35

»Ich möchte aus der Stadt raus«, sagte Rita, ohne sich umzudrehen. Sie stand auf dem kleinen Balkon des Apartments, der Morgenwind spielte mit dem durchsichtigen Nachthemd, das sie trug, und wehte den Stoff durch die offene Schiebetür herein.

»Gut«, sagte Larry. Er saß am Tisch und aß ein Spiegeleisandwich. Sie drehte sich mit verhärmtem Gesicht zu ihm um. Als er sie im Park kennengelernt hatte, hatte sie wie eine elegante Spätvierzigerin ausgesehen, aber jetzt wirkte sie wie eine Frau, die auf des zeitlichen Messers Schneide tanzte, welche Anfang von Ende Sechzig trennte. Sie hatte eine Zigarette zwischen den Fingern, deren Spitze zitterte, so daß Rauchfähnchen aufstiegen, wenn sie sie zum Mund führte und rauchte, ohne zu inhalieren.

»Wirklich, es ist mein Ernst.«

Er wischte sich mit der Serviette den Mund. »Das weiß ich«, sagte er, »und ich verstehe es. Wir müssen weg.«

Ihre Gesichtsmuskeln wurden schlaff, als etwas wie Erleichterung in ihre Züge trat, und Larry stellte beinahe (aber nicht ganz) voll unterbewußtem Ekel fest, daß sie dadurch noch älter aussah.

»Wann?«

»Warum nicht gleich heute?« fragte er.

»Bist ein lieber Junge«, sagte sie. »Möchtest du noch Kaffee?«

»Kann ich selbst holen.«

»Unsinn. Bleib sitzen, wo du bist. Ich habe meinem Mann auch immer eine zweite Tasse geholt. Er bestand darauf. Und dabei habe ich beim Frühstück immer nur seinen Haaransatz gesehen. Der Rest steckte hinter dem Wall Street Journal oder einem gräßlich schweren Stück Literatur. Nicht nur etwas Bedeutungsvolles oder etwas mit Tiefgang, sondern etwas definitiv vor Bedeutung Triefendes. Böll. Camus. Milton, um Himmels willen. Du bist eine willkommene Abwechslung.« Auf dem Weg zur Kochnische sah sie über die Schulter; ihre Miene war schelmisch. »Es wäre jammerschade, dein Gesicht hinter einer Zeitung zu verstecken.«

Er lächelte verhalten. Heute morgen schien ihr Humor gezwungen zu sein, wie gestern nachmittag schon. Er erinnerte sich, wie er sie im Park kennengelernt hatte und ihre Unterhaltung ihm wie achtlos auf den grünen Filz eines Billardtischs gestreute Diamanten erschienen war. Seit gestern nachmittag waren Unterhaltungen wie funkelnde Zirkone, perfekte Imitationen, aber eben nur Imitationen.

»Hier.« Sie stellte die Tasse ab, und weil ihre Hand immer noch zitterte, tropfte ihm heißer Kaffee auf den Unterarm. Er zuckte mit einem katzenhaft zischenden Einatmen vor ihr zurück.

»Oh, tut mir leid...« Ihr Gesicht drückte mehr als Betroffenheit aus; es war fast so etwas wie Entsetzen.

»Schon gut...«

»Nein, ich hole nur... ein kaltes Tuch... sitz nicht... einfach so da... ich Dummkopf.«

Sie brach in Tränen aus und schluchzte abgehackt, als hätte sie gerade den scheußlichen Tod eines guten Freundes mit ansehen müssen und nicht nur ihn leicht mit etwas Kaffee verbrüht. Er stand auf, nahm sie in den Arm und nahm nicht ohne Mißfallen zur Kenntnis, wie fest sie ihn ihrerseits hielt. Es war beinahe ein Umklammern. Kosmische Umklammerung - Cosmic Clutch, das neue Album von Larry Underwood, dachte er unglücklich. O Scheiße. Du bist kein netter Kerl. Schon wieder.

»Tut mir leid, ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich bin sonst nie so, es tut mir so leid...«

»Schon gut, das macht doch nichts.« Er fuhr fort, sie mechanisch zu trösten und ihr mit den Händen über das melierte Haar zu streichen, das viel besser aussehen würde (wie überhaupt alles an ihr), wenn sie mal wieder längere Zeit im Bad verbringen würde. Selbstverständlich wußte er, was teilweise dafür verantwortlich war. Etwas Persönliches und etwas Allgemeines. Es hatte auch ihn beeinflußt, aber nicht so plötzlich und tiefgreifend. Bei ihr war es, als wäre in den letzten vierundzwanzig Stunden oder so ein innerer Kristall geborsten.

Allgemein, vermutete er, war es der Geruch. Derzeit kam er durch die Öffnung zwischen Wohnzimmer und Balkon herein - mit der kühlen Morgenbrise, die später stehender, schwüler Hitze weichen würde, wenn sich der Tag so wie die vorhergehenden entwickelte. Der Geruch war schwer so zu definieren, daß es korrekt und trotzdem nicht so schmerzhaft wie die nackte Wahrheit war. Man konnte sagen, er war wie schimmlige Orangen oder verdorbener Fisch oder der Gestank in U-Bahn-Schächten, den man mitbekam, wenn die Fenster offen waren; nichts davon traf den Kern der Sache genau. Den Kern traf voll und ganz, daß es der Geruch Tausender Menschen war, die hinter geschlossenen Türen in der Hitze verwesten, aber vor diesem Eingeständnis scheute man denn doch etwas zurück.

In Manhattan funktionierte der Strom noch, aber Larry glaubte nicht, daß das noch lange so weitergehen würde. In den meisten anderen Stadtteilen war er schon ausgegangen. Gestern abend hatte er, als Rita schon eingeschlafen war, auf dem Balkon gestanden, und von da oben konnte man sehen, daß die Lichter in halb Brooklyn und ganz Queens ausgegangen waren. Jenseits der North bis zum Ende von Manhattan Island war eine dunkle Fläche. In der anderen Richtung konnte er noch helle Lichter in Union City und - möglicherweise - Bayonne sehen, aber ansonsten war New Jersey schwarz.

Die Schwärze freilich bedeutete mehr als nur den Ausfall des Lichts. Unter anderem bedeutete sie den Ausfall der Klimaanlagen, diesem modernen Komfort, der es möglich machte, nach Mitte Juni in dieser besonders eklatanten Stadt zu leben. Sie bedeutete, daß alle Menschen, die friedlich in ihren Wohnungen gestorben waren, jetzt in Backöfen verwesten, und jedesmal, wenn er daran dachte, mußte er wieder an das Ding denken, das er in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One gesehen hatte. Er hatte davon geträumt, und in seinen Träumen erwachte diese schwarze Süßigkeit zum Leben und lockte ihn.

Persönlich machte ihr seiner Meinung nach zu schaffen, was sie herausgefunden hatten, als sie gestern durch den Park gegangen waren. Am Anfang war sie heiter und schwatzhaft und fröhlich gewesen, aber als sie zurückkam, fing sie an zu altern. Der Monster-Schreier hatte auf einem der Wege in einer Lache seines eigenen Blutes gelegen. Seine Brille, beide Gläser gesplittert, lagen zertreten neben seiner ausgestreckten linken Hand. Offenbar war doch ein Monster unterwegs gewesen. Der Mann wies zahlreiche Stichwunden auf. Larry betrachtete ihn ekelerfüllt und fand, daß er wie ein menschliches Nadelkissen aussah. Sie hatte nicht mehr aufgehört zu schreien, und als ihre Hysterie schließlich abgeklungen war, hatte sie darauf bestanden, daß sie ihn begruben. Also hatten sie es getan. Als sie in die Wohnung zurückgingen, war sie die Frau geworden, die er heute morgen vorgefunden hatte.

»Schon gut«, sagte er. » Nur leicht verbrüht. Die Haut ist nicht mal gerötet.«

»Ich hole Brandsalbe. Im Arzneischränkchen ist welche.«

Sie wollte weggehen, aber er hielt sie fest an den Schultern und drückte sie auf den Stuhl. Sie sah ihn mit dunklen Ringen unter den Augen an.

»Nein, du wirst essen«, sagte er. »Rührei, Toast, Kaffee. Dann besorgen wir uns Stadtpläne und suchen den besten Weg, Manhattan zu verlassen. Dir ist klar, daß wir zu Fuß gehen müssen.«

»Ja... das müssen wir wohl.«

Er ging in die Kochnische, weil er das stumme Flehen in ihren Augen nicht mehr sehen wollte, und nahm die beiden letzten Eier aus dem Kühlschrank. Er schlug sie in eine Schüssel, warf die Schalen in den Müllschlucker und fing an, sie zu verquirlen.

»Wohin willst du?« fragte er.

»Was? Ich weiß nicht...«

»In welche Richtung?« sagte er mit einem Anflug von Ungeduld. Er goß Milch in die Eier und stellte die Stielpfanne wieder auf den Herd.

