20

Das Harborside war das älteste Hotel in Ogunquit. Die Aussicht war nicht berauschend, da man auf der anderen Seite den neuen Yachtclub gebaut hatte, aber an so einem Nachmittag, wenn Pockennarben aufziehender Gewitter den Himmel überzogen, war der Ausblick dennoch schön.


Frannie saß seit beinahe drei Stunden am Fenster und versuchte, Grace Duggan, einer High-School -Kommilitonin, die jetzt nach Oberlin ging, einen Brief zu schreiben. Es war kein Beichtbrief über die Schwangerschaft und die Szene mit ihrer Mutter, denn darüber zu schreiben, hätte sie nur deprimiert; zudem vermutete sie, dass Grace es sowieso bald aus ihren eigenen Quellen in der Stadt erfahren würde. Sie hatte nur versucht, einen netten Brief zu schreiben. Der Fahrradausflug, den Jesse und ich im Mai zusammen mit Sam Lothrop und Sally Wenscelas nach Rangely unternommen haben. Wie ich bei der Bioabschlußprüfung Glück gehabt habe. Peggy Täte (auch eine Freundin von der High School und gemeinsame Bekannte) und ihr neuer Job als Hostess im Senat. Die bevorstehende Hochzeit von Amy Lauder.

Aber der Brief wollte sich einfach nicht schreiben lassen. Die interessante Pyrotechnik des Tages trug ihren Teil dazu bei - wie konnte man schreiben, wenn ständig kleine Gewitter über dem Meer aufzogen und wieder verschwanden? Nein, genauer gesagt: Die Neuigkeiten in dem Brief schienen alle nicht besonders ehrlich zu sein. Irgendwie hatten sie sich verkehrt, als würde man ein Messer falsch in der Hand halten und statt der Kartoffel den eigenen Finger schneiden. Der Fahrradausflug war schön gewesen, aber sie und Jesse hatten nicht mehr das gute Verhältnis von damals. Sie hatte wirklich bei der BY-7 Abschlußprüfung Glück gehabt, aber nicht bei der Bioabschlußprüfung, die wirklich zählte. Weder ihr noch Grace war je soviel an Peggy Täte gelegen, und Amys bevorstehende Vermählung kam Fran in ihrem derzeitigen Zustand mehr wie ein gräßlicher, garstiger Streich vor und nicht wie ein freudiger Anlaß. Amy heiratet, aber ich bekomme das Baby, ha-ha-ha. Sie hatte das Gefühl, daß sie den Brief beenden sollte, und sei es nur, damit sie sich nicht mehr damit herumärgern mußte, und daher schrieb sie:

»Ich habe eigene Probleme, Mann o Mann, und was für welche, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie alle niederzuschreiben. Es ist schon schlimm genug, nur daran denken zu müssen! Ich hoffe immer noch, daß wir uns am vierten sehen, wenn Du Deine Pläne seit dem letzten Brief nicht geändert hast. (Ein Brief in sechs Wochen? Ich habe langsam schon gedacht, jemand hätte Dir die Tipp-Finger abgehackt, Mädchen!) Wenn wir uns sehen, werde ich Dir alles erzählen! Ich könnte Deinen Rat auf jeden Fall brauchen.

Vertraue mir, dann vertraue ich Dir,

Fran.«

Sie unterschrieb mit ihrer gewohnt üppig-krakelnden Signatur, damit sie den verbleibenden Platz noch halb verbrauchte. Allein damit kam sie sich wie eine Hochstaplerin vor. Sie faltete ihn zusammen, schob ihn in den Umschlag, klebte ihn zu, schrieb die Adresse darauf und stellte ihn hochkant an den Spiegel. Auftrag ausgeführt. Also. Was nun?

Es wurde schon wieder dunkler. Sie stand auf und ging rastlos durchs Zimmer; sie überlegte, ob sie gehen sollte, bevor es wieder zu regnen anfing, aber wohin sollte sie gehen? Ins Kino? Den einzigen Film, der in der Stadt lief, hatte sie schon gesehen. Mit Jesse. Nach Portland, einen Schaufensterbummel machen? Machte keinen Spaß. Die einzigen Kleidungsstücke, die sie sich heutzutage realistisch ansehen konnte, waren die mit Gummizug um die Taille. Platz für zwei.

