41
Larry wachte um halb neun auf; die Sonne schien, und die Vögel zwitscherten. Beides machte ihn fertig. Seit sie New York City verlassen hatten, jeden Morgen Sonnenschein und Vogelzwitschern. Und als besondere Attraktion, als Gratisbonus, wenn man so wollte, roch die Luft sauber und frisch. Das war selbst Rita aufgefallen. Er dachte immer wieder: Besser kann es nicht werden. Aber es wurde immer besser. Bis man sich fragte, was sie dem Planeten angetan hatten. Und man fragte sich, ob die Luft an Orten wie dem Staat Minnesota, Oregon und den westlichen Hängen der Rockies immer so gerochen hatte.
Während er in seiner Hälfte des Doppelschlafsacks unter der niederen Segeltuchdecke des Zwei-Mann-Zelts lag, das sie am Morgen des 2. Juli in Passaic ihrer Reiseausrüstung zugefügt hatten, erinnerte sich Larry, wie AI Spellman, einer der Tattered Remnants, ihn einmal hatte überreden wollen, mit ihm und zwei oder drei anderen Jungs einen Campingausflug zu machen. Sie wollten nach Osten, eine Nacht in Vegas Zwischenstation machen und dann einen Ort namens Loveland, Colorado, besuchen. Sie wollten fünf Tage oder so in den Bergen über Loveland campen.
»Diese >Rocky-Mountain-High< -Scheiße kannst du John Denver überlassen«, hatte Larry gebrummt. »Ihr werdet alle mit Moskitostichen und wahrscheinlich einem Giftefeu-Ausschlag im Arschloch zurückkommen, weil ihr in den Wald scheißen müßt. Wenn ihr es euch anders überlegt und beschließt, fünf Tage im Dunes in Vegas zu campen, ruf mich an.«
Aber vielleicht war es genau so gewesen. Allein, niemand, der einen störte (abgesehen von Rita, und deren Störungen konnte er aushaken, dachte er), gute Luft zum Atmen und nachts Schlaf ohne Herumwälzen, einfach peng, fest eingeschlafen, als hätte man eine mit dem Hammer auf den Kopf bekommen. Keine Probleme, abgesehen von der Frage, wohin man morgen fahren würde und wie schnell. Es war herrlich.
Und dieser Morgen in Bennington, Vermont, auf dem Weg nach Osten über den Highway 9, war ein ganz besonderer Morgen. Es war, bei Gott, der 4. Juli, Unabhängigkeitstag.
Er setzte sich im Schlafsack auf und sah zu Rita hinüber, aber sie schlief noch wie ein Murmeltier, er sah nur die Umrisse ihres Körpers unter dem gesteppten Material und einen Schöpf ihres Haars. Nun, heute morgen würde er sie mit Stil wecken.
Larry zog an seiner Seite den Reißverschluß auf und stieg splitternackt aus dem Schlafsack. Zuerst bekam er eine Gänsehaut, aber dann war die Luft angenehm warm, möglicherweise schon zwanzig Grad. Der Tag würde wieder erste Sahne werden. Er kroch aus dem Zelt und stand auf.
Neben dem Zelt stand die 200er Harley-Davidson-Maschine in Schwarz und Chrom. Wie Schlafsack und Zelt hatten sie auch die Maschine in Passaic besorgt. Bis dahin hatten sie schon drei Autos gehabt, zwei waren vor fürchterlichen Staus geendet, das dritte vor Nuttey im Schlamm steckengeblieben, als er zwei zusammengestoßenen Lastwagen ausweichen wollte. Das Motorrad war die Lösung. Damit konnte man Unfallstellen langsam umfahren. Wenn man auf einen ernsten Verkehrsstau traf, konnte man auf der Standspur oder dem Fußweg fahren, falls vorhanden. Rita gefiel es nicht - es machte sie nervös, auf dem Soziussitz mitzufahren, und sie klammerte sich verzweifelt an Larry -, aber sie hatte zugeben müssen, daß es die praktischste Lösung war. Der »letzte Verkehrsstau« der Menschheit war ein Ärgernis. Aber seit sie Passaic hinter sich gelassen und das offene Land erreicht hatten, waren sie gut vorangekommen. Am Abend des 2. Juli hatten sie wieder die Grenze des Bundesstaats New York überquert und ihr Zelt am Stadtrand von Quarryville aufgeschlagen, wo sie im Westen mystisch und dunstverhangen die Catskill Mountains sehen konnten. Am Nachmittag des 3. wandten sie sich ostwärts und erreichten in der Dämmerung Vermont. Da waren sie jetzt, in Bennington.