»Nach Norden? Dort liegt Neuengland. Süden? Scheint mir sinnlos zu sein. Wir könnten nach...«

Ein ersticktes Schluchzen. Er drehte sich um und stellte fest, daß sie ihn mit glänzenden Augen ansah und ihre Hände im Schoß dabei miteinander kämpften. Sie versuchte, sich zu beherrschen, hatte aber keinen Erfolg damit.

»Was ist denn los?« sagte er und ging zu ihr. »Was hast du?«

»Ich glaube nicht, daß ich etwas essen kann«, schluchzte sie. »Ich weiß, du willst es... ich versuche es... aber der Geruch...«

Er ging durchs Wohnzimmer, schob die Balkontür auf ihrer Schiene aus rostfreiem Stahl zu und verschloß sie fest.

»So«, sagte er und wünschte sich etwas, daß man ihm seinen Zorn auf sie nicht zu sehr anmerken würde. »Besser?«

»Ja«, sagte sie übereifrig. »Viel besser. Jetzt kann ich essen.«

Er ging in die Kochnische zurück und rührte die Eier um, die Blasen zu werfen begannen. In der Besteckschublade war eine Reibe, und er rieb noch einen Würfel Käse damit und machte ein kleines Häufchen, das er über die Eier streute. Sie bewegte sich hinter ihm, und einen Augenblick später ertönte Debussy durch das Apartment - für Larrys Geschmack zu leicht und hübsch. Ihm lag nichts an leichter klassischer Musik. Wenn man sich schon den klassischen Scheiß anhören mußte, dann sollte man aber auch auf die Vollen gehen und sich Beethoven oder Wagner oder so was reinziehen. Warum herumalbern?

Sie hatte ihn beiläufig gefragt, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente ... der Beiläufigkeit von jemand, überlegte er mißfällig, für den so etwas Nebensächliches wie »Lebensunterhalt« nie ein Problem gewesen war. Ich war Rocksänger, hatte er ihr gesagt und sich dabei gewundert, wie mühelos ihm die Vergangenheitsform über die Lippen kam. Habe eine Weile mit dieser Band gesungen, dann mit jener. Manchmal Studioaufnahmen. Sie hatte genickt, und das war's gewesen. Er verspürte nicht den Wunsch, ihr von »Baby, Can You Dig Your Man?« zu erzählen - das war jetzt Vergangenheit. Die Kluft zwischen diesem und jenem Leben war so riesig, daß er sie noch gar nicht richtig begriffen hatte. In jenem Leben war er vor einem Kokaindealer davongelaufen; in diesem konnte er einen Mann im Central Park begraben und es (mehr oder weniger) als natürlichen Lauf der Dinge akzeptieren.

Er tat die Eier auf einen Teller, stellte eine Tasse löslichen Kaffee mit viel Milch und Zucker dazu (Larry selbst hielt sich an den TruckerWahlspruch: »Wenn du eine Tasse Milch und Zucker willst, warum bestellst du dann Kaffee?«) und trug alles zum Tisch. Sie saß auf einem Sitzkissen, hielt sich die Ellbogen und war der Stereoanlage zugewandt. Debussy erklang wie geschmolzene Butter aus den Lautsprechern.

»Zur Suppe«, rief er.

Sie kam zaghaft lächelnd zu Tisch und betrachtete die Eier ungefähr so, wie ein Hürdenläufer eine Reihe Hürden ansehen würde; dann fing sie an zu essen.

»Gut«, sagte sie. »Hast recht gehabt. Danke.«

»Mehr als gern geschehen«, sagte er. »Und jetzt paß auf. Ich habe folgenden Vorschlag. Wir gehen die Fifth bis zur 39th Street runter und biegen nach Westen ab. Im Lincoln Tunnel durch New Jersey. Der 495 können wir bis Passaic nach Nordwesten folgen und... sind die Eier gut? Sie sind doch nicht verdorben, oder?«

Sie lächelte. »Prima.« Sie schaufelte mehr in den Mund und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. »Genau das, was ich brauche. Sprich weiter, ich höre zu.«

»Von Passaic aus arbeiten wir uns einfach nach Westen vor, bis die Straßen so weit frei sind, daß wir fahren können. Ich dachte mir, dann könnten wir nach Nordosten fahren, Richtung Neuengland. Eine Art Haken schlagen, klar? Sieht vielleicht länger aus, aber ich glaube, wir werden jede Menge Kilometer sparen. Vielleicht nehmen wir uns in Maine ein Haus am Meer. Kitterey, York, Wells, Ogunquit, vielleicht Scarborough oder Boothbay Harbor. Wie hört sich das an?«

Er hatte zum Fenster hinausgesehen und beim Sprechen nachgedacht, jetzt drehte er sich zu ihr um. Was er sah, machte ihm einen Moment große Angst - es war, als hätte sie den Verstand verloren. Sie lächelte, aber es war ein Starrkrampf der Pein und des Entsetzens. Große, runde Schweißperlen standen ihr im Gesicht.

»Rita? Herrgott, Rita, was...«

»... tut mir leid...« Sie sprang auf, stieß den Stuhl dabei um und lief quer durchs Wohnzimmer. Sie blieb mit einem Fuß an dem Sitzkissen hängen, auf dem sie gesessen hatte; es kippte um wie ein riesiger Damestein. Sie wäre um ein Haar selbst gestürzt.

»Rita

Dann war sie im Bad, und er konnte die Würgelaute ihres Frühstücks hören, das wieder hochkam. Er schlug erbost mit der flachen Hand auf den Tisch, dann stand er auf und ging ihr nach. Herrgott, er konnte es nicht ab, wenn Leute kotzten. Man wollte dann immer selbst gleich mitkotzen. Als er den anverdauten Reibkäse im Bad roch, war ihm selbst nach Würgen zumute. Rita saß auf dem meisenblauen Fliesenboden, hatte die Beine untereinander verschränkt und hing immer noch schlapp über der Kloschüssel. Sie wischte sich den Mund mit einem Stück Toilettenpapier ab und sah ihn dann mit leichenblassem Gesicht flehentlich an.

»Tut mir leid, ich konnte es einfach nicht essen, Larry. Wirklich nicht. Es tut mir so leid.«

»Mein Gott, wenn du das so genau gewußt hast, warum hast du es dann überhaupt versucht

»Weil du es wolltest. Ich wollte nicht, daß du böse auf mich bist. Aber das bist du jetzt, nicht? Du bist böse auf mich.«

Er mußte an gestern nacht denken. Sie hatte so hemmungslos mit ihm geschlafen, daß er zum ersten Mal an ihr Alter gedacht und Ekel empfunden hatte. Ihm war gewesen, als stecke er in einer dieser Trainingsmaschinen fest. Er war schnell gekommen, beinahe wie in Selbstverteidigung, und sie war lange Zeit später keuchend und unbefriedigt zurückgesunken. Später, als er kurz vor dem Einschlafen war, hatte sie sich dicht an ihn gekuschelt, und er hatte erneut ihr Duftkissen riechen können, eine teurere Version des Geruches, den seine Mutter immer aufgelegt hatte, wenn sie ins Kino gegangen waren, und da hatte sie etwas gemurmelt, das ihn zurückgerissen und noch zwei Stunden lang wach gehalten hatte: Du verläßt mich doch nicht, oder? Du wirst mich doch nicht verlassen?

Davor war sie gut im Bett gewesen, so gut, daß er fassungslos war. Nach ihrem Abendessen am Tag, als sie sich kennenlernten, hatte sie ihn mit hierher gebracht, und was sich ergeben hatte, hatte sich ganz natürlich ergeben. Er erinnerte sich an einen Augenblick des Ekels, als er sah, wie schlaff ihre Brüste und wie blau die Adern zu sehen waren (er mußte an die Krampfadern seiner Mutter denken), aber das alles hatte er vergessen, als sie die Beine angezogen und die Schenkel mit erstaunlicher Kraft gegen seine Schenkel gedrückt hatte.

Langsam hatte sie gelacht. Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

Er war kurz davor gewesen, als sie ihn von sich herunter stieß und aufstand, um Zigaretten zu holen.

Scheiße, was machst du da? fragte er fassungslos, während sein Johannes sichtlich pulsierend und ungehalten in die Luft ragte.

Sie hatte gelächelt. Du hast eine Hand frei, oder? Ich auch.

Also hatten sie das gemacht, während sie rauchten, und sie schwatzte unbekümmert über alles mögliche - aber ihre Wangen bekamen Farbe, und nach einer Weile wurde ihr Atem abgehackter, und was sie sagte, blieb unvollendet und vergessen.

Jetzt, hatte sie gesagt, seine und ihre Zigarette genommen und ausgedrückt. Mal sehen, ob du zu Ende bringen kannst, was du angefangen hast. Wenn nicht, reiße ich dich wahrscheinlich in Stücke.

Er brachte es für sie beide einigermaßen befriedigend zu Ende, danach waren sie eingeschlafen. Irgendwann nach vier wachte er auf und überlegte sich, daß doch etwas dran war an der Erfahrung. Er hatte in den vergangenen Jahren eine ganze Menge gevögelt, aber das, was vorhin passiert war, war nicht nur Vögeln gewesen. Es war viel besser, wenn auch ein klein wenig dekadent.

