchen Einfälle, und damit hapert es bei mir.«
Nick zeichnete schnell ein CB-Funkgerät auf den Block und im Hintergrund einen Sendeturm, von dessen Spitze elektrische Blitze zuckten.
»Ja, aber das ist etwas ganz anderes«, sagte Ralph finster.
»Du schaffst es«, schrieb Nick. »Glaub mir.«
»Wenn du es sagst, Nicky. Ich werd's versuchen. Aber ich glaube immer noch, daß ihr mit diesem Underwood besser bedient wärt,«
Nick schüttelte den Kopf und klopfte Ralph auf die Schulter. Ralph sagte gute Nacht und ging nach oben. Als er gegangen war, studierte Nick lange nachdenklich das Flugblatt. Falls Stu und Glen schon Exemplare gesehen hatten - und er war sicher, daß -, dann wußten sie, daß er von sich aus Harold Lauders Namen von der Liste gestrichen hatte. Er wußte nicht, wie sie es aufnehmen würden, aber die Tatsache, daß sie ihn noch nicht aufgesucht hatten, war wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Sie erwarteten vermutlich einen Kuhhandel von ihm, und falls erforderlich, würde er sich darauf einlassen, damit Harold nicht in die Führungsspitze kam. Notfalls würde er ihnen Ralph geben. Ralph wollte die Position sowieso nicht, aber verdammt, Ralph hatte so viel praktischen Verstand und ein unbezahlbares Talent, Probleme zu knacken. Er wäre der Richtige für ein ständiges Komitee, und Nick hatte das Gefühl, daß Stu und Glen das Komitee ohnehin schon mit ihren Freunden vollgepackt hatten. Wenn er, Nick, Lauder nicht haben wollte, mußten sie einfach mitmachen. Wenn sie diesen Führungscoup durchziehen wollten, durfte es keine Uneinigkeit unter ihnen geben. Sag mal, Mom, wie hat der Mann das Kaninchen aus dem Hut geholt? Nun, mein Sohn, ich bin nicht sicher, aber ich glaube, er könnte das alte Ablenkungsmanöver mit Kuchen und Za-Rex benützt haben. Das klappt einfach immer.
Er wandte sich wieder der Seite zu, auf der er gekritzelt hatte, als Ralph hereingekommen war. Er betrachtete die Worte, die er nicht nur einmal, sondern gleich dreimal eingekreist hatte, als wollte er verhindern, daß sie rauskonnten. Autorität. Organisation. Plötzlich schrieb er noch eines darunter - es hatte gerade noch Platz. Jetzt lauteten die Worte im dreifachen Kreis:
Autorität. Organisation. Politik.
Aber er versuchte nicht, Lauder hinauszudrängen, weil er meinte, daß Stu und Glen Bateman das Spielzeug an sich reißen wollten, das eigentlich ihm gehörte. Klar, er war ein wenig beleidigt. Anders wäre es auch befremdlich gewesen. In gewisser Weise hatten er, Ralph und Mutter Abagail die Freie Zone Boulder ja gegründet.
Es sind mittlerweile Hunderte Menschen hier und Tausende auf dem Weg, wenn Bateman recht hat, dachte er und tippte mit dem Filzstift auf die eingekreisten Wörter. Je länger er sie betrachtete, desto häßlicher kamen sie ihm vor. Aber als Ralph und ich und Mutter Abagail und Tom Cullen und der Rest unserer Gruppe hierhergekommen sind, lebten hier nur Katzen und das Wild, das vom Nationalpark heruntergekommen war, um sich in den Gärten der Leute gütlich zu tun... und sogar in den Läden. Wie das Reh, das irgendwie in den Table-Mesa-Supermarkt hinein-, aber nicht mehr herausgekommen war. Es lief wie irrsinnig durch die Gänge, stiess die Waren um, fiel hin, rappelte sich auf und lief weiter.
Klar, wir sind Spätzünder, wir sind noch keinen Monat hier, aber wir waren die ersten! Es besteht eine gewisse Kränkung, aber gekränkte Eitelkeit ist nicht der Grund, warum ich Harold nicht dabeihaben will. Ich will ihn nicht, weil ich ihm nicht traue. Er lächelt andauernd, aber er hat ein wasserdichtes
(lächeldichtes?)
Dach zwischen Mund und Augen. Es hat einmal Spannungen zwischen ihm und Stu gegeben, wegen Frannie; sie sagen zwar alle drei, das ist vorbei, aber ich frage mich, ob es wirklich vorbei ist. Manchmal blickt Frannie Harold an, als wäre ihr nicht ganz wohl dabei. Sie sieht aus, als wollte sie wissen, wie »vorbei« dieses vorbei wirklich ist. Er ist schlau, aber ich finde, er ist unzuverlässig.
Nick schüttelte den Kopf. Das war nicht alles. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob Harold Lauder nicht verrückt war.
Es liegt hauptsächlich an diesem Grinsen. Ich will keine Geheimnisse mit jemandem teilen müssen, der so grinst und aussieht, als würde er nachts nicht gut schlafen.
Nein, Lauder. Dem müssen sie sich fügen.
Nick schlug das Ringbuch zu und verstaute es in der untersten Schublade seines Schreibtischs. Dann stand er auf und zog sich aus. Er wollte duschen. Er kam sich irgendwie schmutzig vor. Die Welt, dachte er, nicht wie Garp sie sah, sondern wie sie nach der Supergrippe war. Diese schöne neue Welt. Aber ihm kam sie nicht besonders schön vor, und besonders neu auch nicht. Es war, als hätte jemand einen großen Kanonenschlag in die Spielzeugkiste eines Kindes geworfen. Nach dem großen Knall war alles in alle Richtungen geflogen. Spielzeuge waren von einem Ende des Kinderzimmers bis zum anderen verstreut. Manche waren irreparabel kaputt, andere konnte man wieder richten, aber größtenteils war eben alles verstreut. Es war noch so heiß, daß man es nicht anfassen konnte, aber wenn es abgekühlt war, würde alles gut werden.