Sie hatten auf einem Hügel vor der Stadt gezeltet, und als Larry jetzt nackt neben dem Motorrad stand und pinkelte, konnte er nach unten sehen und die malerische Neuengland-Stadt bewundern. Zwei hübsche weiße Kirchen, deren Türme aufragten, als wollten sie den blauen Morgenhimmel aufspießen; eine Privatschule, graue efeuüberwucherte Gebäude aus Feldsteinen; eine Fabrik; ein paar Schulgebäude aus roten Ziegeln; viele Bäume in grünem Sommerkleid. Das einzig Störende an diesem Bild war, daß aus dem Schornstein der Fabrik kein Rauch aufstieg und auf der Main Street, die zugleich der Highway war, dem sie folgten, so viele funkelnde Spielzeugautos in seltsamen Winkeln parkten.
Aber in der sonnigen Stille (das heißt, Stille, abgesehen von gelegentlichem Vogelzwitschern), hätte Larry vielleicht auch das Bonmot der verstorbenen Irma Fayette wiederholt, hätte er die Dame gekannt: kein großer Verlust.
Aber es war der 4. Juli, und er schätzte, daß er immer noch Amerikaner war.
Er räusperte sich, spie aus und summte ein Weilchen, bis er die Tonlage gefunden hatte. Er holte tief Luft, genoß den Morgenwind auf der nackten Brust und den Pobacken, und fing schmetternd an zu singen.
»Oh, say, can you see,
by the dawn's early light,
What so proudly we bailed
at the twilight's last gleaming...«
Er sang alle Strophen, während er auf Bennington hinabsah, machte ein paar alberne, burleske Sprünge am Ende, denn mittlerweile würde Rita schon am Zelteingang stehen und ihn anlächeln. Er beendete die Darbietung mit einem zackigen Salut zu dem Haus hinüber, das er für das Gerichtsgebäude hielt, drehte sich um und dachte, die beste Art, ein weiteres Jahr der Unabhängigkeit der guten alten Vereinigten Staaten anzufangen, wäre ein guter alter AllAmerican Fick.
»Larry Underwood, junger Patriot, wünscht dir einen wunderschönen guten M...«
Aber das Zelt war noch geschlossen, und er verspürte ihretwegen wieder momentanen Zorn. Er unterdrückte ihn resolut. Schließlich konnte sie nicht immer auf seiner Wellenlänge sein. Das war alles. Wenn man das erst einmal erkannt und akzeptiert hatte, war man reif genug, eine erwachsene Beziehung aufzubauen. Nach den zermürbenden Erlebnissen im Tunnel hatte er das mit Rita versucht und fand, es war ihm ganz gut gelungen.
Man mußte sich in ihre Lage hineinversetzen, darum ging es. Man mußte einsehen, daß sie viel älter und ihr Leben lang einen gewissen Stil gewohnt gewesen war. Natürlich fiel es ihr viel schwerer, sich an eine Welt anzupassen, die auf den Kopf gestellt war. Die Tabletten zum Beispiel. Er war nicht gerade erfreut gewesen, als er feststellen mußte, daß sie ihre ganze verdammte Apotheke in einem Marmeladenglas mit Schraubverschluss mitgenommen hatte. Gelb Jacken, Quaalud, Darvon und ein Zeug, das sie »meine kleinen Muntermacher« nannte. Die kleinen Muntermacher waren rot. Drei von denen mit einem Schuß Tequila, und man zappelte den ganzen lieben Tag herum. Ihm gefiel das nicht, denn die Schlaff- und Muntermacher würden letztendlich dazu führen, daß man, wie Drogensüchtige das zu nennen pflegten, einen Affen auf dem Rücken hatte. Einen Affen, der schätzungsweise so groß wie King Kong war. Und es gefiel ihm nicht, weil es, wenn man der Sache auf den Grund ging, ja gewissermaßen ein Schlag ins Gesicht für ihn war. Was hatte sie für einen Grund, so nervös zu sein? Warum konnte sie nachts nicht einschlafen? Ihm machte das eindeutig keine Probleme. Wieso gab er denn nicht auf sie acht? Aber klar gab er auf sie acht.