Nun, sie hat natürlich Liebhaber gehabt.

Das hatte ihn wieder erregt, und er hatte sie geweckt. So war es gewesen, bis sie den Monster-Schreier gefunden hatten, bis letzte Nacht. Vorher war es auch zu Vorfällen gekommen, die ihn beunruhigten, aber er hatte sie akzeptiert. Wenn einen so etwas, hatte er es begründet, nur ein klein wenig verschroben machte, geht's einem noch ganz gut.

Vor zwei Nächten war er gegen zwei aufgewacht und hatte gehört, wie sie sich im Bad ein Glas Wasser einschenkte. Er wußte, sie nahm wahrscheinlich wieder eine Schlaftablette. Sie hatte diese großen rot-gelben Gelatinekapseln, die an der Westküste als »Gelbjacken« bekannt waren. Starke Schlaffmacher. Er sagte sich, daß sie sie wahrscheinlich schon lange vor der Supergrippe genommen hatte.

Dann die Art, wie sie ihm auch in der Wohnung auf Schritt und Tritt folgte und sogar unter der Badezimmertür stand, wenn er duschte oder sich erleichterte. Er selbst war im Bad gerne ungestört, sagte sich aber, daß das nicht auf alle zutreffen mußte. Kam wohl auf die Erziehung an. Er würde mit ihr reden ... irgendwann einmal. Aber jetzt...

Würde er sie auf dem Rücken tragen müssen? Himmel, hoffentlich nicht. Sie hatte einen stärkeren Eindruck gemacht, wenigstens anfangs. Das war ein Grund, warum sie ihm damals im Park so gut gefallen hatte... eigentlich der Hauptgrund. Ebenso wenig wahr wie die Werbung, dachte er verbittert. Verdammt, wie sollte er sich um sie kümmern, wenn er nicht einmal auf sich selbst aufpassen konnte? Und das hatte er ja hinreichend bewiesen, als seine Platte den Durchbruch geschafft hatte. Auch Wayne Stukey hatte ihm das nur allzu deutlich zu verstehen gegeben.

»Nein«, sagte er zu ihr. »Ich bin nicht böse. Es ist einfach so, weißt du... ich bin nicht dein Boß. Wenn du nichts essen willst, sag es einfach.«

»Ich habe es dir gesagt... ich habe gesagt, ich glaube nicht, dass ich...«

»Einen Scheißdreck hast du«, schnappte er aufgebracht. Sie beugte den Kopf nach unten und sah auf ihre Hände, und er wußte, sie bemühte sich, nicht zu schluchzen, weil ihm das nicht gefallen würde. Einen Moment lang machte ihn das wütender denn je, und er hätte beinahe geschrien: Ich bin nicht dein Vater oder dein dicker, fetter Mann! Ich habe keine Lust, auf dich aufzupassen! Herrgott, du bist dreißig Jahre älter als ich! Aber dann verspürte er die altbekannte Abscheu vor sich selbst und fragte sich, was nur mit ihm los sein mochte.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin ein gefühlloses Arschloch.«

»Nein, das bist du nicht«, sagte sie schniefend. »Es ist nur... allmählich wird mir alles erst richtig bewußt. Es... gestern... dieser arme Mann im Park... Ich dachte mir: Niemand wird je die Leute schnappen, die ihm das angetan haben, und sie ins Gefängnis bringen. Sie können es immer wieder machen. Wie Tiere im Dschungel. Und plötzlich war alles schreckliche Wirklichkeit. Verstehst du das, Larry? Ist dir klar, was ich meine?« Sie sah mit verweinten Augen zu ihm auf.

»Ja«, sagte er, verspürte aber immer noch Zorn auf sie, gemischt mit einem ganz klein wenig Verachtung. Es war eine reale Situation, wie sollte es anders sein? Sie steckten mittendrin, er hatte selbst mit ansehen müssen, wie es so weit gekommen war. Seine eigene Mutter war tot; er hatte sie sterben sehen. Wollte sie etwa sagen, daß sie allem gegenüber viel feinfühliger war als er? Er hatte seine Mutter verloren und sie den Mann, der ihren Mercedes vorgefahren hatte, aber irgendwie schien ihr Verlust angeblich größer zu sein. Das war Scheiße. Schlicht und einfach Scheiße.

»Bitte sei nicht böse auf mich«, sagte sie. »Ich versuche mich zu bessern.«

Das hoffe ich. Das hoffe ich wirklich.

»Du bist großartig«, sagte er und half ihr auf die Beine. »Komm jetzt. Was meinst du? Wir haben viel vor uns. Fühlst du dich dazu imstande?«

»Ja«, sagte sie, aber ihr Gesichtsausdruck war derselbe wie eben, als er ihr die Eier angeboten hatte.

»Wenn wir aus der Stadt sind, geht es dir wieder besser.«

Sie sah ihn unverhohlen an. »Wirklich?«

»Klar«, sagte Larry aus tiefstem Herzen. »Auf jeden Fall.«




Sie gingen ins erste Haus am Platz.

Manhattan Sporting Goods war verschlossen, aber Larry schlug mit einem langen Eisenrohr, das er gefunden hatte, ein Loch ins Schaufenster. Der Einbruchalarm heulte sinnlos in die verlassene Straße. Er stellte ein großes Bündel für sich und ein kleineres für Rita zusammen. Sie hatte ihnen beiden zweimal Kleidungsstücke zum Wechseln eingepackt - mehr duldete er nicht -, die trug er in einer Reisetasche von PanAm, die sie im Schrank gefunden hatte, zusammen mit den Zahnbürsten. Die Zahnbürsten kamen ihm etwas absurd vor. Rita hatte sich für den Fußmarsch sportlich gekleidet weiße Seidenhose und Chiffonbluse. Larry trug verwaschene Jeans und ein weißes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Sie luden gefriergetrocknete Lebensmittel in die Rucksäcke, sonst nichts. Es hatte keinen Sinn, sagte Larry ihr, sich mit unnützem Zeug zu belasten - einschließlich Kleidung -, wo sie sich doch auf der anderen Seite des Flusses einfach nehmen konnten, was sie wollten. Sie stimmte ergeben zu, und ihr mangelndes Interesse brachte ihn erneut auf die Palme.

Nach einem kurzen, inneren Streitgespräch mit sich selbst, packte er auch eine doppelläufige Flinte Kaliber 30 und hundert Schuss Munition ein. Es war ein wunderschönes Gewehr; auf dem Preisschild, das er vom Abzug riß und gleichgültig auf den Boden fallen ließ, stand vierhundertfünfzig Dollar.

»Glaubst du wirklich, daß wir die brauchen?« fragte sie furchtsam. Sie hatte ihre Zweiunddreißiger immer noch in der Handtasche.

»Ich glaube, wir sollten sie lieber mitnehmen«, sagte er ihr; mehr wollte er nicht sagen, aber er mußte an das häßliche Ende des Monster-Schreiers denken.

»Oh«, sagte sie mit leiser Stimme, und er sah ihren Augen an, dass sie ebenfalls daran dachte.

»Der Rucksack ist nicht zu schwer für dich, oder?«

»O nein. Auf keinen Fall. Nein.«

»Die Dinger werden mit der Zeit schwerer. Sag einfach Bescheid, dann trage ich ihn eine Weile für dich.«

»Ich schaffe es«, sagte sie und lächelte. Als sie wieder auf dem Gehweg standen, sah sie in beide Richtungen und sagte: »Wir verlassen New York.«

»Ja.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Ich bin froh. Ich komme mir vor wie... oh, als ich ein kleines Mädchen war. Und mein Vater sagte: >Heute machen wir einen Ausflug.< Kannst du dich auch erinnern, wie das war?«

Larry lächelte ebenfalls verhalten und dachte an die Abende, wenn seine Mutter gesagt hatte: >Der Western, den du sehen wolltest, läuft unten im Crest, Larry. Mitchum und Palance. Was meinst du?<

»Ich kann mich erinnern«, sagte er.

Sie streckte sich auf Zehenspitzen und rückte den Rucksack etwas auf den Schultern zurecht.

»Der Anfang einer Reise«, sagte sie, und dann so leise, daß er nicht sicher war, ob er richtig verstanden hatte: »Die Straße gleitet fort und fort...«

»Was?«

»Das ist ein Zitat von Tolkien«, sagte sie. »Der Herr der Ringe. Ich habe es immer als eine Art Tor ins Abenteuer betrachtet.«

»Je weniger Abenteuer, desto besser«, sagte Larry, aber er verstand fast gegen seinen Willen, was sie meinte.

Sie betrachtete immer noch die Straße. Hier, an dieser Kreuzung, war sie ein schmaler Canyon zwischen hohen Steinmauern und Abschnitten mit Thermopanescheiben, in denen sich die Sonne spiegelte, und von meilenlangen Autoschlangen verstopft. Es war, als hätte sich ganz New York gleichzeitig überlegt, auf der Straße zu parken.