Derweil bestand die Aufgabe darin, alles auszusortieren: Die Sachen wegzuwerfen, die nicht mehr gut waren. Die Spielzeuge beiseite zu legen, die man reparieren konnte. Alles aufzulisten, was noch einwandfrei war. Eine neue Spielzeugkiste zu besorgen, in der man alles verstauen konnte, eine schöne neue Spielzeugkiste. Eine starke Spielzeugkiste. Es hat eine erschreckende, ekelerregende Leichtigkeit - und deutliche Faszination -, wie man etwas hochjagen kann. Schwer ist nur, alles wieder zusammenzusetzen. Das Sortieren. Das Reparieren. Das Auflisten. Und natürlich alles wegwerfen, was nichts mehr taugt.
Aber... konnte man es überhaupt über sich bringen, die Sachen wegzuwerfen, die nichts mehr taugten?
Nick blieb nackt, mit den Kleidungsstücken in der Hand, auf halbem Weg zum Badezimmer stehen.
Oh, die Nacht war so still... aber waren nicht alle seine Nächte Symphonien der Stille? Warum hatte er plötzlich Gänsehaut am ganzen Körper?
Weil ihm plötzlich bewußt geworden war, daß das Komitee der Freien Zone keine Spielzeuge aufsammeln würde, ganz und gar keine Spielzeuge. Ihm war plötzlich, als wäre er Mitglied eines bizarren Nähkreises des menschlichen Geistes - er und Redman und Bateman und Mutter Abagail, ja, selbst Ralph mit seinem großen Funkgerät und der Sendeanlage, die das Signal der Freien Zone weit über den toten Kontinent strahlte. Sie hatten alle eine Nadel, und sie arbeiteten vielleicht zusammen, damit sie eine warme Decke für den kalten Winter nähen konnten... oder vielleicht hatten sie auch nur nach längerer Pause angefangen, ein großes Leichentuch für die menschliche Rasse zu nähen, fingen mit der Arbeit bei den Zehen an und arbeiteten sich langsam nach oben.
Nach dem Liebesakt war Stu eingeschlafen. Er hatte in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, und gestern nacht war er mit Glen Bateman aufgeblieben, hatte sich betrunken und Pläne für die Zukunft gemacht. Frannie hatte den Morgenmantel angezogen und war auf den Balkon herausgekommen.
Das Gebäude, in dem sie wohnten, lag in der Innenstadt Ecke Pearl Street und Broadway. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, und unten konnte sie die Straßenkreuzung sehen; Pearl verlief von Osten nach Westen, Broadway von Norden nach Süden. Ihr gefiel es hier. Sie hatten alle vier Himmelsrichtungen. Die Nacht war warm und windstill, der schwarze Stein des Himmels trug die Makel von Millionen Sternen. In deren schwachem, eisigem Licht sah Fran die Felsen der Flatirons im Westen aufragen.
Sie strich mit der Hand vom Hals bis zu den Schenkeln. Der Morgenmantel, den sie anhatte, war aus Seide, darunter war sie nackt. Die Hand glitt über die Brüste, aber anstatt flach bis zur leichten Wölbung des Schambeins zu streichen, wanderte die Hand über eine Kurve des Bauchs, die vor zwei Wochen noch nicht so deutlich gewesen war.
Man sah es, noch nicht sehr, aber Stu hatte heute abend eine Bemerkung gemacht. Seine Frage war beiläufig gewesen, sogar komisch: Wie lange können wir es noch treiben, ohne daß ich ihn, äh, drücke?
Oder sie, hatte sie amüsiert geantwortet. Was hältst du von vier Monaten, Großer Häuptling?
Prima, hatte er geantwortet und war lustvoll in sie eingedrungen. Vorher hatten sie sich ernsthafter unterhalten. Kurz nach ihrer Ankunft in Boulder hatte Stu ihr gesagt, daß er mit Glen über das Baby gesprochen und Glen vorsichtig angedeutet hatte, daß der Virus oder Erreger der Supergrippe immer noch virulent sein könnte. Wenn ja, könnte das Baby sterben. Das war ein beunruhigender Gedanke (man konnte sich immer auf Glen Bateman verlassen, dachte sie, wenn es um einen beunruhigenden Gedanken ging), aber wenn die Mutter immun war, müßte das Baby doch auch...? Aber viele Leute hatten Kinder durch die Seuche verloren.
Ja, aber das würde bedeuten...
Was würde es bedeuten?
Nun, zunächst könnte es bedeuten, daß alle Menschen hier nur einen Epilog auf die Menschheit darstellten, eine kurze Nachstrophe. Sie wollte das nicht glauben, konnte es nicht glauben. Wenn es stimmte...
Jemand kam die Straße entlang, drehte sich zur Seite und zwängte sich zwischen der Wand eines Restaurants namens Pearl Street Kitchen und einem Wagen von der Müllabfuhr durch, der mit zwei Reifen auf dem Gehweg liegengeblieben war. Die Gestalt hatte sich eine leichte Jacke über eine Schulter gehängt und trug in einer Hand etwas, das eine Flasche oder ein Revolver mit langem Lauf war. In der anderen Hand hatte er einen Zettel, wahrscheinlich mit einer Adresse, so wie er die Hausnummern verglich. Schließlich blieb er vor ihrem Gebäude stehen. Er sah sich die Tür an, als würde er überlegen, was er als nächstes tun sollte. Frannie fand, er sah wie ein Detektiv in einer alten Fernsehserie aus. Sie stand keine sechs Meter über seinem Kopf und steckte in einer typischen Klemme. Rief sie ihm etwas zu, erschreckte sie ihn vielleicht. Rief sie nicht, klopfte er vielleicht und weckte Stuart. Und was wollte er mit einem Revolver in der Hand... wenn es ein Revolver war?
Plötzlich drehte er den Hals und blickte hoch, wahrscheinlich, um zu sehen, ob irgendwo im Haus noch Eicht brannte. Frannie schaute immer noch nach unten. Sie sahen einander genau in die Augen.
»Heiliger Himmel!« rief der Mann auf dem Gehweg. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, geriet vom Bordstein in den Rinnstein und setzte sich ziemlich unsanft hin.