Er ging zum Zelt zurück, zögerte aber einen Augenblick. Vielleicht sollte er sie schlafen lassen. Vielleicht war sie erschöpft. Aber...
Er sah nach unten und betrachtete Schwanzi, und Schwanzi wollte sie eigentlich nicht schlafen lassen. Das olle Star-Speckled Banana zu singen hatte ihn regelrecht geil gemacht. Also...
»Rita?«
Nach der frischen Morgenluft draußen traf es ihn wie ein Schlag; er mußte vorhin noch halb geschlafen haben, sonst hätte er es gleich gemerkt. Der Geruch war nicht übermäßig stark, weil das Zelt gut belüftet war, aber er war unverkennbar: der süßsaure Geruch von Erbrochenem und Krankheit.
»Rita?« Seine Unruhe wuchs, als er sie so reglos im Schlafsack liegen sah, aus dem nur der Haarschopf herausschaute. Er kroch auf Händen und Knien zu ihr hinüber, und der Geruch von Erbrochenem war jetzt so stark, daß sich sein Magen zusammenkrampfte. »Rita, ist alles in Ordnung? Wach auf, Rita!«
Keine Bewegung.
Er rollte sie herum und sah, daß der Reißverschluß des Schlafsacks halb aufgezogen war, als hätte sie nachts versucht herauszukriechen, vielleicht weil sie wußte, was ihr geschah; als hätte sie es versucht, aber es sei ihr nicht gelungen, und er hatte die ganze Zeit friedlich neben ihr geschlafen, Mr. Rocky Mountain High persönlich. Als er sie herumrollte, fiel ihr eine ihrer Tablettenflaschen aus der Hand, ihre Augen waren stumpfe, wolkige Murmeln hinter halb geschlossenen Lidern, und ihr Mund war voll grüner Kotze, an der sie erstickt war.
Er sah ihr, wie ihm schien, lange in das tote Gesicht. Sie waren fast Nase an Nase, das Zelt schien immer heißer zu werden, so heiß wie ein Dachboden an einem Augustnachmittag, bevor die kühlenden Gewitterschauer einsetzen. Sein Kopf schien immer mehr anzuschwellen. Ihr ganzer Mund war voll grüner Scheiße, und er konnte den Blick kaum abwenden. Die Frage, die in seinem Kopf kreiste wie das mechanische Kaninchen um eine Hunderennbahn, war: Wie lange habe ich hier neben ihr geschlafen, als sie schon tot war? Ekelhaft, Mann. Eeee-kelhaft.
Seine Erstarrung löste sich, er kroch aus dem Zelt und schürfte sich beide Knie auf, als er von der Zeltbahn auf den steinigen Boden kam. Er dachte schon, er müßte selber kotzen, und kämpfte dagegen an, er haßte Kotzen mehr als alles andere, und dann dachte er: Mann, ich bin doch reingegangen, um sie zu FICKEN! Und da kam ihm alles auf einmal hoch, und er kroch von der dampfenden Schweinerei weg und weinte und ekelte sich vor dem sauren Geschmack in Mund und Nase.
Er dachte fast den ganzen Morgen an sie. Er empfand eine gewisse Erleichterung darüber, daß sie gestorben war - eine sehr große sogar. Das würde er keinem Menschen je erzählen. Es bestätigte alles, was seine Mutter über ihn gesagt hatte und Wayne Stukey und sogar die dumme Pute mit ihrer Wohnung in der Nähe der Fordham University. Larry Underwood, der Blitzer von Fordham.