Sie hatte heute drei Anrufe bekommen, der erste brachte gute Neuigkeiten, der zweite uninteressante, der dritte schlechte. Sie wünschte sich, sie wären in umgekehrter Folge eingetroffen. Draußen hatte es angefangen zu regnen, der Pier des Yachtbeckens war wieder dunkel. Sie beschloß, einen Spaziergang zu machen, und den bevorstehenden Regen sollte der Teufel holen. In der frischen Luft und der schwülen Sommeratmosphäre ging es ihr vielleicht bald besser. Vielleicht machte sie irgendwo Rast und trank eine Flasche Bier.

Glück aus der Flasche. Zumindest Gleichgültigkeit.

Als erste hatte Debbie Smith aus Somersworth angerufen. Fran konnte jederzeit kommen, hatte Debbie herzlich versichert. Sie wurde sogar gebraucht. Eines der drei Mädchen, die sich die Wohnung teilten, war im Mai ausgezogen und hatte in einem Warenhaus einen Job als Sekretärin angenommen. Ohne Dritte konnten Debbie und Rhoda sich die Miete nicht mehr leisten. »Und wir stammen beide aus Großfamilien«, sagte Debbie. »Schreiende Babys machen uns nichts aus.«

Fran sagte, sie würde zum ersten Juli einziehen, und als sie auflegte, spürte sie, wie ihr Freudentränen die Wangen entlangliefen. Tränen der Erleichterung. Wenn sie aus dieser Stadt, wo sie aufgewachsen war, fortkonnte, würde alles gut werden, glaubte sie. Weg von ihrer Mutter, und auch weg von ihrem Vater. Das Baby und die Tatsache, daß sie allein lebte, würden ihr Leben wieder in eine vernünftige Perspektive rücken. Sicher ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige. Es gab ein Ti er, einen Käfer oder Frosch, dachte sie, welches zu doppelter Größe anschwoll, wenn es sich bedroht fühlte. Zumindest in der Theorie sah der Angreifer das, fühlte sich bedroht, bekam es mit der Angst zu tun und verschwand. Sie kam sich ein wenig wie dieses Tier vor, und die Stadt, die ganze Umgebung (»Umfeld« mochte das zutreffende Wort sein) löste das Gefühl in ihr aus. Sie wußte, niemand würde sie zwingen, einen scharlachroten Buchstaben zu tragen, aber sie wußte auch, wenn ihr Verstand ihre Nerven von dieser Tatsache überzeugen wollte, war ein Bruch mit Ogunquit nötig. Wenn sie auf der Straße war, dann spürte sie, dass die Leute sie zwar nicht anstarrten, aber sich bereit machten, sie anzustarren. Selbstverständlich die Einwohner, nicht die Sommergäste. Die Einwohner brauchten ständig jemanden, den sie anstarren konnten - einen Penner, Sozialhilfeempfänger, einen Jungen aus gutem Hause, der in Portland oder Old Orchard Beach beim Ladendiebstahl erwischt worden war... oder das Mädchen mit dem anschwellenden Bauch.

Der zweite Anruf, der so la-la gewesen war, kam von Jess Rider. Er hatte aus Portland angerufen und es zuerst im Haus versucht. Glücklicherweise hatte Peter abgenommen und ihm Frans Telefonnummer im Harborside ohne Moralpredigt gegeben. Trotzdem hatte er gleich zu Anfang gesagt: »Du hast 'ne Menge Zoff daheim, was?«

»Etwas«, sagte sie zurückhaltend, weil sie sich nicht darüber auslassen wollte. Das würde sie in gewisser Weise zu Mitverschwörern machen.

»Deine Mutter?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil sie der Typ zu sein scheint, der ausflippt. Das sieht man in den Augen, Frannie. Wenn du meine heiligen Kühe schlachtest, schlachte ich deine.«

Sie schwieg.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Das hast du nicht«, sagte sie. Seine Beschreibung war sogar ziemlich zutreffend - an der Oberfläche zutreffend jedenfalls -, aber sie war immer noch bemüht, ihre Überraschung über das Verb beleidigen zu überwinden. Aus seinem Mund war das ein seltsames Wort. Vielleicht ist es ja ein Signal, dachte sie. Wenn dein Liebhaber anfängt, von »beleidigen« zu sprechen, ist er nicht mehr dein Liebhaber.