» Oh «, sagte Frannie im selben Augenblick und wich auf dem Balkon ebenfalls einen Schritt zurück. Hinter ihr stand ein Ragwurz in einer großen Keramikvase auf einem Schemel. Frannie stieß mit der Kehrseite dagegen. Die Vase kippte, beschloß um ein Haar, noch ein Weilchen länger zu leben, und stürzte sich dann laut klirrend auf den Fliesen des Balkonbodens zu Tode.
Im Schlafzimmer grunzte Stu, drehte sich um und war wieder still. Frannie begann, wie nicht anders zu erwarten, zu kichern. Sie preßte beide Hände auf den Mund und kniff sich heftig in die Lippen, aber sie kicherte trotzdem weiter, eine Serie von rauhen Flüsterlauten. Grace schlägt wieder zu, dachte sie und kicherte flüsternd in die hohlen Hände. Wenn er mit einer Gitarre gekommen wäre, hätte ich ihm die verdammte Vase auf den Kopf werfen können. O Sole Mio... RUMS! Der Bauch tat ihr weh, so sehr bemühte sie sich, das Kichern zu unterdrücken.
Ein verschwörerisches Flüstern drang von unten herauf: »He, Sie... Sie auf dem Balkon... pssst!«
»Pssst«, flüsterte Frannie zu sich. »Pssst, Wahnsinn!«
Sie mußte hier weg, bevor sie ih-aahte wie ein Esel. Sie hatte das Lachen noch nie zurückhalten können, wenn es einmal über sie gekommen war. Sie huschte durch das dunkle Schlafzimmer, nahm vom Haken an der Badezimmertür eine solidere - und keuschere - Umhüllung, die sie sich überstreifte, während sie den Flur entlanglief und dabei das Gesicht wie eine Gummimaske verzog. Sie kam auf den Treppenabsatz hinaus und die erste Stufenflucht hinunter, dann brach das Lachen ungehindert aus ihr heraus. Die letzten beiden Treppenfluchten ging sie hemmungslos wiehernd hinunter. Der Mann - ein junger Mann, wie sie jetzt sah - war inzwischen aufgestanden und klopfte sich ab. Er war schlank und gut gebaut, das Gesicht von einem Bart größtenteils verdeckt, der bei Tageslicht blond oder möglicherweise wie roter Sand aussehen mochte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, lächelte aber ein wenig kläglich.
»Was haben Sie umgestoßen?« fragte er. »Hat sich angehört wie ein Klavier.«
»Eine Vase«, sagte sie. »Sie... Sie...« Aber dann kam das Kichern wieder, und sie konnte nur mit dem Finger auf ihn deuten und leise lachen und den Kopf schütteln und sich den schmerzenden Bauch halten. Tränen kullerten ihr die Wangen hinab. »Sie haben zu komisch ausgesehen... Ich weiß, das sollte man nicht zu jemand sagen, den man gerade kennengelernt hat, aber... Herrje! Es ist nunmal so!«
»Wären dies die alten Zeiten«, sagte er grinsend, »wäre mein nächster Schritt, Sie auf mindestens eine Viertelmillion zu verklagen. Auf Teufel komm raus. Richter, ich habe nach oben gesehen, und diese junge Frau hat auf mich heruntergeblickt. Ja, ich glaube, sie hat mir ein Gesicht geschnitten. Jedenfalls hatte sie ein Gesicht. Wir entscheiden für den Kläger, diesen armen Jungen. Und wir lassen den Gerichtsvollzieher kommen. Die Verhandlung wird zehn Minuten vertagt.«
Sie lachten beide ein wenig. Der junge Mann trug saubere verblichene Jeans und ein dunkelblaues Hemd. Die Sommernacht war warm und mild. Frannie freute sich, daß sie herausgekommen war.
»Sie heißen nicht zufällig Fran Goldsmith?«
»Zufällig ja. Aber ich kenne Sie nicht.«
»Larry Underwood. Wir sind heute erst angekommen. Eigentlich suche ich einen Burschen namens Harold Lauder. Man hat mir gesagt, er wohnt mit Stu Redman und Frannie Goldsmith und ein paar anderen Leuten in 161 Pearl.«
Das trocknete ihr Kichern ein. »Harold hat in dem Haus gewohnt, als wir in Boulder ankamen, aber er ist schon lange weg. Er wohnt jetzt in der Arapahoe Street im Westen der Stadt. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen seine Adresse geben und den Weg erklären.«
»Das wäre nett. Aber ich denke, ich warte bis morgen. So etwas wie heute riskiere ich nicht noch mal.«
»Kennen Sie Harold?«
»Ja und nein - so wie ich Sie kenne und doch wieder nicht. Um ehrlich zu sein, muß ich sagen, Sie sehen ganz anders aus, als ich Sie mir vorgestellt habe. In meiner Vorstellung habe ich Sie als blonde Walküre gesehen, wie aus einem Gemälde von Frank Frazetta, womöglich mit einem Fünfundvierziger an jeder Hüfte. Aber ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er streckte die Hand aus, und Frannie nahm sie mit einem knappen erstaunten Lächeln.
»Ich fürchte, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Setzen Sie sich einen Moment auf den Bordstein, dann erzähle ich es Ihnen.«
Sie setzte sich. Der Geist eines Windhauchs wehte durch die Straße, raschelte mit Papierfetzen und zerzauste die alten Ulmen auf dem Rasen des Gerichtsgebäudes drei Blocks entfernt.
»Ich hab' ein paar Sachen für Harold Lauder«, sagte Larry. »Aber es soll eine Überraschung sein, also wenn Sie ihn vor mir sehen, Schweigen ist Gold, und so weiter.«
»Klar, logisch«, sagte Frannie. Sie war verwirrter denn je. Er hielt den Revolver mit dem langen Lauf hoch, und es war gar kein Revolver, sondern eine Weinflasche mit langem Hals. Er hielt das Etikett ins Sternenlicht, und sie konnte gerade das großgeschriebene BORDEAUX oben und das Datum ganz unten lesen: 1947.