»Ich bin kein netter Kerl«, sagte er laut, und als er es gesagt hatte, ging es ihm besser. Es wurde jetzt leichter, die Wahrheit zu sagen, und die Wahrheit zu sagen, das war das allerwichtigste. Er hatte sich im Hinterstübchen seines Unterbewußtseins, wo die Mächte am Drücker schalteten und walteten, fest vorgenommen, auf sie achtzugeben. Vielleicht war er kein netter Kerl, aber er war auch kein Mörder, und was er im Tunnel getan hatte, kam einem versuchten Mord schon ziemlich nahe. Er wollte auf sie achtgeben, er wollte sie nicht mehr anschreien, ganz gleich, wie sehr er sich über sie ärgerte - zum Beispiel, wenn sie hinter ihm auf die Harley stieg und ihn dabei mit ihrem patentierten Kansas-City-Griff umklammerte -, er wollte nicht mehr wütend werden, wie sehr sie ihn auch aufhielt und wie dumm sie sich auch manchmal anstellte. Am Vorabend hatte sie eine Dose Erbsen in die Glut des Lagerfeuers gestellt, ohne ein Loch in den Deckel zu machen, und als er die Dose aus dem Feuer angelte, war sie schwarz und ausgeheult und wäre drei Sekunden später hochgegangen wie eine Bombe; sie hätten blind werden können, wenn ihnen die Blechfetzen in die Augen geflogen wären. Hatte er ihr Vorwürfe gemacht ? Nein. Hatte er nicht. Er hatte einen Witz gemacht und die Sache auf sich beruhen lassen. Genau wie mit den Tabletten. Die Tabletten waren ihre Sache, dachte er sich.
Vielleicht hättest du mit ihr darüber reden sollen. Vielleicht hat sie das gewollt.
»Es war schließlich kein romantisches Rendezvous zum Kennenlernen«, sagte er laut. Es ging ums Überleben. Aber sie hatte es nicht lassen können. Vielleicht hatte sie es gewußt, und zwar seit dem Tag, im Central Park, als sie mit einer billigen Zweiunddreißiger, die ihr in der Hand hätte hochgehen können, achtlos auf einen Zedrachbaum geschossen hatte. Vielleicht...
»Vielleicht Scheiße!« sagte Larry wütend. Er hob die Feldflasche zum Mund,; aber sie war leer, und er hatte noch immer diesen schleimigen Geschmack im Mund. Vielleicht gab es überall im Land Leute wie sie. Die Grippe verschonte nicht nur die Überlebenstypen, warum sollte sie auch? Vielleicht gab es in diesem Augenblick irgendwo im Land einen jungen Mann in perfekter körperlicher Verfassung, der immun gegen die Grippe war, aber gerade an einer Mandelentzündung starb. Wie Henny Youngman vielleicht gesagt haben würde, keine Bange, Leute, ich hab' 'ne ganze Million davon.
Larry saß an einem gepflasterten, malerischen Aussichtspunkt direkt am Highway. Der Blick über Vermont, das sich im goldenen Morgendunst nach New York hin erstreckte, war atemberaubend. Ein Schild wies darauf hin, daß dies der Zwölf-Meilen-Punkt war, aber Larry glaubte, viel weiter als zwölf Meilen sehen zu können. An einem klaren Tag konnte man unendlich weit sehen. Am entgegengesetzten Ende des Aussichtspunkts gab es eine kniehohe, zementierte Steinmauer, davor ein paar zertrümmerte Flaschen Budweiser. Und ein gebrauchtes Kondom. Er vermutete, dass Schüler und Schülerinnen der High School bei Dämmerung hier heraufkamen und zusahen, wie unten in der Stadt die Lichter ausgingen. Erst genossen sie die Aussicht, dann vögelten sie. BFD, wie sie zu sagen pflegten: Big fucking deal.
Und warum ging es ihm dann so beschissen? Er sagte die Wahrheit, oder nicht? Ja. Und das schlimmste an der Wahrheit war, daß er Erleichterung empfand, richtig? Daß er den Klotz am Bein losgeworden war.
Nein, das schlimmste ist, allein zu sein. Einsam zu sein.
Abgedroschen, aber wahr. Er brauchte jemanden, der mit ihm die Aussicht bewunderte. Jemanden, zu dem er sich umdrehen und, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben, sagen konnte: An einem klaren Tag kann man unendlich weit sehen. Und seine einzige Begleiterin lag mit dem Mund voll Kotze anderthalb Meilen weiter in einem Zelt. Wurde steif. Zog Fliegen an.
Larry legte den Kopf auf die Knie und machte die Augen zu. Er nahm sich vor, nicht zu weinen. Weinen haßte er fast genauso sehr wie Kotzen.