Sie sagte: »Ich war in Bermuda und England und Jamaica und Montreal und Saigon und in Moskau. Aber einen Ausflug habe ich nicht mehr gemacht, seit ich ein kleines Mädchen war und mein Vater mich und meine Schwester Bess in den Zoo mitgenommen hat. Gehen wir, Larry.«




Es war ein Spaziergang, den Larry Underwood nie vergaß. Er dachte, daß sie nicht so unrecht gehabt hatte, Tolkien zu zitieren, Tolkien mit seinen mythischen Ländern, die durch die Linse der Zeit und halb verrückter, halb erhabener Ideen gesehen wurden und von Eiben und Ents und Trollen und Orks bevölkert waren. Das alles gab es in New York natürlich nicht, aber es hatte sich so viel verändert, so vieles war aus den Fugen geraten, daß es unmöglich war, nicht an Fantasy zu denken. An einem Laternenpfahl der Fifth und East 45th, unterhalb des Parks in einer freundlichen Wohngegend, hing ein Mann, der ein Schild mit dem Wort PLÜNDERER um den Hals hatte. Eine Katze lag auf einem sechseckigen Abfalleimer (auf dessen Seiten immer noch Plakate einer Broadway-Show klebten, die wie neu aussahen), säugte ihre Jungen und genoß die Morgensonne. Ein junger Mann mit breitem Grinsen und einem Aktenkoffer unter dem Arm kam zu Larry und sagte ihm, er würde ihm eine Million geben, wenn er die Frau fünfzehn Minuten benützen dürfe. Die Million befand sich wahrscheinlich in dem Aktenkoffer. Larry nahm die Flinte zur Hand und sagte ihm, er solle sich seine Million woanders hin stecken. »Klar, Mann. Nimm's mir nicht übel, klar? Versuchen kann man's ja mal, oder? Schönen Tag noch. Und immer schön locker bleiben.«

Kurz nach der Begegnung mit dem Mann (den Rita voll hysterischer Heiterkeit John Bearsford Tipton nannte, ein Name, der Larry nichts sagte) kamen sie zur Ecke Fifth und East 39th. Es war fast Mittag, und Larry schlug vor, daß sie etwas essen sollten. An der Ecke war ein Imbiß, aber als er die Tür aufstieß, wich sie vor dem Gestank verfaulenden Fleisches zurück, der herausströmte.

»Wenn ich das bißchen Appetit nicht verlieren will, sollte ich besser nicht da hineingehen«, sagte sie als Entschuldigung.

Larry dachte sich, daß er unverdorbene Lebensmittel drinnen finden könnte - Salami, Pepperoniwurst, so etwas -, aber nachdem sie vier Blocks zurück »John Bearsford Tipton« über den Weg gelaufen waren, wollte er sie nicht einmal die kurze Zeit allein lassen, die er brauchen würde, um reinzugehen und nachzusehen. Daher setzten sie sich einen halben Block westlich auf eine Bank und aßen getrocknetes Obst und Dörrfleisch. Als Nachtisch gab es Käse auf Ritz Crackers, dazu reichten sie eine Thermoskanne eisgekühlten Kaffee hin und her.

»Diesmal hatte ich echt Hunger«, sagte sie stolz.

Er lächelte sie an und fühlte sich besser. Einfach unterwegs zu sein, etwas zu unternehmen, war gut. Er hatte ihr gesagt, wenn sie New York hinter sich hätten, würde es ihr bessergehen. Das hatte er nur so hingesagt gehabt. Aber wenn er jetzt überlegte, wie sehr sich seine Laune verbessert hatte, mußte doch was drangewesen sein. New York war wie ein Friedhof, wo die Toten noch nicht ganz ruhig waren. Je früher sie wegkamen, desto besser. Vielleicht würde sie wieder so werden wie an jenem ersten Tag im Park. Sie würden sich auf Nebenstraßen nach Maine durchschlagen und einen Haushalt in einem Sommerhaus der Stinkreichen einrichten. Jetzt nach Norden, und im September oder Oktober nach Süden. Boothbay Harbor im Sommer, Key Biscayne im Winter. Hörte sich gut an. Weil er so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, sah er nicht, wie sie vor Schmerzen das Gesicht verzog, während sie aufstand und die Waffe, die er mitgenommen hatte, über die Schulter hängte.

Sie gingen jetzt nach Westen, und ihre Schatten folgten ihnen - anfangs als platt gequetschte Frösche, später länger, je weiter der Nachmittag fortschritt. Sie überquerten die Avenue of the Americans, Seventh Avenue, Eigth, Ninth, Tenth. Die Straßen waren verstopft und stumm, gefrorene Automobilflüsse in allen Farben, aber beherrscht vom Gelb der Taxis. Viele der Autos waren zu Leichenwagen geworden, die verwesenden Fahrer saßen noch am Lenkrad, die Passagiere waren zusammengesunken, als hätten sie den Stau satt und wären eingedöst. Larry begann zu erwägen, ob sie sich vielleicht Motorräder besorgen sollten, wenn sie aus der Stadt waren. Damit wären sie beweglich und könnten die schlimmsten Staus abgestellter Fahrzeuge, die überall die Highways verstopfen mußten, umgehen.

Immer vorausgesetzt, sie kann ein Motorrad fahren, dachte er. Und wie die Dinge so liefen, würde sich sicher herausstellen, daß sie es nicht konnte. Das Zusammenleben mit Rita wurde zu einer regelrechten Belastung, wenigstens in mancher Hinsicht. Aber wenn es hart auf hart ging, konnte sie wohl auf dem Soziussitz mit ihm fahren.

An der Kreuzung Thirty-ninth und Seventh sahen sie einen jungen Mann, der abgeschnittene Jeans anhatte und sonst nichts, auf dem Dach eines Ding-dong Taxi liegen.

»Ist er tot?« fragte Rita, und beim Klang ihrer Stimme setzte der junge Mann sich auf, schaute sich um, sah sie und winkte. Sie winkten zurück. Der junge Mann legte sich ruhig wieder hin. Kurz nach zwei Uhr überquerten sie die Eleventh Avenue. Larry hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei hinter sich und merkte, daß Rita nicht mehr links neben ihm ging.

Sie war auf ein Knie gesunken und hielt sich den Fuß. Mit so etwas wie Entsetzen sah Larry zum ersten Mal, daß sie teure offene Sandaletten trug, wahrscheinlich in der Größenordnung achtzig Dollar, genau das richtige für einen Schaufensterbummel auf der Fifth Avenue, aber für einen langen Fußmarsch - fast eine Expedition -, den sie vor sich hatten...

Die Riemchen hatten die Haut aufgescheuert. Blut rann an ihren Knöcheln hinab.

»Larry, es tut mir so...«

Er riß sie unsanft auf die Füße. »Was hast du dir eigentlich gedacht?« schrie er ihr ins Gesicht. Er empfand einen Augenblick Scham, weil sie so kläglich zurückzuckte, aber gleichzeitig ein gemeines Vergnügen. »Hast du gedacht, du könntest mit dem Taxi in deine Wohnung zurück, wenn deine Füße müde werden?«

»Ich dachte nie...«

»Herrgott noch mal!« Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar.

»Natürlich nicht. Du blutest, Rita. Wie lange tut es schon weh?«

Ihre Stimme klang so tief und heiser, daß er selbst in dieser unnatürlichen Stille Mühe hatte, sie zu verstehen. »Seit... ungefähr seit Fifth und Fortyninth, glaube ich.«

»Deine Füße tun seit zwanzig verdammten Blocks weh, und du hast nichts gesagt?«

»Ich dachte... es würde... aufhören... nicht mehr wehtun... ich wollte nicht... wir sind so gut vorangekommen... aus der Stadt raus... ich dachte einfach...«

»Du hast überhaupt nicht gedacht«, sagte er wütend. »Wie sollen wir vor. ankommen, wenn du so rumläufst? Deine Scheißfüße sehen aus, als hätte man dich gekreuzigt.«

»Fluch mich nicht an, Larry«, sagte sie und fing an zu schluchzen.

»Bitte, nicht... es ist schrecklich, wenn du... bitte fluch mich nicht an...«

Aber er war jetzt in einer Ekstase der Wut, und später sollte er überhaupt nicht mehr begreifen, wieso der Anblick ihrer blutenden Füße seine sämtlichen Sicherungen derart hatte durchbrennen lassen. Im Augenblick war ihm das egal. Er schrie ihr ins Gesicht: »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Das Wort hallte schwach und sinnlos von den Fassaden der Hochhäuser wider.

Sie schlug die Hände vors Gesicht und krümmte sich weinend nach vorne. Das machte ihn nur noch wütender, und er vermutete, teilweise deshalb, weil sie einfach nicht sehen wollte: Sie schlug einfach die Hände vors Gesicht und ließ sich von ihm führen; warum auch nicht, es war immer jemand da gewesen, der gut für unsere Heldin Klein-Rita gesorgt hatte. Jemand, der den Wagen fuhr, die Einkäufe erledigte, das Toilettenbecken scheuerte und die Einkommensteuererklärung ausfüllte. Also legen wir einfach den zum Kotzen süßlichen Debussy auf, schlagen die gut manikürten Hände vor die Augen und überlassen alles andere Larry. Paß gut auf mich auf, Larry! Nachdem ich gesehen habe, was mit dem MonsterSchreier passiert ist, habe ich beschlossen, daß ich überhaupt nichts mehr sehen will. Für jemanden meiner Herkunft ist das alles doch recht unerquicklich.