»Der beste Bordeaux in diesem Jahrhundert«, sagte er. »Hat jedenfalls ein alter Freund von mir immer gesagt. Sein Name war Rudy. Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Aber 1947... das ist dreiundvierzig Jahre her. Ist er nicht... nun, hinüber?«
»Rudy hat immer gesagt, ein guter Bordeaux ist nie hinüber. Wie auch immer, ich schleppe ihn seit Ohio mit. Wenn es schlechter Wein ist, dann wenigstens weitgereister schlechter Wein.«
»Und der ist für Harold?«
»Ja, und dies hier.« Er holte etwas aus der Jackentasche, und das mußte sie nicht ins Sternenlicht halten, um die Schrift zu lesen. Sie prustete los. »Ein Payday-Schokoriegel!« rief sie aus. »Harolds Lieblingsmarke... aber wie konnten Sie das wissen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Schießen Sie los.«
»Nun gut. Es war einmal ein Mann namens Larry Underwood, der von Kalifornien nach New York gekommen ist, um seine liebe alte Mutter zu besuchen. Das war nicht der einzige Grund für seinen Besuch, aber die anderen waren nicht so erfreulich, und deshalb wollen wir uns mit dem guten Grund begnügen, ja?«
»Warum nicht?« stimmte Fran zu.
»Und siehe, die böse Hexe des Westens oder ein Arschloch im Pentagon brachte eine große Plage über das Land, und ehe man >Hier kommt Captain Trips< sagen konnte, waren alle Leute in New York tot. Einschließlich Larrys Mutter.«
»Das tut mir leid. Meine Eltern auch.«
»Ja - sämtliche Eltern. Wenn wir uns alle Beileidskarten schicken würden, würde es bald keine mehr geben. Aber Larry hatte Glück. Er verließ die Stadt mit einer Dame namens Rita, die nicht gut mit der neuen Lage fertig wurde. Und unglücklicherweise war Larry nicht darauf vorbereitet, ihr zu helfen, damit fertig zu werden.«
»Darauf war niemand vorbereitet.«
»Aber manche haben es schneller gelernt als andere. Wie dem auch sei, Larry und Rita fuhren zur Küste von Maine. Sie kamen bis Vermont, und dort hat die Dame mit Schlaftabletten ihren Abgang gemacht.«
»O Larry, das ist so traurig.«
»Larry nahm es sich sehr zu Herzen. Er sah es sogar mehr oder weniger als Gottesurteil über seine Charakterfestigkeit. Darüber hinaus hatten ihm verschiedene Leute, die es wissen mußten, einmal gesagt, daß sein unverwüstlichster Charakterzug eine deutliche Spur Eigennutz war, die immer wieder aufleuchtete wie eine Lichtermadonna auf dem Armaturenbrett eines neunundfünfziger Cadillac.«
Frannie rutschte etwas auf dem Bordstein hin und her.
»Ich hoffe, ich beunruhige Sie nicht, aber ich trage das alles schon viel zu lange mit mir herum und es hat wirklich mit Harolds Teil der Geschichte zu tun. Okay?«
»Okay.«
»Danke. Ich glaube, seit ich eingetroffen und die alte Frau ges ehen habe, suche ich nach einem freundlichen Wesen, dem ich mich anvertrauen kann. Ich dachte, es würde Harold sein. Wie auch immer - Larry fuhr allein weiter nach Maine, weil er kein anderes Ziel hatte. Da hatte er schon schlimme Alpträume, aber da er allein war, konnte er nicht wissen, daß andere Menschen sie auch hatten. Er nahm einfach an, sie waren ein weiteres Symptom für seinen geistigen Zusammenbruch. Aber schließlich kam er in ein kleines Küstenstädtchen namens Wells, wo er eine Frau namens Nadine Cross und einen seltsamen kleinen Jungen fand, dessen Name, wie sich herausstellte, Leo Rockway war.«
»Wells«, staunte sie leise.
»Jedenfalls warfen die drei Reisenden gewissermaßen eine Münze, um zu entscheiden, in welcher Richtung sie auf der US 1 weiterziehen sollten, und da die Münze Kopf zeigte, fuhren sie nach Süden und kamen schließlich nach...«
»Ogunquit!« sagte Frannie entzückt.
»Und dort machte ich meine erste Bekanntschaft mit Harold Lauder und Frances Goldsmith in riesigen Buchstaben auf dem Dach einer Scheune.«
»Harolds Botschaft. O Larry, das wird ihn freuen.«
»Wir folgten der Wegbeschreibung auf der Scheune nach Stovington, den Anweisungen in Stovington nach Nebraska und den Anweisungen an Mutter Abagails Haus nach Boulder. Unterwegs trafen wir Leute. Darunter ein Mädchen namens Lucy Swann, meine Freundin. Ich möchte, daß Sie sie kennenlernen. Ich glaube, sie wird Ihnen gefallen.
Aber dann geschah etwas, das Larry gar nicht wollte. Seine kleine Gruppe von vier Leuten wuchs auf sechs an. Im Staat New York stießen die sechs auf vier weitere Leute, und unsere Gruppe absorbierte ihre. Als wir Harolds Schild vor Mutter Abagails Haus erreichten, waren wir schon sechzehn, und als wir aufbrachen, trafen wir noch drei. Larry führte diese tapfere Schar an. Niemand hatte ihn gewählt. Es war einfach so. Und er wollte die Verantwortung gar nicht. Sie war eine Last. Sie raubte ihm nachts den Schlaf. Er warf Tums und Rolaids ein. Aber es ist komisch, wie der Verstand sich manchmal gegen den Verstand stellt. Ich konnte es nicht lassen. Hatte mit Selbstachtung zu tun. Und ich - er - hatte immer Angst, dass er es mit Pauken und Trompeten vermasseln, daß er eines Morgens aufwachen und feststellen würde, daß jemand in seinem Schlafsack gestorben war wie Rita damals in Vermont und alle um ihn herumstehen und mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen würden:
>Es ist deine Schuld. Du hast es nicht besser gewußt, es ist deine Schuld.< Und darüber konnte ich mit niemandem sprechen, nicht einmal mit dem Richter...«
»Wer ist der Richter?«
»Richter Farris. Ein alter Kerl aus Peoria. Ich glaube, daß er in den frühen Fünfzigern wirklich mal Richter gewesen ist, vielleicht Bezirksrichter oder so, aber er war schon lange vor der GrippeEpidemie pensioniert. Ziemlich schlauer Kerl. Wenn er einen ansieht, könnte man schwören, daß er Röntgenaugen hat. Jedenfalls war Harold für mich wichtig. Er wurde immer wichtiger, je mehr Leute wir waren. Sozusagen direkt proportional, könnte man sagen.« Er lachte. »Diese Scheune. Mann! Die letzte Zeile, die mit Ihrem Namen, war so weit unten, daß ich mir gedacht habe, er muß mit dem Arsch ganz schön im Wind gehangen haben, als er sie geschrieben hat.«
»Ja. Ich habe geschlafen, als er es geschrieben hat. Sonst hätte ich es nicht zugelassen.«
»Ich habe mir ein Bild von ihm gemacht«, sagte Larry. »Ich habe ein Paydaypapier auf dem Boden der Scheune in Ogunquit gefunden, und dann die Schnitzerei an dem Balken...«
»Was für eine Schnitzerei?«
Sie merkte, daß Larry sie in der Dunkelheit prüfend ansah, und zog den Morgenmantel fester zu... keine Geste der Keuschheit, denn sie fühlte sich nicht von diesem Mann bedroht, sondern von Nervosität.