Und am Ende kniff er. Er konnte sie nicht beerdigen. Er dachte an möglichst scheußliche Dinge - an Maden und Käfer und an die Waldmurmeltiere, die ihre Leiche wittern und kommen würden, um an ihr zu knabbern; wie unfair es war, wenn ein Mensch einen anderen einfach liegen läßt wie ein Stück zerknülltes Papier oder eine weggeworfene Pepsi-Dose. Irgendwie kam es ihm auch vage illegal vor, sie zu beerdigen, aber um die Wahrheit zu sagen (und jetzt sagte er wohl doch die Wahrheit), das war nur eine billige Ausrede. Er würde es fertigbringen, nach Bennington zu gehen und in das »allzeit beliebte« Eisenwarengeschäft einzubrechen, um einen Spaten und eine Spitzhacke zu besorgen; er würde es auch fertigbringen, hierher zurückzukommen, wo es so still und schön war, um am »allzeit beliebten« Zwölf-MeilenPunkt das »allzeit beliebte«
Grab auszuheben. Aber in das Zelt zu gehen (das jetzt wahrscheinlich genauso roch wie die öffentliche Toilette an der Transverse Number One im Central Park, wo die »allzeit beliebte«
Süßigkeit bis in alle Ewigkeit sitzen würde), den Schlafsack ganz zu öffnen, die steife, schwere Leiche herauszuziehen, sie unter den Achselhöhlen zu packen und bis zur Grube zu zerren und dann Erde auf sie zu schaufeln, die auf ihre weißen Schenkel mit den dunklen Krampfadern fiel und in ihrem Haar hängenblieb...
Hm-hmm, Kumpel. Werd' ich's dann doch lieber aussitzen. Bin ich eben feige, na und. Ätsch-ätsch-ätsch.
Er ging zu der Stelle zurück, wo das Zelt aufgebaut war, und schlug die Klappe zurück. Er suchte einen langen Stock. Dann holte er einmal tief frische Luft, hielt den Atem an und fischte seine Kleidung mit dem Stock heraus. Wich damit zurück, zog sie an. Holte noch einmal tief Luft, hielt den Atem an und fischte mit dem Stock seine Stiefel heraus. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und zog auch sie an.
Der Geruch saß in seiner Kleidung.
»Scheiße«, flüsterte er.
Er sah sie halb im Schlafsack, die steife Hand, die noch die Tablettenflasche hielt, die nicht mehr da war. Ihre halbgeöffneten Augen schienen ihn vorwurfsvoll anzusehen. Er mußte wieder an den Tunnel und seine Vision von dem wandelnden Toten denken. Er nahm rasch den Stock und machte die Zeltklappe zu. Aber er hatte immer noch ihren Geruch an sich.
Also machte er doch noch Halt in Bennington, zog in Bennington's Men Shop seine alte Kleidung aus und holte sich neue, dreimal Sachen zum Wechseln, vier Paar Socken und Shorts. Er fand sogar ein neues Paar Stiefel. Als er sich im dreiteiligen Spiegel betrachtete, sah er hinter sich den leeren Laden und draußen die Harley, die aufdringlich am Bordstein lehnte.
»Scharfe Sachen«, murmelte er. »Geil, geil.« Aber es war niemand da, der seinen Geschmack bewundern konnte.
Er verließ den Laden und ließ die Harley an. Er sollte eigentlich beim Eisenwarengeschäft anhalten, dachte er, und nachsehen, ob sie ein Zelt und einen neuen Schlafsack hatten, aber er wollte nur fort von Bennington. Er würde anderswo anhalten.
Er blickte zu der Stelle zurück, wo das Land sanft anstieg, und sah, während er mit der Harley aus dem Ort fuhr, den Zwölf-Meilen-Punkt, aber nicht, wo sie das Zelt aufgeschlagen hatten. Das war auch am besten so, es war...
Larry sah wieder auf die Straße, und Entsetzen schoß ihm den Hals hinunter. Ein International-Harvester-Kleintransporter mit Pferdeanhänger hatte einem Auto ausweichen wollen, dabei war der Pferdeanhänger umgestürzt. Er hatte nicht aufgepaßt, und jetzt fuhr er mit der Harley direkt darauf zu.