Er riß ihr die Hände weg. Sie zuckte zusammen und versuchte, sie wieder vor die Augen zu legen.

»Sieh mich an.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Verdammt noch mal, sieh mich an, Rita.«

Schließlich sah sie ihn an, aber so ängstlich, als rechnete sie damit, daß er sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit den Fäusten bearbeiten würde. Wie ihm momentan zum Teil zumute war, käme ihm das genau recht.

»Ich will dir mal ein paar Tatsachen erklären, weil du sie ganz offensichtlich nicht begreifst. Tatsache ist, daß wir vielleicht zwanzig oder dreißig Meilen zu Fuß gehen müssen. Tatsache ist, daß deine aufgescheuerte Haut sich entzünden könnte, und du könntest eine Blutvergiftung bekommen und sterben. Tatsache ist, du mußt endlich den Arsch bewegen und mir helfen.«

Er hatte sie am Oberarm festgehalten und sah, daß seine Daumen fast in ihrem Fleisch verschwunden waren. Seine Wut ließ nach, als er sie losließ und die roten Stellen sichtbar wurden. Er trat ein Stück zurück, fühlte sich wieder unsicher, von der niederschmetternden Einsicht erfüllt, daß er völlig überzogen reagiert hatte. Larry Underwood schlägt wieder zu. Wenn er so verdammt schlau war, warum hatte er dann nicht vorher ihre Schuhe überprüft?

Weil, das ihr Problem ist, sagte eine mürrische Stimme in ihm zur Verteidigung.

Nein, das stimmte nicht. Es war sein Problem gewesen. Sie wußte es nicht. Wenn er sie mitnehmen wollte (und erst heute hatte er sich überlegt, wieviel einfacher das Leben wäre, wenn er sie nicht mitgenommen hätte), dann war er ganz einfach für sie verantwortlich.

Einen Scheißdreck bin ich, sagte die mürrische Stimme. Seine Mutter: Du willst nur immer nehmen, Larry.

Die Oralhygienikerin, die ihm aus dem Fenster nachgerufen hatte: Ich dachte, du bist ein netter Kerl! Du bist kein netter Kerl!

Dir fehlt etwas, Larry. Du willst nur immer nehmen.

Das ist eine Lüge. Das ist eine gottverdammte Lüge!

»Rita«, sagte er, »es tut mir leid.«

Sie setzte sich mit der ärmellosen Bluse und der weißen Hose auf den Gehweg, ihr Haar sah grau und alt aus. Sie senkte den Kopf und hielt sich den verletzten Fuß. Sie sah ihn nicht an.

»Es tut mir leid«, wiederholte er. »Ich... hör zu, ich hatte kein Recht, so mit dir zu reden.« Er hatte natürlich das Recht, aber das spielte keine Rolle. Wenn man sich entschuldigt, konnte man die Dinge bereinigen. Das war der Lauf der Welt.

»Geh nur weiter, Larry«, sagte sie, »laß dich von mir nicht aufhalten.«

»Ich hab' gesagt, daß es mir leid tut«, sagte er mit leicht verdrossener Stimme. »Wir werden dir neue Schuhe und weiße Socken besorgen. Wir...«

»Nichts werden wir. Geh.«

»Rita, es tut mir leid...«

»Wenn du das noch einmal sagst, schreie ich. Du bist ein Drecksack, und ich akzeptiere deine Entschuldigung nicht. Und jetzt geh.«

»Ich habe doch gesagt...«

Sie warf den Kopf zurück und kreischte. Er ging einen Schritt zurück und sah sich um, ob jemand sie gehört hatte, ob vielleicht ein Polizist herbeirannte, um zu sehen, was für entsetzliche Dinge dieser junge Bursche der alten Dame zufügte, die mit ausgezogenen Schuhen auf dem Gehweg saß. Kulturelle Konditionierung, dachte er abwesend, zum Schreien komisch.

Sie hörte auf zu schreien und sah ihn an. Sie winkte mit der Hand, als wäre er eine lästige Fliege.

»Hör besser auf«, sagte er, »oder ich gehe wirklich.«

Sie sah ihn nur an. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, senkte den Blick und haßte sie, weil sie ihn so weit gebracht hatte.

»Also gut«, sagte er. »Viel Spaß, wenn du vergewaltigt und ermordet wirst.«

Er schulterte das Gewehr und ging weiter, jetzt nach links zur von Autos verstopften Einfahrt der 495, die zum Tunnel hinunterführte. Er sah, daß es am Ende der Einfahrt zu einem schlimmen Unfall gekommen war; der Fahrer eines Mayflower-Möbelwagens hatte versucht, sich in den Verkehrsstrom einzufädeln, Autos lagen um ihn herum wie umgeworfene Kegel. Ein ausgebrannter Pinto lag fast unter dem Lastwagen. Der Fahrer des Lasters hing halb aus der Fahrerkabine, sein Kopf hing herab, die Arme baumelten herunter. Getrocknetes Blut und Kotze klebten fächerförmig unter ihm an der Tür.

Larry drehte sich um und war überzeugt, daß Rita ihm entweder folgen oder dastehen und ihn vorwurfsvoll ansehen würde. Aber Rita war verschwunden.

»Hol dich der Teufel«, sagte er nervös und beleidigt. »Ich habe versucht, mich zu entschuldigen.«

Einen Augenblick konnte er nicht weiter; er fühlte sich von Hunderten von wütenden toten Augen gepfählt, die ihn aus den vielen Autos anstarrten. Ihm fielen ein paar Zeilen von Bob Dylan ein: »I waited for you inside the frozen traffic... when you knew I had some other place to be... but where are you tonight, sweet Marie?«

Vor sich sah er dichten Verkehr auf vier nach Westen führenden Fahrspuren im dunklen Halbrund des Tunnels verschwinden und bemerkte mit einem Anflug von Grauen, daß die Neonlampen im Tunnel nicht brannten. Als würde er in einen Autofriedhof gehen. Sie würden warten, bis er in der Mitte war, und dann würden sie alle anfangen, sich zu bewegen... lebendig zu werden ...er würde hören, wie sich die Autotüren öffneten und leise wieder schlössen... ihre leisen, schlurfenden Schritte...

Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Über ihm krächzte ein Vogel, und Larry schrak zusammen. Du bist albern, sagte er sich. Kindisches Zeug, weiter nichts. Du mußt nur auf dem Fußgängerweg bleiben und wirst in Null Komma nichts...

... von den wandelnden Toten erwürgt.

Er leckte sich die Lippen und versuchte zu lachen. Es hörte sich schlimm an. Er ging fünf Schritte zu der Stelle, wo die Einfahrt sich in den Highway einfädelte, und blieb dann stehen. Links von ihm stand ein Caddy, ein El Dorado, und eine Frau mit schwarzem Trollgesicht starrte ihn an. Sie drückte die Nase am Fenster platt. Blut und Rotz waren an der Scheibe herabgelaufen. Der Mann, der den Caddy gefahren hatte, hing über dem Steuer, als würde er etwas auf dem Boden suchen. Alle Fenster des Caddy waren geschlossen; da drinnen mußte es wie in einem Treibhaus sein. Wenn er die Tür aufmachte, würde die Frau herausfallen und auf dem Pflaster zerplatzen wie ein Sack verrotteter Melonen, und der Gestank würde warm und süß sein, naß und von Fäulnis erfüllt.

Und so würde es auch im Tunnel stinken.

Larry drehte sich unvermittelt um, stapfte den Weg zurück, den er gekommen war, und spürte, wie der Wind, den er selbst erzeugte, den Schweiß auf seiner Stirn abkühlte.

»Rita! Rita, hör zu! Ich will...«

Die Worte erstarben, als er wieder oben an der Einfahrt angekommen war. Rita war immer noch verschwunden. Die 39. Straße schrumpfte zu einem Punkt zusammen. Er lief vom südlichen Gehweg zum nördlichen hinüber, zwängte sich zwischen Stoßstangen hindurch und kletterte über Motorhauben, die so heiss waren, daß man fast Blasen an den Händen bekommen konnte. Aber der nördliche Gehweg war ebenfalls verlassen. Er hob die Hände trichterförmig an den Mund und rief: »Rita! Rital«

Die einzige Antwort war ein totes Echo: »Rita.. .ita.. .ita...«




Gegen vier Uhr hatten sich dunkle Wolken über Manhattan zusammengezogen, und Donner grollte über den Steinschluchten der Stadt. Gabelförmige Blitze zuckten auf die Häuser herab. Es war, als würde Gott versuchen, die wenigen Überlebenden zu erschrecken, damit sie aus ihren Verstecken kamen. Das Licht war gelb und seltsam geworden, was Larry überhaupt nicht gefiel. Sein Magen war verkrampft; als er eine Zigarette anzündete, zitterte sie so in seiner Hand wie die Kaffeetasse heute morgen in Ritas. Er saß am Straßenende der Einfahrt und lehnte sich an die unterste Stange des Geländers. Den Rucksack hatte er auf dem Schoß, und die doppelläufige 30er lehnte neben ihm am Geländer. Er hatte geglaubt, sie würde sich ängstigen und früher oder später wieder zu ihm zurückkommen, aber das hatte sie nicht getan. Vor fünfzehn Minuten hatte er es aufgegeben, sie zu rufen. Das Echo machte ihn nervös.