»Nur seine Initialen«, sagte Larry beiläufig. »H. E. L. Wenn das alles gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Aber dann, in der Motorradvertretung in Wells...«
»Da waren wir!«
»Das weiß ich. Ich habe gesehen, daß zwei Motorräder verschwunden waren. Was mich noch mehr beeindruckt hat, war, daß Harold Benzin aus dem unterirdischen Tank abgesaugt hatte. Sie müssen ihm geholfen haben, Fran. Ich hätte fast die Finger verloren.«
»Nein, das war gar nicht nötig. Harold hat so lange gesucht, bis er etwas gefunden hat, das er Entlüftungsventil nannte...«
Larry stöhnte und schlug sich an die Stirn. »Das Entlüftungsventil!
Mein Gott! Ich habe nicht mal nachgesehen, wo sie den Tank entlüftet haben! Sie sagen, er hat einfach gesucht... einen Stöpsel rausgezogen... und den Schlauch reingehalten?«
»Nun... ja.«
»Oh, Harold«, sagte Larry in einem Tonfall der Bewunderung, wie sie ihn noch nie gehört hatte, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit Harold Lauder. »Das ist einer seiner Tricks, der mir entgangen ist. Jedenfalls sind wir nach Stovington gefahren. Nadine war so bestürzt, daß sie ohnmächtig wurde.«
»Ich habe geweint«, sagte Fran. »Ich habe geheult, als könnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich hatte gedacht, wenn wir dort sind, würde jemand rauskommen und sagen: >Hi! Treten Sie ein. Entlausung links, Kantine rechts.<« Sie schüttelte den Kopf. »Kommt mir heute so albern vor.«
»Ich war nicht enttäuscht. Der wackere Harold war vor mir dagewesen, hatte sein Schild hinterlassen und war weitergezogen. Ich kam mir wie ein Grünschnabel aus dem Osten vor, der diesem Indianer aus Coopers Pfadfinder folgt.«
Seine Meinung über Harold faszinierte und erstaunte sie. Hatte nicht eigentlich Stu ihre Gruppe angeführt, nachdem sie Vermont verlassen hatten und nach Nebraska aufgebrochen waren? Sie konnte sich wirklich nicht erinnern. Zu der Zeit waren sie alle schon mit den Träumen beschäftigt gewesen. Larry erinnerte sie an Dinge, die sie vergessen... schlimmer, als selbstverständlich betrachtet hatte. Harold hatte sein Leben riskiert, als er die Botschaft auf das Scheunendach malte - sie hatte es für ein sinnloses Risiko gehalten, aber es hatte doch sein Gutes bewirkt. Und Benzin aus dem unterirdischen Tank zu holen... für Larry schien das eine gewaltige Anstrengung gewesen zu sein, aber für Harold etwas ganz Normales. Sie fühlte sich klein und hatte ein schlechtes Gewissen. Sie gingen alle mehr oder weniger davon aus, daß Harold nur ein grinsender Statist war. Aber Harold hatte während der letzten sechs Wochen einige Tricks draufgehabt. War sie so verliebt in Stu gewesen, daß erst dieser Fremde kommen mußte, um ihr einige Wahrheiten über Harold zu erzählen? Die Tatsache, daß Harold vollkommen erwachsen auf sie und Stu reagierte, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, machte das Gefühl nur um so unbehaglicher.
Larry sagte: »Und in Stovington ist wieder ein Schild mit den genauen Straßenbezeichnungen, richtig. Und daneben im Gras liegt wieder eine leere Payday-Packung. Ich hatte das Gefühl, als würde ich nicht zerknickten Zweigen und niedergetretenem Gras folgen, sondern Harolds Payday-Spur. Nun, wir sind nicht die ganze Zeit eurer Route gefolgt. In der Nähe von Gary, Indiana, sind wir nach Norden abgebogen, denn da war ein Großfeuer, das stellenweise noch brannte. Es sah aus, als wäre jeder verdammte Öltank in der Stadt explodiert. Wie auch immer, durch diesen Umweg trafen wir den Richter und machten dann Rast in Hemingford Home - wir wußten, daß sie schon weg war, Sie wissen ja, die Träume, aber wir wollten alle den Ort wenigstens sehen. Den Mais... die Reifenschaukel... Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja«, sagte Frannie. »Ja, das verstehe ich.«
»Und ich bin die ganze Zeit fast verrückt geworden und dachte, eine Motorradbande würde uns überfallen, das Wasser würde uns ausgehen oder sonst was.
Meine Mutter hatte ein Buch, sie hatte es von ihrer Großmutter oder so. Auf seinen Spuren, das war der Titel. Und darin standen kurze Geschichten von Leuten, die schreckliche Probleme hatten. Größtenteils ethische Probleme. Und der Mann, der das Buch geschrieben hatte, sagte, um Probleme zu lösen, müßte man sich nur fragen: >Was würde Jesus tun?< Dann würde sich alles klären. Wissen Sie, was ich glaube? Es ist eine Zen-Frage, eigentlich keine Frage, sondern eine Methode, seine Gedanken zu klären, wie Om sagen und seine Nasenspitze betrachten.«
Fran lächelte. Sie wußte, was ihre Mutter zu so etwas gesagt haben würde.