Er riß die Maschine nach rechts, sein neuer Stiefel schleifte über die Straße, und er hatte es fast geschafft, aber die linke Fußraste verhakte sich an der hinteren Stoßstange des Hängers und riß das Motorrad unter ihm weg. Larry landete mit einem Aufprall, der jeden Knochen erschütterte, auf der Standspur. Die Harley tuckerte noch eine Weile und ging dann aus.
»Alles in Ordnung?« fragte er laut. Gott sei Dank war er nur etwa zwanzig gefahren. Gott sei Dank war Rita nicht bei ihm, sie wäre vor Hysterie wieder ausgerastet. Allerdings hätte er auch nicht dort hoch gesehen, wenn Rita bei ihm gewesen wäre, er hätte ADWG - »auf den Weg geachtet«, für die Abkürzungsfetischisten unter euch.
»Alles in Ordnung«, beantwortete er seine Frage, war aber nicht ganz sicher. Er richtete sich auf. Die Stille wurde ihm wieder bewußt; es war so still, daß man verrückt werden konnte, wenn man darüber nachdachte. Selbst Ritas Geschrei wäre in diesem Augenblick eine Wohltat gewesen. Plötzlich schienen überall Sterne hell aufzublitzen, und er glaubte voll Entsetzen, daß er das Bewußtsein verlieren würde.
Er dachte: Ich bin verletzt. In einer Minute, wenn der Schock abgeklungen ist, werde ich es spüren. Ich habe schlimme Schnittwunden, oder so, und wer soll mir einen Druckverband anlegen?
Aber als der Schwächeanfall vorbei war, sah er an sich hinab und stellte fest, daß ihm doch nichts weiter passiert war. Er hatte sich beide Hände aufgerissen, und seine neue Hose war am rechten Knie zerfetzt - auch das Knie war aufgeschlagen -, aber es waren alles nur Kratzer, und was war schon dabei, verdammt, jeder schmeißt mal sein Motorrad hin, irgendwann passiert das jedem. Aber er wußte genau, was los war. Er hätte mit dem Kopf unglücklich aufschlagen und sich den Schädel brechen können, und dann hätte er hier in der heißen Sonne gelegen, bis er gestorben wäre. Oder er hätte an seiner eigenen Kotze ersticken können, wie eine gewisse, inzwischen leider verschiedene Freundin von ihm.
Er ging zitternd zur Harley hinüber und richtete sie auf. Sie schien nicht weiter beschädigt zu sein, sah aber jetzt anders aus. Vorher war sie nur eine Maschine gewesen, eine sehr schöne Maschine, die den doppelten Zweck erfüllte, daß sie ihn beförderte und er sich gleichzeitig wie James Dean oder wie Jack Nicholson in Hell's Angels on Wheels fühlen konnte. Aber jetzt schien das Chrom ihn anzugrinsen wie ein Jahrmarktsschreier, der ihn aufzufordern schien, doch raufzukommen und zu zeigen, ob er Manns genug war, das Monster mit den zwei Rädern zu reiten.
Beim dritten Versuch sprang sie an, und er fuhr im Schrittempo aus Bennington hinaus. Er trug Ringe aus kaltem Schweiß an den Armen, und nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so sehnlich wie in diesem Augenblick gewünscht, ein menschliches Gesicht zu sehen.
Aber an diesem Tag sah er keins mehr.
Am Nachmittag fuhr er etwas schneller, brachte es aber nicht über sich, das Gas weiter aufzudrehen, sobald die Tachonadel bei zwanzig Meilen stand, nicht einmal, wenn er sehen konnte, daß die Straße vor ihm frei war. Am Stadtrand von Wilmington fand er ein Sport- und Motorradgeschäft, hielt an und holte sich dicke Handschuhe und einen Helm, aber nicht einmal damit fuhr er schneller als fünfundzwanzig. An unübersichtlichen Kurven bremste er so stark ab, daß er die große Maschine praktisch schob. Er sah förmlich vor Augen, wie er bewußtlos am Straßenrand lag und verblutete.
Um fünf Uhr näherte er sich Brattleboro, und die Temperaturanzeige der Harley leuchtete rot auf. Larry hielt an und würgte sie mit gemischten Gefühlen von Erleichterung und Verdrossenheit ab.