»Frannie, das Angebot steht noch. Wenn du ja sagst, kann ich zwei Ringe besorgen und noch heute nachmittag vorbeikommen.«

Auf dem Fahrrad, dachte sie und kicherte fast. Ein Kichern wäre etwas Gräßliches gewesen, das sie ihm nicht antun mußte, daher hielt sie den Hörer einen Moment zu, bis sie sicher war, daß es nicht herauskommen würde. Sie hatte in den vergangenen sechs Tagen mehr geweint und gekichert als in der ganzen Zeit, seit sie fünfzehn und zum ersten Mal mit einem Jungen ausgegangen war.

»Nein, Jess«, sagte sie mit ruhiger Stimme.

»Es ist mein Ernst!« sagte er überraschend nachdrücklich, als hätte er gesehen, wie sie das Kichern unterdrückte.

»Das weiß ich«, sagte sie. »Aber ich bin noch nicht bereit für eine Ehe. Ich kenne mich, Jess. Das hat nichts mit dir zu tun.«

»Was ist mit dem Baby?«

»Ich werde es bekommen.«

»Und weggeben?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Er schwieg einen Augenblick, und sie konnte andere Stimmen in anderen Zimmern hören. Sie hatten eigene Probleme, vermutete sie. Junge, die Welt ist ein Drama rund um die Uhr. Wir lieben unser Leben, und daher halten wir nach dem Licht Ausschau, das uns leitet, so wie wir nach dem Morgen suchen.

»Ich habe echte Zweifel, was das Baby betrifft«, sagte er schließlich. Das bezweifelte wiederum sie, aber wahrscheinlich war es das einzige, was er ihr sagen konnte, das wirklich weh tat. Und es tat weh.

»Jess...«

»Wohin gehst du?« fragte er brüsk. »Du kannst nicht den ganzen Sommer über im Harborside bleiben. Wenn du eine Bleibe brauchst, kann ich mich in Portland umsehen.«

»Ich habe eine Bleibe.«

»Wo? Oder geht mich das nichts an?«

»Das geht dich nichts an«, sagte sie und biß sich auf die Zunge, weil sie keine diplomatischere Möglichkeit gefunden hatte, es ihm zu sagen.

» Oh«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam tonlos. Schließlich sagte er vorsichtig: »Kann ich dich etwas fragen, ohne daß du gleich sauer wirst, Frannie? Ich will es nämlich wirklich wissen. Es ist keine rhetorische Frage, oder so.«

»Frag ruhig«, sagte sie argwöhnisch. Sie wappnete sich geistig schon dagegen, sauer zu werden, denn wenn Jess mit so einer Eröffnung kam, dann folgte meistens eine scheußliche und vollkommen unerwartete Lektion Chauvinismus.

»Habe ich in dieser ganzen Sache überhaupt keine Rechte?« fragte Jess. »Kann ich nicht auch Mitverantwortung übernehmen und mit entscheiden?«

Einen Moment war sie sauer, aber dann flaute das Gefühl ab. Jess war eben nur Jess, er versuchte, das Bild zu beschützen, das er von sich selbst hatte, wie es alle denkenden Menschen machen, damit sie nachts schlafen können. Sie hatte ihn immer auch wegen seiner Intelligenz gemocht, aber in so einer Situation konnte Intelligenz langweilig sein. Menschen wie Jess - und auch sie selbst - hatten ihr Leben lang eingebleut bekommen, daß es gut und richtig war, sich Aufgaben zu setzen und aktiv zu sein. Manchmal mußte man sich verletzen - und zwar schlimm -, damit man einsah, es war besser, sich ins hohe Gras zu legen und zu zögern. Seine Fangnetze waren schön geknüpft, aber es waren und blieben trotzdem Fangnetze. Er wollte sie nicht davon lassen.

»Jess«, sagte sie, »wir wollten dieses Baby beide nicht. Wir haben uns geeinigt, daß ich die Pille nehme, damit es nicht dazu kommt. Du hast keine Verantwortung ...«

»Aber...«

»Nein, Jess«, sagte sie mit Nachdruck.

Er seufzte.