»Und wenn ich so richtig in der Klemme saß, sagte Lucy - das ist mein Mädchen, habe ich das schon erwähnt? -, dann sagte Lucy:
>Los, stell die Frage. <«
»Was würde Jesus tun?« fragte Fran amüsiert.
»Nein, was würde Harold tun«, antwortete Larry ernst. Fran war fast von den Socken. Sie wünschte sich dabeizusein, wenn Larry Harold kennenlernte. Wie, um alles in der Welt, würde er reagieren?
»Wir lagerten eines Nachts auf dem Hof einer Farm und hatten fast kein Wasser mehr. Es gab einen Brunnen, aber wir konnten kein Wasser heraufholen, weil kein Strom da war und die Pumpe nicht funktionierte. Und Joe Leo, Entschuldigung, sein richtiger Name ist Leo -, Leo kam immer wieder zu uns und sagte: >Durst, Larry, schrecklicher Durst.< Ich spürte, wie ich gereizt wurde, und wenn er noch einmal gekommen wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich geschlagen. Netter Kerl, hm? Ein verstörtes Kind schlagen! Aber der Mensch kann sich nicht schlagartig ändern. Ich hatte Zeit genug, das selbst festzustellen.«
»Sie haben sie immerhin unversehrt von Maine hierher gebracht«, sagte Frannie. »Bei uns ist einer gestorben. Blinddarmdurchbruch. Stu hat versucht, ihn zu operieren, aber es hat nichts genützt. Alles in allem, Larry, würde ich sagen, Sie haben Ihre Sache ziemlich gut gemacht.«
»Harold und ich waren nicht schlecht«, korrigierte er sie. »Lucy sagte jedenfalls: >Schnell, Larry, stell die Frage.< Also stellte ich sie. Auf dem Hof stand eine Windmühle, mit der Wasser zur Scheune gepumpt wurde. Sie drehte sich ausgezeichnet, aber aus den Hähnen in der Scheune kam auch kein Wasser. Also machte ich den großen Kasten unten an der Windmühle auf und sah, daß die Antriebswelle aus ihrem Loch gesprungen war. Ich setzte sie wieder ein, und bingo! Soviel Wasser, wie wir wollten. Kühl und frisch. Dank Harold.«
»Dank Ihnen. Harold war nicht da, Larry.«
»Nun, in meinen Gedanken war er da. Und jetzt bin ich hier und habe ihm Wein und Schokoriegel gebracht.« Er sah sie von der Seite an. »Wissen Sie, ich hab' irgendwie gedacht, Harold wäre Ihr Mann.«
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete die verschränkten Finger.
»Nein. Er... Harold nicht.«
Er sagte lange Zeit nichts, aber sie spürte, daß er sie ansah. Schließlich sagte er: »Okay? Wie habe ich mich geirrt? Wegen Harold?«
Sie stand auf. »Ich sollte wieder reingehen. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Larry. Kommen Sie morgen her, damit Sie Stu kennenlernen. Bringen Sie Ihre Lucy mit, wenn sie Zeit hat.«
»Was ist mit ihm?« beharrte er und stand mit ihr auf.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie belegt. Plötzlich war sie den Tränen nahe. »Sie geben mir das Gefühl, als... als hätte ich Harold ziemlich mies behandelt, und ich weiß nicht... warum oder wie ich es getan habe... kann man mir zum Vorwurf machen, daß ich ihn nicht liebe wie Stu? Ist das etwa meine Schuld?«
»Nein, natürlich nicht.« Larry sah erschrocken drein. »Hören Sie, es tut mir leid. Ich bin einfach hereingeplatzt. Ich gehe.«
»Er hat sich verändert.« platzte Frannie heraus. »Ich weiß nicht wie und warum, und manchmal glaube ich, zu seinem Vorteil... aber ich weiß es nicht... wirklich nicht. Manchmal habe ich Angst.«
»Angst vor Harold?«
Sie antwortete nicht; sah nur auf ihre Füße. Sie dachte, daß sie schon zuviel gesagt hatte.
»Sie wollten mir doch sagen, wie ich dorthin komme«, meinte er leise.
»Ganz einfach. Gehen Sie die Arapahoe geradeaus, bis Sie zu dem kleinen Park kommen... Ebene G. Fine Park, glaube ich. Der Park liegt rechts. Harolds kleines Haus links, genau gegenüber.«
»Gut, danke. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Fran, samt kaputter Vase und allem.«
Sie lächelte, aber es war mechanisch. Die beschwingte gute Stimmung des Abends war dahin.
Larry hob die Weinflasche und schenkte ihr sein schiefes Lächeln.
»Und wenn Sie ihn vor mir treffen... nichts verraten, hm?«
»Klar.«
»Nacht, Frannie.«
Er ging den Weg zurück, den er gekommen war. Sie sah ihm nach, bis er fort war. Dann ging sie nach oben und legte sich zu Stu ins Bett, der immer noch schlief wie ein Murmeltier.
Harold, dachte sie und zog die Decke bis ans Kinn. Wie sollte sie es Larry sagen, der auf seine verlorene Weise so nett zu sein schien (aber waren sie heute nicht alle verloren?), daß Harold Lauder dick und halbwüchsig und selbst verloren war? Sollte sie ihm sagen, dass sie eines noch gar nicht so lange vergangenen Tages den klugen Harold, den spitzfindigen Harold, den Was-würde-Jesus -tun-Harold gefunden hatte, wie er in der Badehose den Rasen mähte und weinte? Sollte sie ihm sagen, daß der manchmal mürrische, häufig ängstliche Harold, der von Ogunquit nach Boulder gekommen war, sich in einen gestandenen Politiker verwandelt hatte, einen Rückenklopfer, einen Hallo-Leute-wir-sehen-uns-Typ, der einen trotzdem mit den ausdruckslosen, kalten Augen eines Gürteltiers ansah?