Wieder grollte Donner, diesmal ganz nahe. Ein kalter Wind strich mit der Hand über den Rücken seines Hemdes, das ihm mit Schweiß an der Haut klebte. Er mußte sich irgendwo unterstellen oder mit dem Scheiß aufhören und durch den Tunnel gehen. Wenn er den Mumm dazu nicht aufbrachte, würde er eine weitere Nacht in der Stadt verbringen und am nächsten Morgen über die George Washington Bridge gehen müssen, aber die lag 140 Blocks nördlich. Er versuchte, sachlich über den Tunnel nachzudenken. Da drinnen war nichts, was ihn beißen würde. Er hatte vergessen, eine starke Taschenlampe mitzunehmen - Herrgott, man konnte doch nicht an alles denken -, aber er hatte sein Bic-Gasfeuerzeug, und zwischen dem Fußgängerweg und der Straße verlief ein Geländer. Alles andere... an die Toten in ihren Autos zu denken, zum Beispiel... das war nur die Panik in ihm, dummes Zeug aus Comics, etwa so vernünftig, als würde man an den Schwarzen Mann im Schrank denken. Wenn du an nichts anderes denken kannst, Larry (ermahnte er sich), wirst du in dieser schönen neuen Welt nicht weiterkommen. Wirklich nicht. Du bist...

Fast direkt über ihm riß ein Blitz den Himmel auf, er zuckte zusammen. Ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Wir haben den 1. Juli, fiel ihm ein, heute müßte man eigentlich mit seiner Süßen nach Coney Island fahren und im Dutzend Hot Dogs essen. Mit einem einzigen Ball die drei hölzernen Milchflaschen umwerfen und die Kewpie-Puppe gewinnen. Und abends das Feuerwerk ... Ein kalter Regenguß klatschte ihm ins Gesicht, ein zweiter traf seinen Hals und lief ihm in den Hemdkragen. Große Tropfen gingen um ihn herum nieder. Er stand auf, warf sich den Rucksack über die Schulter und nahm das Gewehr auf. Er wußte immer noch nicht, wohin er gehen sollte - zurück zur 39th oder in den Lincoln Tunnel. Aber er mußte irgendeinen Unterschlupf finden, denn es fing an zu schütten.

Droben grollte Donner mit einem gewaltigen Brüllen, und er schrie auf vor Entsetzen - ein Schrei, der sich in nichts von denen unterschied, die vor zwei Millionen Jahren die Cromagnon-Menschen ausgestoßen haben mochten. »Du elender Feigling«, sagte er und lief auf den Schlund des Tunnels zu und beugte den Kopf tiefer, weil der Regen noch heftiger herunterprasselte. Das Wasser tropfte ihm schon aus den Haaren. Larry lief an der Frau vorbei, die die Nase gegen das Beifahrerfenster des El Dorado drückte, und versuchte, nicht hinzuschauen, aber er sah sie trotzdem aus dem Augenwinkel. Der Regen trommelte auf die Autodächer wie ein Schlagzeugsolo. Er fiel jetzt so heftig, daß die Tropfen wieder hochspritzten und einen leichten Dunstschleier bildeten.

Larry blieb eine Weile unentschlossen und wieder ängstlich vor dem Tunneleingang stehen. Dann fing es an zu hageln, und das gab den Ausschlag. Die Hagelkörner waren groß und schmerzhaft. Donner brüllte erneut.

Okay, dachte er. Okay, okay, okay, das hat mich überzeugt. Er trat in den Lincoln Tunnel.




Drinnen war es viel schwärzer, als er gedacht hatte. Zuerst warf die Öffnung hinter ihm noch spärliches weißes Licht herein, und er konnte noch mehr Autos sehen, Stoßstange an Stoßstange (es mußte schrecklich gewesen sein, hier zu sterben, dachte er, und die Klaustrophobie schlang ihren klammen Bananenfinger zärtlich um seinen Kopf, liebkoste ihn und drückte ihm die Schläfen zusammen, es mußte wirklich schrecklich, es mußte verdammt grauenhaft gewesen sein), und die grünlich-weißen Fliesen, die die gewölbten Wände bedeckten. Rechts sah er das Fußgängergeländer, das sich im Dunkel verlor, links standen in Abständen von zehn oder zwölf Metern große Stützpfeiler. Ein Zeichen riet: NICHT DIE FAHRSPUR WECHSELN. In der Tunneldecke waren dunkle Neonlampen und die leeren Glasaugen von Videokameras eingelassen. Als er die erste sanft geneigte Kurve hinter sich hatte, die leicht nach rechts verlief, wurde das Licht trüber, bis er nur noch das gedämpfte Blinken der Chromleisten sah. Danach hörte das Licht einfach auf zu existieren.

Er kramte das Bic aus der Tasche, hielt es hoch und drehte das Rad. Das Licht, das es erzeugte, war jämmerlich klein und machte sein Unbehagen eher größer als kleiner. Selbst wenn er die Flamme ganz aufdrehte, bekam er einen Lichtkreis von höchstens anderthalb Metern Durchmesser.

Er steckte es wieder in die Tasche und ging weiter, wobei er mit der Hand sanft am Geländer entlangstrich. Auch hier drinnen gab es ein Echo, und das gefiel ihm noch weniger als das draußen. Das Echo hörte sich an, als wäre jemand hinter ihm... als würde er verfolgt. Er blieb ein paarmal mit schiefgelegtem Kopf und weit aufgerissenen (aber blinden) Augen stehen und wartete, bis das Echo verstummt war. Nach einer Weile schlich er nur noch, ohne die Füße vom Boden zu nehmen, damit das Echo nicht wiederkehrte. Bald darauf blieb er wieder stehen und hielt das Feuerzeug dicht an die Armbanduhr. Es war 4.20 Uhr, aber er wußte nichts damit anzufangen. In dieser Schwärze schien die Zeit keine objektive Bedeutung zu haben. Entfernung im übrigen auch nicht; wie lang war der Lincoln Tunnel überhaupt? Eine Meile? Zwei? Der Hudson war doch keine zwei Meilen breit. Sagen wir, eine Meile. Aber wenn es nur eine Meile war, hätte er schon lange das andere Ende erreicht haben müssen. Wenn der durchschnittliche Mensch vier Meilen in einer Stunde zurücklegt, kann er eine Meile in fünfzehn Minuten schaffen, und er steckte schon fünf Minuten länger in diesem stinkenden Loch.

»Ich gehe viel langsamer«, sagte er und erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme. Das Feuerzeug fiel ihm aus der Hand und schlug mit einem Klicken auf dem Pflaster auf. Das Echo antwortete ihm und verzerrte sich zu der gefährlich heiteren Stimme eines näher kommenden Irren:

»...viel langsamer... samer... samer...«

»Mein Gott«, murmelte Larry, und das Echo flüsterte: „ott... ott... ott«

Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen und den Drang, nicht mehr zu denken, sondern einfach blind loszustürmen. Statt dessen kniete er sich hin (seine Knie hallten wie Pistolenschüsse, was ihm wieder angst machte) und strich mit den Fingern über die Miniaturtopographie des Fußgängerwegs - unebenmäßige Täler im Beton, die Erhebung einer alten Zigarettenkippe, den Berg einer zusammengeknüllten Metallfolie - und zu guter Letzt sein Bic. Mit einem inneren Seufzer der Erleichterung nahm er es fest in die Hand, stand auf und ging weiter.

Larry hatte sich allmählich wieder unter Kontrolle, als er mit dem Fuss gegen etwas Steifes und Unnachgiebiges stieß. Er stieß eine Art inhalierenden Schrei aus und taumelte zwei Schritte rückwärts. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, während er das Bic-Feuerzeug aus der Tasche holte und anzündete. Die Flamme flackerte irre in seinem zitternden Griff.

Er war auf die Hand eines Soldaten getreten. Dieser saß mit dem Rücken an die Tunnelwand gelehnt und streckte die Beine über den Fußgängerweg aus, ein grausiger Wachposten, der den Durchgang versperrte. Er starrte Larry aus glasigen Augen an. Seine Lippen waren von den Zähnen gefault, er schien zu grinsen. Ein Springmesser ragte keck aus seinem Hals.

Das Feuerzeug in Larrys Hand wurde warm. Er ließ es ausgehen. Er leckte sich die Lippen, klammerte sich an das Geländer und zwang sich dazu weiter' zugehen, bis er mit der Schuhspitze wieder gegen die Hand des toten Soldaten stieß. Mit einem übertriebenen langen Schritt stieg er über ihn hinweg, und plötzlich überkam ihn eine Art alptraumhafte Gewißheit. Er würde das Scharren der Stiefel hören, wenn der Soldat sich bewegte, und dann würde der Soldat ihn mit kaltem Griff am Bein packen.