»Meldest du dich, wenn du umgezogen bist?«

»Ich denke schon.«

»Hast du immer noch vor, wieder zur Uni zu gehen?«

»Später. Ich lasse das Herbstsemester ausfallen. Vielleicht aufgrund der Krankheitsregelung oder so.«

»Wenn du mich brauchst, Frannie, du weißt, wo ich bin. Ich laufe nicht weg.«

»Das weiß ich, Jess.«

»Wenn du Geld brauchst...«

»Ja.«

»Melde dich. Ich will dich nicht drängen, aber... ich möchte dich gerne wiedersehen.«

»Gut, Jess.«

»Lebwohl, Fran.«

»Lebwohl.«

Als sie aufgelegt hatte, kam ihr das Lebewohl zu endgültig vor, die Unterhaltung nicht beendet. Dann fiel ihr der Grund ein. Sie hatten kein »Ich liebe dich« hinzugefügt, und das war das erste Mal. Es machte sie traurig, und sie befahl sich, es seinzulassen, aber das half nichts.

Der letzte Anruf kam gegen Mittag, von ihrem Vater. Vorgestern hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, und er hatte ihr gesagt, daß es ihn bekümmerte, welche Auswirkungen die ganze Sache auf Carla hatte. Sie war gestern nacht nicht ins Bett gekommen, sondern war im Salon geblieben und hatte die alten Stammbäume durchgesehen. Gegen halb zwölf war er nach unten gegangen und hatte sie gefragt, wann sie ins Bett kommen wollte. Sie hatte das Haar offen getragen; es fiel über die Schultern und das Leibchen des Nachthemds, und Peter hatte gesagt, sie sah aus, als wäre sie nicht völlig in Kontakt mit der Wirklichkeit. Das schwere Buch lag auf ihrem Schoß, und sie hatte ihn nicht einmal angesehen, sondern einfach weiter umgeblättert. Sie hatte gesagt, daß sie nicht müde war. Sie wollte noch eine Weile aufbleiben. Sie habe eine Erkältung, sagte Peter zu Frannie, während sie in der Nische im Corner Lunch saßen. Schnupfen. Als Peter sie gefragt habe, ob sie ein Glas warme Milch wolle, habe sie überhaupt nicht geantwortet.

Gestern morgen hatte er sie dann schlafend im Sessel gefunden, das Buch auf dem Schoß. Als sie schließlich aufgewacht war, schien es ihr besser zu gehen und sie wieder ganz die Alte zu sein, aber die Erkältung war schlimmer geworden. Sie wollte aber nicht, daß Dr. Edmonton sich herbemühte. Sie hatte sich mit Wick Vaporup eingerieben und sich ein warmes Mulltuch auf die Brust gelegt, und sie dachte, daß die Stirnhöhlen schon wieder frei wurden. Aber Peter sagte Frannie, daß ihm Carlas Aussehen überhaupt nicht gefiel. Sie ließ ihn zwar nicht Fieber messen, aber er glaubte, daß sie hohes Fieber hatte.

Heute hatte er sie angerufen, kurz nachdem das erste Gewitter angefangen hatte. Die purpurnen und schwarzen Wolken türmten sich stumm über dem Hafen, und dann fing es an zu regnen, anfangs sacht, aber dann wie aus Kübeln geschüttet. Während sie sich unterhielten, sah sie zum Fenster hinaus und konnte Blitze sehen, die jenseits des Wellenbrechers ins Meer einschlugen, und jedesmal, wenn das passierte, hörte sie ein leises Kratzen in der Leitung, wie von einer Plattenspielernadel, die über die Platte gleitet.

»Heute ist sie im Bett«, sagte Peter. »Sie war endlich einverstanden, daß Tom Edmonton einmal nach ihr sieht.«

»War er schon da?«

»Er ist grade gegangen. Er glaubt, sie hat die Grippe.«

»O Gott«, sagte Frannie und machte die Augen zu. »Bei einer Frau in ihrem Alter ist damit nicht zu spaßen.«

»Nein, wirklich nicht.« Er machte eine Pause. »Ich habe ihm alles erzählt, Frannie. Über das Baby, über deinen Streit mit Carla. Tom ist dein Arzt, seit du selbst noch ein Baby warst, der kann den Mund halten. Ich wollte wissen, ob euer Streit der Auslöser dafür gewesen sein könnte. Er sagte nein. Grippe ist Grippe.«

»Flu made who?« sagte Frannie tonlos.

»Bitte?«

»Vergiß es«, sagte Fran. Ihr Vater war erstaunlich vielseitig gebildet, aber ein Fan von AC/DC war er eindeutig nicht. »Nur weiter.«

»Nun, viel gibt es nicht mehr zu erzählen, Liebes. Tom sagte, im Moment grassiert eine Grippewelle. Eine besonders tückische Art. Sie scheint aus dem Süden zu kommen, und ganz New York leidet darunter.«

»Aber die ganze Nacht im Salon zu schlafen...«, begann sie zweifelnd.