Sie fürchtete, daß sie heute nacht lange auf den Schlaf warten mußte. Harold hatte sich hoffnungslos in sie verliebt, und sie hatte sich hoffnungslos in Stu Redman verliebt; das Leben war schon hart. Aber wenn ich Harold sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Obwohl es aussieht, als hätte er zehn Pfund abgenommen, und er nicht mehr so viele Pickel hat, bekomme ich eine...
Plötzlich stockte ihr hörbar der Atem; sie stützte sich auf die Ellenbogen und riß die Augen im Dunkeln auf.
Etwas hatte sich in ihr bewegt.
Sie strich mit den Händen über die Wölbung der Leibesmitte. Es war noch zu früh. Es war ihre Einbildung. Aber...
Aber die war es nicht.
Sie legte sich langsam mit klopfendem Herzen zurück. Sie hätte Stu fast geweckt, ließ es dann aber doch sein. Wenn nur er ihr das Baby gemacht hätte, nicht Jess. In diesem Fall hätte sie ihn geweckt und den Augenblick mit ihm geteilt. Beim nächsten Baby. Das hieß, wenn es ein nächstes Baby gab.
Dann kam die Bewegung wieder, so unmerklich, als wäre es eine Blähung gewesen. Aber sie wußte es besser. Es war das Baby. Und das Baby lebte.
»Wie schön«, murmelte sie zu sich und lehnte sich zurück. Larry Underwood und Harold Lauder waren vergessen. Was ihr widerfahren war, seit ihre Mutter krank wurde, war vergessen. Sie wartete, daß es sich wieder bewegte, lauschte nach dem Wesen in ihrem Inneren und schlief darüber ein. Ihr Baby lebte.
Harold saß in einem Sessel auf dem Rasen des kleinen Hauses, das er sich ausgesucht hatte, sah zum Himmel und dachte an einen alten Rock'n'Roll-Song. Er haßte Rock, aber an diesen erinnerte er sich fast Zeile für Zeile, kannte sogar noch den Namen der Gruppe, die ihn gesungen hatte: Cathy Young and the Innocents. Die Leadsängerin, Vokalistin, wie auch immer, hatte eine hohe, schmachtende, rauhe Stimme, die ihn irgendwie gefesselt hatte. Goldkehlchen nannten die DJs sowas. Eine Miß mit Biß. Die Leadsängerin hörte sich an, als wäre sie sechzehn Jahre alt, blaß, blond und unscheinbar. Als würde sie ein Bild ansingen, das fast immer in einer Schublade versteckt lag, ein Bild, das nur spät abends herausgenommen wurde, wenn alle anderen im Haus schliefen. Sie klang hoffnungslos. Das Bild, das sie ansang, hatte sie möglicherweise aus dem High-School -Jahrbuch ihrer großen Schwester ausgeschnitten, das Bild des hiesigen großen Zampano - Kapitän der Footballmannschaft und Vorsitzender des Studentenausschusses. Der große Zampano schob ihn auf irgendeiner abgelegenen Waldlichtung der Anführerin der Cheerleader rein, während dieses unscheinbare Mädchen ohne Brüste und mit einem Pickel im Mundwinkel irgendwo weit entfernt im Vorort sang:
»A thousand stars in the sky... make me realize... you are the one love that I'll adore... tell me you love me... tell me you're mine, all mine...«
Heute abend standen mehr als tausend Sterne am Himmel, aber es waren keine Sterne der Liebenden. Kein sanft leuchtendes Netz der Milchstraße. Hier, eine Meile über dem Meeresspiegel, waren sie grell und grausam wie eine Milliarde Löcher in schwarzem Samt, Löcher von Gottes Spitzhacke. Es waren die Sterne von Hassenden, und weil das so war, fühlte Harold sich berufen, heute nacht etwas auf sie zu wünschen. Sternenglanz, Sternenschein, laß den Wunsch erfüllet sein. Fallt alle tot um.
Er saß stumm mit zurückgelehntem Kopf da, ein düsterer Astronom. Harolds Haar war länger denn je, aber nicht mehr schmutzig und verfilzt und strähnig. Er roch nicht mehr wie ein Furz im Heuhaufen. Und weil er die Süßigkeiten wegließ, gingen sogar die Pickel weg. Und durch die harte Arbeit und das viele Laufen nahm er ab. Er sah ziemlich gut aus. In den vergangenen Wochen war es häufig vorgekommen, daß er an einem Spiegel vorbeiging und verblüfft über die Schulter sah, als hätte er einen völlig Fremden erblickt. Er regte sich im Sessel. Ein Buch lag auf seinem Schoß, ein großer Foliant mit marmoriertem Rücken und Kunstledereinband. Wenn er weg war, versteckte er es hinter einem lockeren Mauerstein im Haus. Wenn jemand das Buch fand, wäre der Traum in Boulder für ihn ausgeträumt. Ein Wort stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag, dieses Wort hieß HAUPTBUCH. Es war das Tagebuch, das er angefangen hatte, nachdem er das von Fran gelesen hatte. Die ersten Seiten waren schon von einem Rand zum anderen mit seiner engen Handschrift bedeckt. Keine Absätze, nur ein solider Schriftblock, eine Absonderung des Hasses wie Eiter aus einem Abszeß. Er hätte nicht gedacht, daß er soviel Haß in sich haben könnte. Man sollte meinen, der Strom müßte mittlerweile ausgetrocknet sein, aber es schien, als hätte er ihn gerade erst angebohrt. Wie in dem alten Witz. Warum war der ganze Boden nach Güsters letzter Schlacht weiß? Weil die Indianer unaufhörlich kamen und kamen und kamen...
Und warum haßte er?
Er richtete sich gerade auf, als wäre die Frage von außen gekommen. Es war eine schwere Frage, außer vielleicht für ein paar Wenige, ein paar Auserwählte. Hatte nicht Einstein gesagt, es würde nur sechs Menschen auf der Welt geben, die die ganze Bedeutung von E= mc² begriffen? Und was war mit der Gleichung in seinem eigenen Kopf? Harolds Relativität? Oh, darüber könnte er zweimal so viele Seiten füllen, wie er bisher geschrieben hatte, und immer obskurer und geheimnisvoller werden, bis er sich schließlich in seinem inneren Räderwerk verlor, ohne auch nur in die Nähe der Hauptfeder zu gelangen. Vielleicht... vergewaltigte er sich selbst. War es das? Jedenfalls dicht dran. Ein obszöner, endloser Akt der Unzucht. Die Indianer kamen und kamen.