In schlurfendem Trab lief Larry noch zehn Schritte und blieb dann stehen, weil er wußte, wenn er nicht stehenblieb, würde die Panik wieder die Oberhand gewinnen, und er würde, von einem schrecklichen Regiment Echos verfolgt, blind weiterlaufen. Als er merkte, daß er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, ging er weiter. Aber jetzt war es noch schlimmer; die Zehen schrumpften ihm in den Schuhen zusammen, er fürchtete, jeden Moment wieder über eine Leiche zu stolpern... und gleich darauf geschah es auch.

Er stöhnte und holte das Feuerzeug wieder aus der Tasche. Diesmal war es noch schlimmer. Die Leiche, die er mit dem Fuß angestoßen hatte, war die eines alten Mannes im blauen Anzug. Die Schirmmütze aus schwarzer Seide war ihm vom kahlen Schädel auf den Schoß gerutscht. Am Aufschlag trug er einen sechszackigen silbernen Stern. Hinter ihm lag noch ein halbes Dutzend Leichen: zwei Frauen, ein Mann in mittlerem Alter, eine Frau von vielleicht Ende Siebzig und zwei halbwüchsige Jungen.

Das Feuerzeug wurde so heiß, daß er es nicht mehr halten konnte. Er machte es aus und ließ es in die Hosentasche gleiten, wo es wie warme Kohle an seinem Bein glomm. Diese Leute waren ebensowenig wie der Soldat von Capt ain Trips dahingerafft worden. Larry hatte das Blut gesehen, die zerrissene Kleidung, die zersplitterten Fliesen, die Einschußlöcher. Sie waren niedergeschossen worden. Larry erinnerte sich an die Gerüchte, dass die Ausfallstraßen von Manhattan Island von Soldaten abgesperrt worden seien. Er hatte nicht gewußt, ob er das glauben sollte; er hatte im Laufe des allgemeinen Zusammenbruchs in der letzten Woche so viele Gerüchte gehört.

Die Situation hier war leicht zu rekonstruieren. Sie waren im Tunnel erwischt worden, aber nicht so krank gewesen, daß sie nicht mehr gehen konnten. Sie waren aus den Fahrzeugen ausgestiegen und zu Fuß in Richtung Jersey gegangen, auf dem Gehweg, genau wie er. Ein Militärkommando hatte gewartet, eine Maschinengewehrstellung, irgendwas in der Art.

Schwitzend stand Larry da und versuchte, einen Entschluß zu fassen. Die undurchdringliche Dunkelheit bot die perfekte Bühne, auf der seine Gedanken ihre Phantasien inszenieren konnten. Er sah: grimmig blickende Soldaten in virensicheren Anzügen hinter einem Maschinengewehr mit Infrarot -Zieleinrichtungen sitzen, deren Aufgabe es war, jeden zu erschießen, der versuchte, durch den Tunnel zu gelangen; einen einzelnen Soldaten als Selbstmordkommando, der mit einer Infrarotbrille vor den Augen und einem Messer zwischen den Zähnen auf ihn zukroch; zwei Soldaten, die stumm einen Mörser mit einer Giftgasgranate luden. Und doch konnte er sich nicht zur Umkehr entschließen: Er war ganz sicher, daß seine Vorstellungen Hirngespinste waren, und der Gedanke, wieder zurückzugehen, war unerträglich. Bestimmt waren die Soldaten jetzt fort. Der tote Soldat, über den er gestiegen war, schien das zu bestätigen...

Aber was ihm wirklich Sorgen machte, schätzte er, waren die Leichen direkt vor ihm. Sie lagen fast zwei Meter hoch übereinander. Er konnte nicht einfach über sie hinwegsteigen wie über den toten Soldaten. Und wenn er vom Fußgängerweg sprang, um ihnen auszuweichen, riskierte er, sich Bein oder Knöchel zu brechen. Wenn er weiterwollte, mußte er... nun, über sie steigen. Hinter ihm bewegte sich etwas in der Dunkelheit.

Larry fuhr herum und empfand schon allein durch diesen Knirschlaut wieder Angst... ein Schritt.

»Wer ist da?« rief er und schlang das Gewehr von der Schulter. Als das Geräusch verstummte, hörte er leises Atmen - oder glaubte es zu hören. Er starrte glubschäugig in die Dunkelheit, seine Nackenhaare sträubten sich. Er hielt den Atem an. Kein Laut. Er glaubte schon an eine Sinnestäuschung, aber dann hörte er es wieder... ein leiser, schleichender Schritt.

Er fummelte panisch nach dem Feuerzeug. Der Gedanke, daß es ihn zum Ziel machen könnte, kam ihm erst gar nicht. Als er es aus der Tasche zog, verfing sich das Rädchen am Saum, und das Feuerzeug glitt ihm aus der Hand. Er hörte ein Klick, als es gegen das Geländer prallte, dann ein leises Plong, als es auf Kühlerhaube oder Kofferraum eines Autos aufschlug.

Wieder hörte er die leisen, gleitenden Schritte, diesmal etwas näher, aber es war unmöglich zu sagen, wie nahe. Jemand kam und wollte ihn umbringen, und sein panischer Verstand gaukelte ihm das Bild des Soldaten mit dem Messer in der Kehle vor, der in der Dunkelheit langsam auf ihn zuschlich...

Wieder ein leiser, knirschender Schritt.

Larry besann sich auf die Flinte. Er riß den Kolben an die Schulter und feuerte. Die Explosionen waren in dem geschlossenen Raum ohrenbetäubend laut; er schrie auf bei dem Geräusch, aber der Schrei ging im Dröhnen unter. Während das Feuer aus der doppelläufigen 30er hervorschoß, sah er die Fliesen an den Wänden und die einzelnen Fahrzeuge in der Wagenschlange wie eine Serie von Schwarzweiß-Blitzlichtbildern. Querschläger heulten wie Banshees. Der Kolben schlug ihm immer wieder gegen die Schulter, bis sie ganz taub war, bis er merkte, daß der Rückstoß ihn auf den Füßen gedreht hatte und er über die Fahrbahn schoß anstatt über den Fußgängerweg. Trotzdem konnte er nicht aufhören. Sein Finger hatte die Funktion des Gehirns übernommen und verkrampfte sich automatisch, bis Larry nur noch das trockene und ohnmächtige Klicken des Schlagbolzens hörte.

Das Echo rollte davon. Grelle, dreifach belichtete Nachbrenner schwebten vor seinen Augen. Er nahm schwach Korditgestank und das Wimmern wahr, das er tief in der Brust erzeugte. Er wirbelte herum, die Flinte noch in der Hand, und jetzt sah er im Geiste nicht mehr die Soldaten in ihren sterilen Andromeda-Anzügen auf der Kinoleinwand seines Verstandes, sondern die Morlocks aus der Illustrierte-Klassiker-Version von H. G. Wells' Zeitmaschine, bucklige und blinde Geschöpfe, die aus den Löchern in der Erde krochen, wo in den Eingeweiden der Erde unablässig Maschinen liefen.

Dann arbeitete er sich über die weiche und doch starre Barrikade der Leichen hinweg, stolperte, stürzte beinahe, packte das Geländer, hastete weiter. Sein Fuß trat in etwas gräßlich Schleimiges; gasiger Fäulnisgeruch stieg auf, den er kaum bemerkte. Keuchend eilte er weiter.

Plötzlich hörte er hinter sich einen lauten Schrei in der Dunkelheit und blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein verzweifelter, kläglicher Laut, hart an der Grenze zum Wahnsinn: »Larry! O Larry, um Gottes willen...«

Es war Rita Blakemoor.

Er drehte sich um. Jetzt hörte er ein Schluchzen, ein wildes Schluchzen, das neue Echos erzeugte. Einen Moment war er wütend entschlossen, trotzdem weiterzugehen und sie zurückzulassen. Sie würde den Weg nach draußen schon finden, warum sollte er sich erneut mit ihr belasten? Aber dann riß er sich zusammen und schrie:

»Rita! Bleib, wo du bist. Kannst du mich hören?«

Das Schluchzen hielt an.

Er stolperte über den Leichenhaufen zurück und versuchte, die Luft anzuhalten, das Gesicht zu einer Grimasse des Ekels verzerrt. Dann lief er auf sie zu, wußte aber wegen des verzerrenden Echos nicht, wie weit er noch laufen mußte. Schließlich wäre er fast über sie gefallen.

» Larry...« Sie warf sich gegen ihn und klammerte sich mit der Kraft eines Würgers an seinen Hals. Er spürte, wie ihr Herz unter der Bluse mit halsbrecherischer Geschwindigkeit raste.