»Er sagte, im Sitzen zu schlafen sei vermutlich besser für Lungen und Bronchien. Sonst hat er nichts gesagt, aber Alberta Edmonton ist Mitglied in allen Clubs, in denen Carla auch ist, daher mußte er wohl nicht mehr sagen. Wir wissen beide, daß sie es förmlich herausgefordert hat, Fran. Sie ist Vorsitzende des Historischen Komitees der Stadt, sie arbeitet zwanzig Stunden die Woche in der Bibliothek, sie ist Sekretärin des Frauenclubs und des Literarischen Frauenkreises, sie organisiert den hiesigen Basar, und das schon vor Freds Tod, und vergangenen Winter hat sie sich zu guter Letzt noch dem Heart Fund angeschlossen. Obendrein versucht sie, Interessenten für eine genealogische Gesellschaft in Südmaine zu finden. Sie ist ausgelaugt, überarbeitet. Darum ist sie auch so wütend auf dich gewesen. Edmonton hat nur gesagt, sie war ein willkommenes Ziel für den erstbesten bösen Erreger, der des Wegs kommt. Und mehr mußte er nicht sagen. Frannie, sie wird alt und will es nicht wahrhaben. Sie hat schwerer gearbeitet als ich.«

»Ist sie sehr krank, Daddy?«

»Sie liegt im Bett, trinkt Saft und nimmt die Tabletten, die Tom verschrieben hat. Ich habe einen Tag freigenommen, und morgen kommt Mrs. Halliday und bleibt bei ihr. Carla bestancKauf Mrs. Halliday, damit sie die Tagesordnung für die Versammlung der Historischen Gesellschaft im Juli ausarbeiten können.« Er seufzte tief, und wieder kratzte ein Blitz in der Leitung. »Manchmal glaube ich, sie will in voller Rüstung sterben.«

Fran sagte schüchtern: »Glaubst du, es würde sie stören, wenn ich...«

»Momentan schon. Aber laß ihr Zeit, Fran. Sie kommt wieder zur Besinnung.«

Jetzt, vier Stunden später, als sie den Regenschal übers Haar zog, fragte sie sich, ob ihre Mutter tatsächlich wieder zur Besinnung kommen würde.

Wenn sie das Baby weggab, bekam vielleicht niemand in der Stadt Wind davon. Aber das war unwahrscheinlich. In kleinen Orten riechen die Leute den Wind mit außergewöhnlich feinen Nasen. Und wenn sie das Baby behielt... aber daran dachte sie ja nicht im Ernst, oder? Oder?

Sie spürte Schuldgefühle in sich, als sie den leichten Übermantel anzog. Ihre Mutter war ausgelaugt, selbstverständlich. Das hatte Fran gesehen, als sie vom College nach Hause gekommen war und sie beide sich auf die Wangen geküßt hatten. Carla hatte Tränensäcke unter den Augen, ihre Haut sah . zu gelb aus, und das Grau im Haar, das immer schön frisiert war, hatte sich trotz Tönungen für dreißig Dollar weiter ausgebreitet. Trotzdem... Sie war hysterisch gewesen, absolut hysterisch. Und Fran stand plötzlich mit der Frage da, in welchem Maße sie selbst Verantwortung übernehmen wollte, falls die Grippe ihrer Mutter sich zu einer Lungenentzündung entwickelte oder sie einen Zusammenbruch erlitt. Oder sogar starb. Herrgott, was für ein schrecklicher Gedanke. Das durfte nicht geschehen, bitte, lieber Gott, nein, natürlich nicht. Die Tabletten, die sie nahm, würden die Grippe besiegen, und wenn Frannie ihr aus den Augen war und den kleinen Ankömmling still und heimlich in Somersworth zur Welt brachte, würde ihre Mutter sich von dem Schlag erholen, den sie hatte einstecken müssen. Sie würde...

Das Telefon läutete.

Sie sah es einen Moment mit leerem Blick an, draußen flackerten weitere Blitze, gefolgt von Donner, so nahe und heftig, daß sie zusammenzuckte und aufsprang.

Ring, ring, ring.

Aber sie hatte ihre drei Anrufe gehabt, wer könnte es sein? Debbie mußte sie nicht zurückrufen, und sie bezweifelte, daß Jess es tun würde. Vielleicht war es die Organisation Dialing for Dollars. Oder ein Saladmaster-Vertreter. Vielleicht war es doch Jess, der die alte College-Masche versuchen wollte.