Er würde Boulder bald verlassen. Ein Monat oder zwei, mehr nicht. Bis er sich klar war, wie er einige offene Rechnungen begleichen konnte. Dann würde er nach Westen gehen. Und wenn er dort war, würde er den Mund aufmachen und gründlich über die Lage hier auspacken. Er würde ihnen erzählen, was in den öffentlichen Sitzungen los war und, noch wichtiger, in den nichtöffentlichen. Er war sicher, daß man ihn ins Komitee der Freien Zone wählen würde. Sie würden ihn willkommen heißen, und der Mann, der drüben die Macht hatte, würde ihn reichlich belohnen... nicht indem er seinem Haß ein Ende setzte, sondern indem er ihm das perfekte Vehikel dafür gab, einen Haß-Cadillac, ein Angstmobil, lang und dunkel glänzend. Er würde einsteigen und seinen Haß unter sie fahren. Er und Flagg würden diese elende Ansiedlung auseinandertreten wie einen Ameisenhaufen. Aber zuerst würde er mit Redman abrechnen, der ihn belogen und ihm die Frau gestohlen hatte.
Ja, Harold, aber warum haßt du?
Nein; darauf gab es keine zufriedenstellende Antwort, nur eine Art... Zusatzvermerk zum Haß selbst. War es überhaupt eine faire Frage? Er war der Meinung, daß nein. Ebensogut konnte man eine Frau fragen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, eine Stunde oder einen Augenblick, als er daran gedacht hatte, den Haß über Bord zu werfen. Das war gewesen, als er Frannies Tagebuch gelesen und erfahren hatte, dass sie unwiderruflich Stu Redman verfallen war. Diese plötzliche Erkenntnis hatte auf ihn gewirkt wie ein kalter Wasserguß auf eine Schnecke, die zur kleinen Kugel wird statt zum ausgebreiteten, tastenden Organismus. In dieser Stunde oder in diesem Augenblick hatte er gewußt, daß er einfach akzeptieren konnte, was war, und dieses Wissen hatte ihn entzückt und entsetzt zugleich. In dieser Zeitspanne hatte er gewußt, daß er sich in einen anderen Menschen verwandeln konnte, in einen neuen Harold Lauder, der durch das scharfe Skalpell der Supergrippe aus dem alten geklont worden war.
Er begriff deutlicher als die anderen, daß es in der Freien Zone Boulder genau darum ging. Die Leute waren anders, als sie gewesen waren. Die Gesellschaft dieser kleinen Stadt war mit keiner anderen amerikanischen Gesellschaft vor der Seuche vergleichbar. Sie sahen das nicht, weil sie nicht wie er außerhalb der Grenzen standen. Männer und Frauen lebten offensichtlich ohne den Wunsch zusammen, die Institution Ehe wieder einzuführen. Ganze Gruppen lebten in kleinen Untergruppen wie in Kommunen zusammen. Es gab wenig Streit. Die Leute schienen miteinander auszukommen. Und, am seltsamsten, keiner schien die tiefe religiöse Bedeutung der Träume zu erkennen... und der Seuche selbst. Boulder selbst war eine geklonte Gesellschaft, eine Tabula, die so rasa war, daß sie die neugewonnene Schönheit nicht empfanden.
Harold empfand sie, und er haßte sie.
Weit drüben hinter den Bergen war noch eine geklonte Kreatur. Ein Stück der dunklen Bösartigkeit, eine Krebszelle aus dem sterbenden Leib der alten Gesellschaft, ein einsamer Vertreter des Karzinoms, das die alte Gesellschaft bei lebendigem Leibe gefressen hatte. Eine einzige Zelle, die aber schon angefangen hatte, sich zu reproduzieren und weitere wilde Zellen zu erzeugen. Für die Gesellschaft bedeutete das den alten Kampf, das Bemühen des gesunden Gewebes, den bösartigen Eindringling abzuwehren. Aber für jede individuelle Zelle stellte sich die alte, alte Frage, die bis zum Garten Eden zurückreichte - aß man den Apfel oder ließ man es sein? Dort drüben, im Westen, aßen sie bereits Unmengen Apfelkuchen und Apfelkompott. Die Assassinen von Eden waren da, die dunklen Füsiliere.
Und er selbst hatte im Angesicht des Wissens, daß es ihm freistand zu akzeptieren, was war, die neue Chance für eine menschliche Gesellschaft abgelehnt. Sie zu ergreifen, wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Die Gespenster aller Demütigungen, die er je erlitten hatte, bäumten sich dagegen auf. Seine gemordeten Träume und Ambitionen lebten auf unheimliche Weise wieder auf und fragten, ob er sie wirklich so einfach vergessen konnte. In der neuen Gesellschaft der Freien Zone konnte er nur Harold Lauder sein. Dort drüben aber ein Prinz.
Das Bösartige lockte ihn. Es war ein dunkler Jahrmarkt - Riesenräder mit ausgeschaltetem Licht, die sich über einer schwarzen Landschaft drehten, ein niemals endender Zirkus mit Freaks wie ihm, und im Hauptzelt fraßen die Löwen die Zuschauer. Die mißtönende Musik des Chaos sprach ihn an.
Er schlug sein Tagebuch auf und schrieb im Licht der Sterne mit fester Hand.
16. August 1990 (frühmorgens).
Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschheit seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer.
HAROLD EMERY LAUDER
Er schlug das Buch zu. Er ging ins Haus, legte das Buch in sein Loch im Kamin zurück und brachte sorgfältig den Stein wieder an. Er ging ins Bad, stellte die Coleman-Lampe so aufs Waschbecken, daß sie in den Spiegel leuchtete, und übte die nächsten fünfzehn Minuten lang zu lächeln. Er war schon ziemlich gut.