»Larry Larry laß mich hier nicht allein laß mich hier nicht in der Dunkelheit allein...«

»Nein.« Er hielt sie fest. »Habe ich dich verletzt? Bist... bist du getroffen ?«

»Nein... ich habe den Luftzug gespürt... eine sauste so nahe vorbei, daß ich den Luftzug gespürt habe... und die Splitter... ich glaube, von den Fliesen... in meinem Gesicht... haben mir das Gesicht...«

»Herrgott, Rita, das wußte ich nicht. Ich wäre fast ausgeflippt. Die Dunkelheit. Und ich habe mein Feuerzeug verloren... Du hättest rufen sollen. Ich hätte dich töten können.« Jetzt wurde ihm erst klar, daß das stimmte. »Ich hätte dich töten können«, wiederholte er wie eine fassungslose Offenbarung.

»Ich war nicht sicher, ob du es bist. Als du die Einfahrt runtergegangen bist, bin ich in ein Mietshaus. Du bist zurückgekommen und hast gerufen, und ich hätte beinahe... aber ich konnte nicht... als es zu regnen angefangen hatte, sind zwei Männer gekommen... ich glaube, sie haben nach uns gesucht... oder nach mir. Also bin ich geblieben, wo ich war, und als sie weg waren, dachte ich mir, vielleicht sind sie gar nicht weg, vielleicht verstecken sie sich und warten auf mich, darum habe ich mich nicht getraut, wieder rauszugehen, bis ich dachte, du wärst bestimmt schon auf der anderen Seite und ich würde dich nie wiedersehen... also habe ich... ich... Larry, du verläßt mich nicht, ja? Du gehst nicht weg?«

»Nein«, sagte er.

»Ich hatte unrecht, was ich gesagt habe, war verkehrt, du hattest recht, ich hätte dir das mit den Sandalen sagen sollen, ich meine die Schuhe, ich esse, wenn du es sagst... ich... ich... ooooohhooo...«

»Pssst«, sagte er und hielt sie fest. »Jetzt ist alles wieder gut. Alles gut.«

Aber in Gedanken sah er sich in blinder Panik auf sie schießen und dachte, wie leicht hätte eine Kugel ihr den Arm zerschmettern oder den Magen durchbohren können. Plötzlich mußte er dringend auf die Toilette, und seine Zähne wollten klappern. »Wir bleiben hier, bis du wieder gehen kannst. Laß dir Zeit.«

»Da war ein Mann... ich glaube, es war ein Mann... ich bin auf ihn getreten, Larry.« Sie schluckte und schnalzte dabei im Hals. »Ich hätte fast geschrien, aber ich habe es nicht getan, weil ich dachte, daß du es vielleicht nicht bist, sondern einer der beiden Männer. Und als du gerufen hast... das Echo... ich wußte nicht, ob du es warst... oder... oder...«

»Vor uns liegen noch mehr Tote. Kannst du das ertragen?«

»Wenn du bei mir bist. Bitte... wenn du bei mir bist.«

»Ich bin ja bei dir.«

»Dann gehen wir. Ich will hier raus.« Sie drückte sich krampfhaft zitternd an ihn. »Ich habe mir in meinem ganzen Leben noch nichts so sehr gewünscht.«

Er tastete nach ihrem Gesicht und küßte sie, erst die Nase, dann jedes Auge, dann den Mund.

»Danke«, sagte er unterwürfig, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, was er meinte. »Danke. Danke.«

»Danke«, wiederholte sie. »O liebster Larry. Du verläßt mich nicht, ja?«

»Nein«, sagte er. »Ich verlasse dich nicht. Sag mir, wenn du bereit bist, Rita, dann gehen wir gemeinsam.«

Als sie sich bereit fühlte, gingen sie.




Sie stiegen über die Leichen hinweg und hatten sich dabei gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt wie zwei Betrunkene, die aus einer Kneipe nach Hause stolpern. Ein Stück weiter kamen sie wieder an ein Hindernis. Es war nicht zu erkennen, aber als sie es mit den Händen betastet hatten, meinte Rita, daß es ein hochkant gestelltes Bett sein könnte. Mit ve reinten Kräften hoben sie es über das Geländer. Es krachte mit einem lauten Knall auf eins der Autos, daß sie beide zusammenzuckten und sich aneinander festhielten. Hinter der Stelle, wo das Bett gestanden hatte, lagen weitere drei Leichen, und Larry vermutete, daß es die der Soldaten waren, die die jüdische Familie erschossen hatten. Sie stiegen über sie hinweg und gingen Hand in Hand weiter. Wenig später blieb Rita plötzlich stehen. »Was ist denn los?« fragte Larry. »Wieder ein Hindernis?«

»Nein. Ich kann sehen, Larry. Es ist das Ende des Tunnels!« Er blinzelte und merkte, daß er auch sehen konnte. Es war nur ein ganz schwacher Schimmer, und er war so allmählich gekommen, daß er ihn nicht bemerkt hatte, bis Rita ihn darauf hinwies. Er konnte schon schwach den Schimmer der Fliesen und näher den weißen Fleck von Ritas blassem Gesicht sehen. Links sah er den erstarrten Strom der Automobile.

»Komm weiter«, sagte er triumphierend.

Sechzig Schritte weiter lagen noch mehr Leichen auf dem Fußgängerweg, alles Soldat en. Sie stiegen über sie hinweg.

»Warum haben sie nur New York abgesperrt?« fragte sie. »Außer vielleicht... Larry, vielleicht ist es nur in New York passiert!«

»Das glaube ich nicht«, sagte er, verspürte aber trotzdem eine irrationale Hoffnung.

Sie gingen schneller. Vor ihnen lag jetzt die Öffnung des Tunnels. Sie war von zwei schweren Armeelastwagen blockiert, die Kühler an Kühler standen. Sie nahmen viel Licht weg. Wenn sie nicht dort gestanden wären, hätten Larry und Rita schon viel weiter hinten im Tunnel Licht gehabt. Wo der Fußgängerweg zur Straße nach draußen hinunterführte, lagen ebenfalls Leichen. Sie zwängten sich zwischen den Lastwagen hindurch und kletterten über die verkeilten Stoßstangen der Fahrzeuge. Rita vermied es, in die Wagen hineinzusehen, aber Larry tat es. Er sah ein halb zusammengebautes Maschinengewehr samt dreibeinigem Stativ, Munitionskisten und Kanister, die nach Tränengas aussahen. Außerdem drei Tote.

Als sie draußen waren, schlug ihnen regenfeuchter Wind entgegen, für dessen wunderbar frischen Geruch es sich schon allein gelohnt hätte. Das sagte er Rita, und sie nickte und legte einen Augenblick den Kopf an seine Schulter.

»Nicht für eine Million würde ich noch mal reingehen«, sagte sie.

»In ein paar Jahren wirst du Geldscheine als Klopapier benutzen«, sagte er. »Please Don't Squeeze the Greenbacks.«

»Aber bist du sicher...«

»Daß es nicht nur New York war?« Er zeigte mit dem Finger. »Sieh dir das an.«

Die Gebührenhäuschen waren leer. Das mittlere stand in einem Haufen von Glassplittern. Die nach Westen führenden Fahrspuren dahinter waren leer, aber die östlicher Richtung, in den Tunnel und die Stadt, die sie gerade verlassen hatten, waren von stummem Verkehr verstopft. Auf der Standspur lagen Leichen, von ein paar Möwen bewacht, wirr durcheinander.

»Gütiger Gott«, sagte sie mit schwacher Stimme.

»Es wollten ebenso viele Leute aus New York rein wie raus. Ich weiss überhaupt nicht, warum sie sich die Mühe gemacht und den Tunnel auf der Jersey-Seite versperrt haben. Wahrscheinlich wußten sie auch nicht warum. Irgendwer hat eine gute Idee gehabt, Arbeitsbeschaffung...«

Aber sie hatte sich auf die Straße gesetzt und weinte.

»Nicht weinen«, sagte er und kniete sich neben sie. Die Erlebnisse im Tunnel waren noch zu frisch, als daß er jetzt wütend auf sie sein konnte. »Alles ist gut, Rita.«

»Was denn?« schluchzte sie. »Was? Sag mir nur eines.«

»Jedenfalls sind wir draußen. Das ist schon mal was. Und wir haben frische Luft. New Jersey hat noch nie so gut gerochen.«

Das brachte ihm ein zaghaftes Lächeln ein. Larry untersuchte die Kratzer, die die Fliesensplitter ihr an Wangen und Schläfe gerissen hatten.

»Wir sollten uns einen Drugstore suchen und Jod auf die Schnitte tun«, sagte er. »Kannst du wieder gehen?«

»Ja.« Sie sah ihn so leutselig dankbar an, daß er sich unbehaglich fühlte. »Und ich besorge neue Schuhe. Turnschuhe. Ich werde tun, was du mir sagst, Larry. Das will ich.«

»Ich habe dich angeschrien, weil ich aufgeregt war«, sagte er leise. Er strich ihr das Haar zurück und küßte einen Kratzer über dem rechten Auge. »So ein schlechter Kerl bin ich gar nicht«, sagte er.

»Verlaß mich nur nicht.«

Er half ihr auf die Füße und legte ihr einen Arm um die Hüften. Dann gingen sie langsam an den Kassenhäuschen vorbei und ließen New York hinter sich, jenseits des Flusses, zurück.

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