»Hättest auch schieben können«, sagte er. »Sie ist für sechzig Stundenmeilen gedacht, Dummkopf!«
Er ließ sie stehen und ging zu Fuß in die Stadt, ohne zu wissen, ob er sie wieder holen würde.
In dieser Nacht schlief er unter dem Dach des Musikpavillons im öffentlichen Stadtpark von Brattleboro. Er legte sich hin, sobald es dunkel geworden war, und schlief fast auf der Stelle ein. Einige Zeit später weckte ihn ein Geräusch, und er schrak hoch. Er sah auf die Uhr. Die dünnen Radiumlinien auf dem Zifferblatt zeigten 11:20 Uhr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah in die Dunkelheit, spürte den riesigen Musikpavillon ringsum und vermißte das kleine Zelt, das seine Körperwärme festgehalten hatte. Warm wie in einem hübschen kleinen Mutterleib aus Segeltuch.
Falls da ein Geräusch gewesen war, war es jetzt nicht mehr da; sogar die Grillen waren verstummt. War das richtig? Konnte es richtig sein?
»Ist jemand da?« rief Larry, und seine eigene Stimme machte ihm angst. Er griff nach der doppelläufigen 30er und konnte sie einen panischen Augenblick, der sich in die Länge zog, nicht finden. Als er sie hatte, betätigte er, ohne nachzudenken, den Abzug, wie ein im Meer Ertrinkender den Rettungsring drückt, den man ihm zuwirft. Wäre das Gewehr nicht gesichert gewesen, hätte er es abgefeuert. Wahrscheinlich gegen sich selbst.
Etwas lauerte in der Stille. Vielleicht ein Mensch, vielleicht ein gefährliches Tier. Natürlich konnte auch ein Mensch gefährlich sein.
Ein Mensch wie der, der den Monster-Schreier mit zahllosen Stichen ermordet hatte, oder wie John Bearsford Tipton, der ihm für seine Frau eine Million in bar geboten hatte.
»Wer ist da?«
Er hatte eine Taschenlampe im Rucksack, aber um danach zu suchen, hätte er das Gewehr loslassen müssen, das er über den Schoß gezogen hatte. Außerdem... wollte er wirklich sehen, wer es war?
Und so saß er nur still da, wartete auf eine Bewegung oder eine Wiederholung des Geräuschs, das ihn geweckt hatte (war es ein Geräusch gewesen oder hatte er es nur geträumt?), und nach einer Weile nickte ihm erst der Kopf nach unten, dann döste er ein. Plötzlich riß er ruckartig den Kopf hoch, machte die Augen weit auf und spürte, wie sein Fleisch gegen die Knochen zu schrumpeln schien. Jetzt hatte er ein Geräusch gehört, und wenn die Nacht nicht bewölkt gewesen wäre, hätte der Mond, der beinahe voll war, ihm gezeigt...
Aber er wollte es nicht sehen. Nein, er wollte es ganz eindeutig nicht sehen. Dennoch beugte er sich nach vorne und lauschte mit geneigtem Kopf den Geräuschen staubiger Stiefelabsätze, die sich auf dem Gehweg der Main Street in Brattleboro, Vermont, in westlicher Richtung von ihm entfernten und immer leiser wurden, bis sie in der allgemeinen Geräuschkulisse untergingen.
Larry verspürte den plötzlichen, irren Impuls, aufzuspringen, den Schlafsack um die Knöchel hinunterrutschen zu lassen und zu schreien: Kommen Sie zurück, wer Sie auch sein mögen! Es ist mir gleich! Kommen Sie zurück! Aber er wollte eigentlich niemandem so einen Blankoscheck ausschreiben. Der Musikpavillon hätte seinen Ruf verstärkt - sein Flehen. Und was wäre, wenn die Stiefelschritte tatsächlich zurückkämen, in der Stille, in der nicht einmal Grillen zirpten, immer lauter würden?
Statt aufzustehen, legte er sich wieder hin und rollte sich in Embryonalhaltung zusammen, ohne die Flinte loszulassen. Heute nacht mache ich kein Auge mehr zu, dachte er, aber schon nach drei Minuten war er wieder eingeschlafen und ganz sicher, daß er alles nur geträumt hatte.