Kurz bevor sie abnahm, war sie sicher, daß es ihr Vater war, der schlechte Neuigkeiten brachte. Es ist wie Kuchen, dachte sie. Verantwortung ist ein Kuchen. Alles Gute, das man tut, alle Pflichten, die man erfüllt, werden in den Teig eingerührt, aber man macht sich etwas vor, wenn man glaubt, daß man sich nicht eines Tages selbst ein möglichst großes, saftiges Stück von diesem Kuchen für sich abschnitt. Und es bis zum letzten Krümel aß.

»Hallo?«

Einen Moment lang herrschte nur Schweigen - sie runzelte verwirrt die Stirn, sagte noch einmal: »Hallo?«

Dann sagte ihr Vater: »Fran?« und gab einen seltsam erstickten Laut von sich. »Frannie?« Wieder der erstickte Laut, und Fran wurde mit aufkeimendem Entsetzen klar, daß ihr Vater Tränen unterdrückte. Sie griff mit einer Hand zum Hals und berührte den Knoten, wo sie den Regenschal gebunden hatte.

»Daddy? Was ist? Etwas mit Mom?«

»Frannie, ich muß dich abholen. Ich... komme einfach vorbei und hol' dich ab, ja?«

»Ist mit Mom alles in Ordnung?« schrie sie ins Telefon. Über dem Harborside rollte erneut Donner und machte ihr angst, sie weinte.

»Sag es mir, Daddy!«

»Es geht ihr schlechter, mehr weiß ich nicht«, sagte Peter. »Etwa eine Stunde, nachdem ich mit dir gesprochen habe, hat sich ihr Zustand verschlimmert. Das Fieber ist gestiegen. Sie war im Delirium. Ich habe versucht, Tom anzurufen... Kachel sagte, er wäre unterwegs, viele Leute wären sehr krank... darum habe ich das Sanford Hospital angerufen, und sie haben gesagt, beide Krankenwagen wären im Einsatz, aber sie würden Carla auf die Liste setzen. Die Liste, Frannie, zum Teufel, was ist das plötzlich für eine Liste? Ich kenne Jim Warrington. Er fährt einen Krankenwagen des Sanford, und wenn nicht gerade auf der 95 ein Unfall ist, sitzt er den ganzen Tag herum und spielt Romme. Was ist das für eine Liste?«

Er schrie beinahe.

»Beruhige dich, Daddy. Beruhige dich. Beruhige dich.« Sie brach wieder in Tränen aus, und die Hand wanderte vom Knoten des Schals zu den Augen. »Wenn sie noch daheim ist, solltest du sie selbst hinbringen.«

»Nein... nein, der Wagen ist vor etwa einer Viertelstunde gekommen. Herrgott, Frannie, es waren sechs Leute in dem Krankenwagen. Darunter auch Will Ronson, der Mann, dem der Drugstore gehört. Und Carla... deine Mutter... ist ein wenig zu sich gekommen, als man sie in den Wagen geladen hat, und sie hat immer nur gesagt: >Ich kann nicht atmen, Peter, ich kann nicht atmen, warum bekomme ich keine Luft?< Mein Gott«, seufzte er mit schluchzender, kindlicher Stimme, die ihr Angst machte.

»Kannst du fahren, Daddy? Kannst du bis hierher fahren?«

»Ja«, sagte er. »Ja, sicher.« Er schien sich zusammenzunehmen.

»Ich warte auf der Veranda.«

Sie legte auf und ging rasch mit zitternden Knien nach unten. Auf der Veranda sah sie, daß es zwar noch regnete, die Wolken des letzten Gewitters aber bereits aufbrachen und die Spätnachmittagssonne durchschien. Sie suchte automatisch nach einem Regenbogen und sah ihn weit draußen über dem Wasser, eine dunstige, mystische Sichel. Schuldgefühle nagten wie pelzige Leiber in ihrem Bauch, da drinnen, wo dieses andere Ding war, und sie fing wieder an zu weinen.

Iß deinen Kuchen, sagte sie sich, während sie auf ihren Vater wartete. Er schmeckt gräßlich, aber iß den Kuchen. Du kannst ein zweites Stück haben, sogar ein drittes. Iß deinen Kuchen, Frannie, jeden Bissen.

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